Fehl am Platz

 

Er fühlte sich definitiv fehl am Platze. Dafür musste er nicht die neugierigen Blicke der Damen sehen oder die leise getuschelten Sätze, die sie hinter vorgehaltener Hand von sich gaben, hören. Ihm war auch so vollkommen bewusst, dass er hier falsch war. Sicherlich, er hatte sich für dieses Bewerbungsgespräch ansehnlich gekleidet, doch ein Anzug war finanziell einfach nicht tragbar gewesen. Seine Eltern hatten hoffnungsvoll ihre letzten Ersparnisse in die Zugfahrt zweiter Klasse nach Frankfurt gesteckt und obwohl sie das Geld irgendwann zurückerstattet bekommen würden, war es doch momentan ein Loch im Haushaltsetat der kleinen Familie. So trug er lediglich eine schwarze Jeanshose und ein weißes Hemd, dass sichtlich durch die lange Zugfahrt gelitten hatte, zerknittert wie es war. Der einzige Trost war gewesen, dass er sich halbwegs vor Flecken und kleineren Unfällen seiner Mitreisenden schützen konnte und fast schon zielsicher allen Gefahren aus dem Weg gegangen war.

Doch wenn er sich nun in der vornehmen Halle der großen Filiale seines eventuell zukünftigen Ausbildungsbetriebes umsah, fühlte er sich so fehl am Platz wie ein Fleischer auf einem internationalen Kongress bekennender Vegetarier. Allein die Tatsache, dass seine Konkurrenz lediglich aus Damen seines Alters bestand, die sich auffällig in Schale geworfen hatten, unterstrich das ungute Gefühl, dass sich seiner schon nach einer Minute bemächtigt hatte. Keine von ihnen hatte sich mit einfachen Kleidungsstücken zufrieden gegeben und die Kostüme sahen nicht nur teuer, sondern auch raffiniert und manchmal etwas zu offenherzig aus. Schnell konnte er erkennen, dass eine Aussage definitiv auf die rund zehn Mädchen zutraf- je besser die Figur, desto kürzer der Rock. Sie setzten auf ihre weiblichen Reize, etwas was er verstehen konnte. Eine Stelle hier glich einem Lottogewinn für Jugendliche, die etwas aus ihrem Leben machen wollten. Die Firma war renommiert, bekannt und zeichnete sich dadurch aus, dass sie nahezu alle Auszubildenden nach erfolgreichem Abschluss auch unterbringen konnte, was heutzutage wichtiger schien, als ein guter Abschluss. Er selbst war überrascht gewesen, dass er die letzte Stufe gemeistert hatte und zu einem letzten Bewerbungsgespräch geladen worden war. Er erinnerte sich an die glücklichen Gesichter seiner Eltern, die ihn schon im Vorfeld als großen Manager ankündigten und er hatte sich vorgenommen, sie nicht zu enttäuschen.

Doch jetzt war er sich nicht einmal mehr sicher, ob er überhaupt an diesem Gespräch teilnehmen sollte. Zu Beginn war er optimistisch gewesen, doch nachdem sich in dem kleinen Foyer nur weibliche Anwärter versammelt hatten, begann er an der Richtigkeit des Schreibens zu zweifeln, dass er nun schon ein gutes Dutzend mal gelesen hatte. Das Datum war korrekt, die Anschrift stimmte auch, dennoch war es unvorstellbar, dass er der einzig männliche Bewerber sein sollte. Um seine Nervosität nicht offen zur Schau zu tragen las er den Brief erneut, den er unterdessen auswendig kannte. Adressiert an Daniel Bergemann, wohnhaft in Eich, einem kleinen, ländlichen Dorf in Sachsen, wobei hierbei die Bezeichnung ‚Kaff’ wohl eher passte. Das Bewerbungsgespräch sollte in den nächsten Minuten stattfinden und nervös wanderte sein Blick zur weißen Uhr an der gegenüberliegenden Wand.

Das plötzliche Verstummen der Mädchen, ließ ihn aufblicken und er bemerkte eine Frau in den Mittdreißigern. Sie blickte sich suchend um und warf noch einmal einen prüfenden Blick auf ihr Klemmbrett, das mehrere Zettel trug. „Frau Bergemann?“, fragte sie etwas ratlos und offensichtlich nicht zum ersten Mal. Augenblicklich schlug ihm das Herz bis zum Hals, doch nur wenige Sekunden später wurde ihm dieser kleine Schönheitsfehler ihrer Formulierung bewusst. Frau? Frau Bergemann? Er war definitiv nicht weiblich und genauso deutlich wurde nun die Tatsache, dass hier wirklich ein Fehler vorlag. Er hatte es geahnt, nein eigentlich schon gewusst, als er die Tuscheleien und die Blicke bemerkte, doch mit seinem Glauben an die Richtigkeit des Briefes, hatte er diese Gedanken einfach beiseite geschoben. Wie peinlich und vor allen Dingen wie idiotisch! Er würde sich unter keinen Umständen die Blöße geben jetzt zu antworten, doch diese Entscheidung wurde ihm abgenommen, als ihm der Brief aus der Hand genommen wurde. Er hatte die junge Frau, wahrscheinlich eine weitere Bewerberin, nicht einmal kommen hören, doch nun hatte diese den Brief an sich gerissen und noch bevor er aufspringen konnte, sprach sie die Worte aus, die ihn vor Scham rot anlaufen ließen.

„Ich glaube ich habe ‚Frau’ Bergemann gefunden.“, sagte sie mit einem gewissen Stolz in der Stimme und hielt triumphierend das Schreiben in die Höhe. Leises Kichern ertönte und erneut tauschten die Damen einige geflüsterte Worte.

„Geben Sie das wieder her.“, entgegnete er barsch und war mit einem Satz aufgesprungen, um ihr den Brief zu entreißen. Er konnte sich nicht daran erinnern jemals so gedemütigt geworden zu sein und er bereute es sich jemals bei dieser Firma um einen Ausbildungsplatz als Kaufmann beworben zu haben. „Scheinbar war das hier ein Irrtum, daher ist es wohl besser, wenn ich gehe.“ Daniel stopfte das unglücksselige Schreiben in seine Tasche und war gerade dabei der Gesellschaft den Rücken zu kehren, als er eine markante, tiefe Stimme hörte, die augenblicklich für Ruhe sorgte.

„Ich warte Frau Castro. Wir haben einen engen Terminplan. Wo ist denn nun Frau Bergemann?“

Gegen seinen Willen blieb Daniel stehen und drehte sich um. Er entdeckte den großgewachsenen, breitschultrigen Mann sofort, der die Frauen um fast einen Kopf überragte. Die dunklen Augen lagen musternd auf ihm, die braunen Haare waren streng nach hinten gekämmt und als er den Kopf leicht zu seiner Assistentin drehte, sah Daniel einen kleinen Zopf. Er trug einen schwarzen, maßgeschneiderten Anzug und allein die Manschettenknöpfe waren mehr wert, als die Rückfahrkarte, die Daniel bei sich hatte. Der Mann war eindrucksvoll und der Anzug vermochte es sogar noch sein Charisma zu steigern, drückte es doch Macht, Erfolg und Ansehen aus. Ohne Zweifel war dieser Mann Victor Peterson, der die Vorstellungsgespräche am heutigen Tag führte. Er wechselte einige leise Worte mit seiner Sekretärin, ließ Daniel jedoch nicht aus den Augen, der es nicht wagte einfach zu gehen. Schließlich nickte sie und trat zu ihm und trug ihm auf ihr und Herrn Peterson zu folgen, um das Missverständnis zu klären.

 

Kaum zehn Minuten später saß Daniel in dem eigens für die Bewerbungsgespräche gemieteten Besprechungssaal im Erdgeschoss des Firmengebäudes und beobachtete schweigend, wie Herr Peterson sein Einladungsschreiben studierte. Die meisten Stühle waren an die Wand geräumt worden, lediglich ein Tisch mit Unterlagen und vier schwarze Sessel standen im Zentrum. Fühlte er sich draußen bereits fehl am Platz, so war diese Empfindung hier nun wesentlich drängender. Frau Castro hatte auf Geheiß ihres Chefs den Raum verlassen, um den Damen die Umstände zu erklären und so sah sich Daniel dem Mann ganz alleine gegenüber.

„So wie es aussieht, gab es wohl einen Fehler in unserer Bewerberdatenbank.“, begann Herr Peterson nun und legte das Schreiben beiseite. „Wir haben Sie als Daniela Bergemann gelistet, doch es ist offensichtlich, dass es sich um einen Fehler handelt.“ Er lächelte verschmitzt und Daniel spürte erneut die Röte in sich aufsteigen.

„Aber der Brief…“, begann er, doch verstummte augenblicklich.

„Die Systeme dafür laufen getrennt voneinander. Die Briefe werden von einem anderen Programm automatisch gedruckt und versendet. Es wird endlich Zeit die Systeme zusammen zu führen, um zukünftig solche Dinge zu vermeiden.“ Die letzten Worte richtete er mehr an sich, als an Daniel. „Sie sehen nicht aus, als wären sie wirklich aufgrund der Bewerbungsgespräche hier. Zunächst wollte ich Sie entfernen lassen.“, fuhr er nachdenklich fort, während er den jungen Mann musterte.

Daniel sah an sich herab und seufzte. Sein äußeres Bild entsprach wirklich nicht den Vorstellungen der meisten Leute, was ein solches Gespräch anbelangte. Deprimiert ließ er den Kopf hängen. Er wusste nicht einmal genau, wie er momentan aussah. Heute Morgen konnte er sich wirklich sehen lassen, doch seitdem waren fast acht Stunden vergangen und der stressige Tag dürfte seine Spuren nicht nur auf der Kleidung hinterlassen haben. Die roten, kurzen Haare dürften durcheinander geraten sein und trotz Haargel in sein Gesicht hängen, seine Augen waren gezeichnet von kleinen Augenringen, da er vor Aufregung die letzte Nacht nicht schlafen konnte und durch seine zusammen gesunkenen Haltung wirkte er sicherlich noch kleiner und schmächtiger, als es schon der Fall war. Wenn man es so betrachtete, wäre der zierlich gebaute, junge Mann wahrscheinlich gänzlich in einem modernen Anzug untergegangen. Ganz im Gegenzug zu Herr Peterson, wie Daniel neidisch zugeben musste. Er war sich sicher, dass Anzüge nur erfunden worden waren, um von solchen Männern getragen zu werden. Dezent betonte der schwarze Stoff all die wichtigen Körperteile, die ihn noch männlicher wirken ließen- die Schultern, die breite Brust, die schmalen Hüften und die langen Beine. Die Kleidung passte einfach zu solch einer stattlichen Person, er selbst würde wohl eher lächerlich aussehen.

„Es tut mir leid.“, sagte Daniel leise, überwand sich aber dazu Herr Peterson anzusehen. Alles andere erschien ihm unhöflich. „Ich musste heute sehr früh aufbrechen und aufgrund einiger Verspätungen im Bahnverkehr, habe ich fast meine Anschlusszüge verpasst. Ich weiß, dass ich nicht unbedingt den Eintrug eines ernsthaften Bewerbers vermittele, doch mir war es mit diesem Ausbildungsplatz sehr ernst.“

„War?“

„Nun ja, es scheint, als seien nur weibliche Kandidaten für diese Stelle vorgesehen.“

Ein leises Lachen erklang und Daniel warf ihm ungewollt einen beleidigten Blick zu.

„Ich glaube da irren Sie sich.“, erklärte Peterson ihm und stand mit einer eleganten Bewegung auf, um zum Fenster zu treten. „Vor einigen Jahren haben wir beschlossen die Bewerbungsgespräche geschlechtlich zu trennen, um gewissen Anfeindungen untereinander vorzubeugen. Das klingt radikal, doch bisher sind wir damit sehr gut gefahren und wollten diesen speziellen Punkt der Bewerberauswahl beibehalten.“ Daniels Blick folgte dem des Mannes und er betrachtete die grünen Bäume des Innenhofes.

„Dann liege ich also noch im Rennen?“, fragte Daniel hoffnungsvoll und lehnte sich in dem schwarzen Sessel vor. Vielleicht standen seine Aussichten ja doch nicht so schlecht und er hätte doch noch die Chance auf einen Platz.

„Naja, nicht ganz, würde ich sagen. Um ehrlich zu sein wurden die männlichen Bewerberrunden abgeschlossen und die Auswahl ist bereits beendet.“

Soviel zum Thema Hoffnung. Es war zum verzweifeln und Daniel verbiss sich nur mühsam einen entsprechenden Kommentar. Aufgrund eines Datenbankfehlers hatte er nun nicht einmal mehr die Möglichkeit sich zu beweisen und so eine der ersehnten Stellen zu bekommen. Sein Gesprächspartner bemerkte durchaus den verbissenen und enttäuschten Blick und trat nun zu ihm. „Es tut mir wirklich leid.“, sagte er leise und es klang ehrlich.

„Das wird mir auch nicht weiterhelfen.“, murmelte Daniel verbittert und warf einen schiefen Blick auf Herr Peterson, der neben seinem Sessel stand. So betrachtet wirkte der Mann kaum älter als Ende zwanzig- einer dieser erfolgreichen, aufstrebenden Manager, die in Rekordzeit ihr Studium beendet hatten. Alterstechnisch lagen sie vielleicht gar nicht so weit auseinander, wie Daniel am Anfang gedacht hatte. Vielleicht war das auch der Grund für das ehrliche Bedauern in den dunklen Augen.

„Vielleicht könnte ich dich als Praktikanten unterbringen, bis nächstes Jahr. Du könntest die Firma und die Arbeit schon einmal kennenlernen und hättest bei der nächsten Runde sicherlich bessere Chancen unterzukommen.“, schlug Herr Peterson vor und setzte sich nun direkt neben Daniel und betrachtete das niedergeschlagene Gesicht eingehend. „Ich könnte mich ein wenig dafür einsetzen und wenn du dich richtig gut einarbeitest, könntest du vielleicht schon in einem halben Jahr bei uns anfangen. Manchmal nehmen wir auch Lehrlinge im Februar auf.“

„Aber das ist Frankfurt. Ich wohne am anderen Ende von Deutschland und ein unbezahltes Praktikum wird es mir nicht ermöglichen hier eine Wohnung zu nehmen und davon zu leben.“ Daniels Blick fiel auf die sehnige Hand, die locker über der Lehne hing und den goldenen Manschettenknopf. Mit den Augen folgte er dem Arm, der Schulter und blieb schließlich an der Krawatte und dem geknöpften hellblauen Hemd hängen. Er fragte sich, ob es nicht furchtbar einengend und unangenehm war den ganzen Tag eine Krawatte zu tragen und auch das Hemd kam ihm hochgradig unbequem vor. Würde er auch einen Anzug tragen müssen, wenn er hier als Lehrling eingestellt werden würde? Er war sich nicht sicher, ob ihm das behagte, oder nicht. Nie zuvor hatte sich Daniel den Kopf über Anzüge und die Männer, die sie trugen zerbrochen, doch jetzt, wo er solch eine Person neben sich wusste, drängte sich ihm diese Frage förmlich auf.

„Sieht furchtbar spießig aus, oder?“, erklang die Stimmer Petersons, wie aus weiter Entfernung.

„Nein, eigentlich steht er Ihnen sehr gut.“, erwiderte Daniel gedankenverloren und fuhr sich in der nächsten Sekunde erschrocken über den Mund. Das hatte er doch jetzt nicht allen Ernstes wirklich von sich gegeben! Nicht nur, dass ihr Gespräch mit einem Mal vom geschäftlichen Ton weg in eine private, intime Unterhaltung geglitten war, er hatte auch noch zugegeben, dass dem Manager der Anzug gut stand. Von der Tatsache einmal abgesehen, dass er ihn seit einigen Minuten unverhohlen angestarrt hatte. Wo war das nächste Mausloch zum Verkriechen? Daniel war sich sicher, dass er diesen Tag am liebsten aus seinem Kalender streichen würde, wenn er gekonnt hätte. Betreten senkte er den Blick zu Boden und musterte das Muster des Teppichs mit geheucheltem Interesse.

„So findest du.“ Peterson lachte leicht und ein amüsiertes Funkeln trat in seine Augen. Daniel bemerkte, dass der Mann neben ihm einen weiteren Schritt in seine Privatsphäre gemacht hatte und ihn jetzt sogar schon duzte. Dieser Umstand verwirrte ihn nicht nur, es warf ihn vollkommen aus der Bahn. Wie hatte er sich nur so einmalig erfolgreich in eine solche Situation hineinmanövrieren können? „Anzüge trage ich seltener, da sie mir nicht wirklich gefallen, doch bei solchen Gesprächen ist das firmenbedingt leider Pflicht. Normalerweise bevorzuge ich leichtere Kleidung oder gar nichts.“

„Was?“, gab Daniel erschrocken von sich und sah Peterson direkt an. Wenn er es nicht besser wüsste, würde er sagen der Mann flirtete mit ihm. Wie sonst konnte er solche Details preisgeben, die doch wirklich nicht der Inhalt eines solchen Gespräches waren.

„Du scheinst noch nicht oft auf Vorstellungsgesprächen gewesen zu sein. Es ist ganz natürlich, dass man versucht mit dem Gesprächspartner eine lockere und offene Konversation zu führen. Nur so kann man sich kennenlernen.“ Peterson neigte sich leicht zu ihm und noch bevor Daniel zurückweichen konnte, fuhr der Mann fort. „Bisher war es nur so, dass die Bewerber von sich aus versucht haben privater zu werden, nicht umgekehrt. Die Mädchen hier haben sich ja auch dementsprechend zurecht gemacht.“ Ein leises Seufzen erklang und er schüttelte müde den Kopf, bevor er sich zurücklehnte und die Augen schloss. „Immer dasselbe Drama. Kurze Kostüme, hinreißende Blicke und mir gewährte Einblicke in Bereiche, die ich gar nicht sehen will.“

Daniel fühlte sich hin und her gerissen. Auf der einen Seite tat ihm Peterson Leid, da dieser nichts von den zehn Mädchen im Foyer wusste, doch andererseits war er hier das Opfer, das nun ohne positive Nachricht zurück nach Sachsen fahren musste, um es seinen Eltern mitzuteilen. Von den seltsamen privaten Avancen des Managers einmal abgesehen, die ihn gänzlich aus dem Konzept brachten.

„Da draußen stehen noch knapp ein Dutzend Frauen, die nur darauf warten sich zu präsentieren.“, meinte er leicht grinsend und erinnerte sich an die unverschämte Person, die ihn so bloßgestellt hatte.

„Gnade, ich kann jetzt schon keine knappen Röcke und tiefe Ausschnitte mehr sehen.“, gab Peterson theatralisch von sich und musste lachen. Daniel stimmte nach einigen Sekunden mit ein und auf einmal störte es ihn nicht mehr, dass er mit einem fast fremden Menschen redete, wie mit einem alten Freund. Sie schwiegen eine Weile und jeder hing seinen Gedanken nach. „Geht es dir jetzt besser?“, fragte Peterson unvermittelt in die Stille hinein und musterte Daniel von der Seite.

„Ja, durchaus.“, gestand Daniel und streckte sich ein wenig.

„Das ist gut, ein Bewerbungsgespräch kann man nur führen, wenn man locker ist, das solltest du dir merken.“

„Aber wir haben doch gar kein wirkliches Einstellungsgespräch mehr, oder?“ Daniel fühlte sich wieder daran erinnert, weswegen er eigentlich hier war. „Ich sollte besser gehen, ich halte Sie nur auf.“ Er bückte sich, um nach seiner Tasche zu greifen, die er achtlos neben den Stuhl hatte fallen lassen, doch Peterson hielt ihn mit einer kurzen Handbewegung zurück.

„Das mag sein, aber du musst mich nicht unbedingt sofort der Meute da draußen vorwerfen.“ Der Mann erhob sich und trat nun zurück zu dem Platz, auf dem er ursprünglich saß. Er begann in seinen Unterlagen zu suchen und schob einige der Papiere durcheinander, hob schließlich seinen Aktenkoffer auf den Tisch, um die Suche darin fortzusetzen. Mit einem leichten Lächeln zog er erfolgreich ein paar Blätter hervor und schob den Aktenkoffer von sich.

„Aber was für einen Sinn sollte das machen?“, wandte Daniel ein, der den Mann bei der Suche neugierig beobachtete hatte.

„Ich will dich einfach besser kennenlernen. Wenn du Praktikant werden willst, können wir aus dem Bewerbungsgespräch auch ein Vorstellungsgespräch für einen Praktikanten machen.“ Daniel kam sich übergangen vor, scheinbar war Peterson taub gegenüber seinen Einwänden. Dabei konnte er es sich nicht leisten nach Frankfurt zu kommen, wie er es dem Mann schon offenbart hatte. „Zudem brauche ich eine Pause von der Damenwelt da draußen.“, fügte er beiläufig hinzu. Er erhob sich mit den Zetteln in der Hand, umrundete den Tisch und reichte sie dem jungen Mann. Automatisch nahm er das dargebotene Papier entgegen, betrachtete es jedoch nicht, sondern fixierte den Mann skeptisch.

„Also bin ich für Sie nur eine willkommen Abwechslung was Frauen betrifft?“ Peterson hob eine Augenbraue und Daniel selbst bemerkte erst jetzt wie verflucht doppeldeutig diese Aussage klang. Das war ja schon fast eine Einladung zur heimlichen Affäre gewesen und die verfluchte Röte auf seinen Wangen unterstrich diese Aussage nur. Konnte es eigentlich noch schlimmer kommen? Im Grunde hätte ihm klar sein müssen, dass es immer schlimmer kam, wenn man an diesen berühmten Satz dachte oder ihn aussprach. Er hatte es für wenige Sekunden in den dunklen Augen Petersons lesen können, doch noch bevor sein Körper reagiert hatte, hatte sich der Mann zu ihm hinunter gebeugt und ihn fordernd geküsst. Das Papier fiel raschelnd zu Boden und mit großen Augen starrte Daniel Peterson an. Viel zu verblüfft war er, um zu reagieren und um allem noch das berühmte I-Tüpfelchen aufzusetzen, mochte er die samtenen Lippen des Mannes auf den seinen. Als Peterson schließlich etwas sanfter wurde und seine Hände in die roten Haare schob, schloss der junge Mann die Augen und erwiderte den Kuss. Zum einen, weil es ihm wirklich gefiel und zum anderen weil er der Ansicht war, dass es entweder ein Traum oder ein Scherz war. Gierig hieß er die Zunge willkommen, die sich zwischen seinen Lippen hindurchdrängte und er schlang seine Arme haltsuchend in den weichen Stoff des Anzuges. Seine Finger fuhren den Kragen entlang und er musste zugeben, dass allein die Tatsache, während eines Bewerbungsgespräches knutschend mit einem Manager zusammen in einem Besprechungszimmer zu sitzen und seinen Anzug zu zerknittern, unheimlich erregend war. Gerade als sich Peterson von ihm lösen wollte, umfasste er den Kragen des Mannes wieder und zog ihn erneut zu sich herab, presste seine Lippen auf die Petersons.

Sein erster Kuss mit einem Mann und obgleich Daniel bisher der Ansicht war definitiv nicht schwul zu sein, musste er wohl oder übel einräumen, dass er entweder bisexuell oder einfach auf Anzüge scharf war. Gleich wie, es schien an der Zeit genaueres darüber herauszufinden und legte mehr Gefühl in den Kuss, strich ihm über die Schultern und wie von selbst begannen seine Finger die weinrote Krawatte zu lösen.

Peterson schob ihn nun bestimmt von sich und atmete tief durch. Daniel konnte sehen, dass er von der plötzlichen Initiative des jungen Mannes überrascht war und sich nur schwer zurückhalten konnte erneut über ihn herzufallen. Überraschenderweise erhoffte es sich Daniel sogar, war dieser wilde Kuss doch um einiges erregender, als seine bisherigen Erfahrungen mit Frauen. Er wusste, dass er ab jetzt nur einen schwarzen Anzug sehen musste, um an Peterson und dem leidenschaftlichen Kuss erinnert zu werden. Vielleicht hatte er ja gerade einen neuen Fetisch entdeckt.

„Deine Worte eben waren wirklich eine blanke Herausforderung.“, sagte Peterson heiser, wie um sich für seinen Gefühlsausbruch zu rechtfertigen und richtete sich verstohlen Krawatte und Anzug. Er selbst kämpfte sichtlich mit seiner Selbstbeherrschung und brachte noch einige Schritte zwischen sie, um tief durch zu atmen und sich zu sammeln.

„Es tut mir Leid.“, murmelte Daniel leise, obwohl er genau wusste, dass ihn keine Schuld traf. Er wollte sich gerade aufrichten und gehen, bevor Peterson auf die Idee kam ihn eigenhändig aus dem Büro zu werfen, als ihn die kühle Stimme zurückhielt.

„Du musst noch den Bogen ausfüllen, wegen des Praktikumsplatzes.“ Der Manager deutete wie beiläufig auf die Blätter, die auf dem Boden verstreut waren und Daniel machte sie daran sie aufzuheben. Wortlos füllte er sie aus, ohne sich noch genauer mit dem Gedanken zu beschäftigen, dass er eigentlich einen solchen Praktikumsplatz gar nicht haben wollte und reichte Peterson den Bogen. Die dunklen Augen musterten ihn eindringlich und Daniel erwiderte den Blick. Vielleicht war ein Praktikum hier doch nicht so schlecht, immerhin würde er dann Peterson öfters zu Gesicht sehen und vielleicht sogar für ihn arbeiten. Bei diesem Gedanken wurde er leicht rot und schloss die Augen.

„Da unser Gespräch nun leider nicht wirklich zustande gekommen ist, hast du zwei Möglichkeiten.“ Peterson faltete die Hände vor dem Gesicht und verbarg das Lächeln, das seine Lippen umspielte. „Ohne ein Gespräch kann ich den Bogen leider nicht weiterleiten, doch momentan fehlt mir die Zeit, um dies nachzuholen.“ Wie auf Kommando klopfte es an der Tür und die Stimme seiner Assistentin klang gedämpft zu ihnen.

„Herr Peterson, sie haben den Termin schon um zwanzig Minuten überzogen. Ist alles in Ordnung?“

„Ja, wir sind gleich fertig.“, antwortete er etwas lauter, bevor er sich wieder an Daniel wandte und leise fortfuhr. „Du hörst es ja. Um auf deine Möglichkeiten zurück zu kommen.“ Er zog sich einen Terminplaner heran und blätterte gelangweilt darin. „Ich habe entweder in zwei Wochen wieder einen freien Termin, an dem wir das Ganze hier nachholen können, oder…“ Er machte eine Pause und genoss es sichtlich das fassungslose Gesicht Daniels zu sehen, der schon jetzt geistig die neuen Unkosten zusammenrechnete, die eine weitere Fahrt nach Frankfurt kosten würde. Er hatte ohne jeden Zweifel nicht die Zeit und das Geld nochmals hierher zu fahren und vielleicht wieder eine solche peinliche Katastrophe herauf zu beschwören.

„Oder?“, flüsterte er tonlos und versuchte den Blick auf die Lippen Petersons zu vermeiden, die auf ihn momentan so anziehend wie ein Magnet wirkten.

„Oder du wartest bis ich mit den Damen fertig bin und ich lade dich danach zum Essen ein, als Entschuldigung für den kleinen Ausrutscher eben.“ Daniel spürte, wie ihm die Gesichtszüge entgleisten und ein empörter Ausdruck schlich sich in sein Gesicht. Doch noch bevor er antworten konnte, zog Peterson ihn über den Tisch zu sich und drückte ihm kurz seine Lippen auf. „Und natürlich für den kleinen Ausrutscher gerade eben.“ Die Stimme Petersons klang um ein vielfaches sinnlicher, als noch vor wenigen Sekunden und Daniel war nur in der Lage leicht zu nicken.

„Dann sehen wir uns später?“, hakte Peterson mit einem leisen Lachen nach und erneut bestätigte der junge Mann ihm seine Frage mit einer entsprechenden Kopfbewegung. „Ich werde auch extra den Anzug anlassen, den du scheinbar ganz besonders anziehend findest.“, setzte er hinzu und zwinkerte Daniel kurz zu.

 

Als Daniel endlich aus dem Zimmer getreten war und sich auf seinen alten Platz im Foyer setzte, konnte er immer noch nicht glauben was soeben im Besprechungsraum passiert war. Er blendete die fragenden und neugierigen Blicke der Frauen aus und schüttelte leicht den Kopf als er die Tasche auf den Stuhl neben sich stellte und sich durch die Haare fuhr. Einmal mehr war er sich sicher hier vollkommen fehl am Platz zu sein, doch dieses Mal lag das nicht an der Tatsache, dass er als einziger männlicher Bewerber eingeladen worden war, sondern vielmehr daran, dass die Früchte seiner Reise nach Frankfurt ein Date und kein Ausbildungsplatz waren. Und vielleicht auch die Tatsache, dass er nun schwarzen Anzügen nicht mehr widerstehen konnte.

 

(c) Juliane Seidel, 2008