Assjah

-Total Silence-

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Die absolute Stille, das ewige Nichts und die vollkommene Dunkelheit waren meine Begleiter geworden. Ich erinnerte mich kaum noch daran, wie ich überhaupt in diese ausweglose Situation gekommen bin, aber ich hatte schon vor einiger Zeit einsehen müssen, dass es nicht nur ein Traum war, aus dem ich hätte aufwachen können, sondern Wirklichkeit. Ich bin in meinen persönlichen Alptraum gefallen und zu allem Überfluss auch noch freiwillig. Meine Gedanken sind mir geblieben, die Fähigkeit mir wieder und wieder diese eine Frage zu stellen. Warum? Warum bin ich hier? Warum habe ich das gemacht? Was hatte ich mir eigentlich dabei erhofft, mit Chris den Platz zu tauschen. War es Respekt gewesen, oder vielleicht sogar ein wenig Liebe, ein Lächeln oder ein nettes Wort? Ich wusste es gar nicht mehr, konnte mich kaum noch an das erinnern was geschehen war. Natürlich nagte es so langsam an meinem Verstand und meiner Vernunft, ebenso wie dieser Ort es tat. Es war nichts um mich herum, ein unendliche Dunkelheit hüllte mich nicht nur körperlich ein, ich spürte, wie sie mehr und mehr nach meiner Seele griff. Es war wie eine eisige Umklammerung, die ich bisher nur abschütteln konnte, wenn ich mich in Grübeleien stürzte. Ich wollte nicht verrückt werden, nicht hier. Aufgeben kam für mich nicht in Frage, wobei ich mir eingestehen musste, dass ich die Leute immer besser verstand, die den Freitod als letzten Ausweg suchten. Ich musste zugeben, auch ich stand manchmal kurz davor, mir ein Messer zu wünschen, was durch meine Pulsadern glitt wie durch warme Butter. Seit wann regten sich solche destruktiven Gedanken in mir? War ich nicht immer derjenige gewesen, der die Meinung vertrat, es gab immer einen Ausweg, immer ein Licht am Ende des Tunnels? So langsam zweifelte ich an mir selbst oder es das hier war ein sehr, sehr langer Tunnel.

Ich schüttelte die Gedanken ab und regte mich leicht. Augenblicklich bohrte sich einer der spitzen Steine in meinen Rücken und leise keuchte ich auf. Sofort verstummte ich und sah mich um. Hatten Sie mich gehört? Ich betete zu allen Göttern, dass ich unentdeckt blieb und kauerte mich tiefer in die kleine Nische, die nun seit einiger Zeit mein Versteck geworden war. Ich war mir nicht einmal sicher, wie viel Zeit vergangen war. Waren es Stunden oder Tage? Vielleicht waren schon Wochen oder gar Monate vorbeigezogen, ohne, dass ich es wahr gommen hatte. Mein Zeitgefühl hatte sich seit meiner Ankunft vollkommen verflüchtigt, es war einfach verschwunden und hatte mich im Stich gelassen. Aber das war nicht das Einzigste. Ich sah nichts, hatte das Gefühl blind zu sein und konnte weder riechen noch schmecken. Es war als hatte jemand einen Schalter gedrückt und einfach einen Teil meiner Sinne abgestellt, sie ausgemacht, wie eine Nachttischlampe. Ich fühlte nur eines, unendlichen Schmerz, das Einzige, was man mir scheinbar zugestanden hatte. Ich spürte jedes Ziehen meiner Muskeln, jede Verkrampfung meiner Gliedmaßen und meine Beine und Gelenke schmerzten, als wäre ich Tage lang nur gelaufen. So falsch, war dieser Gedanke gar nicht, musste ich mir eingestehen. Ich floh ja vor diesen Kreaturen, wie ich sie nannte, diesen namenlosen Monstern, die mich verfolgten, mich durch diese staubige Einöde jagten und nur ein Ziel hatten: Mich zu fangen, mich anschließend zu quälen und mir Worte zuzuflüstern, die meine Ohren nicht hörten, jedoch meine Seele wahrnahm und das vergrößerte den Effekt, tötete mich jedes Mal von innen heraus. Doch sie beendeten nie, was sie begonnen hatten, sie ließen mich gehen, gaben mir Vorsprung und jagten mich erneut. Es war ihr Vergnügen und mein Alptraum. Ich war nicht schnell genug, also versteckte ich mich, so wie ich es jetzt tat. Bei meiner letzten Flucht war ich gestolpert, gestürzt und hatte mir die Beine schmerzhaft aufgeschlagen. Ich hatte eine Höhle ertastet und noch bevor ich wusste, wo sie sich befand, kletterte ich hinein und versuchte unsichtbar für sie zu bleiben, so wie sie es für mich waren.

Um mich abzulenken dachte ich wieder über ihn nach. Er, der für meine jetzige Situation teilweise mit verantwortlich war- Florian oder Clay. Allein die Tatsache, dass er jetzt anders hieß verwirrte mich immer mehr, von den eigentlichen Hintergründen einmal abgesehen. Überraschenderweise hatte ich mich sehr leicht an den Namen Clay gewöhnt, schon als ich ihn das erste Mal hörte. Er war nicht mehr Florian, sein wahrer Name hatte sich tief in mein Gedächtnis gebrannt. Ich wollte nur ein einziges Mal in meinen kurzen Leben im Mittelpunkt seines Lebens stehen. Nicht dass mir dieses Privileg nicht oft genug zu Teil wurde, im Gegenteil. Ich stand immer dann im Zentrum, wenn wir uns in den Haaren lagen. Ich musste zugeben, dass wir sehr oft stritten, es war zu einer Gewohnheit geworden, obwohl wir Freunde waren. Ich liebte es ihn zu reizen, wollte seine Aufmerksamkeit erregen und ihn aus seiner kalten starren Hülle befreien, die ihn manchmal zu umgeben schien; die über sein wahres Ich hinwegtäuschte wie eine billige Kopie. Diese Sonderstellung die ich in seinem Leben einnahm genoss ich sehr, immerhin kannte ich ihn besser, als ihm lieb war. Ich wusste zu gut, welchen Hebel ich ziehen musste, um eine Reaktion von ihm zu erhalten, was ich äußern musste, um mir seiner vollständigen Aufmerksamkeit gewiss zu sein. Nur ein einziges Mal, wollte ich dies erreichen, ohne ihn mit Worten anzugreifen oder zu beleidigen. Ich wollte helfen, seinen Wunsch zu erfüllen, egal was es für mich bedeutete. Mein Wunsch war es, ihm sein Glück und sein Lächeln wieder zugeben und auch wenn sich das vielleicht kitschig anhörte. Die Hoffnung blieb in mir haften, ihm zu seinem Glück verholfen zu haben und mir endlich einem Teil seiner Liebe gewiss zu sein. Die Liebe… das ausgerechnet das seine Achilles- Verse war, hätte ich nie für möglich gehalten. Seine Art und seine Erscheinung brachten mich doch tatsächlich Anfangs zu der Annahme, er würde nichts davon halten, sie genauso verachten wie die Menschen um sich herum. Aber ich hatte mich geirrt, das hatte ich sehr schnell feststellen müssen und es wurde zum Hauptthema unserer Streitigkeiten. Ich war zu unbeständig, trieb wie ein Blatt im Wind umher und niemals dachte ich daran mich fest zu binden, wobei ihm die wahren Gründe für mein Verhalten verborgen blieben.

 

Ich umklammerte müde meine Arme und schloss schmunzelnd meine Augen. Ich verfiel immer in diesen Zustand, wenn ich über uns und unsere Vergangenheit nachdachte. Unser erstes Kennenlernen war eine ungewöhnliche Angelegenheit gewesen. Florian war ein Jahr in den Staaten und kam nach Deutschland zu seinen Großeltern, die ich, wenn ich mich recht entsinne, nie zu Gesicht bekam. Ich hatte eine Klasse übersprungen, denn obgleich ich zu der Sorte Mensch gehörte, die eher Ärger und Unfrieden stifteten, war ich hochintelligent. Das sagten meine Eltern und meine Lehrer. Doch selbst als ich hochgestuft wurde und ich somit in eine Klasse mit ihm kam, langweilte ich mich oft über den Stoff, der behandelt wurde. Ich war sechzehn, er schon acht- fast neunzehn. Ob er an das Schicksal glaubte? Ich tat es, tue es selbst jetzt noch… vielleicht mehr als er es mir zugestehen wollte, denn an jenem Tag verfiel ich ihm augenblicklich. Sein strenges Gesicht, wie aus Stein gemeißelt, seine kalten grauen Augen stur auf eine Person gerichtet und obgleich diese grauen Iriden halb von den schulterlangen schwarzen Haaren verdeckt waren, sah ich das kurze Aufblitzen in diesen. Es war wie ein Anflug von Erkennen und mein Blick folgte seinem, musterte den schmalen rothaarigen Jungen, der mit einem gelangweilten Gesichtsausdruck zu uns hinüber blickte. Ich stand neben Florian, ging ihm gerade einmal bis zur Schulter, doch auch wenn ich so groß wie ein Riese gewesen wäre, bezweifle ich, dass er mich wahrgenommen hätte. Florian Clayman, so wurde er der Klasse vorgestellt und seither habe ich diesen Namen nicht vergessen können. Ich hatte keine Schwierigkeiten, Anschluss in der Klasse zu finden, wer ignoriert schon den Klassenclown, wenn er Späße und Scherze macht? Doch besonders interessierte mich seine Freundschaft. Ich wollte ihn kennen lernen, doch seine kalten Augen wiesen mich jedes Mal zurück. Ich hatte keine Chance gehabt ihn auf direktem Weg zu erreichen, also wählte ich die Freundschaft zu Chris, dem Jungen, den er die ganze Zeit beobachtet und angestarrt hatte. Er gab sich nur mit ihm ab, suchte seine Nähe und Freundschaft und schließlich gewährte ihm der stille Junge Zugang, so wie er ihn mir gestattete.

Ich musste zugeben, es war schon fast lächerlich wie eifersüchtig ich auf jede kleine Geste war, die er Chris schenkte. Ich mochte meinen neu gewonnenen, rothaarigen Schulkamerad, er wurde mit der Zeit mehr zu einem Freund, als mir lieb war und ich wollte ihn nicht hintergehen und betrügen, und ihn nur als Mittel zum Zweck nutzen, um an Florian heran zu kommen.

Wir drei wurden Freunde, wobei ich immer das, wie mir schien berechtigte, Gefühl hatte, ich stelle eher ein notwendiges Übel dar, etwas was Florian in Kauf nahm, um mit Chris befreundet zu sein. Ich hatte es all die Zeit ignoriert, hatte mich und meine Gefühle versteckt, um dieses zarte Band zwischen mir und Florian nicht zu zerstören. Ich hegte wirklich die Hoffnung, er würde mich irgendwann akzeptieren und zurücklieben, doch all das zerplatzte wie eine Seifenblase, als er mir in betrunkenem Zustand etwas anvertraute. Er erzählte von seiner großen Liebe, einer Frau, so zart und rein als wäre sie ein Engel. Er berichtete von ihren schwarzen langen Haaren und ihren sanften Augen, der gebräunten zarten Haut und dem zerbrechlichen schlanken Körper, der hier gefangen war, wie ich es es damals gewesen bin. Als ich sie bei unserem ‚Austausch’ für den Bruchteil einer Sekunde sah, habe ich verstanden, was er empfand, warum er sie liebte. Nach diesem Geständnis war mir alles egal, mein Traum mit ihm zusammen zu sein, war zerstört und ich wollte dieses Gefühl einfach nur abtöten, ihm entfliehen und lieber Hass und Abscheu in seinen Augen funkeln sehen, als Zuneigung und Freundschaft. Ich begann verschiedene Mädchen zu verführen, verstand es ausgezeichnet darin, mir jede Woche eine neue Freundin zuzulegen und es war mir gleich, wer es war.

Es gelang mir nicht, meine Gefühle zu töten, doch seine Abscheu und sein Hass waren mir sicher gewesen; jedes Mal, wenn wir uns stritten und er mir an den Kopf warf, wie widerlich und verwerflich das sei, was ich tue. „Du weißt nicht was Liebe ist!“ Doch… das wusste ich, besser als er es sich vorstellen konnte und immer, wenn er diese Worte an mich richtete, hatte ich ihn stumm angeschrieen, dass es nicht so war, dass ich durchaus wusste, was Gefühle und Liebe bedeuteten. Vielleicht hatte ich wirklich alles falsch gemacht, doch ich war sechzehn… was wusste ich schon von richtig oder falsch?

 

Seufzend öffnete ich die Augen, konnte aber keinen Unterschied zu meinem vorherigen Zustand feststellen. Finsternis und wieder keimte in mir die Frage auf, wie viel Zeit vergangen war. Vielleicht war ich schon achtzehn, hatte schon ein Jahr hier verbracht ohne es zu wissen. Möglicherweise war schon soviel Zeit vergangen, dass mich jeder meiner Freunde vergessen hatte, meine Familie mich nicht mehr suchte und ich sogar schon ein Grabstein auf dem Friedhof erhalten hatte. Ein sowohl erschreckender, als auch belustigender Gedanke. Vielleicht war es soweit und ich verlor endgültig den Verstand.

Ein Geräusch über mir ließ mich zusammenzucken und aus meinen Gedanken fahren. Ich hatte zu lange in dieser Nische verweilt und nachgedacht, mich in sinnlosen Erinnerungen und Träumen vergraben und nicht auf meine Umgebung geachtet. Nur diese Kreaturen konnte ich hören, wenn sie näher kamen. Meine, von mir gehasste, Fähigkeiten nur Sie zu hören, um meine Angst und Panik zu steigern. Solche Laute zu hören, das war grausamer, als die vollkommene Stille, denn ich wusste, dass sie in meiner Nähe waren und es nur noch eine Frage der Zeit war bis sie mich fanden. Langsam und mit wackeligen Beinen stand ich auf. Meine Muskeln waren aufs Äußerste gespannt, jederzeit war ich bereit, davon zu stürzen und um mein Leben zu rennen. Ein seltsamer Gedanke… um mein Leben rennen.

Da war es wieder, dieses Knacken und es kam näher. Angestrengt suchten meine Augen die Dunkelheit ab, in der Hoffnung doch etwas wahrzunehmen, eine Bewegung, einen Schatten, ganz gleich was, solang es mir nur einen Hinweis gab, wohin ich fliehen konnte. Manchmal glaubte ich Schemen und Umrisse zu sehen, die Landschaft erkennen zu können, doch schon kurz darauf war das Bild verschwunden und nichts als Schwärze blieb zurück und tötete immer mehr meiner Gedanken und Gefühle. Ich tastete mich unsicher am Stein entlang, meine rauen spröden Finger glitten über die kalte Härte und fuhren an Spitzen und scharfkantigen Ecken entlang. Sollte ich jetzt loslaufen oder mich doch verbergen? Meinen nackten unterdessen blutverkrusteten Füße scharrten unsicher über den Boden. Mein Herz pumpte in doppelter Geschwindigkeit Blut durch meinen Körper und langsam hatte ich Angst, gerade das unregelmäßige Schlagen meines Herzens könnte mich verraten. Unnatürlich laut hörte sich das Wummern an und Blut rauschte in meinen Ohren, machte mich schwindelig und zwang mich dazu, mich wieder zu setzen. Mein Körper hatte mir die Entscheidung abgenommen, ich würde nicht fliehen, sondern hier bleiben, warten und hoffen. Erschöpft verkroch ich mich wieder in der Nische, umschlang meine aufgeschlagenen Knie mit meinen Armen und begann mich selbst vor und zurück zu wiegen um mich zu beruhigen.

Ich bemerkte kaum, wie ich mit meinen Gedanken wieder abschweifte, mein Umfeld ausschaltete und mich komplett in meine Vergangenheit flüchtete. Für einen kurzen Moment brauchte ich eine Pause, wollte nicht darüber nachdenken, wo ich mich befand und was in nächster Zeit geschehen würde. Geistig fiel ich in einen meiner Träume, zurück in meine Vergangenheit, die mich immer wieder einholte.

 

„Könnt ihr mir sagen, wo ich Chris finden kann?“ Eine seltsam klare und befreiende Stimme holte mich aus meiner Diskussion mit Florian und ich sah überrascht auf. Ein junger Mann, jedenfalls ging ich aufgrund seiner Erscheinung davon aus, stand ein nur wenige Meter von uns entfernt und lächelte freundlich. Er hatte lange, leicht gewellte, blonde Haare und klare blaue Augen, von denen ich das Gefühl hatte, sie konnten bis auf den Grund meiner Seele blicken. Ein freundliches Lächeln auf den Lippen und die zarten Gesichtszüge ließen in mir erneut die Frage aufkommen, ob es sich nicht doch um ein Wesen weiblicher Natur handelte. Noch bevor ich mir überhaupt Gedanken darüber machen konnte, dass ich eigentlich mit einer mir vollkommen fremden Person redete, hörte ich mich antworten: „Natürlich, das ist ein Freund von uns. Chris Wagert, oder? Er ist krank und wir wollen ihn gerade besuchen. Möchten Sie uns begleiten?“ Florian sah mich entsetzt an und ich kann behaupten, dass ich nicht minder überrascht war. Wieso hatte ich einem Fremden so ein Angebot gemacht? Seine gesamte Aura hatte mich dazu bewegt, ihm blind zu vertrauen, doch kaum hatte ich das gesagt, mischte sich Florians kalte wütende Stimme ein: „Hören sie auf uns nachzuspionieren! Ich habe sie vor einiger Zeit schon mal gesehen.“ Seine Hand ergriff grob meinen Oberarm und zerrte mich hinter sich her. Er war wirklich wütend. Irrte ich mich oder habe ich in seinen Augen wieder dieses Erkennen funkeln sehen, wie damals bei Chris. Er hatte diesen Mann ebenso angesehen, wie Chris. Ich sah das sofort. Seine Augen bekamen immer einen seltsamen Ausdruck und mich überkam stets das Gefühl, dass ihm nichts verborgen blieb, dass er ähnlich wie der Fremde bis hinab in die Seele eines Menschen blicken konnte, wenn er es wollte.

„Was fällt dir ein, einen Wildfremden mitnehmen zu wollen, Kimmy.“, herrschte er mich an, kaum waren wir außer Hörweite. Der Mann verfolgte uns nicht, wie ich sehen konnte, als ich zurückblickte. Wieso war Florian dann so unruhig? Was machet ihm nur solche Angst? Er schaute oft zurück und, schien Dinge zu bemerken, die mir verborgen bleiben. Ich kam mir wie ein Kind vor, das in der Welt der Erwachsenen mitspielen wollte, aber die Regeln nicht kannte, das Grundwissen nicht beherrschte.

„Du bist doch einfach nur seltsam! Leidest du unter Verfolgungswahn?“

 

Wir stritten uns den gesamten Weg, bis wir bei Chris ankamen. Ich erinnerte mich daran, als sei es erst gestern gewesen, dabei war das jetzt schon fast ein dreiviertel Jahr her. Chris hatte seine Grippe fast überwunden und wirkte schon wesentlich gesünder als die Tage zuvor. Wir besuchten ihn, sooft es uns möglich war, ich kam fast täglich, um ihn aufzuheitern und ihm die Hausaufgaben vorbei zu bringen. Er freute sich, wenn ich oder wir beide bei ihm vorbei sahen, da er nur uns beide als Freunde hatte und daher selten Besuche von anderen Leuten erhielt. Seine Eltern waren den ganzen Tag arbeiten und kamen erst abends wieder. Er tat mir leid, so einsam und verloren in diesem großen Haus. Ich selbst hatte viele Tiere, die mir, wenn ich krank war, Gesellschaft leisteten, aber wenn ich genauer darüber nachdachte, war Chris die gesamte Zeit allein. Ich hatte mir an diesem Tag vorgenommen, ihn aufzumuntern und aufzubauen, seine sonst so trüben matten Augen etwas zum Leuchten zu bringen. Das gelang mir auch. Ich brachte Chris zum Lachen, und wir alberten doch tatsächlich eine ganze Weile miteinander, sprachen über die Schule und einige Lehrer. Es war schön, ihn so glücklich zu sehen und wir blieben, bis seine Eltern kamen.

Chris’ grüne Augen funkeln manchmal, nur Florian wirkte die ganze Zeit über abwesend, starrte zum Fenster hinüber, als fühlte er sich beobachtet. Er war der Einzige, der damals meine Stimmung trübte. Ich hatte ihn zwar darauf angesprochen, doch mir antwortete nur Schweigen und schließlich gab ich es auf.

Wenn ich jetzt so daran zurückdachte, kam ich mir seltsam naiv und dumm vor nicht auf die ganzen Zeichen um mich herum geachtet zu haben. Wie viele Hinweise gab es auf die kommenden Ereignisse, wie viele kleine seltsame Vorfälle geschahen und wie wenig bekam ich doch von alledem mit. Ich war nicht Teil des großen Ganzen, war nur ein Normalsterblicher, der nichts mit dem großen Unbekannten zu tun hatte. Chris umrankten plötzlich Geheimnisse und Mythen, die ich nicht einmal jetzt begriffen habe, jetzt wo ich all das gesehen und erlebt hatte. Dieser blonde Mann, mit dem alles angefangen hatte, der mit seiner Frage nach Chris alles auslöste, stellte sich als Engel heraus. Lionare war sein Name und er hatte zusammen mit Asak, einem schwarzhaarigen Dämon, der wie das dunkle Ebenbild seines Partners zu sein schien, nach Chris gesucht.

Bis heute, weiß ich nicht, was passiert war. Chris verschwand für einige wenige Tage und tauchte dann erst wieder auf, nur um kurz darauf wieder abzutauchen. Eine Aura umgab ihn, etwas lastete auf seinen Schultern, etwas sehr Wichtiges und Florian schien es wieder zu wissen, erkannte, was passierte, während ich im Dunkeln tappte und keine Erklärung erhielt.

 

Plötzlich und unerwartet packte mich etwas an den Haaren und zerrte mich aus der Nische hervor, in der ich gekauert hatte. Entsetzt nach Luft schnappend, keuchte ich auf und petzte die Augen zu. Wieder hatte ich nicht aufgepasst, wieder hatten sie mich gefunden, nur um mich ein weiteres Mal zu brechen. Ich zitterte am ganzen Körper und schrie auf, obwohl ich genau wusste, dass kein Ton aus meiner ausgetrockneten Kehle kam. Ich wollte das nicht… nicht mehr, nicht schon wieder. Geisterhafte Stimmen drangen an mein Ohr, gruben die Worte einmal mehr tief in mein Bewusstsein.

„Du bist selbst Schuld.“, flüsterten sie mir zu.

„Du bist ganz allein. Keiner wird dich retten oder vermissen.“

„Jeder hat dich verlassen.“

Wie recht sie doch hatten, diese namenlosen Geschöpfe der Dunkelheit, die einzig dafür da waren, mich zu quälen. Ich fragte mich immer wieder, wie ein so zerbrechliches Wesen wie diese Frau es nur geschafft hatte, diese Qualen hier zu überleben. Ja, all das hier war meine Schuld, all das hier hatte ich als Weg für mich selbst gewählt, doch wirklich bereuen konnte ich es nicht. Mein Geist löste sich von meinem Körper, ließ eine leere Hülle zurück, der nichts mehr spüren oder hören konnte, keinen Schmerz, keine Angst, keine Einsamkeit. Es war nichts mehr da, nichts, außer Florians Gesicht, welches sich in mein Gedächtnis eingebrannt hatte. Ich erinnerte mich genau, wie ich hierher kam, an den Augenblick, an dem ich ihn das letzte Mal sah.

Die eigentliche Ursache für all diese Misere war jedoch Chris gewesen.

Er hatte sich verändert. Es war mir gleich aufgefallen, als er nach langer Abwesenheit wieder dem Unterricht beiwohnte. Zwischendurch war er schon einmal der Schule fern geblieben und obwohl ich ihn suchte, fand ich nicht einmal den kleinsten Hinweis auf seinen Verbleib. Er wirkte glücklich und befreit, die Last schien von seinen Schultern gefallen zu sein und das fremde Mädchen - Shion - trug scheinbar eine Menge zu seinem jetzigen Wohlbefinden bei. Ich wusste nicht, woher sie kam, sie war auf einmal da, wie so Vieles plötzlich einfach da war. Das war wohl die Veränderung, die sich langsam aber sicher ausbreitete und alles Vergangene mit sich nahm und ersetzte. Chris stellte sie uns erst einige Tage später vor, davor erzählte er uns lediglich in den Pausen von ihr. Wie ein Lichtstrahl wirkte sie, kaum beschreibbar, unheimlich beruhigend und sanft. Shion vermittelte eine Ruhe, die mir selbst kaum bekannt war, da in mir viel mehr das Gegenteil zu finden war.

 

„Das ist Shion. Ich wollte sie euch endlich vorstellen.“, begann Chris glücklich und ergriff ihre Hand. Wieder schoss eine Welle Eifersucht durch meinen Körper, ohne dass ich es hätte verhindern können. Dieses Mal lag der Grund dieses Neides woanders. Ich wollte auch gerne meine große Liebe bei mir wissen und Shion war Chris’ Geliebte, das sah ich sofort. „Shion, das ist mein Freund Kim Sander.“ Er deutete auf mich und lächelnd ergriff sie meine Hand und drückte sie freundschaftlich. Sie strahlte eine ungewohnte Wärme aus und duftete nach Erde. Ihr Alter konnte ich gar nicht schätzen, sie wirkte vom Gesicht und Körper her, wie ein junges Mädchen, aber in ihren Augen lag etwas, was sie um viele Jahre älter machte. Genau dieses Gefühl hatte ich schon, als ich Clay tiefer in die Augen blickte. Sie war ungefähr so groß wie ich und hatte ihre rotbraunen Haare geflochten. Ihre Augen schimmerten in einem faszinierend tiefblauen Ton und ihr Gesicht war androgyn, so dass ich eine Weile überlegen musste, ob sie wirklich eine Frau war. Ich schüttelte leicht den Kopf, ob des seltsamen Gedanken wegen.

„Freut mich.“, begann ich fröhlich lächelnd. „Ich bin Kimmy.“

Sie entließ meine Hand in die Freiheit und wandte ihren Blick nun Florian zu, der das Ganze mit düsterer Miene verfolgt hatte. Schweigend stand er da, rührte sich nicht und wieder sah ich den Anflug von Erkennen in seinem Blick, allerdings dieses Mal gepaart mit unsäglicher Wut und Hass. Ich hatte den Eindruck seine grauen Augen verfinstern sich und ein Schatten legte sich über sein Gesicht.

Doch auch Chris war überrascht, wie ich feststellen musste, sah nur verwirrt zwischen seiner Freundin und Florian hin und her. Eine böse Vorahnung überfiel mich, doch noch bevor ich etwas sagen konnte, erhob Florian das Wort. Seine Stimme war tief und dunkel, eine vollkommen Andere, als ich es gewohnt war.

„Du… ausgerechnet du tauchst hier auf, jetzt wo ich fast mein Ziel erreicht habe.“ Ich wich ungewollt zurück, doch er interessierte sich nicht für mich, ebenso wenig, wie Chris oder Shion es in dem Moment taten. Ich war wirklich nur das fünfte Rad am Wagen, oder? Mich überkam das Gefühl, dass ich nicht hier sein sollte, dass ich all das weder hören noch sehen sollte, doch ich wollte nicht weglaufen wie ein Feigling.. Ich wollte endlich wissen, was überhaupt um mich herum passierte. Ich wurde schon bei den Geheimnissen, die Chris umgaben nie richtig aufgeklärt. Florian schien zu wissen was passiert war, ich spürte es, doch auf meine Fragen hatte er immer geblockt, mich für verrückt erklärt und gesagt, ich bilde mir das ein.

„Clay!“, war das Einzige, was Shion herausbekam. Sie hatte ihn erkannt, hatte begriffen, wer er war, was er war. Ich sah dasselbe Erkennen bei ihr, das gleiche Funkeln, wie bei Clay. So hatte er Chris angesehen, und auch Lionare und Asak, als wir sie das erste Mal trafen. Shions Gesicht sprach Bände. „Das ist… unmöglich.“

„Schweig!“, grollte er sie an und um uns herum verschwamm der Park, es wurde dunkel und plötzlich tauchten die Schutzpatrone von Chris auf. Erst jetzt wusste ich woran Shion mich erinnerte. Sie ähnelte Asak und Lionare, die wie ein Ying Yang- Symbol auf mich wirkten. Wie ein Zwillingspärchen, das sich nur durch Haar- und Augenfarbe voneinander unterschied, und den langen Haaren wirkten sie auf mich ebenso androgyn wie Shion. Igrendwie hatte ich das Gefühl nicht wirklich viel von der Wahrheit zu wissen. Asak zog meinen Freund zurück und damit fort von Clay. Auch ich taumelte weg von ihm, obwohl mein Herz doch eher zu ihm gehen wollte. Doch ich konnte meinen Körper nicht kontrollieren und irgendwann spürte ich wie Lionare mich zurückriss und hinter sich zog.

„Bleib ganz ruhig, Kim.“, flüsterte er mir zu und konzentrierte sich auf Clay. Er zitterte, das spürte ich, ebenso wie ich die Angst der anderen wahrnehmen konnte.

„Keiner, nicht einmal du, machst mir meine Arbeit kaputt!“ Clay hob seinen Blick und richtete ihn auf Shion, die immer noch dastand und ihn ansah. Ich erstarrte. So einen kalten Blick, soviel Hass in der Stimme hatte Clay mir nie entgegen gebracht. Ich wusste nicht, dass mein Freund so tief verletzt war, doch scheinbar wurde hier über Dinge gesprochen, die ich nicht verstand. Dann, plötzlich ging ein Zucken durch seinen Körper und er bäumte sich auf. Ein schwarzer Schatten legte sich über seine Haut, verbrannte sie und färbte sie schwarz. Rote Symbole gruben tiefe Bahnen in sein nun dunkles Fleisch. Sie schimmerten und leuchteten hell auf und wanderten weiter zu seinem Gesicht, hinterließen tiefe Male, die letztendlich ein symmetrisches Muster bildeten, welches seinen gesamten Körper wie ein Tattoo überzog. Seine Augen verloren ihre Pupille, verschwanden in ein tiefrotes Nichts, was fortan sein Gesicht zierte. Seine Haare wurden länger, blichen aus, bis sie schneeweiß waren und ihm bis an die Knie fielen. Ich hatte nie vorher etwas Schöneres und gleichzeitig Beängstigenderes gesehen.

„Ein Dämon…“, keuchte Lionare vor mir und verkrampfte sich noch mehr, blickte zu Asak, der Chris umfasst hielt. „Ein gefallener Dämon.“, fügte er lauter hinzu, schüttelte aber zeitgleich den Kopf voller Unglaube. „Aber das ist vollkommen unmöglich.“, hauchte er, wurde aber jäh von Clay unterbrochen, der ihn wütend anfuhr.

„Halt den Mund, Engel!“ er betonte das letzte Wort mit soviel Abscheu, das Lionare erschrocken zu Boden ging. Ich starrte ihn an. Engel? So etwas gab es doch nicht. Allerdings musste ich mir eingestehen, dass solche Kreaturen, wie Clay eine war, eigentlich auch nicht existieren sollten In meinem Inneren überschlugen sich die Gedanken und Gefühle. Derjenige, den ich liebte war kein Mensch, sondern ein Dämon und so unglaublich sich das anhörte, ich hegte keinerlei Zweifel an dieser Aussage. Ich hatte mich in jemanden verliebt, der sicherlich nichts auf Menschen hielt. Ein wenig Trauer schlich sich in mein Herz und diese Erkenntnis schmerzte mehr, als ich zu Anfang gedacht hatte. Sollte ich jetzt aufgeben, mich an den Gedanken zu klammern, dass vielleicht doch alles gut werden würde? War mir das Ganze nicht bereits vor etlichen Wochen aus den Händen geglitten, als ich mich mehr und mehr von einem Mädchen zum anderen hangelte, wohlwissend, wie sehr Florian das Ganze ärgerte. Aber er war nicht Florian- nicht mehr. Er war nun Clay, so hatte Shion ihn genannt. Jeder wusste, was das bedeutete, Chris, das sah ich an seinem Blick, diese beiden seltsamen Personen, die so plötzlich hier auftauchten um Chris zu beschützen und Shion, die mehr und mehr erkannte, dass Clay ihr Feind war. Für alle war es wie ein Schalter, der umgelegt worden war, das berühmte Klicken, nur ich blieb davon verschont- leider. Ich wusste nichts, hatte keine Ahnung, was hier vor sich ging und es verwirrte mich mehr und mehr.

„Ihr habt doch keine Ahnung.“ Clay trat auf uns zu, doch ich hatte den Eindruck, als berührte er nicht einmal den Boden. Mit erhobenem Haupt schritt er an Shion vorbei auf Asak und Chris zu. „Dich habe ich gesucht, einzig und allein dich.“ Er deutete auf meinen rothaarigen Freund und schlagartig wurde mir bewusst, was das Erkennen, das ich in den grauen Augen sah, bedeutet hatte. „Deine Seele wird mir helfen.“ Asaks Augen weiteten sich überrascht, als er zur Seite gestoßen wurde, und das obwohl Clay ihn nicht einmal berührte. Es blieb mir verborgen, was genau passiert war, ich sah Asak nur zurückfallen und hart gegen einen der nebelartigen Bäume schlagen. Lionare dachte nicht mehr an mich und stürzte auf seinen Partner zu, von Sorgen und Ängsten geplagt. Ich blieb allein zurück, vielleicht fünf Schritte von Chris entfernt, doch mich nahm keiner mehr war. Chris stand wie erstarrt vor Clay und sah ihn an. Shion hatte sich währenddessen aus ihrer Starre gelöst und nun funkelten auch ihre Augen hasserfüllt auf. Sie drehte sich zu den beiden und fixierte den Dämon, während dieser nur Augen für Chris hatte.

„Lass ihn in Ruhe, Clay!“, rief sie, doch sie schaffte es nicht, seine volle Aufmerksamkeit zu gewinnen. Seine Lippen formten stumme Worte, nicht verständlich oder nachvollziehbar. Wie ein Zauberspruch murmelte er still vor sich hin, hob schließlich die Hand und legte sie auf Chris Kopf ab, der kaum in der Lage war, etwas zu tun. Er wirkte wie zu Eis gefroren und obwohl in seinen Augen das Feuer brannte und der Drang zurück zu weichen, konnte er es scheinbar nicht.

Ich wollte nicht so stehen bleiben und alles schweigend beobachten. Ich war kein Zuschauer und ich konnte nicht einfach nur zusehen und nichts tun. Ich mochte Chris und egal wie Clay jetzt aussah, ich liebte ihn, mehr als jemals zuvor. Nie hatte er mich beachtet, doch nun würde er mich wahrnehmen müssen. Er würde nicht leugnen können, dass ich da war.

Mit wenigen Schritten war ich bei ihm und umfasste mutig den Arm, der auf Chris’ Kopf lag. „Hör auf, Florian oder Clay, wer auch immer du bist.“ Er hielt tatsächlich inne und wandte seinen Blick zu mir. Er schien für den Bruchteil einer Sekunde überrascht zu sein, doch dann breitete sich ein gehässiges Grinsen auf seinen Lippen aus.

„Du bist auch noch hier?“ Er lachte höhnisch auf und ließ tatsächlich von Chris ab. „Wer hätte das gedacht, Mensch!“ Seine Stimme klang so kalt und er betrachtete mich, als sei ich ein niederes Insekt unter seinen Füßen. Sein Blick wanderte zu meiner Hand, die krampfartig seinen Arm festhielt, dann flammten seine Augen zornig auf und noch bevor ich reagieren kann, schleudert er mich zurück, so dass ich mehrere Meter entfernt hart auf dem Boden aufschlug. Er fauchte mich an, dass ich ihn nie mehr berühren soll.

„Ich hasse solche nervenden, abscheulichen Kreaturen wie dich.“ Diese Worte trafen mich härter als alles anderer vorher.

Er hasste mich…

Er fand mich abscheulich…

Tränen stiegen mir in die Augen und ich wandte den Blick ab, blieb liegen und spürte nur noch einen überwältigenden Schmerz, der mich zu zerreißen drohte. Clay hatte sich längst wieder Chris zugewandt, doch dieses Mal hörte ich Shions Stimme. Sie musste sich dem Dämonen in den Weg gestellt haben.

„Lass ihn zufrieden und verschwinde!“

„Glaubst du etwa wirklich du kannst mich besiegen?“ Er lachte wieder höhnisch auf und als ich mich leicht dem Geschehen zuwandte, sah ich wirklich Shion vor meinem Freund stehen, umgeben von einem hellen, weißen Licht. Wirklich überraschen konnte mich dieser Anblick nun nicht mehr. Es war an der Zeit an all das hier wirklich zu glauben, Engel und Dämonen als real existente Wesen zu akzeptieren und meine Augen nicht mehr vor der neuen Realität zu verschließen. Das gelang mir auch nicht in dem folgenden Kampf, der nun zwischen Shion und Clay ausbrach. Wie schnell ich mich doch an seinen neuen Namen gewöhnt hatte. Clay erwies sich als nahezu übermächtiger Gegner und obgleich Shion mit jeder Minute stärker und geschickter wurde, konnte sie kaum gegen diesen überlegenden Gegenspieler bestehen. Ich beobachtete den Kampf genau, ebenso wie Chris, der sich nun gar nicht mehr rühren konnte und unfähig war, irgendetwas zu unternehmen. Lionare und Asak wichen eher zurück, scheinbar war es für die beiden unmöglich einzugreifen oder vielleicht auch nicht gestattet. Dieser Kampf betraf nur Clay und Shion, niemanden sonst. Sie alle waren Zuschauer, so wie ich.

Der Kampf dauerte lange und lief wie ein Film an mir vorbei, ohne dass ich dessen Inhalt auffassen konnte. Ich vermochte es nicht zu verstehen, was und warum es passierte. Weshalb hassten sich die beiden so sehr, dass sie sich bis auf’s Blut bekämpften. Und obgleich ich sah was passierte, jeden Schlagabtausch optisch erfassen konnte, erreichten diese Informationen nicht mein Gehirn, ich vergaß jede Aktion der erbitternden Feinde sobald sie geschlagen war.

Letztendlich ging Clay als Sieger hervor. Er tötete Shion nicht, aber er beraubte sie scheinbar der Fähigkeit sich zu bewegen, sperrte sie in einen Raum ein, den sie nicht verlassen konnte. Sein schwarzes Schwert durch ihre rechte Hand getrieben hielt er sie am Boden fest, und all ihre Bemühungen sich zu befreien, schlugen fehl, verschlimmerten ihre Situation nur noch.

„Zurück zu dir.“ Mit sicherem Schritt ging er auf Chris zu und blieb wieder vor ihm stehen. Keiner stellte sich ihm in den Weg, Asak und Lionare versuchten es zwar, doch sie prallten an einer unsichtbaren Barriere ab. Chris konnte sich immer noch nicht rühren, aber er weinte. Ich sah ihn zum ersten Mal weinen. Stumme Tränen der Angst und Verzweiflung gruben sich durch die gerötete Haut seiner Wangen. Tatenlos musste er mit zusehen, wie Clay ihm fast das Liebste nahm und sie nun auf solche Art und Weise gefangen hielt. Ich sah seinen verkrampften Körper, der sich die ganze Zeit hindurch befreien und losreißen wollte, doch er schaffte es nicht. Clay hielt ihn gefangen, genauso wie er die anderen verzaubert hatte.

„Chris!“ Asaks Stimme lenkte meine Aufmerksamkeit zu seinen beiden Beschützern, die ihm helfen wollten, doch nicht konnten. Sie prallten an einer unsichtbaren Wand ab und taumelten zurück.

„Ihr bleibt schön wo ihr seid.“, entgegnete Clay und schenkte ihnen nur kurz seine Aufmerksamkeit. Dann schnellte sein Kopf zu Chris, packte ihn brutal am Kinn und riss seinen Kopf zu sich. „Du wirst sie mir zurückholen!“, murmelte er und seine Hand krallte sich erneut in die roten Haare meines Freundes. Erschrocken schrie dieser auf, doch das interessierte ihn nicht. „Deine Macht, wird das Tor öffnen und sie zurück holen.“ Clay war wie besessen, murmelte nun Silben, die ich wieder nicht verstand und wurde schließlich immer lauter.

Wie gebannt starrte ich auf die beiden, die eigentlich meine Freunde waren. Chris’ Körper zuckte und wand sich qualvoll unter dem Griff Clays und letztendlich umschloss beide ein helles Licht, stob hinauf zum Himmel und teilte diesen optisch in zwei dunkle Hälften, die von einem breiten hellen Band aus Licht durchbrochen waren. Ich sah kurz darauf nichts mehr, das Licht wurde immer heller und ich hörte Clays Stimme, wie das grollende Donnern eines Gewitters.

„Du tauschst den Platz mit ihr!“

„Nein…lass mich los“, kam es schwach von Chris und er versuchte sich gegen den Dämon zu wehren. Er atmete schwer, sein Körper bebte vor Schmerzen und er hatte die Augen fest zusammen gekniffen.

„Doch, das Tor hast du geöffnet, bring mir nun Ashnan zurück!“

Ich stand schwankend auf. Und in dem Moment begriff ich, was er eigentlich vor hatte, mit einem Schlag war mir klar, weswegen Clay so kämpfte und was für ein Ziel er verfolgte. Er wollte sie zurück, die Frau von der er mir erzählte. Dieser Name fiel in unserem Gespräch, ich hatte ihn nie vergessen können. Diese zwei Silben, die er nannte waren es auch, die mich aus meiner Bewegungslosigkeit und Starre herausholten und mich wieder klar denken und handeln ließen. Ich hatte nie eine Chance ihn für mich zu gewinnen, sein Gesicht zeigte dies nur zu deutlich. Aber ich wollte, dass er glücklich war, dass er sie wiedersehen konnte. Wie lange waren sie wohl getrennt? Jahrhunderte? Jahrtausende? Doch dabei Chris opfern und weh zu tun… das konnte und wollte ich nicht zulassen. Chris war mehr als ein Freund, er war ein Vertrauter für mich. Bisher hatte ich nie etwas für meine beiden Freunde tun können, immer war ich zu schwach oder einfach zu unwissend und zudem nur der überflüssige Junge, der nie richtig dazugehören konnte, weil ich immer das Anhängsel war. Ashnan war dort oben zwischen den beiden Hälften des Himmels und wartete darauf, befreit zu werden. Das würde Clay glücklich machen. Shion war hier und würde dasselbe für Chris tun. Sie würden nicht mehr alleine sein und ich, der ich nun mehr als deutlich spürte, wie überflüssig ich war, wollte ihnen das ermöglichen. Ich würde nie Clays Liebe für mich gewinnen, nie auch nur ein Stückchen Platz in seinem Herzen ergattern, doch ich würde dieses Mal dafür sorgen, dass er mich nicht vergessen würde. Chris würde frei sein, Clay glücklich, mehr wollte ich nicht.

Wie von selbst trugen mich meine Beine zu den beiden, Chris’ Stimme war bereits erstorben und nur seine Lippen waren zu einem stummen Schrei verzogen, Clay konzentrierte sich auf seinen Zauber, wie es schien. Und dann…

 

Meine Augen öffnend sah ich mich um, nur um festzustellen, dass ich immer noch in der Dunkelheit saß. Die Kreaturen waren verschwunden und ich war froh nicht sehen zu müssen, was passiert war. Ich blieb einfach liegen und starrte in die ewige Schwärze hinaus. Weinen konnte ich schon seit einer Weile nicht mehr, meine Tränen waren versiegt und nicht einmal Trauer blieb in meinem Herzen zurück.

Ja… damals als Chris mit Ashnan den Platz tauschen sollte, bin ich dazwischen gegangen. Das helle Licht, was beide umgab, ignorierte ich geflissentlich und nahm nun unweigerlich Chris’ Platz ein. Ich hab ihn gewaltsam zurückgerissen, weggestoßen und Clay fest umarmt. Das Licht umgab nun mich, und Clay, der gerade seinen Zauber beendet hatte, starrte mich nur entsetzt an. Ich fühlte, wie mich etwas wegreißen würde, mich von ihm und allen anderen trennen würde und ich fasste einen letzten Entschluss. Nur einmal wollte ich seine Lippen spüren, nur einmal seinen Kuss genießen. Ich dachte nicht darüber nach, wie er reagieren würde, oder was andere denken würden, ich reckte mich einfach zu dem Dämon, der nun noch größer war und berührte seine Lippen zitternd mit meinen. Er reagierte nicht auf mich, war viel zu überrascht und zum ersten Mal in all den Jahren, seit wir uns kannten, habe ich ihn sprachlos erlebt. Er ließ den Kuss zu ohne mich von sich zu stoßen oder sich abzuwenden. Und dann geschah etwas, was ich nie für möglich gehalten hatte. In seinen Augen klomm für wenige Sekunden Erkennen auf, als er meinen Blick erwiderte. Es war ein entsetztes Erkennen, doch bevor ich es genauer identifizieren konnte, spürte ich einen Ruck durch meinen Körper gehen und ich wurde von ihm weggerissen.

„KIM!“

Ich glaubte meinen Namen zu hören, doch im nächsten Moment fühlte ich mich von der Dunkelheit gepackt, von schwarzen nebeligen Händen hinaufgezogen und in diesen helle Spalt gezerrt. An meine Stelle trat diese Frau, die nun meinen Kuss fortsetzte, sich jedoch augenblicklich von ihm löste und mir mit geweiteten Augen nachsah. Dann war alles dunkel…

Ich hatte mich für sie geopfert, damit Clay glücklich sein konnte. Das war es doch, was ich erreichen wollte, oder? Er war doch glücklich mit ihr oder? So lange waren sie getrennt und ohne einander. Ich würde das hier schaffen, durchhalten, auch wenn ich mir sicher war, dass dies hier mein Schicksal für die Ewigkeit war. Ashnan hatte es doch auch überstanden und sie war so lange in dieser Dunkelheit gefangen.

Ich rollte mich zusammen wie ein Igel, versuchte wie so oft mich so klein wie möglich zu machen. Egal wie sehr ich mir einredete, dass ich stark genug war, all die Qualen durchzustehen, ich war es nicht. Ich belog mich die ganze Zeit hindurch selbst. Ich wollte einfach verschwinden, mich auflösen, mir war egal was, nur wollte ich nicht mehr sein.

Ich wünschte mir, ich könnte richtig sterben…

Ich schlief ein, etwas, was mir nur selten passierte. Meistens hatte ich zu große Angst davor, vollkommen ungeschützt auf dem Präsentierteller dazuliegen, doch dieses Mal empfing ich die selige Ruhe mit offenen Armen. Eigentlich war es nicht notwendig zu schlafen. Ich war weder müde noch hungrig, solche Dinge zählten hier nicht, aber es war das Einzige, was mir von meinem vorherigen Leben geblieben war, die Fähigkeit zu schlafen und zu träumen. In meine Träume war die Dunkelheit noch nicht vorgedrungen.

Ich träumte von uns beiden. Was hätte sein können, wäre nicht soviel passiert. Es waren Wunschträume, das wusste ich selbst, aber es war das Einzige, was mich nicht komplett wahnsinnig werden ließ. Ich fühlte mich wie Prometheus, von Zeus an einen Felsen angekettet, um tagtäglich meine Leber den Adler zum Fraß preiszugeben. So fühlte ich mich während der Jagd der Kreaturen. Ich wünschte ich könnte nur noch schlafen, dann wäre alles gut…

 

Ich spürte irgendwann ein Ziehen an meiner Schulter, ein Rütteln und mir wurde schlagartig bewusst, dass Sie wieder da waren. Sie rissen mich sogar aus meinen Träumen, gönnten mir nicht einmal diese Welt des Friedens, die ich mir erschaffen hatte.

„Kimmy!“, hörte ich meinen Namen, war mir aber fast sicher, dass es noch Fetzen meines Traumes waren, die versuchten mich wieder in die tiefe Umarmung des Schlafes zu ziehen. Ich entzog mich der Berührung und rollte mich weiter zusammen.

„Kim.“ Diese Stimme kannte ich nicht… sie war eindeutig weiblich und mir vollkommen fremd, doch gleichzeitig hatte ich das Gefühl sie zu kennen. Wie warmer Balsam drang diese Stimme in mein Bewusstsein und beruhigte mich. Ich wusste, dass es dieses Mal nicht die Kreaturen waren, die mich angriffen, oder sie spielten ein neuen quälenden Streich mit mir.

„Du musst ihn hier weg bringen!“, sagte die Frauenstimme eindringlich.

„Aber was ist mit dir.“, entgegnete eine mir bekannte Stimme und ich hob müde den Blick, drehte mich zu den beiden Sprechenden und erstarrte augenblicklich. Es musste ein böser Traum sein oder ein Spiel, welches mich nun endgültig in den Wahnsinn treiben sollte.

Clay kniete vor mir, die Hand auf meine Schulter gelegt und sah mich eindringlich an. Die Dunkelheit war verschwunden, hatte Platz für mattes Licht gemacht, was es mir dennoch kaum ermöglichte die beiden klar zu erkennen. Alles schien mit einem grauen Schleier überzogen zu sein. Doch ich traute ihnen nicht… ich wollte diesem Trugbild keinen Glauben schenken. Ruckartig und keuchend schlug ich die Hand weg und wich vor ihnen zurück, kroch im staubigen Dreck und konnte ein starkes Zittern meines Körpers nicht mehr unterdrücken. Ich wollte schreien, doch nichts als ein Ächzen drang über meine Lippen und meine Brust hob und senkte sich unterdessen unter immer heftigeren Atemzügen.

„Kim.“ Clay sah mich geschockt an. War das nur der Schreck oder sah ich wirklich Besorgnis in seinen sonst so kühlen Augen aufflackern.

„Er muss sofort hier weg! Er ist schon fast zerbrochen.“ Die Frau erhob sich und trat langsam zu mir. Ihr Blick war auf mich gerichtet und diese sanften Augen beruhigten mich und nahmen mir von einem Moment zum anderen die Angst. Mit einem leichten Lächeln kniete sie sich vor mich und umarmte mich, ich jedoch konnte mich nicht rühren, war wie eine Puppe in ihren Armen.

„Ich danke dir…“, flüsterte sie leise nahe meines Ohres. „Ich konnte ihn noch einmal sehen und auch wenn es nur für eine kurze Zeit war, war ich sehr glücklich.“ Sie strich mir durch die schmutzigen Haare und sah mich traurig an. „Aber du gehörst hier nicht her,… es ist Buße, die ich tun muss, nicht du. Schon viel zu lange bist du hier.“

Ich schloss die Augen. Ich hatte keine Kraft mehr, jetzt wo ich wusste, dass alles vorbei war. Ihre Stimme hatte es gesagt und ich ergriff diese ausgestreckte Hand, klammerte mich an den letzten Funken Hoffnung, den ich in dieser Einöde hatte.

„Ich bitte dich, kümmere dich gut um Clay. Ich werde immer bei euch sein, gleich was passiert.“ Sie beugte sich zu mir und küsste meine Stirn. Eine mir bis dahin unbekannte Wärme breitete sich in mir aus und ich war für wenige Sekunden absolut zufrieden und glücklich. Dann fielen mir die Augen zu und ich fühlte wie mich endgültig der beruhigende Schlaf umfing.

 

Licht und angenehme Wärme umflutete mich, als ich erwachte. Der helle Sonnenschein war am Anfang so grell, dass ich das Gefühl hatte zu erblinden, als ich die Augen ruckartig öffnete. Ein brennender Schmerz zuckte durch meinen Kopf und ich unterdrückte nur mühsam ein gequältes Aufstöhnen. Ich war dieses Licht nicht mehr gewohnt, stellte ich fest, als ich mich unter der Decke zusammenrollte. Decke? Verwirrt öffnete ich halb die Augen und blinzelte die rote kuschelige Decke an, die nun ein Stück von meinem Rücken gerutscht war. Die Sonnenstrahlen kitzelten meine blasse Haut und wärmten meinen Rücken.

Da sich meine Augen langsam an das Licht gewöhnten, setzte ich mich auf und sah mich scheu um. Ich traute dem Ganzen hier nicht. War ich noch am Schlafen und träumte nur oder war ich vollkommen dem Wahnsinn verfallen? Ich betrachtete meine Hände und stellte fest, dass sie eingebunden waren, ebenso wie einige andere Stellen meines Körpers. Jemand hatte mich verarztet, also konnte ich doch nicht mehr dort sein, oder?

Nun ließ ich meinen Blick schweifen. Ich lag auf einem weichen Bett, es war vielleicht nicht sonderlich groß, dafür aber bequem. Die Sonne schien durch die zugezogenen Vorhänge, die vom Wind etwas zur Seite geweht wurden und nun einen hellen Streifen auf dem Teppichboden zeichneten. Ich beobachtete kurz das Lichtspiel und wand meinen Blick vom Fenster ab. Unterhalb des Fensters stand ein Schreibtisch, aufgeräumt und einige Bücher stapelten sich dort, neben einigen losen Blättern. Davor befand sich ein schwarzer Schreibtischstuhl aus Leder. Ich konnte einen Schrank entdecken, ein kleines Sofa, welches im Zentrum des Raumes stand und einen niedrigen Tisch. Die Tür auf der anderen Seite war nur angelehnt, doch scheinbar war niemand da, ich hörte weder Stimmen noch sonstige Geräusche.

Direkt neben mir auf dem Nachttisch lagen einige Früchte und eine Flasche Wasser stand neben einem bereits gefüllten Glas, das mir mit einem Schlag bewusst machte, dass ich unsäglichen Durst hatte. Mit zitternden Händen griff ich so hektisch nach dem Glas, dass ich es fast umstieß. Schwankend führte ich es zu meinem Mund, ignorierte dabei vollkommen, dass ich einen Teil des Wassers auf den Teppich beförderte und trank in gierigen Schlucken. Doch meine Kehle schrie nach mehr Flüssigkeit und ohne zu zögern ergriff ich die Flasche, die neben dem Glas stand, drehte sie auf und trank sie in einem Zuge fast vollkommen leer. Danach war mir zwar schlecht, aber der brennende Durst war besiegt und müde ließ ich die Flasche sinken.

Ich fühlte mich kräftiger und belebter, allerdings nicht stark genug, um nun die Wohnung zu erkunden. Ich rückte mich auf dem Bett etwas zurecht und stellte die Flasche zurück auf den Nachttisch.

 

Was war passiert? Ich erinnerte mich noch daran, wie ich vor den Kreaturen floh, an die Einsamkeit und Kälte, die Dunkelheit und Schwärze. Doch nun war ich frei? Ich spürte diese Gewissheit und wusste, dass ich es mir nicht nur einbildete. Jemand hatte mich zurück geholt- Clay war gekommen, zusammen mit dieser Frau. Sie hatte mir etwas ins Ohr geflüstert und sich bei mir bedankt. Aber das war doch unmöglich! Wieso sollte er…

„Du bist wach?“ Diese plötzlichen Worte erschreckten mich so sehr, dass ich einen Aufschrei von mir gab und mich unter die Decke flüchtete. Mein Herz pochte schmerzhaft in meiner Brust und als ich zur Tür sah, erblickte ich Clay. Er war in seiner mir bekannten menschlichen Form und hatte sich nicht verändert. Er war noch genauso schön, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Seine Haare waren zu einem Zopf zusammengefasst, seine grauen Augen wirkten erleichtert und erschrocken zugleich, was wohl an meiner Reaktion lag. Er trug eine schwarze Jeanshose und ein weißes Hemd, welches allerdings offen war. Langsam und vorsichtig trat er zu mir, blieb schließlich vor mir stehen und betrachtete mich auf eine seltsam ruhige Art. „Wie geht es dir?“, fragte er schließlich, nachdem er die stumme Musterung abgeschlossen hatte.

Aus irgendeinem Grund schwieg ich. Wollte oder konnte ich nicht antworten? Ich hatte keine Angst, aber ich wusste nicht, was ich sagen sollte, also sprach ich kein Wort. Ich legte nur leicht den Kopf schief, eine Eigenart, die ich schon immer hatte. Diese Reaktion zumindest erleichterte ihn und er atmete etwas auf. Ich konnte seine Gedanken förmlich vor meinen Augen tanzen sehen. Wie erleichtert und glücklich er war, dass ich überhaupt noch reagierte.

„Du hast sehr lange geschlafen. Ich dachte schon, du wachst gar nicht mehr auf.“, murmelte er und setzte sich vorsichtig auf den kleinen Stuhl, der neben dem Bett stand. „Fieber hattest du, sehr hohes sogar. Chris war oft hier, um sich nach dir zu erkundigen, dieses Mädchen auch.“ Sein Blick verfinsterte sich kurzzeitig und ich sah, wie er um seine Fassung kämpfte. Ich erinnerte mich an den Kampf zwischen den beiden, eine sehr blutige Schlacht war das gewesen.

„Erinnerst du dich noch, was passiert ist?“

Er wartete und schließlich gab ich ihm mit einem Nicken zu verstehen, dass ich ihm zuhörte und somit auch seine Frage beantwortete. Er wurde blass und fuhr sich fahrig mit seiner Hand durch die schwarzen Haare. Hatte er gehofft, ich hätte all das vergessen? Er schwieg und hielt den Kopf gesenkt, wagte es nicht mir in die Augen zu sehen. Hatte er Angst vor mir oder fürchtete er sich eher davor, mich zu verletzen?

Ich wollte ihm sagen, dass er keine Angst haben musste, dass alles in Ordnung mit mir war, doch entsprach das wirklich die Wahrheit? Konnte ich in Ordnung sein, nachdem das passierte? Vieles konnte ich nicht einmal erklären, viele Sachen die geschahen, hinterließen nur ein Gefühl des Unwissens.

Ich glaubte, er erkannte meine Fragen, gleich wenn ich sie nicht stellte. Er lehnte sich zurück und begann langsam und stockend zu erzählen.

„Weißt du, vor vielen, vielen Jahrtausenden gab es einmal einen Dämon, der sich unsterblich in einen Menschen verliebte. Dieser Dämon gehörte zu einem der Höchsten seiner Art und eigentlich war es ihm verboten auf der Erde zu wandeln. Doch er schlug die Regeln und Verbote in den Wind und schlich sich irgendwann auf die Erde.“ Er schloss die Augen und in seinem Gesicht spiegelte sich Trauer wieder. „Clay, so hieß er damals, verliebte sich in eine Frau, so rein und unschuldig, wie frisch gefallener Schnee. Dämonen verlieben sich nur einmal in ihrem Dasein wirklich, wenn sie einmal ihre Liebe gefunden haben, sind sie ihr auf ewig treu.“

Diese Worte versetzten einen kleinen Stich in mein Herz, doch ich schwieg und lauschte weiter seiner Geschichte, die ohne Zweifel seine eigene war. Ich würde mehr über ihn erfahren, ihn vielleicht verstehen lernen; gleich wenn es bedeutete, nie mit ihm zusammen sein zu können.

„Der Dämon und die Frau trafen sich heimlich immer wieder und sie schworen sich, sich nie zu trennen. Sollte sie sterben, so wollte er ihre Seele fangen und zu sich holen, auf dass sie für immer bei ihm bleiben konnte.“

Er öffnete die Augen und ich erschrak zutiefst. Nie habe ich Tränen in ihnen schimmern sehen.

„Doch ihre Liebe stand unter keinem guten Stern. Der Dämon wurde verraten, und die beiden Liebenden getrennt, jetzt und für alle Ewigkeit, sollten sie ohne den anderen ihr Dasein fristen. Clay sollte als gefallener Dämon auf die Erde verbannt werden und seine Geliebte auf ewig zwischen Leben und Tod auf den Feldern des Nichts wandeln, ohne die Möglichkeit zu haben, wiedergeboren zu werden. Nie sollten sie sich wieder begegnen…“ Schließlich und nachdem er mir einen langen tiefen Blick schenkte, wandte er sich ab und vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Ein Beben ging durch seinen Körper, der nichts mehr mit dem starken mächtigen Dämon gemein hatte. Er wirkte mit einem Mal so zerbrechlich auf mich, dass ich überfordert war. „Nie sollten sie sich wieder begegnen, doch dann….“

Er machte eine Pause und eine unangenehme Stille breitete sich aus. Ich ließ ihm die Zeit, die er brauchte, um sich zu fangen und zu beruhigen, legte ihm aber noch meine Hand auf die Schulter. Überrascht, ob meiner für ihn seltsamen Reaktion, fuhr er auf und sah mich an. Seine Augen waren gerötet und ich spürte das Zittern.

„Warum hast du das getan?“, fragte er mich plötzlich, ohne seinen vorherigen Satz weiter zu führen. „Wieso hast du so etwas Dummes getan?“ Clay schüttelte den Kopf und ich überlegte mir, was ich antworten sollte.

„Für dich.“, murmelte ich schließlich leise. Meine Stimme klang rau und war kaum zu verstehen.

„Wie bitte?“, fragte er und sah mich an. Ich bezweifelte, dass er meine Worte überhört hatte, dennoch wiederholte ich sie nochmals.

„Für dich… ich wollte doch…“

„Für mich?“, fuhr er mir dazwischen und wirkte nun wütend und verärgert, als hätte ich eine Narretei begangen und seine Pflicht sei es mich wie ein Kind auszuschimpfen. Betreten senkte ich den Kopf und zog meine Hand von seiner Schulter. Allerdings hatte ich nicht damit gerechnet, dass er meine Hand fing und festhielt. „Jetzt sieh mich schon an, wenn ich mit dir rede. Hast du Angst vor mir?“

Ich schüttelte leicht den Kopf, allerdings musste ich nicht ganz so überzeugend gewirkt haben, wie ich es beabsichtigt hatte.

„Ich tu dir nichts… ich will nur Antworten auf meine Fragen.“, sagte er, nur wesentlich sanfter und freundlicher als vorher. „Was hältst du von mir?“ Diese Frage passte ganz und gar nicht zu seinen vorherigen Worten. Sie war in den Raum geworfen und ich überlegte, ob nicht auch Clay nervös war.

Eine lange Zeit schwiegen wir beide und ich traute mich nicht den Blick zu heben und ihn anzusehen. In mir tobte ein Sturm der Gefühle, mein Herz schrie danach endlich die Wahrheit kundzutun und ihm alles zu gestehen, doch mein Verstand riet mir davon ab. Ich war hin und her gerissen und trotzdem breitete sich langsam ein wohlig warmes Kribbeln in mir aus. Schmetterlinge im Bauch, so nannte man das, wenn ich mich recht entsann. Meine Hand kribbelte dort, wo er mich berührte und ich spürte, dass ich rot wurde. Ich war so schwach und müde, aber das passierte mir immer noch, gerade jetzt wo Clay mir so nahe war.

„Wieso antwortest du mir nicht? Willst du nicht mehr mit mir reden?“ Ein wenig Enttäuschung schwang in seiner Stimme mit und er ließ meine Hand nun los, die kraftlos auf die Bettdecke sank. „Früher hab ich dich nie vom reden abhalten können.“ Er zog sich weiter zurück, das konnte ich mit meiner gesenkten Haltung erkennen. Ich wollte doch reden, wollte ihm alles sagen und offenbaren, doch mein Körper verweigerte mir seine Dienste und so blieb ich weiterhin stumm. Auch Clay schwieg nun, hing seinen eigenen Gedanken nach und als ich aufsah, spürte ich seine grauen Augen, die sich in meine brannten. Sein durchdringender Blick, seine prüfende Haltung, er las in meinen Augen, versuchte zu erkennen was in mir vorging, doch ich ließ ihm kaum die Möglichkeit dazu, senkte wieder Kopf und starrte auf meine Hände.

Seufzend gab er auf und erhob sich. „Ich mache dir eine Tasse Tee.“, gab er von sich und verließ enttäuscht den Raum. Ich sah ihm hinterher, teilweise traurig, teilweise fröhlich, da er mir etwas zu trinken machen wollte, mich zum ersten Mal mit dieser Aufmerksamkeit bedachte. War es nicht seltsam sich über so etwas zu freuen? Doch warum habe ich nichts gesagt, als er mit mir gesprochen hatte. Ich wollte ihm soviel erzählen, alles, was mir passiert war und wie ein Felsbrocken auf meiner Seele lastete.

Langsam wurde die Sonne auf meinem Rücken unangenehm. Heiß schien sie unterdessen durch das Fenster auf den Boden und nun auch auf den größten Teil des Bettes. Es war noch früh am Morgen, aber der Juni brachte die heißen Tage des Jahres mit sich. Es war doch Juni, oder? Ich rückte zur Bettkante und schwang meine Beine auf den weichen Teppich, testete vorsichtig, ob ich aufstehen und gehen konnte. Meine Füße waren ebenfalls verbunden und schmerzten auch ein wenig, als ich mein Gewicht mehr nach vorne verlagerte. Etwas unsicher richtete ich mich schließlich auf. Meine Beine fühlten sich an als wären sie aus Pudding. Langsam und wankend trat ich zum Fenster hinüber. Das lief auch ganz gut, nur fühlte ich mich wirklich müde, als ich mich am Schreibtisch festhielt und einen Blick auf den Kalender warf, der dort stand. Das Kalenderblatt zeigte zumindest an, dass es noch Juni war, aber sicher konnte ich mir deswegen nicht sein. Vielleicht hatte er einfach nur vergessen das Blatt abzureißen.

Ich wusste also immer noch nicht, wie viel Zeit vergangen war und wie lange ich dort verharrte. Ich tapste unsicher weiter zum Fenster und sah nach draußen. Die Sonne blendete mich und ein scharfer Schmerz zog durch meinen Kopf, ließ aber schnell nach und nur ein dumpfes Gefühl blieb zurück. Scheinbar gewöhnten sich meine Augen langsam wieder an das Tageslicht.

 

Clays Wohnung lag im Dachgeschoss, nahe der Williges Schule Mainz, das wusste ich, nur hier war ich noch nie gewesen. Er hatte mir nie gestattet ihn zu besuchen. Nun stand ich am Fenster und überblickte die Stadt, die nun in Sonnenlicht gehüllt dalag. Ich sah die Schule, sah das emsige Treiben und die Schüler, die eilig auf das große Gebäude zuliefen. Es waren also noch keine Ferien, oder waren sie vielleicht schon wieder vorbei?

Eine meiner Hände krampfte sich unbemerkt in den Vorhang und schließlich nachdem ich eine lange Zeit nur die Stadt betrachtet hatte, wollte ich das Zimmer wieder in Schatten tauchen. Es war zu warm, die Hitze schmerzte unangenehm auf meiner blassen, ausgetrockneten Haut. Doch plötzlich gaben meine Beine nach und ich stürzte nach vorne. Ich versuchte mich am Vorhang festzuhalten, doch das bremste meinen Sturz nicht, sondern sorgte nur dafür, dass ich die Gardine aus der Verankerung riss. Mit einem erschrockenen Aufschrei ging ich zu Boden und schlug mir schmerzhaft meinen Ellenbogen am Schreibtisch an.

Nur wenige Sekunden später, stand Clay in der Tür, wohl durch das Poltern und meinen Aufschrei von seiner bisherigen Arbeit abgelenkt. Erschrocken stürzte er zu mir und kniete sich neben mich. „Was machst du denn?“, fragte er besorgt und stützte mich fürsorglich, um mir beim Aufstehen zu helfen. Ohne, dass ich es wollte, zuckte ich zusammen und fuhr zurück. Sofort hielt er inne und seine Hände schwebten nur wenige Zentimeter von mir entfernt. Traurig ließ er sie sinken und murmelte eine Entschuldigung.

„Es tut mir sehr leid…“, begann er, schwieg dann aber wieder und wartete, bis ich mich beruhigt hatte. Warum hatte ich nur so plötzlich Angst bekommen? Er wollte mir doch nur helfen. Wesentlich behutsamer und vorsichtiger streckte er nun seine Hand nach mir aus, berührte mich aber nicht. „Darf ich?“, fragte er leise und dieses Mal gab ich ihm mit einem Nicken meine Zustimmung.

Sanft und behutsam griff er unter meine Arme und versuchte erst mir beim Aufstehen zu helfen, jedoch gehorchten mir unterdessen meine Beine überhaupt nicht mehr. Als er das ebenfalls bemerkte, schob er mich nur ein Stückchen zurück, um eine Hand unter meine Kniekehlen zu schieben und die andere auf meinen Rücken zu legen. Vorsichtig wurde ich hochgehoben und zum Bett getragen. Mein Herzschlag beschleunigte sich erneut. Wieder dieses warme Gefühl und dieses Kribbeln. Er setzte mich auf der Matratze ab und während er langsam meinen Rücken hoch und hinunter strich schüttelte er mein Kissen auf.

„Geht’s wieder?“, fragte er mich unvermittelt, als ich wieder im Bett lag. „Du solltest dich schonen und nicht aufstehen. Lionare hat dich zwar geheilt, aber du musst erst wieder zu Kräften kommen.“ Er setzte sich wieder neben mich und schien ein wenig mit sich zu hadern.

„Welcher Tag ist heute?“, fragte ich schließlich all meinen Mut zusammennehmend.

Er sah mich überrascht und doch erleichtert an. „Der 24. Juni…“, antwortete er mir ruhig und geduldig.

„Welches Jahr?“, fuhr ich nun mit etwas kräftiger Stimme fort. Die Fähigkeit zu sprechen war zu mir zurückgekehrt und endlich konnte ich wieder mit ihm kommunizieren.

„Kim, es sind nur drei Tage vergangen… vor drei Tagen ist das passiert. Du bist seitdem bei mir und hast die letzten 48 Stunden geschlafen.“ Er sah mich ernst an und irgendwie muss mein Gesicht wohl Bände gesprochen haben. „Die Zeiten vergehen unterschiedlich schnell. Während hier Minuten vergehen, sind auf den Feldern des Nichts Tage oder Wochen vergangen. Dort hat nichts eine Bedeutung, auch Zeit nicht. Deswegen hat es so lange gedauert, bis wir zu dir kamen.“

„Lange…“, murmelte ich nur und schloss die Augen.

„Ja, und das tut mir leid.“

„Ich wollte, dass du glücklich bist.“, begann ich schließlich der Stille entgegen zu wirken, die sich seit den letzten Minuten stetig ausgebreitet hatte. Das Ticken der Uhr war unnatürlich laut geworden und hämmerte ohne Gnade in regelmäßigen Abständen auf meine Gedanken ein. Er hob den Kopf und sah mich fragend an. „Ich wollte, dass du Ashnan wiedersiehst und endlich wieder lachen kannst. Deine große Liebe…“ Den letzten Satz hatte ich nur geflüstert, doch selbst das schien er gehört zu haben. Doch er sagte nichts, wollte mich dieses Mal nicht unterbrechen und wartete geduldig, dass ich fortfuhr. Ich musste eine ganze Weile meine Gedanken ordnen. „Du hast mir mal von ihr erzählt.“, begann ich und bemerkte seinen entsetzten Gesichtsausdruck. Ich lächelte leicht und sprach dann weiter. „Du warst betrunken und es ist schon eine Weile her. Du sagtest mir, dass du eine einzige große Liebe hättest, die du suchen würdest, dabei hattest du sie schon längst gefunden, konntest nur nicht bei ihr sein. Du wolltest sie eigentlich befreien.“

Wie versteinert starrte er mich an und schien eine Weile zu brauchen, um das alles zu verarbeiten.

„Du wolltest… dass ich glücklich bin.“

Ich nickte leicht. „Ja, ich wollte dir helfen. Als ich sah, was du mit Chris gemacht hast, was alles passierte und was du sagtest, ich…“ Sollte ich das jetzt wirklich aussprechen? Sollte ich ihm wirklich sagen, was ich fühlte und dachte, wohlwissend, dass nur der Gedanke an eine einzige Person sein Herz beherrschen würde.

„Du…“, murmelte er und sah mich forschend an.

„Ich… ich wollte einfach Chris nicht… verlieren.“, stotterte ich. „Ich meine, er hat jemanden gefunden, den er liebt, mit dem er glücklich sein kann. Du hast jemanden, den du liebst und mit dem du zusammen sein wolltest.“ Ich hatte es nicht gesagt, wieder  meine wahren Gedanken und Gefühle versteckt. Ob ich jemals über meinen Schatten springen würde? Wahrscheinlich müsste er mit mir gemeinsam diesen Schritt machen.

„Und was ist mit dir? Was ist mit deinen Gefühlen?“, flüsterte er und rutschte ein wenig näher. „Sag es mir endlich, Kim. Ich möchte es endlich von dir hören, nicht nur vermuten oder ahnen, sondern es sicher wissen.“

„Ich liebe dich.“, sagte ich nun ohne weiter darüber nachzudenken. „Schon seit… seit wir uns zum ersten Mal begegneten.“ Ich blickte betreten zur Decke, in die sich meine Finger verkrallt hatten. Nun hatte ich es gesagt, hatte die Worte ausgesprochen, die sich seit letztem Jahr in mir immer wieder und wieder gesammelt hatten, wenn ich ihn sah. Ich war schwul, das habe ich schon damals erkennen müssen, doch wusste ich es gut zu verbergen. Ich liebte einen Jungen und das seit ich sechzehn Jahre alt war. Nun war ich siebzehn, er nicht nur drei Jahre älter als ich, sondern wahrscheinlich viele Jahrtausende.

Obwohl er mit so einer Antwort gerechnet hatte – da war ich mir sicher – blieb er ruhig und sagte nichts dazu. Ich wünschte, ich hätte den Mut ihm jetzt in die Augen zu sehen und in ihnen zu lesen, um zu wissen, was er von meinem Geständnis hielt, doch ich hatte Angst vor dem Ergebnis. Würde er mich jetzt hassen und verachten? Oder sich sogar darüber lustig machen?

Als hätte er meinen Gedanken erahnt, sagte er: „Was denkst du, was ich jetzt mache? Dich auslachen oder hassen?“ er wirkte ein wenig enttäuscht. „Gerade du solltest wissen, dass ich das nie tun würde. Liebe ist etwas sehr Ernstes, egal auf welche Art und Weise sie sich äußert. Ich würde mich nie darüber lustig machen!“

„Entschuldige.“ Es war mehr ein Reflex gewesen, etwas, was ich immer sagte, wenn mir jemand solch einen Vorwurf machte.

„Du musst dich nicht entschuldigen, wofür denn? Ich habe so etwas geahnt, die ganze Zeit. Ich wollte es nur von dir hören. Dachtest du ich bin so blind und bemerke nicht, was in dir vorgeht? Ich bin dein Freund und ich kenne dich unterdessen gut genug. Wie oft hab ich dir wegen deiner Mädchengeschichten und Affären Vorträge gehalten, dabei wusstest du nur zu gut, was Liebe war.“ Er atmete tief ein und verengte die Augen, etwas was er immer tat, wenn er nachdachte oder nach einer Lösung suchte. „Warum hast du es mir nur nie gesagt?“, murmelte er schließlich und lehnte sich nach vorn. Seine Hände umgriffen seine Knie, stützen seinen Oberkörper auf diesen ab und er schob sich mir entgegen. „Ich hätte dich doch nicht ausgelacht.“

„Aber du hast mir gesagt, dass du mich hasst und verabscheust.“, sprudelt es aus mir heraus. „Vor ein paar Tagen hast du mir noch gesagt wie abscheulich du mich findest.“ So unwirklich sich dieses ‚vor ein paar Tagen’ für mich anhörte, es war ja erst vor einer halben Woche passiert. Tränen stiegen mir in die Augen und ohne dass ich es wollte, rannen sie meine Wangen hinab und tropften auf die Bettecke. „Ich hätte doch nie eine Chance gehabt, das hast du klar und deutlich gemacht an jenem Abend, als du mir von ihr erzählt hattest.“ Ein Schluchzen unterbrach mich und machte es mir unmöglich Weiteres zu sagen. Schniefend und mit zusammengekniffenen Augen saß ich auf dem Bett und hatte das Gefühl mich mehr und mehr zu verlieren.

Ich spürte seinen Blick, der auf meinen bebenden Schultern ruhte und kurz darauf seine Hände, die mich umklammerten und an sich zogen. Im ersten Moment wehrte ich mich gegen ihn, wollte ihn von mir stoßen, etwas erwidern, doch ich blieb stumm und tat gar nichts. Nun konnte ich mich nicht mehr zurückhalten, umschlang weinend seinen Hals und krallte mich an seinem Hemd fest. Immer wieder schluchzte ich auf, durchnässte sein Hemd und klammerte mich wie ein Ertrinkender an ihn. Er hielt mich einfach nur und wiegte mich sanft vor und zurück.

„Du bist so ein Dummkopf, weißt du das.“, flüsterte er sanft und seine Finger fuhren durch meine Haare. „Du hast nie daran gedacht, mich selbst zu fragen, was ich denke.“

„Aber…“, begann ich, doch er legte einen Finger über meine Lippen, deutete mir an zu schweigen.

„Es stimmt, ich liebe Ashnan auch jetzt noch, doch ich habe mich langsam damit abgefunden, sie nicht mehr erreichen oder zu mir holen zu können. Ich will ihr den ewigen Frieden schenken und Asak und Lionare wollen mir dabei helfen, sie endlich zu befreien und ihre Seele in die höheren Welten ziehen zu lassen.“ Ich sah ihn fragend an, verstand nicht so ganz den Rest des Satzes. „Höhere Welten, das sind der Himmel und die Unterwelt.“, erklärte Clay mir und lächelte sanft. „Die Unterwelt ist kein böser Ort, das was ihr Hölle nennt, sind die Felder des Nichts; das all die Albträume eines Menschen vereint und dir zeigt, was du am meisten fürchtest.“

„Ein Albtraum?“

„Ja, dein schlimmster, die schrecklichsten Gedanken spiegeln sich dort wieder und ist damit für jeden etwas anderes. Du fürchtest dich vor dem Nichts, vor der Angst selbst. Das war dein Albtraum. Einsamkeit, Unwissenheit und Dunkelheit.“

Ich klammerte mich fester an ihn, nachdem er das gesagt hatte. Die Furcht kehrte für einige Sekunden zurück, doch ich kämpfte gegen diese an und verbannte sie im hintersten Winkel meines Herzens.

„Es tut mir so leid, dass dir das passiert ist.“

„Aber Chris hättest du dorthin verbannt.“ Plötzlich und unvermittelt war mir dieser Gedanke gekommen. Chris hätte er einfach so verbannt, in eine Welt der Angst und Albträume. Ich sah ihn nun mit funkelnden Augen an. „Er wäre…“

„Ihm wäre gar nichts passiert.“, fiel er mir ins Wort und umgreift meine Schultern mit beiden Händen. „Er ist anders als du in der Lage mit so etwas fertig zu werden und sich zu schützen. Er ist immerhin nicht nur irgendein Mensch.“

„Aber ich bin irgendein Mensch, wie?“, fauchte ich ihn ungehalten an und unterdrückte meine aufkeimenden Tränen.

„Nein, das hast du falsch verstanden. Musst du immer alles so negativ auffassen und auf dich beziehen?“ Er schüttelte leicht den Kopf. „Na ja, immerhin hast du deine Streitsucht wieder.“, murmelte er dann leise, was ihm einen entrüsteten Blick von mir einbrachte. „Chris ist etwas, was das Medium genannt wird. Ein Wesen, was das Gleichgewicht zwischen Licht und Dunkelheit herstellt und somit all das hier zusammenhält. Er hat es geschafft, ist über sich hinausgewachsen und ich bin mir sicher, er hätte problemfrei die Felder des Nichts überstanden.“ Er wandte sich von mir ab und murmelte: „Denke ich zumindest.“

„Du warst dir also nicht sicher.“, hakte ich unnachgiebig nach.

„Nicht hundertprozentig…“, gab er schließlich zu. „Was erwartest du von mir? Mir war alles egal, ich wollte nur meine Geliebte befreien, egal, wen ich opfern musste. Shion stand im Weg, wie immer, also musste ich sie besiegen, um mein Ziel zu erreichen.

„Du kanntest sie, nicht wahr? Ich habe dieses Erkennen in deinen Augen gesehen.“

„Erkennen?“

Lächelnd nickte ich und flüsterte: „Auch schon als du Chris das erste Mal gesehen hast, haben deine Augen diesen kurzen Schimmer angenommen.“

„So genau beobachtest du mich?“ Ich spürte, dass ich rot wurde und senkte den Blick. „Erkennen also… ja ich habe sie wieder erkannt. Wie du weißt, bin ich sehr alt, älter als diese Geschichte andauert. Ich hatte früh von Chris und dem Medium erfahren und schon oftmals versucht Ashnan zurückzuholen. Denkst du es war der erste Versuch dieser Art?“ Verblüfft sah ich zu ihm und er schmunzelte leicht, ob meines verwirrten Gesichtausdrucks.

„Nicht?“

„Ich habe sehr oft versucht die Seele Chris’ dorthin zu bannen, aber immer tauchte diese verfluchte Seele von Shion auf und hinderte mich daran. Wir sind schon ewig Rivalen, wenn es um das Medium geht. Sie beschützt ihn und hilft ihm seine Entscheidung zu treffen.“

„Also hättest du ihn doch…“

„Ist es nicht langsam ermüdend, immer wieder einen Streit anzufangen?“

„Darum geht es doch gar nicht.“, antwortete ich ihm. „Es geht um’s Prinzip!“ Ich war wütend und enttäuscht. Warum wusste ich selbst nicht genau, aber in Anbetracht der Tatsache, dass er Chris, einen Freund, so hintergangen hätte, konnte ich einfach nicht anders als sauer auf ihn zu sein.

„Ich bin ein Dämon, klingelt’s?“, meinte er lakonisch dazu und grinste dann gespielt böse.

„Ich weiß… Clay.“ Es war das erste Mal dass ich seinen richtigen Namen aussprach und ich stellte fest, dass mir der Name gut gefiel. Er selbst sah mich überrascht an und fing dann an zu grinsen.

„Daran erinnerst du dich noch ganz genau, wie?“

„Du machst dich über mich lustig.“, entgegnete ich barsch, spürte aber die Hitze auf meinen Wangen.

„Du bist ein hoffnungsloser Fall.“ Ich schwieg zu diesem Kommentar und schloss die Augen. Ich spürte seinen Blick auf meinem zierlichen Körper ruhen. Schließlich bemerkte ich einen Luftzug und hörte das Rascheln von Kleidung. Er war aufgestanden und strich mir nur kurz durch die Haare. „Ruh dich noch ein wenig aus, später solltest du dringend duschen gehen, wenn du etwas gegessen hast. Ich hab dich zwar gewaschen…“

Weiter kam er nicht, denn ruckartig setzte ich mich auf und starrte ihn aus großen Augen an. „Du… du hast mich… ge-… gewaschen?“ Ich stotterte nur vor mich hin und mein Gesicht musste in dem Moment jeder Tomate Konkurrenz gemacht haben. Er hatte mich nackt gesehen und mich berührt. Allein die Vorstellung dessen erregte mich in gewisser Hinsicht. Schnell verwarf ich diese Gedanken. Er musterte mich mit hochgezogener Augenbraue und neigte sich dann grinsend zu meinem Ohr.

„Sicher,… nur frage ich mich, an was du gerade gedacht hast.“

„An nichts.“, gab ich leise von mir und glaubte noch röter zu werden. Würde ich jetzt einen Spiegel vor mir sehen, würde ich definitiv so rot sein, wie die feuerroten Strähnen meines Haares.

„Sieht mir nicht danach aus.“, entgegnete er nur und stand dann auf, um das Zimmer zu verlassen. Er unterließ es, weitere Fragen zu stellen, wofür ich ihm in der Sekunde dankbar war.

 

Nach kurzer Zeit war ich wieder allein mit mir selbst und meinen Gedanken. Einiges hatte sich geklärt, aber viele offene Punkte waren noch allgegenwärtig. Ich verdrängte die Grübeleien an die rationalen Erklärungen der Ereignisse und schob meine persönlichen Gefühle und meine Situation in den Vordergrund. Ich hatte ihm doch tatsächlich meine Liebe gestanden. Doch wirklich darauf reagiert hat er nicht. Es war, als hätte er es einfach übergangen, gar nicht wahrgenommen, als seien es nur ein paar unbedeutende Worte. Irgendwie schmerzte mich diese Erkenntnis. Ich wusste ja, dass er mich nicht liebte, aber so ehrlich wie ich zu ihm war, so ehrlich hätte er auch zu mir sein können. Die Abfuhr zu hören, war etwas anderes als sie zu erahnen.

Seufzend ließ ich mich zurück in die Kissen sinken und drehte mich auf die Seite. Er hatte mich getröstet, als ich weinte. Dabei hatte ich angenommen nicht mehr die Fähigkeit zu besitzen Tränen vergießen zu können. Doch wieder war ich einem Irrtum erlegen, denn ich hatte lange und unaufhörlich diese salzige Flüssigkeit vergossen. Sie waren zurückgekehrt, doch dieses Mal war ich damit nicht alleine gewesen.

Ich spürte wieder, wie die Feuchtigkeit über meine Wangen rann, dieses Mal nicht aufgrund der Erinnerung und des Schmerzes, sondern weil ich diese Unwissenheit hier nicht aushielt. Bedeutete ich ihm so wenig, dass er nicht einmal jetzt ehrlich zu mir sein konnte. Es schmerzte zu wissen, dass ich nicht ernst genommen wurde, gleich was ich sagte.

Ich vergrub mein Kopf in das Kissen und rollte mich wieder zusammen. Ich wollte im Moment nichts sehen und nichts hören. Es war mir auch egal, dass die Sonne immer wärmer auf meinen Rücken fiel. Unbemerkt driftete ich ab und schlief ein, ohne mich wirklich zu beruhigen. Ich fiel in den nächsten Albtraum, der mich heimsuchte.

 

Es war bereits abends als ich aufwachte. So recht konnte ich mich nicht mehr an meine Träume erinnern, aber es war nichts Angenehmes, das spürte ich. Ich war verschwitzt, meine struppigen Haare klebten an meiner Stirn und ich hörte das Rauschen meines Blutes in den Ohren. Mein Herz schlug schnell und ich beruhigte mich erst, als ich eine Weile lang auf den Teppich starrte und anfing die Muster mit den Augen zu verfolgen. Ich fühlte mich nicht wirklich wacher und munterer als zuvor und irgendwie kam es mir so vor, als wäre das hier ein Traum und ich saß in Wirklichkeit immer noch alleine in der Dunkelheit, gehetzt von diesen fremden Wesen. Mir fehlte der Sinn für das hier und jetzt, ich hatte Probleme damit, zu erkennen, was Traum und was Realität war.

Nachdenklich sah ich mich im Zimmer um, nur um festzustellen, dass ich immer noch allein war. Clay musste entweder nicht da sein, oder er verweilte in einem anderen Zimmer.

Vorsichtig setzte ich erneut meine verbundenen Füße auf den Boden und stand auf. Es ging besser als zuvor, der Schwindel war dieses Mal nicht vorhanden und schlecht fühlte ich mich auch nicht. Ich trug ein Hemd? War mir das beim ersten Mal nicht aufgefallen, oder hatte Clay es mir erst später angezogen? Schlagartig wurde ich wieder rot, als ich daran dachte, dass er mich auch schon gewaschen hatte. Ich brauchte eine Dusche und zwar eine kalte, um wieder zu Sinnen zu kommen. Da meine momentane Lust Clay zu begegnen und mit ihm zu reden auf einem nie geahnten Tiefpunkt angekommen war, entschloss ich mich dazu, das Bad selbst zu suchen. Immerhin wollte ich seine Hilfe zum jetzigen Zeitpunkt nicht wirklich in Anspruch nehmen.

Leise trat ich zur Tür, öffnete sie und spähte hinaus in den Flur. Er lag im Dunklen und war schmal. Fünf Türen zweigten davon ab, ich befand mich gegenüber der Eingangstür. Schuhe standen dort, eine kleine Garderobe hing an der Wand zu meiner rechten und eine Fußmatte lag direkt vor dem Holzeingang auf dem Parkettboden. Ich ließ meinen Blick nach links wandern. Unter einer Tür schimmerte Licht hervor und Musik war zu hören. Das musste das Wohnzimmer sein. Also waren die beiden anderen Türen die Küche und das Bad. Ich grinste leicht und wollte mich gerade durch den Flur auf die Türen zu bewegen, als mich eine amüsierte Stimme aus den Gedanken riss und zusammen fahren ließ:

„Du schleichst umher, wie ein Einbrecher.“ Clay tauchte aus dem Dunkel eines Raumes auf, den ich als Küche identifizierte, da er eine Packung Kekse in der Hand hielt. Mochten Dämonen Süßigkeiten? Diesen irrsinnigen und unpassenden Gedankengang beiseite schiebend, sah ich ihn an wie ein ertapptes Kind und musste wohl besonders dämlich gewirkt haben. Er fing nämlich plötzlich an zu lachen. Wütend funkelte ich ihn an. Er hatte mich schon wieder aus dem Konzept gebracht.

„Hör auf zu lachen!“, fauchte ich meinen Freund an.

„Aber dein Gesicht eben!“, prustete er und dachte nicht im Traum daran aufzuhören. „Wo wolltest du denn hin..?“

„Zum Bad“, erwiderte ich trocken und blinzelte kurz als er das Licht des Flures anmachte.

„Das ist dort.“ Er deutete mit seiner rechten Hand auf die Tür neben sich und grinste nun selig vor sich hin.

„Das weiß ich selbst!“, erwiderte ich, da es ja keine weitere Auswahlmöglichkeit mehr gab, die sich als Bad entpuppen würden.

„Schön, dann komm…“ Er verschwand kurz in der Küche, um die Kekspackung abzulegen, tauchte aber nur Sekunden später wieder auf und trat zum Badezimmer. Ich sah ihn verwirrt an. „Ich helfe dir erst mal deine Verbände abzunehmen, oder willst du das selbst machen?“ Er betrachtete mich amüsiert. „Keine Sorge, ich schau dir schon nichts weg, zudem hast du nichts, was ich nicht schon einmal gesehen habe.“

„Ach, halt doch den Mund, Florian!“ Wütend stapfte ich auf die Tür zu und ignorierte dabei völlig, dass mir davon die Beine, insbesondere die Füße wehtaten.

„Auf einmal nicht mehr Clay?“, fragte er und hielt mich am Arm fest, als ich an ihm vorbei gehen wollte. „Nenn mich bei meinem richtigen Namen, wenn du ihn schon weißt. Außerdem…“, er sah mir in die Augen, „… tust du dir selbst weh, wenn so verkrampft durch die Gegend läufst. Sei etwas ruhiger und entspannter. Hier passiert dir nichts. Ich beschütze dich.“

„Du beschützt mich?“ Ich musste zugeben, diese Worte kamen überraschend für mich. Ich hätte nicht gedacht, dass er so etwas jemals sagen würde.

„Ja.“, erwiderte er und in seinen Augen sah ich dass es nicht einfach nur leere Worte waren, sondern ernst gemeint zu sein schienen. „Und jetzt komm.“ Er zog mich sanft aber bestimmt in das große Badezimmer. Es war in hellen Grautönen gehalten, die Fließen schimmerten in einem zarten perlmutfarbenen Ton, teilweise mit dunkleren anthrazitgrauen Fließen durchwoben, die Muster an die Wände malten. Die Garnitur hatte denselben Farbton und musste zugeben, dass sie mir mehr und mehr gefiel. Sie erinnerte mich an Clays Augen, die mich musterten und amüsiert funkelten. Er dirigierte mich zu einem kleinen Hocker, auf den ich mich setzte und auf seine Aufforderung hin das Hemd auszog. Vorsichtig begann er meine Verbände zu lösen und sich abzuwickeln. Er ließ sich Zeit, selbst meine aufsteigende Nervosität hetzte ihn nicht und irgendwann wurde ich doch so unruhig, dass ich begann auf dem Hocker hin und her zu rutschen.

„Kannst du nicht einmal stillhalten?“ Er hielt kurz in seiner Bewegung inne und sah mich strafend an.

„Tut mir leid.“, murmelte ich.

„Du bist ein hoffnungsloser Fall.“

Endlich war er fertig, legte die Bandagen und das Verbandmaterial zur Seite, doch anstatt mich loszulassen, begann er über meine Haut zu streichen. Ich erstarrte abrupt und wandte den Kopf ab, nur um in einen Spiegel zu blicken, und so genau sehen zu müssen, was er tat. Er tastete meine Körper ab und untersuchte ihn. Wieder hatte ich dieses Kribbeln im Bauch und die Röte schoss mir ins Gesicht. Jedes Mal wenn seine Finger sanft über meine Haut fuhren und mich nur zaghaft berührten, hatte ich das Gefühl, er würde eine brennende Spur auf meinem Körper hinterlassen. Mein Herzschlag beschleunigte sich um ein vielfaches und hielt er mich zuvor schon für nervös, so war ich nun aufgebracht und in gewissem Maße erregt. Beschämt ließ ich die Untersuchung über mich ergehen und senkte den Blick. Meine Gedanken spielten verrückt und ich dachte wirklich für einen Moment daran mich umzudrehen und ihn zu küssen.

„Ich bin fertig.“, sagte er schließlich leise und trat einen Schritt zurück. „Lionare hat wirklich gute Arbeit geleistet. Du hast kaum noch Verletzungen, die Restlichen werden bald verheilt sein.“

„Danke.“, murmelte ich nur leise und betete innerlich, dass er nun endlich gehen und mich allein lassen würde. Ich traute mich nicht aufzusehen, oder ihn nur durch den Spiegel zu beobachten.

„Brauchst du noch Hilfe? Ansonsten lasse ich dich allein. Ich lege dir Kleidung von mir vor die Badtür. Frische Handtücher sind in dem Schrank dort.“ Irrte ich mich, oder war er jetzt selbst ein wenig verlegen. Seine Stimme wirkte anders und ein wenig nervös, etwas was ich zumindest bei ihm überhaupt nicht gewohnt war. Schließlich schüttelte ich den Kopf.

„Danke, ich komm’ schon klar.“

Ich vernahm nur ein Seufzen, dann wandte er sich ab und verließ das Zimmer. Etwas enttäuscht hob ich den Blick und sah in den Spiegel. Gerade fiel die Tür ins Schloss und ich war allein. Was hatte ich eigentlich erwartet. Dass er trotzdem hier bei mir blieb und vielleicht sogar meine Gefühle erwiderte? Wobei es schon unfair gewesen wäre zu bleiben und mir immer noch Hoffnung zu geben. Seufzend stand ich auf und betrachtete mein Konterfei. Meine braunen leblosen Augen starrten zurück. Ich sah furchtbar aus, das musste ich mir eingestehen. Meine Haut war aschfahl und bleich, wirkte fast schon durchsichtig, meine Wangen waren ein wenig eingefallen und mein zartes Gesicht wirkte durch den Bluterguss in den Modefarben Blau-Grün um mein rechtes Auge seltsam entstellt. Ich wusste gar nicht mehr, wie es zu diesem gekommen war, aber eigentlich müssten noch mehr davon existieren. Meine braunen Haare, die mit roten und blonden Strähnen durchzogen waren, hingen matt und fettig in mein Gesicht. Ich schaute hinab zu meinem ausgemergelten Körper, der noch dünner geworden war. Meine Hände tasteten die Hämatome ab, doch mehr als blaue Flecken konnte ich nicht finden, hier und da einige Kratzer, aber schlimmere Verletzungen musste Lionare geheilt haben.

Ich atmete hörbar aus und entledigte mich schließlich auch meines letzten Kleidungsstücks. Die Shorts glitt mit einem Rascheln auf den gefließten Boden und nun sah ich auch, dass die Berührungen Clays nicht spurlos an mir vorbeigegangen waren. Beinahe schon panisch starrte ich an mir herab zwischen meine Beine. Konnte es eigentlich noch schlimmer werden? Diese Frage beantwortete ich mir im nächsten Moment selbst, als meine Hand gegen meinen Willen über meinen Bauch strich und schließlich in meinem Schoß versank. Mein Gewissen schrie mir zu wieder zur Vernunft zu kommen, doch in dem Fall hatte sich mein Körper verselbstständigt und meine Hand umschloss mit einem Mal mein erregtes Glied. Keuchend stöhnte ich auf und klammerte mich mit der anderen Hand an das Waschbecken. Meine Gedanken drehten sich nun nur noch um eine Person- Clay. Er erschien vor meinen geschlossenen Augen und unweigerlich streichelte ich mich fordernder und schneller. Meine eigene Stimme quittierte mir diese Handlung sofort und ein etwas lauteres Stöhnen entwich meinen Lippen. Mühsam presste ich danach den Mund zu und grub meine Zähne so stark in die Unterlippe, dass sie fast blutete. Er sollte nicht hören, was ich tat, ansonsten hätte ich ihm gar nicht mehr in die Augen blicken können. Schließlich kam ich mit einem heiseren Aufschrei und keuchte dabei seinen Namen, doch es war nicht erlösend oder befreiend, sondern hinterließ eher ein dumpfes Gefühl der Einsamkeit.

„Verflucht…“ Ich sank kauernd zu Boden, ignorierte für’s erste die weißen Flecken auf den Fließen und umschlang meine Knie mit den Armen. Nun fühlte ich mich noch schäbiger und schmutziger als zuvor. Nichts von dem, was ich getan hatte war in irgendeiner Art und Weise richtig befriedigend gewesen. Tränen stiegen mir in die Augen, als ich hektisch nach einem Stück Toilettenpapier griff und zunächst meine Finger säuberte und anschließend den Boden.

 

Als ich aus der Dusche trat hatte ich mich einigermaßen beruhigt. Meine Augen waren rot geweint und obwohl ich mich mehr als gründlich gereinigt hatte, fühlte ich mich immer noch schmutzig. Ich hatte bisher noch nie so ein schlechtes Gewissen gehabt, weil ich mich selbst befriedigte. Aber bisher wusste Clay nichts von meinen Gefühlen und zudem war ich sonst immer in meinem eigenen Zimmer gewesen. Ich tastete nach Handtüchern, erinnerte mich aber wieder daran, dass Clay keine für mich bereitgelegt hatte, sondern nur sagte, wo ich sie finden würde. Tropfend verließ ich die Dusche, kramte mir zwei dunkle Handtücher aus dem Schrank und wickelte mir sogleich eines um die Hüfte. Wieder trat ich vor den Spiegel und starrte mich nun schon fast angeekelt an. Ich sah in der Tat noch schlimmer aus als vorher. Das war auch der Grund, weswegen ich mir sehr viel Zeit ließ um mich fertig zu machen. Die Kleidung fand ich wie angegeben vor der Tür. Eine dunkle Hose, die ich mir auch hätte anziehen können, ohne sie zu öffnen und ein langes T-Shirt. Zum Glück lag ein Gürtel dabei, so dass ich kurz darauf fertig angezogen wieder vor dem Spiegel stand und mehrmals tief durchatmete.

Meine Augen waren nicht mehr rot, beruhigt hatte ich mich auch und nachdem ich mir die Haare gekämmt hatte, sah ich zumindest halbwegs annehmbar aus.

Ich mochte vielleicht anderthalb Stunden im Bad gewesen sein, als ich wieder in den Flur trat. Das Licht brannte immer noch und ich hörte etliche Stimmen, die aus dem Wohnzimmer kamen. Scheinbar hatte Clay Besuch, zumindest klang es danach, als seien einige Leute gekommen. Ein Blick zum Eingang bestätigte mir diese Annahme und leise trat ich zur Wohnzimmertür. Ich wollte gerade klopfen, als ich Chris’ ruhige Stimme vernahm:

„Du willst dich ihm gegenüber so verhalten, wie sonst auch? Immerhin hat er ganz schön was durchmachen müssen und das nur wegen dir.“

„Dabei wissen wir noch nicht einmal was dort genau geschehen ist, wir spekulieren ja nur darüber.“, mischte sich eine klare Stimme mit in das Gespräch, wenn ich mich nicht sehr irrte war das Lionare. Sprachen sie über mich?

„Du weißt doch ganz genau, was er für dich empfindet.“, fuhr Chris fort, ohne auf Lionares Einwurf zu achten. Ich konnte nichts anderes tun als zuhören und abwarten, was sie noch erzählen würden.

„Ich weiß es. Er hat es mir selbst gesagt.“ Clays tiefe Stimme würde ich unter tausenden wieder erkennen. Stille schien einzukehren, denn nun drang kein Ton mehr aus dem Zimmer. Schließlich erbarmte sich Clay einiger weiterer Worte. „Denkst du etwa, ich hätte das nicht selbst mitbekommen, Chris? Was meinst du warum ich ihn so behandelt habe am Anfang. Ich dachte er würde aufgeben, aber mir scheint, dass wohl viel mehr das Gegenteil eingetreten ist. Ich bin nun einmal ein Dämon und die lieben nur einmal, so Leid es mir tut.“

Da war sie, meine Antwort! Die Antwort auf meine ungestellte Frage vor einigen Stunden, die Clay mir schuldig blieb. Nun wusste ich es und es auf diese Art und Weise zu erfahren war nicht gerade mein Wunsch gewesen. Wenigstens einmal hätte er ehrlich zu mir sein können, und es mir ins Gesicht sagen können.

Nach und nach sickerten diese Worte zu meinem Bewusstsein durch, manifestierten sich und ließen nur noch eine Option offen: Flucht. Ohne weiter darüber nachzudenken lief ich zur Wohnungstür. Ich wollte einfach nur weg von hier. Der Gedanke noch länger hier zu bleiben lähmte mich fast und ließ mich stolpern. Ich fing mich gerade noch und zog mir Chris’ Schuhe an, die zwar ein wenig zu groß waren, aber besser als barfuss durch die Mainzer Innenstadt zu laufen.

Ich öffnete die Tür, stürzte hinaus und dachte nicht einmal daran sie wieder zu schließen. Als wäre der Teufel hinter mir her, hastete ich die Treppen hinab, und stieß die Tür zur Straße auf. Kühle klare Luft schlug mir entgegen, es musste bis vor kurzem geregnet haben, ich roch das Ozon und spürte Wasser in den Schuhen, als ich in die erste Pfütze sprang. Doch das hinderte mich nicht daran noch schneller zu laufen, immer stur Richtung Innenstadt. Mir war egal, wie ich aussah, ich wollte nur noch so weit wie möglich weg von Clay und den anderen, die ich nicht mal wirklich kannte.

„Das sind doch alles Freaks!“, keuchte ich leise und sprach seit einer Ewigkeit wieder mit mir selbst. „Ich wette Clay wollte mich gar nicht zurückholen.“ Tränen stiegen mir bei dem Gedanken in die Augen. Hatte ich nicht schon genug geweint in letzter Zeit?

Ich stoppte erst, als ich fast die Innenstadt durchquert hatte und in der Nähe des Kinos ‚Residence’ zum stehen kam. Keuchend ließ ich mich auf eine Treppe sinken und kauerte mich zusammen. Ich war so ein Idiot, aber so langsam hatte sogar ich verstanden, dass diese Liebe nie ein positives Ende nehmen würde. So schwer es mir fiel, es wurde Zeit loszulassen und endlich aufzugeben. Nur noch heute Abend würde ich trauern und meinen Tränen freien Lauf lassen, aber ich nahm mir fest vor, dass sich ab morgen alles ändern würde. Ich würde nicht mehr weinen oder in Selbstmitleid zerfließen. Ich würde nach vorne blicken und all das, was geschehen war hinter mir lassen.

 

~~~~

 

Das penetrante Klingeln an der Wohnungstür weckte mich und müde öffnete ich meine Augen. Ich brauchte eine Weile, bis ich registrierte, wo ich mich befand. Ich lag daheim in meinem Bett, die weiche Decke um mich geschlungen. Es war schon wieder morgen, fast schon Mittag, als ich auf die Uhr sah und feststellte, dass es elf Uhr vormittags war. Ein Rascheln neben mir ließ mich zu meinem Hamster sehen, der sich gerade die Backen voll gestopft hatte und zurück in sein Häuschen trabte. Ich war erst früh am morgen nach Hause gekommen, nachdem ich einfach nur Stunden um Stunden auf der Treppe gesessen und nachgedacht hatte. Nachdem ich endlich die Wohnung mit dem Notschlüssel betreten hatte, den meine Eltern unter dem Vorleger deponierten, ließ ich mich nur auf’s Bett fallen, um zu schlafen. Einzig und allein die Schuhe und die Hose zog ich aus, ich war einfach zu müde, um mich richtig bettfertig zu machen. Ich musste sofort eingeschlafen sein, jedenfalls sah es ganz danach aus. Meine Eltern waren glücklicherweise für ein paar Tage in einen Kurzurlaub gefahren. Ihr einundzwanzigster Hochzeitstag, wenn ich mich recht entsann.

Ich stand auf, als das Klingeln durch ein Hämmern an der Tür ersetzt wurde. So wie ich war, verließ ich mein Zimmer, lief durch den Flur und öffnete schließlich die Wohnungstür. Noch bevor ich richtig registrieren konnte, wer diesen Krach veranstaltete, schoss eine kräftige Hand hervor und packte mich am Kragen des T-Shirts. Erschrocken schrie ich auf und starrte fassungslos in diese grauen Augen, die nun von einem wütenden Funkeln beherrscht wurden. Mit einem Ruck drängte er mich zurück in die Wohnung und warf die Tür zu.
“Was fällt dir eigentlich ein!“, brüllte Clay mich an und ich spürte unangenehm die Wand in meinem Rücken. „Du verschwindest einfach so ohne ein Wort, lässt die Tür offen stehen und…“ Er hielt inne und musste sich kurz sammeln und ein wenig beruhigen. „Wir haben uns verflucht noch mal Sorgen um dich gemacht. Wir haben zu fünft die gesamte Nacht nach dir gesucht. Wo warst du zum Teufel? Ich war mehrmals hier gewesen, aber du warst nicht da.“ Seine Hand hielt immer noch verkrampft den Kragen meines Shirts fest und er schien nicht vorzuhaben es in nächster Zeit loszulassen. „Wenn ich mich nicht so gut unter Kontrolle hätte, würde ich dir eine scheuern!“, fuhr er fort und schüttelte schließlich den Kopf. Er entließ mich wieder in die Freiheit, wandte jedoch seinen Blick nicht von mir, sondern behielt mich genau im Auge. Nach einer Weile grollte er: „Ich warte!“

„Worauf?“ Ich sprach mal wieder schneller, als mir lieb war, wusste ich doch ganz genau, was er wollte.

„Worauf?“, wiederholte er meine Frage um ein Vielfaches lauter. „Darauf, dass du mir eine Erklärung für dein Verschwinden gibst.“ Er fuhr sich durch die Haare. Sein Zopf war zerzaust, ein Teil der Haare hatte sich aus dem Gummi geflüchtet und hing ihm wirr ins Gesicht. Er trug noch die gleichen Sachen wie gestern Abend, scheinbar hatte er mich wirklich die ganze Nacht gesucht. Plötzlich schien ihm etwas einzufallen. Er tastete seine Jacke ab, zog schließlich ein Handy hervor und begann eine Nummer zu wählen. Schließlich trat er einen Schritt zurück und lauschte angespannt, bis jemand abhob.

„Hast du ihn gefunden?“, hörte ich Chris, der so aufgebracht und laut war, dass ich ihn sogar aus der Entfernung noch problemfrei verstehen konnte.

„Ja… hab ich!“, antwortete Clay und sah böse zu mir. Betreten senkte ich den Blick und starrte den Boden an. Chris schien sich zu beruhigen, jedenfalls verstand ich jetzt nichts mehr von dem Gespräch, nur Clays Antworten konnte ich hören. „Ja, es geht ihm gut.“ Er nickte leicht und ich hatte das Gefühl, er verkniff sich das Wörtchen ‚noch’ in diesem Zusammenhang. „Ja, ich rede mit ihm… nein, herkommen müsst ihr nicht.“ Wieder eine Pause und so langsam wurde ich nervös. „Wir treffen uns in drei Stunden bei mir. Zunächst will ich mit Kim reden.“ Er legte auf ohne auf Chris’ Antwort zu warten, dann wandte er seine vollständige Aufmerksamkeit wieder mir zu. „Ich warte immer noch…“

„Nun… ich…“, begann ich stotternd, schwieg dann aber. Sollte ich ihm ernstlich sagen, dass ich gelauscht hatte. Ich warf ihm einen kurzen Blick zu. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sah mich durchdringend und ungeduldig an. „Ich hab euer Gespräch gestern gehört.“, murmelte ich schließlich.

„Wie?“ Nun war er doch überrascht. Er sah sich kurz um, schnappte dann meinen Arm und zog mich mit sich ins Wohnzimmer. Er kannte sich hier unterdessen gut aus, war er doch recht oft zu Besuch gewesen. Unaufgefordert setzte er sich auf die Couch und zog mich direkt neben sich. „Was für ein Gespräch genau meinst du?“, fragte er nun wieder etwas ruhiger.

„Na eben den Teil über mich!“

„Wir haben sehr viel und sehr ausführlich über dich gesprochen. Kannst du ‚diesen Teil’ nicht vielleicht etwas eingrenzen. Das würde es mir erleichtern.“

Was sollte ich jetzt sagen? Wortwörtlich wiederholen, was er an dem Abend von sich gegeben hatte? Nur einen winzigen Teil hatte ich scheinbar gehört, kaum mehr als ein Dutzend Sätze. „Ihr habt über meine… meine…“ Ich stockte und sah zur Seite. „… über meine Gefühle zu dir gesprochen.“ Ich flüsterte diese Worte nur und anschließend trat Stille ein.

„So ist das also?“, entgegnete Clay und ich nickte nur. „Sicher, dass du alles gehört hast?“

„Natürlich, du hast gesagt, du bist ein Dämon und der verliebt sich ja nur einmal.“, brachte ich nun etwas lauter hervor und sah ihn wieder an. Unwillentlich hatte ich nun genau gesagt, was ich belauscht hatte.

„Das hast du also gehört.“, kam prompt die Antwort und Clay schloss müde die Augen.

„Du hättest es mir doch auch so sagen können, schon Stunden zuvor.“, platzte es nun aus mir heraus. „Ich wollte eine Antwort, so wie du darauf gedrängt hast, dass ich dir sage, dass ich mich verliebt habe. Aber mich hast du einfach stehen lassen, immer wieder. Dabei wusstest du es ganz genau, wusstest, was ich über dich denke.“ Ich fing an wild mit den Händen zu gestikulieren. „Du bist so ein Mistkerl, weißt du das! Ich liebe dich, doch das ist dir vollkommen…“

Weiter kam ich mit meinen Flüchen und Verwünschungen nicht, Clay hatte mich gepackt zu sich gezogen und küsste mich nun wild und leidenschaftlich. Im ersten Moment war ich zu verwirrt, um darauf zu reagieren und starrte ihn nur in die silberfarbenen Augen, die mich auffordernd anfunkelten. Ich spürte seine Zunge, die gierig über meine Lippen glitt und als ich sie ein wenig öffnete, sich in meinen Mund zwang. Ich klammerte mich an ihn, erwiderte den Kuss so gut ich konnte und schob ihn mit einem Mal ruckartig von mir. „Was soll das?“, fauchte ich ihn nun wütend und ein wenig atemlos an. „Was für ein krankes Spiel spielst du hier? Willst du noch mehr auf meinen Gefühlen rumtrampeln?“ Irgendwie verstand ich momentan gar nichts mehr. Was hatte ich innerhalb dieses Handlungsbogens verpasst oder hatte er etwas von sich gegeben und ich hatte es überhört? Musste man eine Frau sein, um das, was hier passierte zu verstehen? Irgendetwas fehlte mir in meinem Leben, ich vermisste die Untertitel in meinem Chaos der Gefühle oder ein weibliches Wesen, die mit einem Wörterbuch neben mir stand und es mir erklärte.

„Nein.“, sagte er nur mit fester Stimme. „Ich wollte einfach nur dass du mal für eine Sekunde die Klappe hältst und mich ausreden lässt. Du hast nicht einmal die Hälfte des Gespräches mitbekommen. Dir war es ja lieber gewesen abzuhauen.“

„Wie war…“ Er hielt mir nun den Mund zu und ignorierte mein wütendes Schnaufen.

„Das Gespräch ging noch weiter und entweder du hältst die Klappe und ich erzähle es dir, oder ich gehe einfach und du kannst dich hier weiterhin verkriechen. Was ist nun?“ Ich nickte nur und ließ die Arme sinken, um ihm zu verstehen zu geben, dass ich jetzt still sein würde. Er ließ sofort los, blieb aber nah bei mir sitzen.

„Es mag sein, ich bin ein Dämon… und ich habe sicherlich nicht wirklich den günstigsten Weg gewählt, um Ashnan zu befreien, aber ich habe aus dem gelernt, was passiert ist. Ich habe mich Jahrhunderte lang daran festgeklammert, dass ich nur eine Seele, egal welche mit ihrer dort tauschen müsste. Wer das war, war mir egal gewesen, es hätte jeder sein können.“ Er atmete hörbar aus und lehnte sich zurück. „Ich brauchte Chris um das Tor zu öffnen, da er als Einziger in alle Ebenen reisen kann und ich brauchte ihn um die Seele meiner Geliebten zurück zu holen. Wie in einem Möbiusband spielte sich dieses Szenario die letzten Jahrhunderte wieder und wieder ab. Ich fand das Medium, wartete geduldig, bis es seine Aufgabe erfüllt hatte und versuchte das Tor zu öffnen. Jedes mal tauchte diese Seele auf, die an ihn gebunden war- Shion heißt sie jetzt- und verhinderte dies. Doch vor drei Tagen funktionierte alles nach meinem Plan, bis du dich dazwischen gestellt hast und statt Chris in diese Welt gerissen wurdest.“

„Worauf willst du eigentlich hinaus?“, unterbrach ich ihn mitten in seiner Erzählung. Ich war nervös und unruhig geworden.

Er stöhnte genervt auf und rieb sich mit der Hand die Stirn. „Von wem ging deiner Meinung nach der Wunsch aus, dich zurückzuholen?“

„Ashnan“, entgegnete ich sofort.

„Hm…“, murmelte er nur und schwieg dann eine ganze Weile.

„Liege ich damit falsch?“, fragte ich schließlich, als er mir nicht antworten wollte.

„Um ehrlich zu sein, ja.“

„Chris?“, fuhr ich fort und sah, wie sich sein Blick ein wenig verdunkelt. „Asak und Lionare?“ Ich wusste es zwar schon, doch es war dieses Mal wieder mein Wunsch, dass er mir selbst die Antwort geben sollte. Es glich der Situation gestern in seinem Schlafzimmer, auch wenn die Frage eine andere gewesen war, wo er schwieg und mich im Regen stehen ließ.

„Ich… ich wollte dich zurückholen!“, sagte er schließlich erbost und wandte den Kopf ab. Er verschränkte die Arme vor der Brust und zum ersten Mal seit ich ihn kannte, hatte ich das Gefühl in einem Gespräch die Oberhand zu haben. Sie war unmerklich zu mir geglitten und nun wusste ich nicht wie ich damit umgehen sollte. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und ein dicker Kloß hatte sich dort gebildet, der sich nicht so einfach verdrängen ließ.

„Du?“, fragte ich nur und meine Verwunderung musste mir ins Gesicht geschrieben sein.

„Ja, ich… denkst du ich hätte dich einfach dort gelassen und vergessen.“

„Wenn ich ehrlich sein soll, ja.“ Diese Worte schmerzten sowohl ihn als auch mich. Ich sah es an seinem traurigen Blick und ich spürte einen kleinen Stich in meinem Herzen.

„Tja… was soll ich dazu sagen?“

„Weißt du… dass du mich damit sehr glücklich machst.“ Zum ersten Mal zeichnete sich ein ehrliches Lächeln auf meinen Lippen ab. „Ich hätte diese Worte nie aus deinem Mund erwartet. Danke.“

Er sah zu mir, schien momentan mit der Situation komplett überfordert zu sein. Es war nicht mehr so einfach zwischen uns, wie noch vor ein paar Tagen. Wir hatten uns ab und zu gestritten und zusammen gelacht. Wir traten gemeinsam auf, spielten unsere Musik und feierten als Freunde jeden noch so kleinen Erfolg. Doch jetzt war etwas anders. Er war anders, ich hatte mich ebenfalls verändert. Es war wie ein Keil, der zwischen uns getrieben wurde und gleichzeitig war eine andere Barriere verschwunden. Eine neue Situation, auf die wir uns beide erst einmal einstellen mussten. Er war ein Dämon, nichts menschliches, verraten und verstoßen, ich war ein nichts ahnender Mensch, der über Nacht erwachsen wurde. Ich wollte ihn richtig kennen und verstehen lernen und mich selbst wieder akzeptieren können. Ob nun mit ihm an meiner Seite oder nicht. Meine Ängste waren verschwunden, als ich ihm diese Frage stellte, die mich am meisten bewegte.

„Was empfindest du für mich?“ Nun war er nervös, nicht ich. Ich war innerlich auf alles vorbereitet, solang es nicht komplette Ablehnung sein würde.

„Wenn ich ehrlich bin, weiß ich es nicht genau.“, begann er. „Ich bin schon sehr, sehr lange hier, lebe unter den Menschen und hatte viel Zeit sie zu beobachten. Früher habe ich sie gehasst. Ashnan war zwar ein Mensch, aber doch war sie anders. Das ist jetzt so lange her, ich habe sie mehr und mehr vergessen, gedanklich zumindest, gleich wie sehr ich sie liebte, ich habe mir schon vor Jahrhunderten eingestanden, dass ich nie wieder die Zeit zurückholen kann, die ich mit ihr verbrachte habe.“ Er machte eine Pause und sein Gesicht wirkte ausdruckslos, während er sprach. „Ich habe mir immer wieder eingeredet, dass alles gut werden würde, wenn ich nur Ashnan befreit hätte und sie bei mir wäre, aber… es war alles eine Lüge. Ich war einfach zu blind um endgültig aufzugeben. Die Zeit ist vorbei, endete bevor sie begann und trennte uns. Doch nach all den Jahrtausenden änderte sich mein Verlangen und meine Wünsche immer mehr, ohne dass ich es begriff.“

Ich beobachtete ihn nur weiterhin, nahm mir vor ihn dieses Mal nicht zu unterbrechen. Nur einmal würde ich meine Klappe halten und ihm nicht ins Wort fallen.

„Vielleicht wollte ich auch nicht aufgeben… und das werde ich auch nicht, nur muss ich einen anderen Weg finden ihr zu helfen. Ich möchte sie dieses Mal endgültig erlösen. Sie würde nicht zulassen, dass eine andere Seele ihretwegen für immer auf den Feldern des Nichts wandeln müsste. Sie hätte sich das niemals vergeben.“ Er schlug die Hände vor’s Gesicht und krampfte seine langen schmalen Finger in seine Haare. „Und ich mir auch nicht.“, murmelte er leise und sah zu mir. Seine Augen waren klar und er schien eine Entscheidung getroffen zu haben. „Ich muss gestehen, dass ich ziemlich geschockt war, als du verschwunden bist und Ashnan an deiner Stelle in meinen Armen lag. Ich hätte nie gedacht, dass mir das soviel ausmachen würde, wenn du mit ihr tauschen würdest. Eigentlich…“, er stockte, richtete sich dann auf und nickte schließlich als würde er sich damit selbst Mut zusprechen. „Eigentlich wollte ich sofort losstürmen und dich zurückholen, aber Ashnan hielt mich zurück. Sie meinte so würde ich dich nicht finden. Wir haben eine ganze Weile geredet, Chris und Shion wollten auch helfen… alle haben geholfen, dich zurück zu holen. Obwohl wir Feinde waren, haben wir zusammen gearbeitet.“

„Und jetzt?“, fragte ich schließlich und nahm mir eines der Kissen um mich daran festzuhalten. Es ruhend auf meinen Bauch legend, umklammerte ich es und sah Clay nachdenklich an. „Bereust du es, mich zurückgeholt zu haben?

„Nein!“, rief er so laut, dass ich zusammenzuckte. „Nein… natürlich nicht.“, gab er dann flüsternd von sich. „Ich bin froh, dass du wieder hier bist, obgleich ich wirklich geschockt war, als wir dich so zugerichtet gefunden haben. Ich dachte mein Herz bleibt stehen!“

„Dann hast du mich zurückgebracht?“

Er nickte stumm und ich brauchte eine Weile, um das Gesagte zu verarbeiten. Er wollte mich zurückholen, obwohl er Ashnan liebte. Wieso, das ergab keinen Sinn. Empfand er doch etwas für mich und das waren die verqueren Versuche eines Dämons, es mir begreiflich zu machen. Ich sah auf meine Füße und legte den Kopf auf das Kissen.

„Du hast mich gerettet, obwohl du deine Geliebte wieder gefunden hast? Das verstehe ich nicht.“

„Was verstehst du daran nicht... sie wäre nie glücklich geworden, mit dem Wissen, jemanden so dem Leid überlassen zu haben.“

„Und das fällt dir erst jetzt ein?“, fragte ich verblüfft, spürte aber, dass wir uns wieder heiß redeten.

„Ja, ich bin auch nicht perfekt. Das Leben als Mensch hat mich weich gemacht. Ich erkenne mich ja selbst nicht wieder.“

„Das hört sich an, als wäre es eine Krankheit ein Mensch zu sein.“

„Für mich ist es das ja auch.“, murmelte er und funkelte mich zum Teil erbost, zum Teil auch amüsiert an.

„Ach ja, tut mir leid, ich bin auch einer. Ich bin kein Freak wie ihr, der mit bunten Kugeln rumschießen und wilde Stunts hinlegen kann.“ Gespielt beleidigt wandte ich den Kopf ab und sah in die andere Richtung.

„Bunte Kugeln?“, fragte er und war für einen Moment sprachlos. Ich drehte mich grinsend zu ihm und streckte ihm die Zunge heraus. „Du bist mehr Freak als du dir vorstellen kannst. Aber ehrlich gesagt, mag ich dich so wie du bist. Und wenn du nicht mehr da wärst, würde mir jemand fehlen, mit dem ich mich streiten kann.“

„Ich stehe dem Herren gerne zur Verfügung!“ Eine leichte Verneigung meinerseits ließ ihn ebenfalls lächeln und er antwortete mir:

„Du Chaot hast mein Leben ganz schön auf den Kopf gestellt, weißt du das?!“

„Gern geschehen.“

Plötzlich und unerwartet legte er eine Hand auf meine Schulter und zog mich mit Schwung zu sich. Ich war viel zu überrascht, um zu reagieren und fiel so direkt in seine Arme, die sich vorsichtig um mich schlossen. Woher kam nur dieser plötzliche Sinneswandel?

„Ich weiß zwar nicht, ob ich dich so lieben kann, wie Ashnan, aber ich hab dich sehr gerne, Kimmy. Ich kann dir vielleicht auch nicht hundertprozentig mein Herz zu Füßen legen, wie ich es damals getan habe, aber ich möchte gerne versuchen mit dir zusammen zu sein, insofern du akzeptierst, dass Ashnan immer ein Teil von mir und meinen Gedanken sein wird. Vielleicht lerne ich ja, dich an ihrer statt zu lieben.“ Er sah unsicher zu mir, konnte dieses Mal nicht erahnen, wie ich reagieren würde. Ich war zugegeben etwas skeptisch, ob er diese Worte wirklich gesagt hatte, und ob sie ernst gemeint waren.

„Warum jetzt auf einmal dieser Stimmungswandel?“, fragte ich statt ihm eine Antwort gegeben. Scheinbar überrumpelte ich ihn durchaus mit meinen Worten, denn er sah mich nur aus großen Augen an.

„Warum?“ Ich nickte und er überlegte. „Ich bin fast wahnsinnig geworden vor Sorge, darum.“

„Als ich gestern bei dir war, dachte ich eher, es sei dir egal.“, kommentierte ich seine Behauptung und legte den Kopf schief.

„Das lag an etwas anderem… ich wusste nicht wie ich mit dir umgehen sollte.“ Er strich behutsam über meinen Rücken und eine Gänsehaut breitete sich auf meinen Armen aus. „Du sagtest am Anfang gar nichts, also nahm ich an, dass dir etwas Schlimmes widerfahren sei. Ich wollte dich nicht verletzen, also dachte ich, ich lass dir Zeit, bis du von dir aus anfängst zu reden. Danach hast du mich mit deinem Geständnis vollkommen überrumpelt. Sicher, ich ahnte es ja schon, aber es ist etwas anderes, Dinge zu wissen, anstelle sie zu hören. Mir war selbst nicht klar, was ich tun sollte, ich musste erst einmal mit mir fertig werden.“

„Deswegen deine Ablehnung?“, fragte ich frei heraus und kuschelte mich an ihn.

„Ablehnung? So ist das also rübergekommen?“ Das hörte sich jetzt wirklich verzweifelt an. „Das tut mir leid.“

„Ist schon in Ordnung, ich bin froh, dass du mir endlich gesagt hast, was du über mich denkst.“ Ich machte eine Pause und holte tief Luft. „Zu deiner Frage: Ja, ich komme damit klar, dass du immer noch an Ashnan denkst, immerhin lieben Dämonen ja nur ein einziges Mal in ihrem Leben. Aber,…“, fuhr ich fort und hob den Zeigefinger, „… glaub’ nicht, dass ich so schnell aufgebe. Ich werde dich schon noch ganz für mich gewinnen, das verspreche ich dir.“

„Du bist aber sehr von dir selbst überzeugt.“, entgegnete Clay und blickte mich schon wieder spöttisch grinsend an.

„Natürlich! Ich hab dich endlich an der Angel, denkst du da lass ich dich mir wegschnappen? Du wirst schon sehen.“, nuschelte ich und schloss zufrieden die Augen. „Außerdem sagte Ashnan zu mir, ich solle gut auf dich aufpassen.“

„Auf mich?“ Klang er vorher verwundert, so hörte er  sich jetzt komplett fassungslos an. „Du solltest erst mal lernen, auf dich selbst Acht zu geben.“ Mir entfuhr nur ein leichtes Grummeln, dann schloss ich die Augen. Seine Hand strich mir noch eine Weile über den Rücken, bis sie schließlich zu meinem Gesicht wanderte und sich auf meine Wange legte. Ich schielte zu ihm und näherte mich schließlich wieder diesen verführerischen Lippen, von denen ich bisher nur zwei Mal gekostet hatte. Er hinderte mich nicht daran, mich an ihm hochzuschieben und kurz durch die Haare zu streichen, bevor ich meine Lippen auf seine legte. Seine Hand legte sich in meinen Nacken und zog mich enger zu sich, während Clay den Kuss vertiefte und leidenschaftlicher wurde. Nur zu gerne erwiderte ich den Kuss, schloss die Augen und genoss seine Liebkosungen vollkommen.

„Auf mich musst du nicht aufpassen.“, murmelte ich keuchend zwischen zwei Küssen.

„So wie du jetzt bist, gehe ich eher vom Gegenteil aus.“ Er grinste frech, als er sich von mir löste und sich über die Lippen leckte. Sein Blick fiel auf die Uhr und er seufzte auf. „Wir müssen zurück, die anderen warten darauf, dich zu sehen.“

„Und wenn ich keine Lust habe aufzustehen?“, fragte ich mit einem gemeinen Unterton in der Stimme. „Ich könnte einfach auf dir liegen bleiben und mich von dir verwöhnen lassen.“

„Damit dir das Gleiche passiert wie gestern Nachmittag im Badezimmer?“

Wenn Clay erreichen wollte, dass ich von ihm aufsprang, dann hatte er das geschafft. Mit einem Satz stand ich neben der Couch, ich könnte schwören, ich war so rot im Gesicht, dass jede Paprika neidisch geworden wäre. Er sah mich im ersten Moment erstaunt an, und fing dann schallend an zu lachen. Ich wurde noch röter, obwohl ich bezweifelte, dass das noch möglich war.

„Du.. du hast… mich…?“

„…gehört?“, vollendete er meinen Satz und nickte, immer noch vom Lachen überwältigt. „Natürlich. Falls du dich erinnerst hab ich dir Sachen vor die Tür gelegt.“ Er hielt sich die Hand vor den Bauch und lachte einfach weiter, ungeachtet dessen, dass ich langsam eher wütend als beschämt war.

„Hör auf zu lachen!“, forderte ich daher.

„Aber dein Gesicht.“, entgegnete er und es dauert in der Tat eine ganze Weile, bis er sich beruhigte. Er sah zu mir und lächelte mich anzüglich an. „Wenn ich das mal sagen darf, du hast eine interessante Stimme dabei.“

„Hör auf! Über so was spricht man nicht.“

„Wieso, ist dir das so peinlich?“ Noch bevor ich etwas erwidern konnte, zog er mich zu sich und küsste mich leidenschaftlich und ohne mir Zeit zu lassen, auch nur einen Protestlaut von mir zu geben. Er war teilweise etwas zu hart, aber das störte mich in der Sekunde kaum. Er war nun einmal ein Dämon, wobei mir schlagartig eine Frage ins Bewusstsein kam und mich nicht mehr losließ. Mühsam drängte ich ihn in zweifacher Hinsicht zurück und holte erst mal tief Luft.

„Bin ich dir zu stürmisch?“, fragte er lakonisch.

„Also dafür, dass du dir nicht sicher bist… würde ich sagen, ja.“, entgegnete ich.

„Jetzt mal ehrlich, ich bin seit über 7.000 Jahren auf der Erde… seither habe ich selten mit einer Person Zeit verbracht oder bin intim mit einem Menschen geworden.“

„Aha… du bist also… wie sagt man ‚underfucked’?“ Er starrte mich an, als hätte ich eine bunte Schleife im Haar. „Liege ich da so falsch?“

„Nein.. nur wundert es mich grade, dass dir das andere vorhin peinlich war. Aber ja, du hast recht, es ist eine Weile her, dass ich mal auf diese Art und Weise Spaß hatte.“ Er stupste mich an und verzog seine Lippen erneut zu einem lasziven Grinsen.

„Oh man, da hab ich mir ja was eingehandelt… einen notgeilen gefallenen Dämon?“ Ich stöhnte auf, allein bei dem Gedanken ‚gefallener Dämon’ machte mir meine Vernunft einen Strich durch die Rechnung. „Wie geht das überhaupt?“

„Was, notgeil sein?“

„Nein… gefallener Dämon? So was gibt es doch nur unter den Engeln.“ Ich richtete mich auf seiner Brust ein wenig auf und sah ihn fragend an. Das interessierte mich jetzt wirklich, auch wenn es scheinbar nicht ganz seinen Vorstellungen für den Nachmittag entsprach. Er atmete hörbar aus, lehnte sich zurück und winkelte eines seiner Beine an, um es sich bequemer zu machen.

„Wie das geht? Nun, das ist ganz einfach… ähnlich wie es bei Engeln geht.“, begann er.

„Aber ich dachte…“

„Ja, du dachtest… an etwas, was die Menschen in ihrer Religion festgelegt haben. Gefallene Engel sind Dämonen, aber das stimmt nicht. Gefallene Engel sind Menschen, die bis zum Ende der Zeit auf die Erde verbannt werden und ihr Dasein unter den Menschen fristen müssen, unsterbliche Wesen im Prinzip. Gefallene Dämonen sind das Gleiche, nur eben von der Seite der Unterwelt her.“

Nur ein bewunderndes Geräusch drang über meine Lippen. Er grinste breit und wuschelte mir durch die Haare. „Ich muss zugeben, ich fand eure Glaubensrichtungen und Formen immer sehr interessant, und teilweise, sagen wir, fantasievoll.“

„Fantasievoll?“

„Ich werde garantiert nicht den Nachmittag damit verbringen, dir das alles zu erklären, dafür haben wir genug Zeit in den nächsten Wochen.“ Er umfasste mein Kinn und zog mich fordernd zu sich. „Zudem, steht da noch die Sache mit dem notgeil an, die du erwähnt hast.“ Noch bevor ich auch nur einen weiteres Wort von mir geben konnte, küsste er mich hart und gierig. Irgendwie hatte er sich ja doch schnell von seiner Geliebten losgesagt, so wie er momentan um mich bemüht war. Die Frage, ob er es ernst meinte und ob er nicht in Wirklichkeit nur an die Befriedigung seiner Gelüste aus war, drängte sich mir förmlich auf. Ich wollte ihn nicht nur für so was haben, ich wollte ihn ganz. Das ging mir dann doch alles zu schnell, notgeil hin oder her. Ich wollte mir seiner Gefühle und Gedanken erst sicher sein, bevor ich ihm gestattete mich näher zu berühren, nur wie sollte ich das anstellen. Einen so alten Dämon überlistete man nicht einfach so ohne größere Probleme. Vielleicht sollte ich mit Chris reden.

„Was ist?“, fragte er mich plötzlich als er sich von mir löste. „Wo hängst du mit deinen Gedanken herum?“ Er erhob sich leicht, so dass auch ich mehr oder minder von ihm herunter rutschte und sah mir forschend in die braunen Augen.

„Nichts Besonderes…“, entgegnete ich und schwieg anschließend. Er sah mich zweifelnd an, zuckte dann jedoch mit den Schultern und stand endgültig auf. Er schien es sich zumindest für heute anders überlegt zu haben und erst einmal zu seiner Wohnung zurückkehren zu wollen. Ich erhob mich ebenfalls, streckte mich genüsslich und spürte förmlich seinen Blick der auf mir lag. Definitiv zu schnell…

 

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Es war bereits Abend, als wir bei Clays Wohnung ankamen. Er konnte die Finger nicht von mir lassen, beließ es aber vorerst beim Küssen, wobei ich genau spürte, dass er immer wilder und leidenschaftlicher wurde. Er musste sich wirklich zurückhalten. Doch mir ging es mit der Zeit nicht anders. Ich bin nun wirklich kein leicht erregbarer Mensch- nun okay, vielleicht doch ein kleines bisschen- doch er schaffte es immer, mich fast komplett aus dem Konzept zu bringen. Unterdessen war das erste Glücksgefühl über seine Worte gewichen und hinterließ Skepsis und Verwirrung. Mehrere Jahrtausende hatte er einen Menschen geliebt, die Frau, die nun wieder auf den Feldern des Nichts verbannt war, und jetzt so plötzlich hatte er sich für mich entschieden. Ich wusste bis dahin nicht, dass ich so misstrauisch sein konnte, aber die kurze Zeit dort hatte mich vielleicht wirklich verändert.

Er schien nichts von meiner Unsicherheit zu spüren, sprach allerdings auch nicht viel. Jeder hing seinen Gedanken nach und wir wurden ihnen erst entrissen, als wir bei Clay ankamen und mir ein erleichterter Chris um den Hals fiel und mich an sich drückte. Seine roten Haare waren nass, scheinbar standen sie schon eine Weile hier im Regen und hatten auf unsere Rückkehr gewartet. Er schob mich schließlich von sich, betrachtete mich dann kurz nur um mich erneut fest zu umklammern.

„Bin ich froh, dass es dir gut geht.“, murmelte er und seine grünen Augen hatten einen leicht feuchten Schimmer. Er sah auf mich herab und lächelte schließlich. „Wieso bist du einfach weggelaufen? Wir wollten doch…“

„Können wir das nicht oben besprechen?“, mischte sich Clay ein und schloss die Tür zum Treppenhaus auf. Ich liebte dieses Haus- ein Altbau mit hohen Decken, großen, und durch die riesigen Fenster, hellen Zimmern. Alles was die Wohnung meiner Eltern nicht besaß.

Neben Clay erblickte ich auch Asak und Lionare, die im Hauseingang gestanden hatten und Shion, das Mädchen, welches Chris uns vorgestellt hatte. Wirklich eine seltsame Gruppe, wenn ich mich umsah. Engel, Dämonen und gefallene Solche, ein Medium und ein Mädchen, was nicht ganz normal war. Dabei meine ich natürlich normal im Sinne von menschlich, denn wer konnte sich im Kampf schon mit einem Dämon wie Clay messen. Irgendwie war ich die einzige Person hier, die wirklich nichts ‚Überdrehtes’ war. Ein seltsames Gefühl, wenn ich ehrlich sein sollte. Ich kannte mit großer Sicherheit nicht mal einen Bruchteil der Wahrheit. Aber wenn ich ehrlich sein sollte, wollte ich für den Anfang auch gar nichts anderes wissen. Ich musste erst einmal mit mir selbst und Clay ins Reine kommen, anschließend wäre ich offen für weitere Informationen.

Chris ließ schließlich von mir ab und gemeinsam stiegen wir die Treppen hinauf zu Clays Wohnung. Er ließ uns eintreten und sofort lotste er uns in das Wohnzimmer weiter, ein großer rechteckiger Raum, in dessen hinterster Ecke ein gemütliches Sofa stand und einige Sessel. Der niedrige Couchtisch war größer als der andere in seinem Schlafzimmer und die Couch bot Platz für mehrere Leute. Hinter dem Sofa und an der gesamten Wand entlang reihten sich Bücherregale, die etliche Werke und Schriften enthielten, die wohl älter waren, da die Umschläge abgegriffen wirkten. Hier stand kein Fernseher, nur eine Anlage, ansonsten war dieser Raum war frei von jeglichen technischen Geräten. Allerdings gab es auf der anderen Seite neben einer Essgruppe eine Tür in ein weiteres Zimmer, welches man nur durch das Wohnzimmer erreichen konnte.

„Setzt euch doch.“, sagte er und jeder nahm Platz, wobei ich mir mit Absicht einen der Sessel angelte und mich darin niederließ. Er quittierte diese Aktion mit gehobenen Augenbrauen und einem fragenden Blick, sagte aber nicht dazu, sondern ließ sich auf der Lehne nieder. Gut, das war dann wohl das berühmt berüchtigte Eigentor. „Um auf deine Frage zurückzukommen, Chris, Kim geht es gut.“

„Hey, ich kann für mich selbst sprechen.“, ereiferte ich mich sofort und funkelte ihn an. Ich wandte mich ohne auf eine Antwort zu warten an Chris und lächelte. „Danke, mir geht es gut. Ich war gestern nur etwas verwirrt und brauchte ein wenig Zeit für mich. Es tut mir leid, dass ich euch nichts gesagt habe.“ Betreten senkte ich den Kopf.

„Schon in Ordnung.“, erklang Lionares klare Stimme und er lächelte mich aufmunternd an. „Du bist ja unversehrt wieder aufgetaucht.“

Ich sah ihn lange an und grinste dann breit. „Du hast mich geheilt, oder?“ Ein Nicken bestätigte mir nur was ich schon wusste. „Vielen, vielen Dank. Ich wollte mich schon die ganze Zeit dafür bedanken, aber irgendwie kam ich nicht dazu.“

„Gern geschehen. Nachdem Clay dich zurückholte, hat er mich… nun ja, auf sehr dezente Art und Weise ‚gebeten’ dich zu heilen.“ Seine Stimme war voll Ironie und Sarkasmus und er schenkte Clay einen undeutbaren, fast schon überheblichen Blick.

„Soso, hat er das?“ Ich schielte zu dem Dämon, der neben mir saß und nichts zu alledem sagte.

„Egal, was mich interessiert ist, warum du das gemacht hast!“ Asak mischte sich mehr oder weniger taktvoll in das Gespräch ein. Seine Stimme war dunkler und ein wenig rauer und sein Gesicht wirkte wütend und ungeduldig.

„Du bist so gefühlvoll wie ein Backstein.“, kam auch prompt der Kommentar von Lionare, der ihn nur von der Seite her musterte. „Wieso, immer dieses Gerede um den heißen Brei herum. Das ist nervend! Ihr wollt doch alle wissen, warum er Chris zur Seite gestoßen hat.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust und machte für eine Sekunde den Eindruck eines kleinen trotzigen Kindes auf mich. Dieser abrupte Wechsel des Themas ließ alle im Raum für einige Sekunden schweigen.

„Warum?“, begann ich und überlegte gespielt angestrengt, fuhr mir mit der rechten Hand am Kinn entlang und schloss die Augen. Neben mir hörte ich Clay genervt aufseufzen, doch er hielt sich zurück. „Wenn ich ehrlich bin, weiß ich das gar nicht so genau..!“ Verwirrte und fragende Blicke trafen mich. „Nun ja, es passierte einfach so, ich wollte nicht das Chris etwas geschieht und außerdem…“ Nun musste ich wirklich überlegen, wie ich das Folgende ausdrücken sollte. „Nun ja… eigentlich wollte ich…“ Stammeln war etwas, was ich mir unbedingt abgewöhnen sollte.

„Du wolltest Clay etwas beweisen.“, half mir unerwarteter Weise Shion auf die Sprünge. Das stimmte zwar, aber irgendwie störte es mich, dass sie mich so leicht durchschaut hatte. „Du wolltest ihm zeigen, dass du ihn liebst.“ Ich starrte sie an, als wäre sie das achte Weltwunder. Wann hatte ich ihr das alles erzählt und warum wurde ich nun schon wieder rot wie eine Tomate?

„Ich bin kein Weltwunder.“, kam es plötzlich von ihr und ich wusste, dass ich mich nun vollkommen lächerlich machte, so wie ich sie betrachtete. Hatte ich etwa laut gedacht?

„Nein… hast du nicht.“, beantwortete sie mir wie selbstverständlich meine stumme Frage.

„Oh, da fällt mir ein…“ Chris wandte sich an mich. „Du solltest wissen, dass Shion in der Lage ist Gedanken zu lesen.“

Wo war das Mäuseloch in dem ich mich verkriechen konnte? Wieso musste immer mir so etwas passieren? Ich schwieg eine ganze Weile, bis ich mich gefangen hatte. „Dann muss ich ja nicht mehr viel erzählen, oder?“

„Na ja… ich würde sagen, Shion unterlässt das Wühlen in deiner Gedankenwelt einfach und du erzählst es uns.“, erwiderte Chris. Er war auch nicht gerade sanfter in seiner Wortwahl als Asak, musste ich feststellen.

„Was soll ich jetzt noch erzählen? Shion hat doch schon alles gesagt.“ Ich wurde ein wenig nervös, das muss ich zugeben. Ich fühlte mich als wäre ich im Kreuzverhör und wurde von allen Seiten mit Fragen überschüttet. Dabei hatte ich momentan noch andere Probleme, die mich weit mehr beschäftigten, als die Sache mit den Feldern des Nichts, etwas was momentan einfach greifbarer und nahe liegender war.

„Na, was alles dort passiert ist, immerhin warst du verletzt und…“, begann Chris, wurde jedoch überraschend von Asak unterbrochen.

„Ich brauch jetzt was zum Rauchen.“ Der plötzlicher Einwurf des Dämons brachte nahezu jeden aus dem Konzept und nicht nur ich sah ihn verwundert an. Das war wohl der schlechteste Moment, den man sich dafür hätte aussuchen können.

Lionare stand schließlich auf und griff nach seinem dünnen Mantel. „Ich hole dir welche. Begleitest du mich, Kimmy?“ Etwas schwang in seiner Stimme mit, was mich nur nicken ließ und ich folgte ihm, nachdem ich aufgestanden war und mich an Clay vorbei geschoben hatte. Dieser registrierte das mit einem unverständlichen Murmeln, schwieg ansonsten aber. „Bis gleich.“

Ich glaubte nur noch Chris’ Worte zu hören, die an Asak gerichtet waren: „Seit wann rauchst du denn?“

 

Lionare lief schweigend neben mir her und natürlich waren wir nicht zum Kaufen der kleinen Sargnägel, wie ich sie nannte, nach draußen gegangen. Wir kamen unterdessen am zweiten Zigarettenautomaten vorbei und er warf nicht mal seinen Blick nach rechts.

„Ich dachte du fängst von dir aus an, aber scheinbar muss ich dich fragen, immerhin will ich nicht die ganze Nacht hier herumlaufen und warten bis es wieder anfängt zu regnen.“ Wir hatten Glück gehabt, dass der Regen aufgehört hatte, als wir nach draußen traten und sich die Wolken soweit verzogen hatten, um kurzzeitig den Blick auf das Abendrot zu gewähren.

„Du scheinst mit mir reden zu wollen.“, entgegnete ich leise.

„Shion meinte einfach nur, du bist momentan mit anderen Dingen beschäftigt, als auf unsere Fragen zu antworten. Du wolltest mit jemandem reden, und auch wenn ich nicht Chris bin, vielleicht kann ich dir helfen.“

„Shion meinte?“

„Sie kann nicht nur Gedanken lesen, sondern auch mitteilen.“, beantwortete er mir meine kurze Frage. Er musterte mich von der Seite. „Es geht um Clay, oder? Er ist momentan das Problem.“

Ich nickte schließlich. Lionare machte auf mich nicht den Eindruck einer Person, mit der man nicht reden konnte, im Gegenteil.

„Er… ach ich weiß auch nicht.“, begann ich und ließ meiner Verwirrung freien Lauf. „Erst sagt er, er verabscheut mich und hasst mich, liebt diese Frau, die er nach so langer Zeit zurückholen will und als er es endlich geschafft hat, macht er plötzlich eine hundertachtzig Grad Wendung und meint er will es mit mir versuchen. Das ist alles… ich weiß nicht… es geht alles so schnell. Ich verstehe ihn nicht und auch nicht ob er es ernst meint.“ Ich ließ die Schultern hängen und er lief weiter schweigend neben mir her. „Er ist auf einmal fordernd und na ja… leidenschaftlich eben und ich weiß nicht, ob er es ernst meint. Was ich sagen will… ich weiß einfach gar nicht mehr, was ich von all dem denken soll. Es ist soviel passiert, ich bin nun schon über ein Jahr in ihn verliebt und als er mir sagte, er liebe eine Frau, habe ich aufgegeben, mir immer wieder gesagt, dass es hoffnungslos ist und er selbst sagte mir, Dämonen lieben nur einmal und…“ Er war stehen geblieben und legte mir nun einen Finger auf die Lippen.

„Ist ja gut“ Seine sanfte Stimme beruhigte mich sofort ein wenig. Ich hatte mich wahrlich heiß geredet, wiederholte mich in meiner Aufregung und teilweise überschlug sich schon meine Stimme. „Kurz gesagt, du weißt nicht, ob er es ernst meint, oder?“ Ich nickte ergeben und senkte den Blick auf die verregnete Straße, folgte dem Muster der Pflastersteine und erinnerte mich daran, wie ich als Kind immer von Stein zu Stein hüpfen wollte, um die Ritzen nicht zu berühren. Was für absurde Gedanken hatte ich da?

„Ich will nicht nur ein Lückenfüller sein.“, murmelte ich. „Ich will ihn irgendwann ganz für mich gewinnen.“

„Verständlich.“, erwiderte er und überlegte. „Weißt du, als du verschwunden bist, war das Chaos perfekt. Er wollte sofort losstürmen und dich zurückholen, wir hatten unsere Mühe ihn zu bändigen, zumal er uns keineswegs vertraute. Er begriff erst später, dass wir zusammen arbeiten mussten. Er war zunächst rasend vor Zorn und Shion musste ihn für eine ganze Weile versiegeln, damit wir endlich in Ruhe diskutieren konnten. Er war bereit Chris dorthin zu schicken, ohne mit der Wimper zu zucken, doch als du plötzlich anstelle dessen dorthin kamst, ist er ausgerastet. Glaubst du nicht, dass du ihm schon viel bedeutest, wenn er so reagiert.“

„Das wusste ich nicht.“ Mir war durchaus klar, dass er sofort losstürmen wollte, hatte er es mir doch selbst gesagt, doch dass er so zornig war, hatte er mir verschwiegen.

„Sicher ist es schwer ihm nun zu vertrauen, aber ich denke, er mag dich wirklich sehr gerne. Er war soweit ich weiß dir gegenüber besonders hart, jedenfalls hat Chris mir das erzählt. Glaubst du er wäre so ehrlich zu dir, wenn er keine Gefühle für dich hegen würde?“ Er stand nun direkt vor mir und strich mir mit seinen langen schlanken Fingern durch das verwuschelte Haar. „Es stimmt schon, Dämonen lieben nur einmal, aber heißt es bei euch nicht, Ausnahmen bestätigen die Regel? Er ist älter als diese Welt selbst, ich glaube das ist lange genug um sich in dieser Richtung weiter zu entwickeln und neue Gefühle zu erfahren, gleich wenn er sich selbst erst einmal daran gewöhnen muss. Clay ist selbst verwirrt, das bemerke ich auch ohne Shions Worte. Er weiß selbst nicht, wie er nun handeln und reagieren soll, kommt sich wahrscheinlich wie ein Lügner vor, da er Ashnan im Stich lässt. Er hat es auch nicht einfach.“

„Daran hab ich gar nicht gedacht.“ Verlegen senkte ich den Blick. Ich hatte die ganze Zeit nur meine Probleme gesehen und seine komplett ignoriert. Ich fühlte mich auf einmal ein wenig schäbig und egoistisch.

„Mach dir keine Vorwürfe deswegen, das ist ganz natürlich. Lasst es beide ruhiger angehen und lernt erst mal, was es heißt zu lieben.“

„Aber er will sofort… na ja…“ Ich wurde rot. Wie ich das manchmal hasste so leicht durchschaubar zu sein. Lionare grinste nur amüsiert und klopfte mir dann auf die Schulter.

„Lass dich nicht drängen. Du bestimmst das Tempo, nicht er. Sei dir zunächst sicher, dass du das auch wirklich willst.“

„Geht das bei Engeln genauso, wie bei Menschen?“ Irgendwie wollte ich ein wenig von meiner Verlegenheit ablenken und doch ein anderes Thema anschneiden oder das Ganze zumindest in eine andere Richtung drängen. Nun errötete er leicht und ich musste zugeben, dass es bei ihm irgendwie niedlich wirkte- und das bei einem Engel.

„Nun ja.. es funktioniert auf eine ähnliche Art und Weise.“ Er wandte sich ab um weiterzugehen und wirkte nun ein wenig eingeschüchtert.

„Darf ich eine Frage stellen?“ Er nickte nur und ich lächelte. „Du und Asak, ihr seid doch ein Paar, oder?“ Er lief stumm neben mir her und schien nachzudenken, letztendlich sah er mir in die Augen und ich wusste, dass ich Recht hatte. „Aber ein Engel und ein Dämon…“

„Was ist schon dabei? Wir sind nun mal Seelenverwandte und wir haben lange dafür gekämpft, um zusammen sein zu können.“ Ich fragte mich, ob ich wirklich genau wissen wollte, was der Begriff Seelenverwandte bedeutete und warum sie so hart kämpfen mussten. Es gab sicherlich noch einige Sachlagen, von denen ich bisher gar keinen Einblick bekommen hatte, doch momentan wollte ich dazu nicht noch mehr Fragen stellen. Ich würde die nächsten Wochen Zeit haben herauszufinden, was genau mit Chris geschehen war, was alles hinter meinem Rücken ablief und dann würden sich auch meine Fragen beantworten. Ich war nun endlich zu einem Entschluss gekommen. Ich würde Clay vertrauen und mit ihm eine Beziehung anfangen. Ich hatte lange warten müssen und ich war seit jeher ein ungeduldiger Zeitgenosse. Ich wollte mit ihm zusammen sein und gemeinsam würden wir herausfinden, wie sehr wir uns lieben konnten und würden. So schwer war das eigentlich nicht, wir beide waren unsicher, doch das würde vergehen und irgendwann wären wir auch sicherer. Das alles würde in meinem Tempo ablaufen, ich wollte mir Zeit lassen mit ihm, nichts überstürzen oder unfreiwillig kaputt machen.

„Lionare?“

„Ja?“

„Danke.“

Ein Lächeln zierte sein schmales Gesicht, als wir uns auf den Rückweg machten. Wir waren schon eine Weile unterwegs gewesen, doch das war mir gleich, immerhin hatte mir das Gespräch mit dem Engel sehr geholfen. Ich würde wohl öfters bei ihm auftauchen, wenn ich Probleme hätte.

 

„Und, wo sind die Zigaretten?“, fragte Clay missgelaunt, als wir beide zurückkamen. Er wirkte beleidigt und zurückgesetzt und scheinbar hatten Shion, Chris und Asak ihre liebe Müh gehabt mit meinem Freund fertig zu werden. Besonders Asak sah blass um die Nase aus, allerdings konnte ich noch nicht in Erfahrung bringen wieso.

„Hab ich vergessen.“, kam es kleinlaut von Lionare, der sich sofort zu Asak trollte und sich neben ihn setzte. Sie sprachen kurz miteinander und Asak nickte nur wissend. Clay hingegen rollte mit den Augen und warf mir einen undeutbaren Blick zu, als ich mir meine Schuhe auszog und anschließend das Wohnzimmer betrat.

„Scheinbar hattet ihr viel Spaß miteinander.“ Clay war wirklich wütend, stellte ich fest. Ich ignorierte seinen spitzen Kommentar, ließ ich mich auf den weichen Sessel fallen und schloss müde die Augen. Clay setzte sich zu mir, schwieg dann aber, als keiner etwas zu seinem Kommentar sagte. Eine ganze Weile blieb diese unangenehme Stille bestehen, bis Lionare sich aufrichtete und dabei Asak mit sich zog.

„Ich glaube für heute reicht es erst mal. Wir haben die nächsten Tage genug Zeit über alles genauer zu reden.“ Er warf mir einen kurzen Blick zu und lächelte dann seinen Partner an, bevor er sich an Shion wandte. „Kommt ihr beide mit zu uns?“

„Ja, das ist näher.“, antwortete das Mädchen für Chris und sah zu ihm.

„Aber…“

„Lass gut sein Chris, du hast doch die nächsten Tage noch Zeit.“ Shion ließ ihn nicht weiter reden und meinem Freund war seine Enttäuschung nur zu genau anzusehen.

„Also gut.“, sagte er nachdem er nachgedacht und ich ihm einen bittenden Blick geschenkt hatte. „Aber morgen möchte ich endlich genau wissen, was passiert ist.“ Er steuert direkt auf mich zu und umarmte mich herzlich. „Ich wünsch dir eine gute Besserung. Wir reden morgen in Ruhe, dann ist alles vielleicht etwas… gelöster.“ Er schaute in die Runde und seine Augen hefteten sich an Clay. „Und denk daran, was wir besprochen haben.“ Er klopfte ihm im vorbeigehen auf die Schulter und trat hinaus in den Flur. „Ach und Kim! Ich möchte morgen gerne meine Schuhe wieder haben.“

„Ja… natürlich. Tut mir leid.“

Nach und nach verabschiedeten sich alle anderen und nach ungefähr zehn Minuten war ich wieder mit Clay allein. Eine leicht bedrückende Stimmung breitete sich zwischen uns aus. Er hatte unterdessen auf dem Sofa Platz genommen und die Beine hochgelegt. Er sah angespannt und erschöpft aus und schien darauf zu warten, dass ich anfangen würde zu reden, was ich schließlich auch tat.

„Was ist los?“, fragte ich leise. „Du bist schon die ganze Zeit so seltsam.“

„Ich bin sauer auf dich.“, fuhr er mich wütend an und seine Augen waren zu schmalen Schlitzen verengt.

„Wieso? Was hab ich denn jetzt wieder getan?“ Automatisch graste ich meine Gedanken und Erinnerungen ab. Hatte ich etwas gesagt, was ihn verletzt hatte? Ich kam zu dem Ergebnis, dass ich mir keiner Schuld bewusst sein sollte. War es, weil ich ihn vor einigen Stunden zurückgewiesen hatte?

„Na, überleg’ doch mal. Zum Beispiel, dass du es vorziehst mit diesem Engel über deine Probleme zu reden, anstatt mit mir. Besonders, wenn es mich betrifft.“

„Er heißt Lionare.“, sagte ich. „Und überhaupt… woher willst du wissen über was wir geredet haben?“

„Asak.“, murmelte er nur kurz und ich sah ihn fragend an. Was hatte der Dämon damit zu tun? „Asak und Lionare sind Seelenverwandte. Sie fühlen und denken dasselbe und tragen die gleichen Verletzungen davon. Natürlich wusste Asak wovon ihr redet, jedes Wort und auch jeden Gedanken seitens Lionare.“ Er schnaubte wütend und richtete sich dann auf. „Und Asak hat es mir erzählt.“

„Ich gehe mal nicht davon aus, dass er das freiwillig getan hat. Deswegen war er so blass.“ Jetzt verstand ich auch die angespannte Atmosphäre, als wir zurückkamen.

„Natürlich nicht! Ich musste ihn schon davon überzeugen, dass er mir sagt, was ihr tut.“

„Ach, jetzt verstehe ich, du bist eifersüchtig.“ Ich sah ihn auf mich zukommen und seine Hände vergruben sich in den Stoff der Lehnen rechts und links neben mir. Er war wirklich wütend, aber gleichzeitig auch verwirrt. Ich denke, er wusste gar nicht mehr, wie er handeln und reagieren sollte.

„Ich bin nicht eifersüchtig.“, zischte er scharf und ich fuhr unmerklich zusammen. Und wie eifersüchtig Clay war! Dazu musste ich ihm nicht einmal ins Gesicht sehen. Aber das war nun wirklich kindisch. Worauf sollte er denn eifersüchtig sein.

„Wer’s glaubt…“, begann ich und fuhr fort, bevor er wieder etwas sagen konnte. „Hätte ich etwa mit dir reden sollen. Du weißt ja eh schon alles, vielen Dank für dein Vertrauen.“

„Zum ersten Teil: Ja, du hättest mit mir reden sollen. Ich tue nichts, was du nicht auch willst. Und zweitens, natürlich vertraue ich dir.“

„Vertrauen heißt, dass du mir Glauben schenkst, wenn ich etwas sage und nicht davon ausgehst, ich würde sonst was mit Lionare machen.“ Ich seufzte. „Aber scheinbar musst du noch eine Menge lernen.“

Er stieß einen Fluch aus, den ich nicht verstand, beruhigte sich aber, als ich ihm sanft über die Wange strich. „Hey, nun beruhig dich mal, es ist doch gar nichts passiert. Es tut mir leid, okay? Ich wollte dich gewiss nicht hintergehen. Ich hätte schon mit dir geredet.“ Diese Worte besänftigten wirklich sein Gemüt. Er neigte sich zu mir und küsste mich, dieses Mal eher sanft und gefühlvoll. Seine Hände tasteten schließlich sanft über meinen Rücken und aus Reflex umschlang ich seinen Nacken und zog ihn enger zu mir, bis er sich schließlich vor den Sessel kniete und wir auf einer Höhe waren. Seine Hand fuhr sanft am Saum meines T-Shirts entlang und schließlich tastete er über meinen Rücken. Sein Kuss wurde noch intensiver, er spielte mit meiner Zunge und schließlich löste ich mich atemlos von ihm.

„Ich tue nichts, was du nicht willst.“, sagte er und lächelte. „Aber lass mich zumindest etwas versuchen, okay? Wenn es dir nicht gefällt, höre ich auf.“ Ich war ein wenig verunsichert, doch ein weiteres Mal wollte ich ihn nicht zurückweisen, also sah ich ihm nur in die Augen und nickte schließlich. „Danke.“, murmelte er und küsste mich dann wieder. Ich würde Lionares Worten Glauben schenken und ihm vertrauen, schließlich verlangte ich das ja auch von ihm. Er wurde ein wenig verlangender, während seine Hände auf meinem Rücken ruhten und mich näher an seinen Körper heranzogen. Wir begannen uns gegenseitig zu reizen und zu necken, lösten uns nur voneinander, als er mir das Shirt über den Kopf zog und neben sich fallen ließ.

„Du hast doch sicher nichts dagegen, wenn ich mir meine Kleidung wiederhole.“ Ein laszives Grinsen legte sich auf seine Lippen und ich schüttelte den Kopf.

„Nein, tu was du nicht lassen kannst.“

Und genau das tat er. Seine Hände fuhren meine Seiten entlang und schließlich wieder über meinen Rücken. Wie ein Windhauch strich er über meine erhitzte Haut und streichelte mich sanft und liebevoll. Im Gegenzug dazu wurden seine Küsse immer wilder und heißer und ich konnte von mir nicht behaupten, dass mich diese Aktionen kalt ließen, im Gegenteil. Ich spürte deutlich, dass ich ebenso heftig auf ihn reagierte, wie schon gestern, als er mich im Bad berührt hatte. Ein roter Schimmer legte sich auf meine Wangen und keuchend unterbrach ich den Kuss. Er lächelte nur und fuhr mit seinen Fingern die Konturen meines Gesichtes nach. Sein Blick wanderte weiter, ebenso seine Hände, die nun über mein Kinn, meinen Hals hinabstrichen und meine Schlüsselbeine nachzuzeichnen. Erst auf meiner sich schnell hebenden und senkenden Brust kamen sie zur Ruhe und begann mich vorsichtig dort zu streicheln. Erregt schloss ich die Augen und ein leises Stöhnen entfloh meinen Lippen. Er beobachtete mich immer noch und schließlich als von mir keine Einwände kamen, ersetzten seine Lippen seine Hände und er begann meine Brust zu küssen. Ich krallte mich nun in die Lehnen des Sessels, ließ einfach alles über mich ergehen und selbst wenn ich gewollt hätte, dass er aufhört, mein Körper hätte diese Entscheidung sicherlich nicht unterstützt. Nach schier endlos langer Zeit wanderten seine Lippen wieder nach oben. Gierig ergriff ich seinen Kopf und küsste ihn leidenschaftlich. Er war zu Beginn überrascht, ließ sich aber sofort darauf ein und langsam wurde ich mutiger und begann ihm sein Hemd aufzuknöpfen. Seine Haut war kühler als meine, nicht so erhitzt und heiß, aber das störte mich nicht. Er schmunzelte leicht und lehnte sich dann weiter vor, drückte mich tiefer zurück in den Sessel und schob eines seiner Beine zwischen meine. Wieder stöhnte ich auf und schloss die Augen. Ich war erregt, mehr als jemals zuvor und seine Berührungen machten mich bereits jetzt halb wahnsinnig. Seine Hände, die bis dahin meine Brust gereizt hatten glitten nun tiefer, streichelten meinen Bauch und kitzelten mich dort unaufhörlich. Er ließ mir alle Zeit der Welt mich an all dass zu gewöhnen und wurde nun wieder sanfter und liebevoller. Ich spürte, wie er am Bund meiner Hose entlang strich und den Gürtel löste. Flüchtig und unbeabsichtigt berührte er meine Erektion und ich konnte mir einen Aufschrei nicht verkneifen. Nun doch etwas schneller öffnete er meine Hose und strich nun ganz behutsam zwischen meine Beine, während er sich von mir löste und meine Reaktion beobachtete. Ich stöhnte heiser auf und ließ mich schwer atmend gegen die Lehne sinken.

„Genieß einfach, was ich tue, okay.“ Er küsste sanft meine Nasenspitze und ich schloss die Augen. Ich war nicht so naiv, um nicht zu wissen, was er vorhatte. Ich wartete geduldig, auch wenn er wieder einmal alles quälend in die Länge zog. Nur vorsichtig strich er über meinen Unterleib und schließlich spürte ich seine Lippen, die mich vorsichtig umschlossen. Dass mir das einmal passieren würde, hätte ich vor ein paar Tagen nicht mal im Traum gedacht. Stöhnend und ächzend sah ich zu ihm und begann fahrig durch seine Haare zu streichen, während er anfing das Tempo zu steigern. Ich wusste jetzt schon, dass ich diese Behandlung nicht lange durchhalten würde, egal, wie sanft er war. Ich war siebzehn, in der ‚Blüte meiner Jahre’ und irgendwo hatte ich mal gehört, dass pubertierende Jugendliche, insbesondere solche männlicher Natur in diesem Alter ständig sexuell aktiv werden konnten. Wirklich zurückhalten wollte ich mich dementsprechend nicht.

Als er anfing an mir zu saugen, verwarf ich jegliche Gedanken an sexuelle Aufklärungsmagazine und konzentrierte mich wieder auf das Hier und Jetzt. Meine Beine hatte er sich unterdessen über seine Schultern gelegt und sein Kopf war tief in meinem Schoß verschwunden. Ich wand mich immer stärker unter ihm, konnte mich selbst kaum mehr zur Ruhe zwingen und kam ihm schließlich entgegen. Meine Finger hatten sich inzwischen in seine Haare verkrallt und drückten ihn tiefer, was er mit einem Brummen quittierte und mir schließlich leicht angesäuert in die Augen blickte. Sofort zog ich meine Hände zurück und malträtierte stattdessen die Lehnen des Sessels. Immer heftiger wurden die Wellen in mir, immer mehr Wärme breitete sich in meinem Unterleib aus, und schließlich konnte ich mich nicht mehr zurückhalten. Meine Warnung, die ich ihm zurufen wollte, ging in einem lauten Aufschrei unter, während sich meine Erektion in einer einzigen Explosion der Gefühle ergoss.

Schwer atmend und immer noch leicht erregt, sank ich zurück gegen die Lehne des Sofas. Ich musste erst einmal mein rasendes Herz wieder unter Kontrolle bringen und mich beruhigen. Das war definitiv mehr, als ich heute eigentlich mit ihm machen wollte, aber ich bereute nicht, was wir getan hatten. Es war schön gewesen und obgleich das erst der Anfang war, war ich in diesem Augenblick glücklicher als zuvor.

Ein Schauer durchwanderte meinen Körper als er sanft über meinen Bauch strich und schließlich zu mir nach oben krabbelte, um mich zu umarmen. Er atmete ebenfalls schwer und eine ganze Weile genossen wir einfach nur die Stille und die Gegenwart des jeweils anderen.

„Und, war ich dir zu… schnell?“, fragte er mich schließlich und leckte sich dabei über die Lippen.

„Nein, ist schon in Ordnung gewesen.“, sagte ich und wurde leicht rot um die Nase.

„Gut, und hat es dir gefallen?“ Er wirkte ein wenig unsicher und blickte mir lange in die Augen.

„Sicher, hat man das nicht gemerkt?“ Ich vergrub mein schweißnasses Gesicht an seinem Oberkörper.

„Doch habe ich…“ Er näherte sich meinem Ohr und flüsterte leise. „Du schmeckst gut.“ Jetzt war ich endgültig knallrot. Irgendwie war es doch etwas peinlich, aber nicht ganz so schlimm, wie ich gedacht hatte. Ich hörte sein leises Lachen, als er mir sanft durch die Haare strich. „Du wirst dich schon daran gewöhnen…“, murmelte er und zog mich zu sich, um mich zärtlich zu küssen. Ein salziger Geschmack lag auf seinen Lippen, doch das störte mich nicht, wusste ich doch genau, woher dieser kam.

„Ich glaube wir brauchen beide ein Bad.“, sagte Clay, als er sich von mir löste und verträumt mit meinen Haaren spielte. Ich sah an ihm herab und wunderte mich nicht wirklich, dass das Ganze nicht spurlos an ihm vorbei gegangen war. Seine Hose war feucht und scheinbar war das alles andere als angenehm für ihn. Wissend grinste ich und küsste ihn flüchtig.

„Gerne, ich habe nichts gegen ein gemeinsames Bad.“

„Gut, dann kann ich mich endlich von dieser Hose befreien.“ Er warf seinem Kleidungsstück einen missbilligenden Blick zu und noch bevor ich mich auch nur aufrichten konnte, hob er mich auf seine Arme und trug mich Richtung Badezimmer.

„Ich kann auch alleine Laufen.“, meckerte ich leise, doch er ignorierte meine Einwürfe geflissentlich. Er stieß die Tür mit seinem Fuß auf und setzte mich wieder auf dem Schemel ab, der noch an der gleichen Stelle stand wie letztes Mal. Ich erinnerte mich durchaus, was in diesem Bad passiert war.

„Kim, beantwortest du mir bitte eine Frage.“ Clay wirkte ernst und kniete sich vor meinen Hocker, um mich betrachten zu können. Seine grauen Augen fixierten mich genau und ich nickte nur leicht. „Als du auf den Feldern des Nichts warst, woraus bestand dein Alptraum. Ich habe bisher nicht gefragt, aber nun will ich es endlich wissen. Du warst verletzt und nur schwer zu beruhigen, als wir dich fanden. Du hattest Angst und als wir zurück waren hast du im Schlaf gesprochen und geweint.“

„Hab ich das?“ Er nickte nur und strich mir durch die Haare.

„Was hast du gesehen? Was macht dir am meisten Angst im Leben?“

„Einsamkeit…“, antwortete ich leise. „Einsamkeit und Dunkelheit. Ich konnte dort nichts sehen oder hören. Ich war in einer riesigen dunklen Nebelwolke und irrte blindlings durch eine kahle, kalte Welt, ohne jemals ans Ziel zu kommen.“ Ich verkrampfte mich sofort und umklammerte meine Oberarme fester. Die Angst stieg wieder in mir auf, diese stumme Panik vor diesen Wesen, die mich verfolgten und jagten, ohne dass ich wusste, wer oder was sie waren. Sie verletzten mich, meine Arme und Beine waren übersäht mit klaffenden Wunden. Ängstlich schüttelte ich den Kopf und unterdrückte ein Zittern. Er strich mir behutsam über den Rücken und flüsterte mir leise Worte des Trostes zu. „Und… und da waren diese…. Kreaturen.“

„Kreaturen?“, fragte er stockend und mit einer gewissen Furcht in der Stimme.

„Sie jagten mich, hetzten mich durch die Dunkelheit und fingen mich schließlich ein, um mich zu… quälen.“ Ich schluckte hart und rollte mich wieder zusammen, so wie ich es immer tat, wenn ich mich dort verstecken musste. Er umarmte mich sanft, zog mich enger zu sich und sein Herzschlag beruhigte mich wieder. Tränen stiegen in mir auf und eigentlich hatte ich vor das alles zu verdrängen und nie wieder hervor zu lassen, doch nun konnte ich das nicht mehr zurückhalten.

„Erzähl weiter... friss so was nicht in dich hinein, das schadet dir nur und zerstört dich von innen heraus.“ Er machte eine längere Pause und strich mir dabei durch die Haare. „Was haben sie genau gemacht… haben sie dich… vergewaltigt.“ Das letzte Wort würgte er fast schon hervor wie ein widerliches Insekt und es hallte eine Weile in der Luft nach, brannte sich in meine Gedanken. Er wartete und ich konnte seine Ungeduld spüren, er atmete heftiger und sein Herz schlug schneller.

„Vergewaltigt?“, flüsterte ich fast tonlos und schüttelte schließlich den Kopf. Ich konnte förmlich hören, wie ihm ein gewaltiger Felsbrocken vom Herzen fiel.

„Gott sei Dank… als du so still warst und kein Wort gesprochen hast, hab ich eigentlich mit so etwas gerechnet. Deine Verletzungen… dein… ganzes Auftreten. Du warst so verändert.“ Er schluckte und ich strich ihm vorsichtig über die Wange.

„Nein… sie haben mich gejagt und sobald sie mich gefangen hatten, haben sie mir Worte und Dinge zugeflüstert, mich herumgeschubst und geschlagen. Sie nannten mich ‚Verlierer’ oder ‚Perverser’… und dann haben sie mich freigelassen, um mich erneut zu jagen.“ Meine Finger krallten sich in seinem offenen Hemd fest und er zog mich wieder zu sich.

„Das war deine Angst? Einsamkeit, Verstoßen und gehasst werden? Weil du schwul bist und weil du Angst hattest, jeder wendet sich von dir ab.“ Er wirkte erleichtert, obgleich ihn all das schockierte, was ich ihm gesagt hatte.

Er hielt mich lange in seinen Armen und ich erzählte ihm genauer, was alles passiert war, redete mir all das von der Seele, was mich belastete und es half mir wirklich. Ich hatte jemanden, dem ich vertrauen konnte, musste es nicht hinter einer Maske verstecken und somit nahm der Druck auf meiner Seele ab.. Clay ließ mich nicht alleine und blieb bei mir, den ganzen Abend und die ganze Nacht hindurch. Wir badeten, aßen gemeinsam eine Kleinigkeit und schliefen Arm in Arm irgendwann in den frühen Morgenstunden ein. Er war geduldig und ließ mir alle Zeit, die ich brauchte um wieder auf die Beine zu kommen, unterstützte mich in den folgenden Wochen und kümmerte sich rührend um mich und mein Wohlbefinden.

 

Das hat sich bis zum heutigen Tage nicht verändert. Wir sind immer noch zusammen und ich glaube wir sind beide ruhiger geworden. Es ist nicht so, dass wir uns nicht streiten, im Gegenteil, aber dafür ist die Versöhnung jedes Mal immer besonders romantisch und schön. Ich denke, er fängt langsam an mich richtig zu lieben, jedenfalls hat er mir erst vor einigen Tagen das erste Mal diese drei kleinen Worte gesagt, die ich so gerne hören wollte. Und ich liebe ihn noch mehr, seit ich weiß, was er empfindet. Ich bin sehr gespannt, was das Leben noch für uns bereithält, aber wir schaffen das gemeinsam, immerhin hab ich ihn unterdessen ganz gut unter Kontrolle, kenne ihn und weiß wann er sich in seinen eigenen Gefühlen verliert. Ich glaube, wir werden nicht mehr so schnell von einander loskommen.

 

Nicht in diesem Leben.

 

 

--FIN--

 

(c) Juliane Seidel, 2006