Atemlos 

 

-Der letzte Wille-

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Meine Sinne hatten sich alle fast ausnahmslos verbessert, seitdem ich Henry für mich gewonnen hatte und er sein Verlangen mit einem hungrigen Kuss offen legte, der so vieles geändert hat. Nicht nur zwischen uns, auch ich selbst hatte mich so grundlegend gewandelt, dass es mir den Atem genommen hätte, wenn ich noch dazu in der Lage gewesen wäre. Mein altes Leben lag fernab von mir, als hätte jemand ein Buch geschlossen, das ich nun nicht mehr öffnen konnte. Wie eine Geschichte wirkten die einzelnen Stationen meines Lebens auf mich, wie längst vergangene Lieder und Legenden, die man in trauter Zweisamkeit erzählte. Es war ein seltsames Gefühl und doch war mir das alles passiert. Vielleicht hatte ich ja nur Band eins meines Lebens beendet und startete nun mit einer Fortsetzung, in der sich die Ausgangssituation verändert hatte.
Ich schüttelte kurz den Kopf und streckte mich, bevor ich mich etwas bequemer setzte. Die Kissen in meinem Rücken waren kein ausreichendes Polster, um die Wand angenehm zu machen und meine Beine schliefen mir auf die Dauer ein, so dass ich sie doch anwinkelte. Ich saß auf dem Bett, eine weiche Decke über meine Beine gelegt und meine Finger spielten unaufhörlich mit den Falten, die die Decke schlug. Ich fuhr sie nach und schloss dann die Augen. Eigentlich war die Stille angenehm, doch meine Ohren lauschten angespannt in die Stille, obwohl ich eigentlich kein Interesse an den Schritten hatte, die den Korridor entlang kamen. Ich vernahm zu deutlich das Knarren der alten Dielen, das leichte Quietschen des alten ausgetretenen Teppichs und das Rascheln von Kleidung. Hinzukamen die Geräusche, die ein altes Haus wie dieses auszeichnen- leichtes Kratzen auf dem Dachboden (wahrscheinlich ein Tier), Das Klappern der Fensterläden, das leichte Klopfen eines Astes, den der Wind gegen die Scheibe trieb. Früher hatte ich nie wahrgenommen, wie laut es eigentlich um mich herum gewesen war. Vielleicht war ich auch zu abgelenkt und hatte nie Zeit gehabt, mich einen ganzen Tag auf so etwas zu konzentrieren. Nun machte mich der Lärm fast wahnsinnig und ich fluchte leise, ob des penetranten Astes, der wie ein neugieriger Besucher an mein Fenster klopfte.
Doch nicht nur mein Gehör war soviel besser geworden, auch mein Geruchssinn hatte sich verstärkt. Ich konnte die leicht modrigen Gerüche wahrnehmen, die mich umgaben, der Staube, der schon seit Jahren in einigen Räumen des Hauses lag und sogar den leichten Verwesungsgestank einer Ratte oder Maus im Keller. Dabei war ich hier im ersten Stock weit davon entfernt. Doch besonders markant war der eigentümliche Geruch von Henry- eine Mischung aus Erde, feuchter Luft und Druckerschwärze. Das ergab eine eigenartige Mischung, die jedoch ungemein beruhigend auf mich wirken konnte. Im Allgemeinen hatten auf einmal Gegenstände einen Geruch, den ich vorher nie wahrgenommen hatte.
Die Schritte endeten abrupt vor der Tür und ich schrak ein wenig zusammen. Henry öffnete die Tür und ein Lufthauch brachte mehr von den Gerüchen des Mannes mit, dem ich schon vor einigen Monaten verfallen war. Unser erstes Aufeinandertreffen war seltsam bizarr und ungewöhnlich, wenn ich mich daran zurück erinnerte. Ich stand mit wirren roten Haaren, nur mit einer Shorts bekleidet in der Küche und bedrohte ihn mit einem alten rostigen Messer, vermutete ich doch damals einen Einbrecher. Henry Salou war sein Name und er stellte sich als mein Mieter vor, der schon seit seiner Geburt in dem alten Haus meiner Großtante gelebt hatte. Ich, der es von ihr vererbt bekam war mit einem Schlag nicht nur stolzer Besitzer eines abbruchreifen Hauses und eines Sparkontos von 50.000 Euro für Reparaturen, sondern hatte auch unwissentlich mit meinem Erbe dem Mietvertrag mit Henry zugestimmt. Damals ärgerte ich mich darüber das Kleingedruckte des Testaments nicht gelesen zu haben, immerhin war ich Student und wollte nicht noch mit einem Fremden in dem alten Haus leben. Henry stellte sich zudem als komplizierter Mieter heraus, der es mir nicht einfach machte, kannte er doch das Testament und die damit verbundenen Regelungen beinahe besser als ich selbst. Durch diese Regeln gelang es mir weder den Mietvertrag zu kündigen, noch geschlossene Wohnbereiche zu schaffen, um zu verhindern, dass er mich mitten in der Nacht aufsuchen konnte.
So begann mein Leben mit ihm und schließlich lernten wir uns nach anfänglichen Schwierigkeiten besser kennen. Er war Schriftsteller, verfasste Vampirromane und Fantasy- Geschichten. Ein Eigenbrödler, der nie das Haus verließ. Er saß die meiste Zeit in seiner Bibliothek, aus der ich mir etliche Bücher auslieh und manchmal mit ihm zusammen über Politik und Literatur diskutierte. Er war ein ungewöhnlich belesener Mann, wirkte er doch mit seinen knapp 30 Jahren noch sehr jung und dennoch konnte ich ihn nahezu alles fragen. Ich mochte Henry und nach einer Weile musste ich mir eingestehen, mich langsam in ihn verliebt zu haben. Henry war faszinierend, mysteriös und interessant. Ich muss zugeben, dass mich auch seine Schönheit und Eleganz eingenommen hat. Seine langen schwarzen Haare, die blaugrauen Augen, die katzenhaft anmutenden Bewegungen, die seine edle Erscheinung noch unterstrich. Henry hatte eine solche Ausstrahlung, dass ich mich öfters fragte, warum er nie das Haus verließ. Er hätte jede Frau verführen können und doch vergrub er sich lieber hinter einem guten Buch oder seiner alten klapprigen Schreibmaschine. Etwas Gutes hatte das für mich- auf diese verschrobene Art gehörte er mir ganz allein.

Eine plötzliche Berührung an meinem Arm, ließ mich zusammenschrecken. Ich war so in meinen Gedanken vertieft gewesen, dass ich alles um mich herum vergessen hatte. Mein Freund saß auf meinem Bett und strich vorsichtig über meine nackten Oberarme. Ich spürte seinen Blick, die klaren blaugrauen Augen waren auf mich gerichtet und musterten meinen Körper eingehend. Er schwieg eine ganze Weile, bis ich mich und meinen Herzschlag wieder unter Kontrolle hatte und mich ein wenig entspannte.
„Wo bist du nur mit deinen Gedanken?“, fragte er leise. Ich wusste, dass er wieder diesen besorgten Blick in den Augen hatte. Henry war dahingehend schon immer sehr offen gewesen und man konnte allein in seinen Augen lesen, wie in einem Buch und noch vor wenigen Wochen hatte ich viel aus seiner Mimik herleiten können und wusste immer, wenn etwas nicht stimmte. Jetzt war das nicht mehr möglich, der Kuss hatte uns in der Beziehung voneinander entfremdet, uns Beide verändert. Nie würde ich jemals wieder in seinen Augen lesen können und ich bedauerte diesen Umstand sehr.
Eine leichte Bewegung auf dem Bett ließ mich doch den Kopf heben und augenblicklich spürte ich seine langen Finger durch meine roten Haare streichen. „Daniel meint, er kommt erst wieder, wenn du dich gefangen hast. Ein Unterricht ist so ganz und gar unmöglich und ich gebe ihm Recht. Du musst dich endlich zusammenreißen Alexander.“ Ich schwieg, irgendwie wusste ich auf diese Ansprache keine Antwort, obwohl er eine erwartete. Dass Daniel bis vor einer halben Stunde noch an meinem Bett gesessen und auf mich eingeredet hatte, hatte ich vollkommen verdrängt. Ich muss zugeben, dass ich Daniel gar nicht richtig bemerkt hatte und dementsprechend schwierig muss es dem jungen Mann gefallen sein, mir etwas bei zu bringen. Doch ich vermochte es nicht ihm jetzt zu vertrauen. Das erschien mir unmöglich! 
„Er macht sich Sorgen um dich.“, fuhr Henry leide fort und strich mit der Hand in meinen Nacken, liebkoste die feinen Härchen und streichelte dann über meine Schulter.
Sorgen? Daniel machte sich Gedanken um mich? Ausgerechnet er! Wie hätte ich auf seine plötzliche Wandlung reagieren sollen? Ein weiteres Kapitel meines vorherigen Lebens schien sich verändert zu haben, wie so vieles vor drei Tagen. Er entsprach damals noch meinem persönlichen Feindbild, wollte mich von Henry reißen und hatte Henry vor knapp einer Woche zu einem Duell gefordert, dessen Preis mein Leben und meine Seele war. Wer weiß schon, was passiert wäre, wenn Henry den Kampf gegen Daniel verloren hätte? Hätte Daniel mich getötet? Ich konnte nichts dagegen machen, nur darauf hoffen, dass Henry das Duell für sich entscheiden würde. 
Daniel war unser Feind und jetzt auf einmal ist alles anders. Die Änderung der Ausgangssituation, von der ich gesprochen hatte, war auch hierbei eingetreten. War Daniel in Band eins meiner Geschichte noch mein Feind, so ist er jetzt plötzlich ein Freund, der mir helfen will. Ich verstehe es nicht, begreife Henrys Vertrauen in ihn nicht und fühle mich vielleicht sogar von Henry betrogen. Kann man mir das verübeln, nachdem was Daniel getan hatte, nachdem er durchaus eine Mitschuld an meiner Veränderung trug.
“Alexander, rede endlich mit mir.” Henrys Stimme klang verzweifelt und mir tat es plötzlich Leid, dass ich mich ihm nicht mehr anvertraute. Doch ich verspürte keinen Drang meine Gedanken und Gefühle zu offenbaren oder auf die Bemühungen meines Freundes zu reagieren. Im Grunde verärgerte ich Henry damit, verletzte ihn wahrscheinlich sogar, doch es war ungeahnt schwer über seinen eigenen Schatten zu springen, wenn man sich einmal in die Stille seiner eigenen Gedanken zurückgezogen hatte.
Doch diese Stille zwischen uns bestand nun schon seit Tagen und ich wusste nicht mehr genau, wieso ich eigentlich schwieg. Es gibt immer zwei Gründe dafür zu schweigen, wenn man die Möglichkeit nicht sprechen zu können außen vor ließ. Stumm war ich nicht, ich war durchaus in der Lage mich mit anderen Menschen zu verständigen, doch ich verspürte keinerlei Drang dies zu tun. Eine Ursache war für mich Vertrauen und Glück, ein Zustand der es nicht erforderte noch etwas zu sagen. Für mich klang das irreal, doch ich war mir sicher, dass diese Stille zwischen zwei Menschen existierte, eine Ruhe, die so friedlich und ausgeglichen war, dass ich sie mir insgeheim herbei wünschte. 
Stille konnte aber auch aus Unsicherheit und Angst geboren werden und vielleicht traf dieser Punkt am meisten auf mich zu. So genau vermochte ich das nicht mehr einzuschätzen.
„Ich weiß nicht einmal, ob du meine Anwesenheit erträgst, nach allem, was ich gemacht habe. Hätte ich dich nicht zurückholen sollen? Hätte ich dich sterben lassen sollen?“, fragte er leise und holte mich wie schon so oft aus meinen Gedanken. Eine bewundernswerte Fähigkeit. Seine Stimme schaffte es immer mich zurück in die Realität zu holen, egal wie weit ich geistig schon wieder abgeschweift war. So verpasste ich nie, was er sagte, wobei ich glaubte, dass er sich seiner Fähigkeit gar nicht bewusst war und annahm, dass ich ihm kein Gehör schenkte.
Ich dachte über seine Worte nach. Hätte er mich vielleicht wirklich dort lassen sollen? Ich erinnerte mich an die weiße Unendlichkeit, den Traum, in dem ich gefangen war. Dabei habe ich mit dem Tod immer Dunkelheit verbunden, doch das Gegenteil war der Fall gewesen. Licht und Helligkeit schlugen mir entgegen, doch sehen konnte ich trotzdem nichts. Es ist eine Art Blindheit, die sich schwer in Worte fassen lässt.
Damals hatte ich mich mit meinem Tod schon abgefunden, hatte ihn schon fast herbeigesehnt, doch Henry kam und hielt mich davon ab. Seine Worte und Berührungen waren es, die mich unsicher werden ließen und meine gefasste Entscheidung noch einmal umwarfen. Er holte mich zurück aus der Welt des Schlafes und des Todes und seitdem saß ich zwischen den Wolldecken und wartete auf eine Erleuchtung.
Wie oft hatte ich in den letzten Tagen darüber nachgedacht und auch er stellte diese Frage nicht zum ersten Mal. Ich spürte seine Unsicherheit, die Angst und das Zittern in seiner Stimme. Doch er hatte keinen Fehler gemacht, im Gegenteil. Ich war ihm freiwillig gefolgt, habe mich an seine Lippen geklammert, als er mich küsste und dadurch aus den Träumen und den Fängen des Todes riss. So wie Dornröschen wach geküsst wurde, holte mich Henry ins Leben zurück. Im Prinzip war ich ihm dankbar, doch vieles was im Traum passiert war, wirkte sich auf die Wirklichkeit aus. Vieles hatte sich verändert, ohne das wir es zu diesem Zeitpunkt geahnt hatten. Vielleicht wäre ich nicht mitbekommen, wenn ich es gewusst hätte.
„Alexander.“
Wieder diese samtene Stimme, die mich aus meinen Gedanken zurückholte. Die Hand, die bisher durch meine Haare gestrichen hatte war verschwunden und obwohl Henry keine Wärme auszustrahlen vermochte fühlte es sich meine Haut nun seltsam kühl an.
„Vielleicht ist ein Fehler, das zu sagen, aber so langsam weiß ich nicht mehr was ich machen soll. Du bist nicht stumm, das weiß ich, also rede endlich mit mir.“ Ich hörte die Veränderung in seiner Aussprache, das leichte Vibrieren, dass sich in seine Stimme geschlichen hat und die Luft fast zum schwingen brachte. Meine Nackenhaare stellten sich unwillkürlich auf und ich senkte den Kopf. Meine Hände vergruben sich in der Wolldecke und der kurzen Stille, schloss sich ein Seufzen an.
„Ich bin am Ende meines Lateins.“, murmelte er und er rutschte unruhig auf dem Bett hin und her. „Seit drei Tagen geht das schon so. Ich weiß es ist schwer, aber du wolltest es doch. Auf dem Ritualplatz hast du mich geküsst. Ich habe dir gesagt, was es für Konsequenzen hat, einen Vampyr zu küssen. Du wusstest es, ich hatte es dir sooft gesagt.“
Vampyr. Da war es endlich! Dieses Wort, um das wir beide wohlweißlich herum geschlichen waren. Henry hatte es bisher nicht gewagt es auszusprechen und die Gespräche gingen bisher immer um allgemeine Dinge, doch letztendlich war es nur ein Herauszögern des Unvermeidlichen. Ich erinnerte mich an einen Teil von Daniels Worten, die er während seines Aufenthalts vor nicht einmal einer Stunde an mich richtete. Er sprach von Vampyren und dem Codex, den ich eigentlich kennen müsste, hatte er mir doch eine Abschrift gegeben. Allerdings hatte ich sie nicht gelesen und jetzt war sie nutzlos, da ich außer Stande war sie zu lesen.
„Du kannst nicht ewig darauf hoffen, dass Daniel Sofie mitbringt, damit du dich von ihr ernähren kannst. Du musst irgendwann in der Lage sein selbst zu jagen.“
„Ich weiß.“, antwortete ich automatisch und meine Stimme klang ungewohnt kratzig und rau, als hätte ich sie Ewigkeiten nicht gebraucht. Meine Zunge fühlte sich schwer an und ich presste die Lippen zusammen. Henry schwieg, teilweise war er wohl überrascht, weil ich endlich begonnen hatte mit ihm zu reden. Ich war selbst ein wenig verwundert über mich, hatte ich doch vorgehabt kein Wort dazu zu sagen. Doch nun waren wir nach drei Tagen Vorarbeit beim eigentlichen Thema angekommen- Vampyre.
„Es tut mir leid.“, sagte er schließlich leise und neigte sich zu mir. Ich spürte den Lufthauch und hob meinen Kopf wieder. „Was ich eben gesagt habe tut mir Leid. Du bist nicht Schuld daran. Ich hätte dich von mir stoßen sollen, als du mich küssen wolltest. Vielleicht hätte es einen anderen Weg gegeben, dich zu retten, ohne dir so etwas anzutun. Ich hätte einfach den Codex lesen müssen, mich mehr damit befassen sollen und…“
„Bereust du es?“, unterbrach ich ihn in seinem Redeschwall. Ich wollte nicht sein Selbstmitleid hören, seine Beteuerungen, dass es ihm Leid tat, ich wollte nur wissen, ob er es bereute mich zu einem Vampyr gemacht zu haben.
„Nein, wenn ich ehrlich bin, bereue ich es nicht.“, antwortete er, nachdem er sich einigermaßen gefangen hatte. Er zögerte erneut, ich hörte das Rascheln seiner Kleidung, als er sich zu mir drehte. „Was ist mit dir? Bedauerst du es?“
Ich schwieg, wusste nicht genau was ich auf diese Frage beantworten sollte und dachte nach. Der Kuss war gewünscht und herbeigesehnt und ich hatte gewusst, was passieren würde, wenn ich mich diesem Begehren unterwarf und meinem Instinkt folgte. Der Kuss eines Vampyrs, der mir den Atem nahm und in die Dunkelheit riss. „Bereust du, dass ich dich zu einem Vampyr gemacht habe?“, bohrte er nach und wirkte ungeduldig. Seine Hand strich zitternd über meine Arme.
„Nein.“ Mit fester Stimme setzte ich mich auf und tastete mit meiner Hand nach seiner. Die Liebkosungen stoppten abrupt, doch seine Finger erwiderten den sanften Druck meiner Hand. „Ich bereue es nicht. Ich habe den Schritt gemacht und selbst wenn ich damals schon gewusst hätte, was auf mich zukommt, ich hätte mich trotzdem nicht anders entschieden.“
Das entsprach der Wahrheit! Ich hatte mein Herz und meine Seele schon vor langer Zeit an den mysteriösen Fremden verloren, der in dem Haus lebte, dass nun mir gehörte und auch als ich herausfand, dass er sich von meinem Leben ernährte, suchte ich seine Nähe und wünschte mir nichts sehnlicher, als seine Liebe.
Vampyre.
Diese mystischen Wesen, die ich nur aus Filmen und Büchern kannte, neu zu entdecken und kennen zu lernen, war seltsam und erfüllend zugleich. Henry war ein solcher Vampyr und er berichtete mir von der französischen Revolution, so bildhaft und real, dass ich glaubte dabei gewesen zu sein. Wunderschöne, unsterbliche Männer und Frauen, die sich von dem Leben der Menschen ernährten und auch ich war fasziniert von ihnen. Doch die Vampyre, die ich kennen lernte, waren nicht so, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Henry weihte mich ein, berichtete mir vom Codex der Vampyre und den Anfängen, einer Spezies, die sich nicht von Blut ernährte, wie man immer glaubte. Atemluft war ihr Quell des Lebens, sie stahlen den Lebensatem der Menschen, tranken die Luft um zu leben, da sie selbst nicht in der Lage waren zu atmen. So erschuf ein Vampyr auch seinesgleichen- mit einem einfachen Kuss. Als Henry sich mir anvertraute, erzählte er mir davon, warnte mich eindringlich davor, jemals einen Vampyr zu küssen, wenn ich nicht selbst einer werden wollte.
Dies unterschied sie von den Menschen und all der Aberglaube, der sonst noch verbreitet war, wurde von Henry negiert. Er konnte leben wie ein Mensch, wandelte in der Sonne und verbrachte Stunden am offenen Fenster, um zu schreiben. Er aß und trank wie ich, erzählte mir, dass Vampyre keine Probleme mit heiligen Symbolen oder gängigen Abwehrzaubern haben, die man ihnen nachsagt. Auch musste ich erkennen, dass ihr Leben strukturierter war, als ich gedacht hatte. Es existierten strenge Regeln und Gesetze, der Codex der Vampyre war ihr Gesetzestext und bald müsste auch ich nach diesen Regeln leben.
Nun war auch ich Teil dieser Rasse, ein unbedeutender kleiner Vampyr, der bisher nie selbst gejagt hatte, sondern auf die freiwilligen Gaben Sofies angewiesen war. Daniel brachte sie mir, gestattet mir ihren Atem zu stehlen, bis ich selbst jagen konnte, doch ich war mir sicher, nie wirklich so leben zu können, wie es andere Vampyre taten. Ich unterschied mich zu sehr von den anderen und genau das hemmte mich seit Tagen dabei zu lernen und meine Kräfte zu kontrollieren. Vielleicht war es Angst, möglicherweise auch Hass vor mir selbst.
„Ich bereue nichts.“, sagte ich nochmals leise, doch es klang selbst in meinen Ohren mehr als kläglich.
„Du Lügner.“ Er zog mich mit einer harschen Bewegung zu sich und ich spürte plötzlich Henrys Kopf auf meiner Schulter liegen. Die langen schwarzen Haare, die meine nackte Haut kitzeln und fielen über meinen Rücken. „Du bist kaum ansprechbar, seitdem das passiert ist, schweigst und ignorierst mich. Das macht es nicht einfach für mich, mit dir umzugehen, wo ich dich doch erschaffen habe. Und dann ist mir so ein Fehler unterlaufen unter dem du zu leiden hast. Es tut mir Leid.“
Er umklammerte mich fest und drückte mich an sich und ich genoss seine Berührungen, als er durch meine Haare strich und meinen Kopf an seine Brust zog.
„Du weißt gar nicht, was du mir bedeutest, Alexander, jetzt noch mehr als vor ein paar Tagen. Ich habe das Gefühl, die zu verlieren. Du scheinst immer noch in deinem Traum gefangen zu sein, als hätte ich dich nie daraus zurückgeholt, nur dass du nicht schläfst, sondern mit offenen Augen träumst. Ich erreiche dich manchmal nicht und sogar jetzt in dem Moment bist du mir so fern.“ Henry sprach hektisch und seine Stimme überschlug sich fast, als hätte er Angst, ich könnte ihm wieder entgleiten, bevor er mit seiner Ansprache fertig war. „Es tut mir Leid.“, stammelte er schließlich und immer wieder vergruben sich seine Hände in meinen Haaren. „Es tut mir so Leid.“ Sein Zittern entging mir nicht und obwohl er auf eine Antwort wartete, schwieg ich im ersten Moment. Ich genoss seine Nähe und die kurze glühende Stimmung zwischen uns, die jedoch nicht auf Leidenschaft, sondern auf Angst basierte. Schließlich erlöste ich mich von ihm und schüttelte leicht den Kopf. Ich strich ihm über die Schulter, fühlte das seidene Hemd, das er trug und strich durch seine schwarzen Locken, spielte damit und lächelte kurz.
„Mach dir keine Vorwürfe.“ Ich musste mich sehr unsicher anhören, denn augenblicklich tastete meine Hand für wenige Sekunden ins Leere. Noch bevor ich mehr sagen konnte, umfassten seine Hände meine Schultern und ich fühlte seinen brennenden Blick in meinem Gesicht. Er musste mir in die Augen sehen und ungewollt schluckte ich leicht. Ich hatte ihn nie gefragt, wie sie jetzt aussehen, ob sie blutunterlaufen, verschleiert oder einfach nur matt sind. Ich versuchte den Blick zu erwidern, doch ohne Augenlicht fiel es mir schwer einzuschätzen, ob ich ihn wirklich ansah oder nur an ihm vorbei ins Nichts starrte.
So sehr ich bisher versuchte das Wissen, dass ich durch das Ritual erblindet war, zu ignorieren versuchte, so sehr holte mich dieses mit einem Schlag ein. Hatte ich meine Augen die meiste Zeit geschlossen gehalten und den Umstand, dass um mich Dunkelheit herrschte verdrängt, so wurde mir nun ganz deutlich bewusst, welchen Preis ich für die Unsterblichkeit bezahlt hatte. Dieser Umstand unterschied mich nicht nur von anderen Vampyren- ich wusste, dass noch nie ein Mensch bei seiner Verwandlung zu einem Vampyr erblindet war- sondern hatte mich auch vollkommen aus der Bahn geworfen. Der Umstand jetzt ein Vampyr zu sein, wog bei weitem nicht so sehr, wie das Wissen, nie wieder sehen zu können. Ich hatte etwas verloren, was für mich immer selbstverständlich war. Nie wieder würde ich die Blumen des Frühlings sehen, ein Buch lesen oder etwas aufschreiben können. Doch was für mich am schlimmsten wog, war die Tatsache, Henry nie wieder ansehen zu können.
„Ich…“, begann er und unterbrach sich sofort wieder. Seine Finger lockerten sich ein wenig und er hielt sich nun eher an mir fest. Ich wusste, was er sagen wollte, kannte seine Gedanken nur zu gut und es schien mir, als klangen seine Sätze in meinem Kopf wieder. Seine Entschuldigungen, dass ihm ein Fehler unterlaufen war, als er mich zu einem Vampyr machte, seine Beteuerungen, dass er so etwas nie gewollt und ich nun wegen seiner Unwissenheit zu leiden hatte. ‚Unwissenheit schützt vor Strafe nicht.’, hatte er einmal zu mir gesagt und das traf nun auch auf ihn und seinen Kuss zu. Er kannte das Ritual nicht, wusste nicht um die notwendigen Vorbereitungen, die er hätte treffen müssen, doch in der Situation vor einigen Tagen, war das nicht wichtig gewesen. Ich stand an der Schwelle zum Tod und sein Kuss rettete und verdammte mich gleichermaßen. Henry schenkte mir das Leben an seiner Seite, ich gab unwissentlich mein Augenlicht als Preis dafür. Henry hatte nie einen Vampyr erschaffen und er konnte nicht wissen, dass er einen Menschen für mich bereithalten musste, da er mir keine Atemluft schenken konnte, die ich so dringend nach meiner Verwandlung brauchte. Daniel berichtete es mir, als ich aus meinem Schlaf erwachte, doch was sollte ich jetzt mit diesem Wissen anfangen? Sollte ich ihm deswegen für alle Zeiten böse sein? Sollte ich ihn verdammen und mich selbst bemitleiden, bis nur noch Hass und Zorn meine Gedanken beherrschten?
„Henry?“, gab ich flüsternd von mir und er unterbrach sein Gestottere, dem ich keinerlei Beachtung geschenkt hatte.
„Ja?“
„Ich bin blind.“, sagte ich leise und senkte den Kopf, um seinen Augen auszuweichen. Ich wusste nicht, wie meine Augen nun aussahen, doch ich fühlte mich unwohl dabei, dass er mich so anstarrte. Es war das erste Mal, dass ich diese Worte aussprach und schlagartig wurde ich mir der Bedeutung dessen bewusst, was ich gesagt hatte. Zuvor konnte ich diesen Umstand verdrängen, dachte eine Zeit lang, es sei nur ein Traum, pure Einbildung und startete oftmals den Versuch mich selbst zu wecken. Doch es handelte sich nicht um eine fiktive Geschichte, die ich zwischen zwei Buchdeckeln finden würde, sondern um mein wirkliches Leben. Ich schluckte und war für einen Moment vollkommen aus dem Konzept geraten. „Dies ist jedoch nicht deine Schuld. Die Umstände ließen es wohl kaum zu, dass du mich auf normalem Wege zu einem Vampyr machst.“, fügte ich schnell hinzu, vielleicht etwas zu schnell. Doch ich wollte unbedingt diese Worte sagen und ihm endlich die bedrückende Last von den Schultern nehmen, die ich nur zu deutlich spüren konnte. „Wenn du glaubst, dass ich deswegen Hass für dich empfinde, dann irrst du dich. Es fällt mir nur schwer damit klar zu kommen. Ich habe mich so verändert, meine Umwelt hat sich ebenso stark gewandelt und ich finde keinen Platz darin. Es fühlt sich an, als wäre ich da, aber irgendwie trotzdem nicht vorhanden, verstehst du?“ Meine Hände krallten sich in die Wolldecke, bis seine Finger vorsichtig über meine Haut strichen.
„Du bist hier, Alexander, an meiner Seite. Glaube mir doch, wenn ich sage, dass ich dich unterstützen und bei dir sein will. Schon die ganze Zeit will ich dir helfen und endlich lässt du mich. Du warst eine so lange Zeit in dich gekehrt, hast kein Wort herausgebracht und die Tage einfach nur ungenutzt verstreichen lassen.“ Freude und Erleichterung war in seiner Stimme zu hören und ich schmunzelte leicht, ob dieses ungewöhnlichen Gefühlsausbruchs.
„Danke.“
„Dafür musst du dich nicht bedanken.“
„Doch, ich habe das Gefühl, ein Dank ist schon lange überfällig.“ Ich lehnte mich nach vorne und spürte wie erhofft seine Schulter an meiner Stirn. Ein Gefühl von Sicherheit und Zufriedenheit durchströmte mich und ich lächelte breiter, als Henry anfing zu lachen.
„Du musst immer das letzte Wort haben, oder?“, fragte er und seine Hände begannen meinen Rücken zu liebkosen.
„Schon möglich. Immerhin wird es Zeit, dass ich meine Schlagfertigkeit zurückbekomme.“ Die düstere, gedrückte Stimmung war verschwunden und sie machte Platz für ein Glücksgefühl, was ich schon verloren glaubte. Plötzlich war es mir fast egal, dass ich ein blinder Vampyr war und dass mein Leben nun von vorne beginnen würde. Die depressiven Gedanken waren verschwunden, weit von mir abgerückt und für einen Moment war es ein irreales Gefühl sich an sie zu erinnern.
„Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich mich darüber freue.“
Dieses Mal verkniff ich mir eine Antwort und umarmte ihn vorsichtig. Vielleicht musste ich doch nicht immer das letzte Wort haben, vielleicht war diese schweigsame Atmosphäre nicht unbedingt negativ für uns beide. Stille konnte bekanntermaßen zwei Ursachen haben- Unsicherheit und Angst oder Zufriedenheit und Vertrauen. Und ich glaubte innerhalb dieses kurzen Gesprächs waren wir endlich zu der Schweigsamkeit geglitten, die für uns Beide angenehm ist.
 

(c) Juliane Seidel, 2007