(Alp)Traummelodie

 

Die alten, knochigen Finger glitten behände über die schwarzen und weißen Tasten des Klaviers, strichen nur hauchzart über die eine oder andere Taste und entlockten ihnen Töne und Melodien, die sich sacht durch die Stille des kleinen Raums woben, bald das Fenster erreichten und hinaus in den Garten flohen. Die Musik war auf den grünen Wiesen nur leise zu hören, doch stimmte sie mit dem Gezwitscher der Vögel ein und schaffte eine Atmosphäre, die einem Traum glich, unwirklich und fremd. In dem dunklen Zimmer war die Musik lauter und kräftiger, hüllte den alten Mann, der am Klavier saß und spielte, vollkommen ein und umschmeichelte seine Seele. Die Musik wurde bald schneller, gleichzeitig jedoch abgehackter und ihn überkam ein Gefühl der Angst und Panik, als er sich immer weiter in den diabolischen Melodien verlor. Er hatte dieses Stück für seinen Engel der Inspiration geschrieben, vor langer Zeit als er noch ein berühmter Komponist gewesen war, der mit seinen Stücken die Menschen verzauberte und ihnen die Möglichkeit gab für eine Weile der Realität zu entfliehen. Romantische Lieder; harte, tongewaltige Stücke; schnelle, temperamentvolle Kompositionen hatte er in seinem Leben geschrieben, jeden einzelnen Ton liebevoll auf das mit Notenlinien versehene Papier gesetzt und aus jedem Notenschlüssel ein Kunstwerk gemacht. Man konnte zu Recht behaupten, dass Musik sein Leben war, seine Art sich auszudrücken, seine Gefühle offenzulegen und zu beweisen, dass er existierte. Schon früh hatte er die Musik schätzen gelernt. Seine Mutter war selbst Pianistin, brachte ihm schon im zarten Alter von vier Jahren die ersten Akkorde bei und mit acht Jahren hatte er seinen ersten Auftritt vor einem Publikum, dass ihm begeistert applaudierte und ihn als Wunderkind anpries. Er reiste durch die Gegend, zeigte bekannten und wohlhabenden Menschen sein Können und fand Mäzene, die ihn unterstützten und förderten. Schon kurze Zeit später fühlte er sich dazu berufen seine eigenen Gefühle und Gedanken durch jede Note auf die breite Masse wirken zu lassen, doch kaum einer verstand, was er versuchte zu vermitteln. Es war nicht nur schöne Musik, im Prinzip war es viel mehr, für ihn schon bald sein Leben, doch keiner vermochte es seine Melodien richtig zu deuten und zu verstehen.
Für wenige Augenblicke unterbrach er das schnelle Spiel am Klavier und ließ die Finger erstarrt über den Tasten schweben, scheinbar unsicher, was er nun spielen sollte. Er hatte plötzlich das langersehnte Bild des jungen Mädchens im Kopf. Die langen, roten Locken umrahmten ihr katzenhaft anmutendes Gesicht, die graublauen Augen und die schmalen Lippen, die ihm ein leichtes Lächeln entgegenbrachten. Seine Inspiration war nun nach Stunden des Wartens zu ihm zurückgekehrt und obgleich er sie in jungen Jahren nur ein einziges Mal gesehen hatte, blieb ihm ihr Bild all die Jahre erhalten und er konnte von sich behaupten ein recht hohes Alter erreicht zu haben. Er hatte nie ihren Namen erfahren, doch war sie ihm stets wie ein Schutzengel gefolgt und hatte ihm immer die Ideen und die Musik selbst gebracht, wenn er in einer Schaffenskrise steckte. Auch jetzt formten sich in seinem Geist endlich die vermissten Akkorde und ließen ihn ein bekanntes Stück spielen, welches jeden Tag in seine Erinnerung kroch, ihn jedes Mal aufs Neue bemächtigte. Den ganzen Vormittag hatte der alte Mann auf dieses Musikstück gewartet, das ihn endlich zum ersehnten, friedvollen Traum tragen konnte, sobald er dieses Stück spielte. Erst ruhig und langsam, beinahe zögernd und abwartend, erklang eine wohlwollende, friedvolle Melodie, die zu Beginn kaum hörbar durch das kleine Zimmer schwebte und sich an den weißen Wänden brach. Dann wurde die Abfolge schneller, gewaltiger und schon bald war die Musik wieder im Garten zwischen den Bäumen zu hören.
Versonnen schloss er die stumpfen Augen, träumte von dem Mädchen und achtete kaum mehr auf seine Finger, die unaufhörlich die Tasten berührten und immer härtere Töne hervorbrachten. Wie in Trance neigte er den Kopf von einer Seite zur anderen und achtete kaum auf seine Umgebung, ignorierte die Person, die in das Zimmer gekommen war, kurz nachdem er seine Inspiration gefunden und mit dem bekannten Musikstück begonnen hatte. Er war nun in seinen eigenen Visionen verstrickt, gefangen in seinen Träumen und zollte auch der Musik keine Beachtung mehr. Sie war in den letzten Minuten Mittel zum Zweck geworden, um ihn in seine Träume zu führen und er genoss seine geistige Abgeschiedenheit. Daher bemerkte er kaum seinen erneuten Wandel in der Musik und stimmte ein trauriges, deprimierendes Stück an, doch schon bald änderte sich die Geschwindigkeit erneut und sein Spiel wurde fordernder und leidenschaftlicher. Vor seinem geistigen Augen war er der junge Mann geworden, der er vor vielen Jahren gewesen war, hielt das Mädchen in seinen Armen gefangen, spürte ihren Kuss auf seinen bleichen, trockenen Lippen und die Erregung dieser fiktiven Begegnung.
Immer härter schlugen die Finger auf die Tasten des Klaviers, das unter der ungewohnten Belastung knarrte und ächzte und sich damit protestierend gegen diese ruppige Art der Benutzung wehrte. Das ruhige Spiel war vorüber und die jetzige Melodie glich eher roher Gewalt, als taktvoller Musik, doch nichts konnte er davon wahrnehmen. Sein Traumbild hielt ihn gefangen, erlaubte ihm lediglich seine Gefühle nach außen hin durch das Instrument zu offenbaren, was ihn taub gegenüber der eigentlichen Klangwelt werden ließ.

Sanfte Hände tasteten nun nach den gehetzten Fingern und hielten sie beruhigend und beschwichtigend fest, strichen über die faltige, farblose Haut und eine klare Stimme drang an seine Ohren. Jemand holte ihn aus seiner Trance, brachte den alten Mann vorsichtig mit fast singenden Worten zurück in die Wirklichkeit des kleinen weißen Zimmers und innerhalb weniger Sekunden brach das Bild des Mädchens vor seinem geistigen Auge in sich zusammen. Die Scherben verschwanden, zerplatzten wie Seifenblasen und die Dunkelheit umfing ihn nun vollständig. “Es ist alles in Ordnung. Ich bin doch hier.” Die bekannte Stimme beruhigte sein aufgeregt schlagendes Herz und er ließ die Hände auf den Hocker sinken. Er spürte den Luftzug neben sich und das Gewicht seiner Frau, die sich neben ihm niederließ und durch das schüttere Haar strich. Nur leicht wandte er ihr den Kopf zu, doch seine Augen nahmen sie nicht war, starrten blind an ihr vorbei und irrten unfokussiert durch den Raum. Nun war er wieder in der Realität, umgeben von Dunkelheit, die so früh über ihn hereingebrochen war und ihn aller Träume entrissen hatte, die er vor vielen Jahrzehnten hatte. Wieso konnte sie ihn nicht verstehen, seine Träumereien und Spiele am Klavier nicht dulden, die ihm wie ein Rettungsanker schienen, ihn vor dem beständigen Gefängnis aus Dunkelheit bewahrten. Nicht seine Frau oder seine Kinder vermochten das zu bewirken, nur die Musik verlieh ihm Flügel und was
noch wichtiger war- das Augenlicht. Doch ein jedes Mal entrissen sie ihn dieser Idylle, die er sich durch sein Spiel erschaffen hatte. Sicher seine Musik musste auf andere verrückt und verworren klingen, doch für ihn war es sein Eintritt ins Paradies. Hass keimte in ihm auf, unbändiger Zorn, als die zierlichen Finger über seine faltige Haut strichen, die fast transparent wirken musste. Doch keine Gefühlsregung trat nach außen, er saß stumm neben der alten Frau, lauschte ihren ruhigen Atemzügen und glaubte ein leises Schluchzen wahrzunehmen, als sie sich erhob und leise Richtung Tür ging. “Du musst bald deine Medikamente nehmen.”, murmelte sie kaum hörbar und öffnete die Tür. Als wenn er Tabletten benötigte! Nie hatte er solche Dinge gebraucht und auch jetzt hielt er sie für vollkommen überflüssig. Dennoch nickte er leicht und dies schien ihr zu genügen, denn sie schloss leise die Tür hinter sich, ließ ihn allein. Doch vernahm er keine Schritte, die davon zeugten, dass sie wieder ihrer Arbeit nachging, sondern dass sie vor der Tür stand und ihm lauschte. Nur eine Weile blieb es stumm, dann setzte wieder die ruhige Melodie ein, die bereits vor einigen Stunden durch die offenen Fenster hinaus in den Garten gelangt war. Immer wieder dasselbe Stück, immer wieder dieselbe Abfolge und die gleichen Übergänge, gleich der Kopie einer Kopie. Sie schüttelte leicht den Kopf, wischte sich die Tränen von den eingefallenen Wangen und ein flüchtiges Lächeln legte sich für einen Moment auf ihre traurigen Züge. Wie häufig hatte sie dieses Stück gehört, dieser romantische Melodie von ihm auf diesem Klavier gelauscht. Er hatte es sooft gespielt, damals als seine Augen noch dieses warme Funkeln innehatten, sie mit diesem offenen Blick bedachten, wenn sie lächelte oder auch nur bei ihm war. Doch wie schnell verflog dieses kurze Glück, das sie teilten. Erst verlor er das Augenlicht, durch eine Krankheit, die zu rasche fortschritt um sie zu behandeln; dann als hätte das Schicksal sein Tribut für die unbeschwerte Zeit gefordert, machte ihn diese nach und nach Dunkelheit verrückt. Er vergaß alles um sich herum, seine Kinder, sein Leben und letztendlich seine Frau. Jetzt waren sie beide alt und sie hatte es insgeheim schon längst aufgegeben, ihn aus dem Traum und der Erinnerung an die damalige Zeit zurückzuholen. Nur wenige Minuten gelang es ihr, obgleich er nie auf sie reagierte, nie ein Wort sprach und sie eher Wut in seinem kranken Gesicht lesen konnte. Er liebte nicht sie, er war besessen von der Frau, die sie einmal gewesen war, zu einer Zeit als ihre schneeweißen Haare noch feuerrot ihr Gesicht umrandeten und sie sich kennengelernt hatten. Er verbrachte sein Leben nicht an ihrer Seite, sondern zog der Realität einen Traum vor, der sich schon längst erfüllt hatte, sich bereits vor vielen Jahren bereits bewahrheitet hatte.
Als die Musik anschwoll und sich langsam steigerte, wusste sie, dass er im Traum zu seiner großen Liebe gefunden und sie zur selben Zeit ein weiteres Mal verloren hatte.

 

(c) Juliane Seidel, 2007