Die kaputte Lupe |
Der
kleine Antiquitätenladen fernab der belebten Innenstadt Wiesbadens hatte
nur donnerstags geöffnet, an den anderen Tagen war der Besitzer kaum
gewillt das Geschäft auch nur für ein paar Stunden den Menschen zugänglich
zu machen. Zumeist blieben die Möbel, die gesammelten Kunstwerke und die
vielen Puppen und Stofftiere unter sich. In der rechten Ecke des kleinen
Verkaufsraumes stand ein weißes, staubiges Skelett und direkt daneben
befand sich ein alter Tresen, dessen Glas an einigen Stellen blind geworden
war. Der wuchtige rote Sessel, auf dem der Besitzer einmal jede Woche saß
und die Zeitung las, stand dahinter und vom Eingang her war er manchmal nur
schwer zu entdecken. Der Verkehr der Hauptstraße dröhnte selbst im Geschäft
und kaum ein Fußgänger hatte einen Blick für die Auslage übrig, die die
wertvollsten Gegenstände der Sammlung präsentierten. Seltsamerweise war
ich nicht mit bei dem Porzellan und den vielen schönen, glänzenden
Schmuckstücken, die sich in den Schatullen dicht aneinander drängten. Man
hatte es vorgezogen mich in einer Kiste unterhalb des Schrankes
aufzubewahren und dort meine Zeit fristen zu lassen. Sicherlich, ich bin
nicht unbedingt ein wunderschöner Ring, der am Finger einer Frau hübsch
anzusehen wäre, dennoch war diese Behandlung meiner nicht würdig. Ich
brauchte einen neuen Besitzer, einen neuen Meister, der mich zu nutzen
wusste, doch leider schien der korpulente Besitzer des Geschäftes nicht der
Ansicht zu sein, ich hätte eine genauere Begutachtung verdient. Ich
war alt und zählte zu den wenigen Gegenständen, die ein Gewissen und eine
eigene Seele hatten, denen es jedoch nicht vergönnt war mit der
menschlichen Spezies zu kommunizieren. Dementsprechend schwierig war es für
mich meine Aufgabe zu erfüllen, da die meisten Menschen gar nicht wussten,
zu welchem Zweck ich überhaupt erschaffen worden war. Woher sollten sie es
auch wissen? Wenn es einmal Aufzeichnungen gegeben hatte, so waren diese in
Vergessenheit geraten. Zudem ging das Wissen um unsere Existenz nicht mit
dem richtigen Gebrauch einher. Die Wenigsten unter ihnen erfüllten die
Bedingungen uns zu aktivieren und zumeist waren meine bisherigen Besitzer
nicht einmal in der Lage das beinah erloschene Feuer in mir anzustacheln.
Sie besaßen nicht die notwendige Phantasie und diese war letztendlich die
Grundvoraussetzung. Doch
in der Vergangenheit zu wandeln, brachte gar nichts, auch wenn es über die
einsamen Tage hinweghelfen konnte. Leblose Gegenstände, wie es hier zuhauf
gab, waren keine guten Gesprächspartner. Denn obwohl ich nicht mit den
Menschen kommunizieren konnte, Objekte, wie ich eins war, konnten sich
durchaus untereinander verständigen. Allerdings lagen Jahrhunderte zwischen
meiner letzten Begegnung mit solch einem Gegenstand und der heutigen Zeit.
Wenn ich es mir recht überlegte, war ich überhaupt ein Objekt? Immerhin
hatte ich eine Seele und durchaus in der Lage zu agieren, wenn bestimmte
Punkte erfüllt waren. Das hieß doch, dass ich vielmehr ein Subjekt war,
oder? Egal,
ich lag eingeschlagen in ein rotes Samttuch in der halbgeschlossenen Kiste
und hatte schon fast die Hoffnung aufgegeben, jemals aus diesem Geschäft
herauszukommen als im Dezember kurz vor Weihnachten er in den Laden
gestolpert kam. Die Hände in die Taschen der Lederjacke vergraben, einen löchrigen,
bunten Schal um den Hals gewickelt und mit geröteten Wangen stand ein Junge
da, beinahe noch ein Kind und dennoch mit einem ungemein fesselnden Blick.
Es war das erste Mal, dass ich ihn hier sah, doch zugleich spürte ich meine
Verbundenheit zu diesem Jungen, der sich neugierig umblickte. Ich hatte noch
nie einen Menschen mit bunten Haaren gesehen, die roten und blonden Strähnen
bewiesen, dass ich mich nicht mehr in der Zeit befand, in der gepuderte Perücken
die Mode bestimmten. „Was
hast du hier zu suchen?“ Dass der korpulente, alte Mann kaum etwas aus
seiner kleinen Privatsammlung verkaufte, hatte selbst ich in all den Jahren
mitbekommen, doch selten hatte ich ein Gespräch so direkt belauschen können.
Seine Tonlage klang schroff und seinem Gesicht war deutlich anzusehen, dass
er die Nähe des Jungen missbilligte. Ich war mir sicher, dass er ihn sofort
vor die Tür gesetzt hätte, wenn er sich nur aus diesem alten Sessel
erhoben hätte. Ein Wunder, dass die kleinen Beinchen des Möbelstückes überhaupt
das Gewicht des grauhaarigen Mannes trugen. Der Junge schien sich von der
offensichtlichen Anfeindung kaum beeindrucken zu lassen und überflog
nachdenklich die Auslage, ohne sich jedoch für den Schmuck oder das
Porzellan zu interessieren. Antiker Schmuck war auch kaum etwas, was ihm gut
zu Gesicht stand. „Ich
will mich nur umsehen.“, sagte er leise, als er sich in meine Richtung
bewegte und den alten Schrank einer genaueren Inspektion unterzog. „Du
wirst dir eh nichts hier leisten können.“ Wieder dieser giftige Unterton
in der Stimme meines momentanen Besitzers und wenn ich mich nicht irrte,
noch ein wenig schärfer. „Du verscheuchst mir nur die Kunden.“ Was für
eine Lüge, dachte ich mir. Die Kunden, die in den letzten Monaten hier
gewesen waren, konnte man an einer Hand abzählen. Dem Jungen schien etwas
Ähnliches durch den Kopf zu gehen. „Welche
Kunden?“ Er beugte sich nun nach unten und schien dabei zu sein, die alte
Kiste nach vorne zu ziehen, in der ich mich befand. Es war verblüffend, wie
schnell er gerade mich gefunden hatte, immerhin hatte der Besitzer des
Ladens alles getan um mich vor neugierigen Blicken zu bewahren. An manchen
Tagen glaubte ich sogar, dass er mich gar nicht verkaufen wollte und mich
deshalb hier versteckte. „Hier ist doch kaum jemand. Ich komme immer an
diesem Laden vorbei, wenn die Schule vorbei ist und habe selten jemanden
hier gesehen.“ Mutig
war er ja, das musste ich ihm lassen. Obgleich zeitgleich auch etwas
leichtsinnig. Meiner Einschätzung nach war es unklug den bulligen Mann zu
reizen und ich sollte Recht behalten. Der massige Körper erhob sich aus dem
Sessel und die Zeitung wurde zur Seite geschoben. Das Kratzen der kleinen
Beinchen war auf dem steinernen Boden zu hören, doch der Junge störte sich
kaum daran. Er schlug das Tuch zurück und musterte mich mit unverhohlenem
Interesse. Für eine Sekunde kam mir der lächerliche Gedanke, dass er mich
gesucht haben musste, allerdings verwarf ich diesen sofort. Keiner wusste
mehr um meine Macht und ein Kind war wohl kaum in der Lage sie richtig für
sich zu nutzen. Scheinbar irrte ich mich erneut, denn der Samt wurde nun
komplett um mich geschlungen und seine Hand umschloss die Kiste fester.
Endlich gab es jemanden, der mich kaufen wollte. Ich spürte es und
dementsprechend euphorisch war ich zu diesem Zeitpunkt… Kaufen?
Ich nahm alles zurück, was ich zu diesem Punkt gedacht hatte. Nein, er
hatte mich nicht gekauft, er hatte mich gestohlen. Gestohlen. Mich,
der ich älter war als die Menschheit selbst wurde von einem kleinen,
bunthaarigen Jungen entwendet. Ich erinnerte mich nur noch an den plötzlichen
Ruck und an die Flüche, die uns folgten, als der Junge mit mir die Flucht
ergriffen hatte. Natürlich konnte der beleibte Besitzer mit dem flinken
Kind nicht mithalten und schon nach kurzer Zeit hatte er ihn abhängt. Dennoch,
sosehr ich mich darüber freute endlich den Laden verlassen zu haben, sosehr
verfluchte ich die Art, wie es geschehen war. Ich lag in den Händen des
keuchenden Jungen, der nichts anderes als ein Dieb war und seine Beute
begutachtete. Wieso er gerade mich gestohlen hatte war mir ein Rätsel. Es gab in den Auslagen
wesentlich hübschere Sachen, doch er hatte sich für mich entschieden.
Zielstrebig hatte er die Schatulle hervorgezogen und sie samt Inhalt
mitgenommen. Vielleicht spürte er, was ich war. Seine
grünen Augen musterten mich genau, überflogen die zierlichen Intarsien und
Zeichen, die in den goldenen Ring eingefügt waren und in den Griff übergingen.
Auch die drei winzigen blauen Steine entgingen ihm nicht. Eigentlich war ich
einer Lupe nicht unähnlich, nur das geschwungene Vergrößerungsglas
fehlte. Daher hatte man mich nicht in das Schaufenster gelegt, ging man wohl
davon aus, ich sei nicht mehr in Ordnung und müsse zunächst repariert
werden. Dabei waren die Gravuren und Symbole immer noch deutlich zu sehen
und auch zu lesen, wenn es noch eine Seele gegeben hätte, die diese alte
Sprache beherrschte. Der
Junge wirkte verunsichert und drehte mich nun zum Licht, betrachtete mich
von allen Seiten und seufzte dann hörbar. Was immer er auch erwartete
hatte, ich entsprach nicht ganz seinen Vorstellungen, denn er ließ enttäuscht
die Schultern hängen. Als wenn ich etwas dafür könnte! Ich hatte
sicherlich keine Lust einfach so gestohlen zu werden, wenngleich ein kleiner
Ortswechsel nicht schlecht war, um sich neu auf die Suche zu machen. „Eine
kaputte Lupe“, murmelte er und strich vorsichtig mit den Fingerspitzen über
den Rahmen. Zunächst passierte gar nichts. Es war ungewohnt nach so vielen
Jahren die Berührung einer menschlichen Hand zu spüren. Dann jedoch
entfachte sich ein Kribbeln und Flackern in mir und gab einer beinahe
verloschenen Flamme neue Nahrung. Wie lange war es her, seit ich das letzte
Mal dieses Feuer wahrgenommen hatte? Ich konnte fast schon spüren, wie sich
das Rund des Stabes zu füllen begann, doch seine Hand wich zurück und
damit verschwand auch die Magie, die für Sekunden geherrscht hatte. „Was
war das denn eben?“ Ohne mich direkt zu berühren, betrachtete er mich
genauer und zuckte dann mit den Schultern. „Wahrscheinlich nur ein
elektrischer Schlag.“ Sein
Kopf ruckte zur Seite und fixierte nachdenklich einen Müllkorb. Er würde
doch nicht auf die Idee kommen mich in dem Unrat der letzten Tage zu
versenken? Ich war einer von zwölf magischen Gegenständen der alten Welt
und wertvoller als all dieser Prunk an den Häusern der Kurstadt. Zu meinem
Glück entschied er sich dann doch anders und steckte mich in seine
Jackentasche. Schlimmer konnte es nicht mehr werden und immer noch fand ich
den Widerhall der euphorischen Stimmung in mir endlich jemanden gefunden zu
haben, der genug Macht besaß mich wieder zu aktivieren. Ich konnte nur
hoffen, dass der Junge meine Macht schnell erkannte, denn immer noch war es
mir unmöglich mit ihm zu sprechen oder darauf hinzuweisen, wie ich genau
funktionierte. Erst
viele Stunden später wurde ich aus der warmen Innentasche befreit und
gleich von mehreren neugierigen Augenpaaren begutachtet. Ich lag auf einem
weißen Tisch, dessen seltsam glatte Oberfläche unangenehm für mich war,
in einer kleinen beengten Küche und sah mich zwei weiteren jungen Männern
gegenüber, die mein Äußeres musterten. Sie wirkten weder begeistert noch
fasziniert, eine Tatsache, die ich ihnen nicht verübeln konnte. „Was
genau soll das sein?“, wurde der kleine Dieb gefragt, der mit stolz
geschwellter Brust neben ihnen stand und unter der kühlen Stimme merklich
zusammen zuckte. Scheinbar hatte er sich mit dem Diebstahl gebrüstet und
stieß nun nicht auf den erhofften Applaus seiner Freunde. „Sieht aus wie
eine Lupe ohne Glas, Kimmy.“ Immerhin wusste ich jetzt den Namen meines
vermeintlichen Retters. Kimmy also. Ein neumodisch klingender Name, doch ich
hatte schon anhand der Möbel feststellen müssen, dass ich länger in der
Kiste unter dem Schrank verbracht hatte, als nur einige Jahre. Es mussten
demnach Jahrzehnte, wenn nicht sogar Jahrhunderte vergangen sein. Die Welt,
die ich kannte war wie die Häuser auf den Straßen- verspielter Prunk,
geschwungene Formen und blumige Jugendstilelemente, soweit das Auge reichte. „Also,
wenn ich ehrlich sein soll, sieht das für mich aus wie so ein Sprungkreis für
Ratten und Mäuse“, mischte sich der andere junge Mann ein, der mich keine
Sekunde aus den Augen ließ. Er streckte seine Hand aus, ergriff mich und
hielt mich einige Zentimeter über den Tisch. „So in etwa.“ „Sehr
witzig, Chris.“ Scheinbar hatte er mit diesem Vorschlag Kim noch mehr
getroffen, als sein anderer Freund und ruckartig wurde ich von der einen
Hand in die andere gerissen. Wenn ich mich richtig erinnerte hielt mich der
Junge erstmals richtig und ohne einen störenden Stofffetzen in seinen
Fingern und das Gefühl, das sich meiner schon einmal bemächtigte, kehrte
verstärkt zurück. Die Flammen in mir loderten auf und auch Kimmy schien es
zu bemerken, denn er sah mich überrascht und erschrocken zugleich an. Seine
Neugier war geweckt, trotzdem ließ er mich vor Schreck fallen, so dass ich
auf dem Tisch aufschlug. Erneut verschwand das lang vermisste Gefühl und hätte
ich gekonnt, ich hätte wohl enttäuscht aufgestöhnt. Es würde dauern, bis
sich der Junge daran gewöhnte, dass er eine Fähigkeit besaß, die mich
erwecken konnte; der es mir ermöglichen würde meiner Aufgabe nachzukommen. „Was
ist denn jetzt los?“ Der größte der Jungen warf seinem Freund einen
schiefen Blick zu und hob mich wieder auf, drehte mich in der Hand und
zuckte mit den Schultern. „Du bist so blass.“ „Es
ist plötzlich warm geworden, Florian“, erklärte er, erntete jedoch nur
ein ungläubiges Kopfschütteln. „Natürlich,
ich glaube du hast dich zu sehr in deinen Fantasy- Romanen verloren, anstatt
deine Hausaufgaben zu machen.“ Es war unschwer zu erkennen, dass er mit
diesen Worten seinen Gesprächspartner reizen und ärgern wollte und tatsächlich
sprang Kimmy auf den kleinen Angriff an und konterte mit aufgebrachter
Stimme. Was das folgende Streitgespräch beinhaltete, möchte ich lieber
nicht zum Besten geben, doch es schien ihnen durchaus Spaß zu bereiten.
Nach fast einer Stunde hatte Kimmy genug und verabschiedete sich von seinen
Freunden, die ihn mehrfach an irgendeine Hausarbeit erinnerten, die er zu
schreiben hatte. Davon ließ er sich nicht beeindrucken, sondern kehrte zu
mir zurück und starrte mich eine ganze Weile schweigend an. Was er damit
bezweckte kann ich nicht sagen, doch nach einiger Zeit murmelte er leise: „Habe
ich mir das nur eingebildet, oder bist du in meiner Hand wirklich wärmer
geworden?“ Vorsichtig
streckte er die Hand aus und tippte einen der eingefassten Steine an, der
kurz aufflackerte und ihn erschrocken zurücktaumeln ließ. Der Junge
wartete eine halbe Minute, berührte mich erneut und fuhr wie bei seinem
vorherigen Versuch erschrocken zurück. Gut, vielleicht war das wirklich
ungewöhnlich und nach einer Weile wurde diese Kette von Reaktionen
langweilig. Diese Prozedere dauert noch die nächsten zehn Minuten an, bis
ich schließlich aufgab, ihm auf diese Art und Weise Signale zu senden, die
er die ganze Zeit hindurch falsch verstand und missdeutete. Er selbst
entschied sich dafür einschlägige Fachliteratur zu Rate zu ziehen, die aus
einem Stapel Romanen und Horrorgeschichten bestand. Mir war klar, dass er
dort kaum eine Antwort finden würde. „Also,
in den Geschichten steht nichts über eine Lupe, wie dich. Es gibt zwar
Zauberlupen, doch die haben alle ein Vergrößerungsglas“, sinnierte er
und legte das letzte Buch neben sich ab. „Manche ermöglichen es sogar in
die Zukunft zu sehen“, erzählte er mir. Natürlich würde er auf diese
Art und Weise keinen Erfolg haben, schon weil ich kein Vergrößerungsglas
war. Entgegen seiner Vermutung war ich weder defekt noch zerbrochen, sondern
vollkommen in Ordnung. Die Zeit hatte ihre Spuren hinterlassen, doch meine Fähigkeiten
erwachten wieder wenn er mich nur berührte und ließen mich Hoffnung schöpfen.
„Vielleicht
hat Chris recht und du hast einmal einem Mäusedompteur gehört.“ Sein
Gesicht verzog sich kurz und er schmunzelte schließlich voller Tatendrang.
Er sprang auf und verließ die Küche mit lauten Schritten. Dass ein solch
zierlicher Junge so einen Krach verursachen konnte, war wirklich eine
Glanzleistung und nach einigem Scheppern und einigen laut ausgerufenen Flüchen
kam er zu mir zurück. In seiner Hand versteckte er irgendetwas, und als er
sich auf einen der weiß lackierten Holzstühle setzte, entließ er tatsächlich
eine Maus seinem festen Griff. Das Nagetier wirkte nicht minder erschrocken
als ich, als er es auf den Tisch platzierte. Woher er auch immer das Tier
nahm, er schien an seiner Idee festzuhalten, ich sei für Mäusekunststückchen
gedacht gewesen. Vorsichtig hob er mich hoch, ignorierte das pulsierende
Beben, das ich ihm sandte und hielt mich direkt vor die suchende Schnauze
der Maus. Natürlich
sprang das kleine Tierchen nicht durch mich hindurch, wohl weil sie sich
genauso lächerlich vorgekommen wäre, wie ich. Sie begann sich das weiße
Fell zu putzen und drehte ihm den Rücken zu. Enttäuscht ließ er mich
wieder sinken und stupste den Nager an. „Nun
mach schon, Killer. Spring, das wirst du doch nun hinbekommen.“ Ich weiß
nicht, was ich lächerlicher gefunden hatte- den Namen oder diese
Aufforderung, die bar jeglicher Vernunft war. Dieses Tier würde alles
machen, nur nicht durch den Kreis springen, wie er es ihr befohlen hatte.
Dennoch dauerte es mehrere Minuten, bis auch er diesem Umstand begriffen
hatte und mich auf die Bücher legte. Immerhin konnte ich durch den geringen
Positionswechsel ein bisschen mehr der Wohnung sehen. Durch die Küchentür
gelang es mir den zugestellten Flur zu erkennen, der mit Regalen und Büchern
bis zur Decke hinauf versehen war. An einer einfachen Garderobe hingen
Jacken und Mäntel und die eisernen Hacken schienen sich allein durch die
Last der Kleidung zu verbiegen. Am Ende des Korridors war eine weitere Tür,
jedoch konnte ich kaum etwas in dem dahinter liegenden Raum ausmachen. Eine
einfache Wohnung, kein prunkvolles Haus, kein Palast und auch keine Diener
erwarteten mich. Wenn ich ehrlich war, könnte ich mir das bei diesem Kind
auch nur schwer vorstellen. Er hatte mich entwendet, nicht gekauft. Demnach
musste er wenig Geld haben, oder er mochte den Reiz daran, etwas zu stehlen.
Die einzige Sache, die mich nach wie vor beschäftigte war, warum er gerade
mich gestohlen hatte. Vielleicht hatte er mich wirklich zufällig gefunden,
doch an solche Glücksfälle glaubte ich schon lange nicht mehr. Der
Junge hatte sich entschieden, den Nager zurückzubringen und ich hoffte inständig,
dass er damit auch diese lächerlich Idee verwarf. Ich war wirklich
gespannt, was für eine Rolle mir jetzt zugesprochen wurde. „Weißt
du, ich habe noch eine Idee, was du sein könntest“, begann er als er
wieder in der Küche stand und den Stuhl an den Tisch schob. Er begann
enthusiastisch Wasser in eine Schüssel zu lassen und Seife hinzu zufügen,
bis eine Lauge entstand, die milchig weiß war. Etwas entsetzt war ich
schon, das muss ich zugeben, besonders als er mit seiner Mixtur an den Tisch
zurück kam und mich mit einer Hand ergriff. Mein warnender Impuls in Form
eines elektrischen Schlages ließ ihn zusammenzucken und die Schüssel
rutschte ihm fast aus der Hand- aber leider nur fast. Ich hatte keine Lust
auch noch in diese Mischung getaucht zu werden und meine Reaktion war wohl
heftiger, als ich ursprünglich beabsichtigt hatte. Die drei Steine
leuchteten auf und selbst die Intarsien glommen in einem roten Schimmer, als
er nun mühsam die Schüssel auf dem Tisch abstellte. Ein Teil des Wassers
schwappte über den schmalen Rand und verteilte sich auf der Platte und
tropfte auf den gekachelten Boden. „Was
ist jetzt los?“, murmelte er, als er mich ein wenig von sich weg hielt und
sich die hellen Steine ansah. Seine Gedanken überschlugen sich, das war
deutlich an seinem Gesicht abzulesen und er wusste nicht genau, was er nun
machen sollte. Wenigstens war er von dem Gedanken mich zu baden abgekommen
und so ließ das Funkeln allmählich nach. Dennoch leuchteten die Symbole
weiter und auch ich erkannte deutlich diesen Überschuss an Macht, die in
dem Jungen wohnte und den ich mir zu Nutze machen sollte. Zu lange hatte ich
ausharren müssen. Den Meisten war ich glücklicherweise zu hübsch
ausgearbeitet, um mich einfach wegzuwerfen und das war auch der Grund,
weswegen ich mich letztendlich in dem Antiquariat wiedergefunden hatte. „Kim,
was in aller Welt machst du da?“ Weder er noch ich hatten die Frau
mitbekommen, die im Rahmen der Küchentür stand und mit einem wütenden
Blick das Chaos registrierte, dass den Tisch heimgesucht hatte. Die verschüttete
Seifenlauge, die halb durchnässten Bücher und der nasse Boden. „Du
hattest mir versprochen, nicht immer so chaotisch zu sein, sondern mehr
Vorsicht walten zu lassen.“ Sie trat an ihm vorbei zur Wand und riss etwas
von einer weißen Papierrolle ab. Dann begann sie das Wasser aufzuwischen, während
dem Jungen nichts Besseres einfiel, als mich in seine Hosentasche zu
stopfen. „Tut
mir leid“, stammelte er leise. „Du
hast deine ganzen Bücher erwischt und machst nichts weiter als hier zu
stehen und Däumchen zu drehen.“ Es musste wohl seine Mutter sein,
immerhin ließ sie es sich nicht nehmen eine leichte Rüge zu erteilen, während
sie gemeinsam aufräumten und das restliche Wasser wegschütteten.
Wenigstens blieb mir jetzt das kühle Nass erspart, doch zeitgleich spürte
ich, dass ich auch einen Rückschritt gemacht hatte, dem Jungen meine wahre
Macht begreiflich zu machen. Es
dauerte ein paar Tage, bis er sich meiner wieder bewusst wurde und aus der
Schublade holte. Er hatte mich vorgestern einfach weggeschlossen und ich war
mir sicher, fast schon vergessen worden zu sein, doch glücklicherweise
erinnerte er sich doch noch an mich. Leider waren die Ereignisse, die mit
mir in Zusammenhang standen so seltsam für ihn, dass er sich vor jeglicher
Berührung schützte. In diesem Fall benutzte er ein Küchentuch um mich
nicht direkt anfassen zu müssen. Zu meinem großen Entsetzen war er von der
Idee des Seifenwassers immer noch nicht abgekommen. Ich konnte eine braune
Schüssel entdecken, die auf seinem überfüllten Schreibtisch stand. Die
Zeichnungen und Skizzenblöcke, Stifte und Malutensilien waren achtlos zur
Seite geschoben worden. Er musste ein Künstler sein oder zumindest Freude
am Zeichnen finden. Sein Zimmer war ein einziges Chaos aus Kleidung, Papier,
Büchern und mehreren Käfigen, dessen pelzige kleine Bewohner besonders
aktiv waren. Es raschelte und klapperte überall. Dennoch gab sich der Junge
Mühe leise zu sprechen. „Jetzt
wiederholen wir den Versuch von vorgestern.“ Er warf einen zweifelnden
Blick auf die Schüssel. „Immerhin hast du reagiert, als ich das Wasser
abgestellt habe, also hat das sicherlich etwas zu bedeuten.“ Ich konnte
ihm diese logischen Zusammenhänge nicht abstreiten, Allerdings bestand da
keinerlei Verbindung, besonders da mir schleierhaft war, was er überhaupt
mit dem Wasser vorhatte. Ohne
zu zögern tauchte er den Ring in die Lauge, wartete einen Moment und hielt
mich dann gegen das gedämpfte Licht der Nachttischlampe. Natürlich
passierte nichts. Immerhin konnte ich durch das Tuch keine Verbindung zu ihm
aufbauen, doch scheinbar wollte er auf etwas anderes hinaus, denn erneut
tauchte er mein Rund in das Behältnis. Langsam wurde ich es leid, mich so
behandeln zu lassen. Als das Tuch ins Wasser rutschte, entschied er sich
endlich dafür es zur Seite zu legen und mich normal zu berühren und zu
guter Letzt konnte ich das warme Kribbeln spüren, dass sich nun noch stärker
meiner Selbst bemächtigte. Schnell zog er mich aus dem Wasser und
betrachtete mich mit strahlenden Augen. „Wusste
ich es doch, es klappt.“, sagte er zu sich selbst und hielt mich erneut
gegen das Licht. Das seifige Wasser hatte seine Spuren hinterlassen und eine
dünne Membran hatte sich zwischen den Kreis gespannt, die nun in allen möglichen
Farben schimmerte. Die Phantasie Kimmys überschlug sich und ich spürte nur
zu deutlich, wie dieses Glücksgefühl endlich die letzte Barriere einriss
und es mir ermöglichte zu agieren, wie ich es sollte. Es hatte lange
gedauert und ich muss gestehen, dass es mir schwer fiel die feine Membran in
meinem Ring zu bilden, die ein Sinnbild seiner Phantasie war. Dennoch war
sie reich und ungemein weitreichend und durch die kleine Entdeckung derartig
beflügelt, dass sich schließlich neben der Seifenmembran eine weitere
Schicht gesammelt hatte. „Mit
dir kann man Seifenblasen machen“, sagte Kimmy leise, hob mich näher an
seine Lippen und pustete vorsichtig gegen die Schicht. Sein Atem erschaffte
eine bunt schillernde Blase, die wohl eine Mischung aus der Seifenflüssigkeit
und meiner Macht war. Wer hätte gedacht, dass er doch noch darauf kommen würde,
was meine Bestimmung war und vor allen Dingen so schnell. Die
Blase schwebte lautlos durch den Raum und in ihr entstand eine Fee; die
Erste, die ich seit Jahrhunderten zu Gesicht bekam. Ein zierliches kleines
Geschöpf mit silbrigen Libellenflügeln, die sich unablässig bewegten und
ein leises Summen von sich gaben. Ihr Gesicht war schmal und mit riesigen
Augen betrachtete sie ihre Umwelt. Der Junge hatte sie nicht bemerkt, er
betrachtete wie gebannt die leuchtenden Steine ohne sich der Tatsache
bewusst zu sein, dass das eigentliche Wunder nur wenige Zentimeter über
seinem Kopf geschah. Sein Atem hatte seiner Phantasie Flügel verliehen und
eine Elfe erschaffen. Bei einem Blick in seine Phantasie war mir
aufgefallen, wie beständig dieses kleine Wesen war, das er vermutlich in
seinen Träumen erschaffen hatte. Einige Zeichnungen auf dem Schreibtisch
bewiesen mir, dass er auch versucht hatte ihr auf dem Papier Leben
einzuhauen. Doch nicht nur Feen tummelten sich auf den Skizzen, auch Gnome,
Zwerge und Trolle waren dabei, doch um diese Wesen zu erschaffen, bedurfte
es mehr Übung und Konzentration. Irgendwann würde er vielleicht etwas Größeres
hervorbringen, doch bin dahin mussten ihm kleine Feen und Geister genügen. Mit
einem Knall zerplatze die Blase und gab die Fee komplett frei. Ihre Flügel
breiteten sich aus und schließlich wurde sich der Junge des Summens bewusst
und sah nach oben. Versteinert starrte er das kleine Zauberwesen an und
wurde bleich. Für eine Sekunde dachte ich, er würde in Ohnmacht fallen,
aber er beließ es dabei, sich auf den Stuhl fallen zu lassen und diesen
fast umzuwerfen. „Was
um alles…“, stammelte er verdutzt und streckte eine Hand nach dem Geschöpf
aus. Doch so leicht wollte sich das Feenwesen nicht fangen lassen und schlüpfte
durch seine ausgestreckten Finger hindurch. Entrüstet sah sie ihn aus ihren
dunklen Augen an und wollte etwas sagen, jedoch scheiterte sie daran verständliche
Sätze hervor zu bringen. Wäre
es mir vergönnt gewesen zu lachen, so hätte ich es mit Freuden getan, denn
das Schauspiel war einfach unbeschreiblich. Winzige Seifenblasen verließen
ihren Mund und stiegen auf und jede Blase trug eines ihrer Worte mit sich,
gefangen in einer Seifenhülle. Schließlich zerplatzten sie nacheinander,
allerdings kamen nun die Worte vollkommen durcheinander hervor, was eine
seltsame Mischung erzeugte. „Dir-
mich- was- ?- anzufassen- fällt- ein“ Augenblicklich schlug sie sich die
Hand vor den Mund. Ihr Blick irrte unstet durch den Raum, entdeckte mich und
schließlich auch die Seifenlauge in der Schüssel und beängstigend schnell
wusste sie, was passiert war. „Sein-
dumm- eigentlich- kann- wie- ?- man- sein- seltsam- !- rede- dir- ich- so-
wegen“ Ich konnte ihren Zorn verstehen. Ich hätte an ihrer Stelle nicht
anders reagiert! Das Wasser Kimmys war daran Schuld, dass der eigentliche
Zauber misslungen war und nun ein solch seltsames Geschöpf hervorgebracht
hatte, das nicht imstande war ordentlich zu kommunizieren. Ich konnte mir
vorstellen, was sie sagte, doch wirklich helfen konnte ich ihr nicht. Sie
war erschaffen worden, gebaut nach der Phantasie dieses Jungen und wenn es
seine Wünsche gewesen wären, eine stotternde Elfe hervorzubringen, dann wäre
auch dies in Erfüllung gegangen. So war es auch nichts ungewöhnliches,
dass sie in der Lage war seine Sprache zu sprechen, entsprang sie doch der
reinen Phantasie des Kindes und ich war mir sicher, er hatte schon einige
Versuche unternommen hatte mit der gezeichneten Figur zu reden. Sicherlich
diese Sache mit den Seifenblasen war nicht vorgesehen gewesen, doch meine
Schuld war es nicht. Ich hatte mich geweigert in dieses kalte Nass getaucht
zu werden. „Eine
echte Elfe.“ Endlich gab der Junge etwas von sich, gleich wenn es dümmlich
klang. Die Fee hatte aus ihren Fehlern gelernt und schenkte ihm lediglich
einen giftigen Blick. „Moment mal. Du siehst ja genauso aus wie Silberfünkchen.“
Er hastete zum Schreibtisch, schob die Schüssel weg und zog mehrere Blätter
Papier hervor, die die zierliche Elfe zeigten. Kimmy
verfiel in Euphorie als er mich nach oben riss und nun genau betrachtete.
„Du bist also wirklich ein magischer Gegenstand. Keine kaputte Lupe oder
ein Hilfsmittel für einen Mäusedompteur.“ Musste er diese Vermutungen
immer noch äußern. Es war peinlich, dass ich wirklich für so etwas
gehalten wurde. Dennoch hatte er endlich eine ungefähre Vorstellung, was
ich war und was man mit mir machen konnte. Jedoch erkannte ich fast
gleichzeitig, dass er immer noch in die falsche Richtung dachte, denn er war
schon kurz davor mich wieder in das Seifenwasser zu tauchen, als ihn Silberfünkchen
davon abhielt. Er sah sie nachdenklich an und zog die Hand zurück. „Nicht
gut?“, fragte er linkisch und sie schüttelte hilflos den Kopf. Sie
schwirrte über die Schüssel und setzte sich schließlich an den Rand. Dann
sinnierte sie einen Moment und begann sehr langsam zu sprechen. Erneut
stiegen Seifenblasen aus ihrem kleinen Mund auf, doch sie begann
augenblicklich damit die Blasen der Reihe nach zum Platzen zu bringen.
„Das brauchst du dafür nicht.“ Es klang immer noch etwas seltsam, aber
zumindest gelang es ihr die Wörter in der richtigen Reihenfolge von sich zu
geben. Der Junge war verblüfft und ein wahrer Schwall aus Fragen verließ
seinen Mund. Weder ich noch sie konnten dem überschäumenden Interesse
etwas entgegensetzen und es war ihr unmöglich zu antworten. Natürlich lag
die Ursache hierfür immer noch in dem kleinen Missgeschick begründet und
sie wollte abwarten, ob es sich nicht doch nach einer Weile wieder legen würde
und sie normal reden konnte. Seine
Hand umklammerte mich fester und seine Augen musterten den Kreis genau und
schließlich entdeckte er blinzelnd, dass immer noch eine Membran gespannt
war, die in allen erdenklichen Farben seiner Phantasie schimmerte. „Du
hauchst deiner Phantasie mit deinem Atem Leben ein“, erklärte Silberfünkchen
auf dieselbe umständliche Art, wie zuvor. Sein
Blick verirrte sich kurz zu ihr, dann hob er mich erneut vor seinen Mund und
blies warmen Atem gegen die zarte Haut, die sofort zu einer roten Blase
wurde. Nur wenige Augenblicke später veränderte sich das Innere und eine
neue Fee wurde geboren. Lange goldene Haare und winzige Libellenflügel
waren wohl das ungewöhnlichste Merkmal und eigentlich wären diese kleinen
Flügel außerstande gewesen die Fee zu tragen. Doch Physik schien in der
Welt des Jungen nicht von allzu großer Bedeutung zu sein. Die Elfe konnte
sich problemlos in der Luft halten. Die Hülle zerplatzte und das zweite
Feenwesen war erschaffen. „Ich
glaub’ es nicht. Goldlöckchen.“ Die Stimme des Jungen überschlug sich
und mit offenem Mund betrachtete er die Elfe, die sich nun zu ihrer Gefährtin
setzte. Sie schien nicht im Mindesten von der Umgebung beeindruckt zu sein,
was wohl daran lag, dass sie genau wusste, was passiert war. Zumindest
dahingehend hatte ich Einfluss auf die winzigen Geschöpfe, die ich
hervorbringen konnte. Ich war in der Lage ihnen das Wissen über mich
schenken. So wussten sie, von meiner Befähigung und dem Sinn dahinter.
Vielleicht konnten die beiden nun so etwas wie mein Sprachrohr zu dem Jungen
werden. Ich hatte durchaus versucht es der zweiten Fee begreiflich zu machen
und ihr das Wissen gegeben, das der Junge brauchte, um mich richtig
einzusetzen. Doch aus mir unbekannten Gründen schwieg sie, während ihre
Freundin, ungeachtet des Wortchaos’, auf sie einredete. Erst später fiel
mir auf, dass Goldlöckchen in Kimmys Phantasie wohl stumm war und somit
meiner Bitte nicht nachkommen konnte. Ein
weiterer Versuch seitens Kimmy wurde von einer aufknallenden Zimmertür
verhindert. Seine Mutter kam zornig herein. Geistesgegenwärtig warf er ein
Tuch, über die Feen und damit auch halb in die Schüssel. Es war Glück,
dass die eine Fee nicht reden konnte und die andere nun ihrer Fähigkeit ein
weiteres Mal beraubt wurde, denn sie kullerte in das kalte Wasser. Bevor
Silberfünkchen wieder auftauchte, schob sich der Junge zwischen den
Schreibtisch und seine Mutter. „Kim!
Was treibst du hier? Es ist mitten in der Nacht und du solltest schon längst
im Bett liegen!“ Ihre Augen waren verengt und die roten Haare hingen
zerzaust in ihr müdes Gesicht. Die euphorischen Rufe meines neuen Besitzers
mussten sie geweckt haben und nun war sie kurz davor die Feen zu entdecken. „Tut
mir leid, ich konnte nicht schlafen.“ Seine Stimme klang kratzig und er
stammelte eine weitere Entschuldigung vor sich hin. „Was
hast du da eigentlich?“ Sie hatte mich in seinen Händen entdeckt, denn
dieses Mal hatte er mich nicht weggesteckt, sondern vor sich an die Brust
gedrückt. „Sieht aus wie eine kaputte Lupe.“ Insgeheim fragte ich mich,
wie oft ich wohl noch auf diese Art und Weise tituliert werden würde, doch
so langsam gewöhnte ich mich daran. Darf ich mich selbst vorstellen-
fehlerhafte Lupe. Das war wie ein Name, den man mir gegeben hatte. „Ach
das?“ Kimmy versuchte so unschuldig wie möglich zu klingen und schob mich
unter ein paar Bögen Papier. „Das ist nichts besonderes, ich hab es auf
der Straße gefunden.“ So konnte man seinen Diebstahl auch bezeichnen. „Ist
ja auch egal. Mach das Licht aus und geh schlafen. Du hast morgen Schule.“
Ohne einen Gute-Nacht-Gruß schloss sie die Tür hinter sich und ging den
Korridor entlang. Selbst unter dem Papier begraben hörte ich ihre Schritte
und wusste, woher Kim seinen lauten Auftritt hatte. Kaum waren die Geräusche
verstummt, zog er mich wieder hervor und hob zeitgleich das Handtuch hoch.
Goldlöckchen hin mit steinernem Blick in dem Stoff, während Silberfünkchen
im Wasser stand und sich mühsam am Schüsselrand emporzog. Ihre Flügelchen
waren durch die Seife verklebt und auch ihre weißen Haare hingen matt
herab. Sie würdigte Kimmy keines Blickes, auch nicht, als er ihr aus dem
Wasser half. „Das
tut mir wirklich leid“, sagte er leise, immer darauf bedacht nichts von
sich zu geben, was man im elterlichen Schlafzimmer hören konnte. „Ich
wollte dich nicht ins Wasser schubsen, das musst du mir glauben. Ich wollte
nur nicht, dass sie euch sieht.“ Er sah sich suchend nach seiner zweiten
Fee um und entdeckte sie erst nach einer Minute, als sie ihn in die Hand
zwickte. Er
setzte sich auf den Schreibtischstuhl und wandte mir dann seine
Aufmerksamkeit zu. Jetzt erkannte er auch immer noch die feine Haut
innerhalb meines Ring und so langsam verstand er ein wenig mehr von dem, was
das bedeutete. „Ich kann all das entstehen lassen? Nur mit diesem Ding
hier?“ Er schwenkte mich hin und her und ich bedankte mich stumm für
diese neue Titulierung. Goldlöckchen
nickte und Kimmys grüne Augen erstrahlten voller Tatendrang. Ich spürte
einen solch rapiden Anstieg seiner Phantasie, dass fast die Membran zerriss.
Eine solch unendliche Vielfalt an Lebensformen hatte ich selten bei einem
Menschen gesehen. Er verfügte wirklich über das seltene Talent eine
Phantasie in sie zu tragen, die so viele unterschiedliche Kreaturen und
Geschöpfe hervorbringen könnte, um mehrere Welten damit zu bevölkern.
Nicht nur phantastische Wesen konnte ich erkennen, auch eigene Welten und
Landschaften, Pflanzen und Tiere türmten sich in seinem Kopf zu einem
gewaltigen Berg auf. Mir wurde bewusst, dass der Junge nicht nur in der Lage
war Feen und Elfen zu erschaffen, sondern auch ganze Welten entstehen zu
lassen. Ganz einem Gott gleich, der eine Welt nach seinen Wünschen formte
und gestaltete. Selten war ich von der Tiefe der Phantasie eines Menschen so
beeindruckt gewesen, wie in diesem Moment. Zum ersten Mal bedauerte ich es,
nicht in der Lage zu sein, all seine Phantasie in die Realität umzusetzen.
Dafür gab es andere Gegenstände, die auf Menschen wie Kimmy warteten. Leider
musste sich der Junge erst selbst davon überzeugen, dass er momentan keine
größeren Geschöpfe hervorbringen konnte. Sein Versuch einen Zwerg zu
erschaffen schlug kläglich fehl und die Phantasieblase zerplatzte. Enttäuscht
betrachtete er mich. Schlechtes Gewissen keimte in mir auf, denn dieses Mal
hatte ich ihm die Erschaffung eines größeren Wesens nicht gestattet. Es
war zu früh, ihm schon einen Zwergen oder gar einen Drachen zu erlauben.
Der Junge brauchte noch sehr viel Übung, bevor er sich weiter vorwagte. Ich
war nicht als Einziger dieser Meinung, wenn ich mir Silberfünkchen
betrachtet. Eine Elfe konnte sich noch verstecken, ein Zwerg wäre in dieser
Welt nicht erklärbar. Zudem würde ein solches Wesen hier nicht überleben
können. Er passte nicht hierher. Dafür musste für ihn zunächst ein
eigener Lebensraum geschaffen werden. „Ich
kann also nur kleine Wesen erschaffen“, stellte er ernüchtert fest und
legte mich beiseite. Wenn die Zeit reif war, würde ich ihm das Gegenteil
beweisen, nahm ich mir im Stillen vor. „Schade ich hätte mich gefreut,
Talim einmal richtig zu sehen.“ Eigentlich sollte er froh sein, dass es
nicht geklappt hatte. Wie hätte er seiner Mutter einen zweihundertfünfzig
Kilo wiegenden Zwerg erklären sollen. Über ihn hätte er kein Tuch werfen
können, um ihn zu verstecken. So wie ich es mitbekommen hatte, wäre dieser
auch eher ein übellauniger Geselle gewesen. Für die heutige Nacht schien
er genug davon zu haben, Wesen und Kreaturen zu erschaffen und ließ sich müde
auf das Bett fallen. Natürlich war die Benutzung meiner Wenigkeit mit einem
nicht ganz unerheblichen Energieverlust verbunden, denn ich zapfte direkt
seine Wünsche an, was strapaziös für ihn war. Für seinen ersten Ausflug
in die Erschaffung kleiner Lebewesen hatte er zwei Feen kreiert, die zum
Fensterbrett flogen und sich unter den Blüten der Orchidee niederließen.
Scheinbar änderten sich einige Dinge in der Phantasie der Menschen nie.
Dazu gehörte auch die Kombination von Blumen und Feen, so dass jedes dieser
kleinen Geschöpfe, die ich hervorgebracht hatte, Pflanzen über alle Maßen
liebte. Kim
schlief schnell ein, noch bevor er sich überhaupt die Schuhe ausgezogen
hatte. Er
verschlief den gesamten Folgetag und nicht einmal die wütende Stimme seiner
Mutter schaffte es ihn aus seinem tiefen Schlaf zu herauszureißen. Am frühen
Nachmittag erwachte er endlich aus seiner komaähnlichen Ruhe und für
wenige Sekunden wirkte er orientierungslos. Seine müden Augen suchten das
Zimmer ab, überflogen den Stuhl mit der Lederjacke, die Tierkäfige, die
Zeichnungen und Skizzen und zu guter Letzt mich. Schlagartig kamen auch
seine Erinnerungen an den gestrigen Abend zurück und er suchte aufgeregt
nach den beiden Feen. Goldlöckchen
und ihre Freundin saßen immer noch unter den Blumen und genossen das
Sonnenlicht, das direkt durch die hohen Fenster der Altbauwohnung fiel. Sie
schienen sich auf ihre Art zu unterhalten und beachteten ihren Schöpfer
nicht weiter. „Dann
war das kein Traum“, murmelte Kim und beobachtete sie fasziniert. „Ich
habe wirklich Feen erschaffen und das alles mit diesem…“ Er sah zu mir
und erhob sich aus dem Bett. Neben mir blieb er stehen und sprach
nachdenklich weiter. „Wie nennt man so etwas eigentlich?“ Er nahm mich
in die Hand und automatisch übertrug sich seine Phantasie auf mich. Er hätte
sofort weitere Wesen erschaffen können, wenn er nur gewollt hätte.
„Seifenblasen- Puster oder so“, rätselte er, doch dieser Begriff schien
sogar ihm zu lächerlich und er suchte gedanklich eine Weile nach einem
passenden Namen. Mir wurden schon viele seltsame Namen gegeben, doch bisher
war kaputte Lupe beängstigend oft gewählt worden. Vielleicht war mir ja
das Schicksal hold und mein neuer Meister würde sich für einen Begriff
entscheiden, der besser war als die bisherigen. „Traumspiegel“,
murmelte er schließlich und hielt mich stolz ins Licht. „Du bist wie ein
Spiegel meiner Träume, du bringst sie hervor und machst sie lebendig, also
nenne ich dich Traumspiegel.“ Zugegeben, der Name war sehr weit hergeholt,
doch ich mochte ihn. Er war nicht so künstlich wie ‚Feen-Macher’ oder
‚Blubber’. Ich musste mir wahrlich schon viele Namen gefallen lassen, da
konnte ich mich mit ‚Traumspiegel’ sehr wohl anfreunden. „Du
darfst niemandem davon erzählen“, mischte sich Silberfünkchen ein, die
zu ihm flog und sich auf seiner Schulter niederließ. Scheinbar hatte sie
ihm seine gestrige Handtuch-Attacke verziehen. Auch konnte sie endlich
normal reden. „Aber
wieso? Was ist mit meinen Freunden? Ich möchte ihnen beweisen, dass es euch
gibt.“ Er klang traurig und gleichzeitig ein wenig trotzig, „Das
kann ich mir vorstellen, aber wir existieren nur dank dir. Du erschaffst uns
mithilfe des Gegenstandes, den du Traumspiegel nennst. Du kennst das doch
aus deinen Büchern. Darin dürfen die Helden auch nie davon erzählen, wenn
sie etwas Unglaubliches entdecken.“ Sie war wirklich geschickt mit Worten
und wusste genau, an welchem Punkt sie ansetzen musste um Kim zu überzeugen.
Der Junge hörte auf sie und nickte nach einer Weile gehorsam. „Also
gut, ich sage ihnen jetzt nichts. Aber irgendwann werde ich ihnen von euch
erzählen und von all den anderen wundersamen Wesen, die ich erschaffen
werde.“ Er lachte kurz auf und drehte sich um seine Achse. „Alles wird
so, wie ich es mir vorstelle und wenn ich es mir wünsche kann ich lauter
Wesen erschaffen, die den Menschen helfen.“ Ein edles Motiv, doch von
solchen Menschen habe ich viele kennengelernt und die meisten waren nicht in
der Lage ihren großspurigen Worten entsprechende Taten folgen zu lassen.
Ein solch heroisches Gerede hatte bisher jeder von sich gegeben, doch nur
wenige Male hatten meine Meister etwas erschaffen, was wirklich nützlich
gewesen war. „Alles
immer der Reihe nach“, mahnte ihn Silberfünkchen und flatterte mit den Flügeln.
Sie schien sich zu seinem Gewissen berufen zu fühlen. „Schon
klar“, entgegnete er aufgebracht, ohne mich aus den Augen zu lassen.
„Als Erstes werde ich herausfinden, was der Traumspiegel alles kann und
irgendwann werde ich damit die Welt verändern.“ Wirklich, ein
euphorischer junger Mann, doch glücklicherweise gab es in seiner
Phantasiewelt nichts Negatives, das mich hätte beunruhigen müssen. Ich
hoffte nur, dass er nicht zu selbstsicher an die Sache heranging, denn auch
meine Macht war begrenzt und ich vermochte nicht einmal einen Bruchteil
seiner Wünsche und Träume zu erfüllen. „Du
bist endlich aufgewacht?“ Silberfünkchen war beinahe augenblicklich in
den bunten Haaren verschwunden. Ihre Freundin versteckte sich hinter einem
Blatt. Seine Mutter hatte ein Talent dafür, sich unbemerkt
heranzuschleichen, was mich bei ihren Schritten immer wieder verwunderte.
Sie beobachtete skeptisch ihren Sohn und ich konnte ihrem Gesicht ansehen,
dass sie sich resigniert eine weitere Standpauke sparte. Ihre Worte würden
momentan wahrscheinlich nicht auf fruchtbaren Boden fallen. „Gibt es einen
Grund für mich, mir Sorgen zu machen?“, fragte sie daher. „Nein,
nicht wirklich“, entgegnete Kimmy schuldbewusst und senkte den Kopf. Seine
farbigen Strähnen verdeckten seine Augen, in denen immer noch ein verräterisches
Funkeln glomm. Er war von Tatendrang und Neugier erfüllt, doch zum Glück
konnte er seine Mutter täuschen. „Was
machst du mit diesem Ding da?“ Ihre Finger zeigten auf mich und ihre Augen
nahmen einen verächtlichen Blick an. „Es ist doch kaputt oder?“ „Wie
man es nimmt“, sagte er und lächelte sie an. „Ich finde es funktioniert
ausgezeichnet.“ Er drückte mich an sich und konnte sich ein spitzbübisches
Grinsen nicht aus dem Gesicht wischen. „Und
was ist es?“ „Ach,
nur eine kaputte Lupe…“ ~Ende~
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(c) Juliane Seidel, 2008 |