"I'm afraid to move" von Julia Blaß

Genre: Drama, Romance

 

An den Bahnsteigen dieser Welt gibt es viele Arten von Menschen, die durchaus lohnenswert zu beobachten sind. Es gibt die jungen Männer in Anzügen, die am Gleis auf und ab gehen, weil sie genau wissen dass sie dabei am vorteilhaftesten erscheinen, dann sind da noch die jungen Mädchen, die jeden Modetrend mitmachen und am Gleis so mit sich und ihrem neuesten Handy – pardon Smartphone – beschäftigt sind, dass sie fast den einfahrenden Zug verpassen, oder die Mütter die bepackt mit Einkaufstaschen versuchen mit aller Gewalt in einen überfüllten Zug zu steigen und dafür notfalls auch die Ellbogen einsetzen die sie nadelspitz gerne auch in Nieren bohren und zu guter Letzt gibt es dort Menschen wie Satoshi einer ist.
Satoshi gehört zu den Menschen, denen man die Last, die sie auf den Schultern tragen genau ansieht. Es sind all jene Menschen, die durch ihre eigene Moral und das eigene Pflichtbewusstsein so sehr in die Enge getrieben werden, dass sie verzweifelt nur noch nach einem Ausweg suchen, den sie wahrscheinlich nie finden. Gefangene auf einem Weg dessen Ende ihnen zu gut bekannt ist, weil sie es selbst gewählt haben.
In jenen Tagen war Satoshis Leben beherrscht von den Verpflichtungen, die er sich selbst auferlegt hatte. Er war nun achtundzwanzig Jahre alt, Geschäftsführer im Konzern seines Vaters, es war der zwanzigste Dezember und sein Leben lief genauso wie es geplant gewesen war, als er an diesem kalten Dezembertag in Tokyo eintraf. Während der Zugfahrt war er an grauen Stoppelfeldern vorbeigefahren, doch die Hauptstadt war beherrscht von Eis und Schnee.
Es gab niemanden, der ihn vom Bahnhof abholen würde, nicht einmal seine unliebsamste Verpflichtung, denn diese brütete über den Vorbereitungen für ihre ganz persönliche Traumhochzeit, wahrscheinlich eilte sie in diesen Stunden von einer Anprobe zur nächsten. Auch das war geplant, denn Satoshi tat selten etwas ohne es vorher genau zu planen.
Er war hier um sie zu überraschen, denn wenn sie ihn am Weihnachtstag vom Bahnhof abholen wollte, stünde er schon vor dem Haus ihrer Eltern und hielt die Schlüssel zu ihrer eigenen, persönlichen Traumwohnung in den Händen. Alles nach ihren Vorstellungen, immerhin liefen die Geschäfte dieser Tage wirklich gut, da konnte er es sich wohl leisten seiner Zukünftigen jeden Wunsch zu erfüllen, ob er selbst daran Gefallen finden würde oder nicht.


Die Straßen von Tokyo waren auch an diesem Morgen voll von geschäftigen Passanten. Männer in schwarzen Anzügen, die zur Arbeit hetzten oder zu wichtigen Geschäftsterminen, Frauen die auf hohen Hacken und in viel zu engen Bleistiftröcken die Bürgersteige entlangtrippelten und ihre grässlichen Designerhandtaschen als Waffen einsetzten oder Schüler die eigentlich in der Schule sein müssten, stattdessen aber auf dem Weg in das nächste Burgerrestaurant waren. Immer wenn er nach Tokyo kam war es dasselbe Bild, das ihm geboten wurde und dieselbe grausige Enge auf den Straßen. Der Time Square war nichts gegen die Tokioter Innenstadt. Er hatte sich nie vorstellen können einmal hier zu leben, aber jetzt gab es kein Zurück mehr. In einem Monat würde er vor den Traualtar treten und diese Frau heiraten, die partout nicht aus ihrer geliebten Großstadt heraus wollte.
Kalter Wind peitschte ihm ins Gesicht als er in eine Seitenstraße abbog und fortschritt vom Bahnhof. Es hätte kaum Zweck ein Taxi zu rufen um zum Hotel zu gelangen, denn bei dem Gedränge auf den Straßen würde er zu Fuß schneller vorankommen, doch der Wind war unfreundlich und versuchte ihn in die Knie zu zwingen. Ein stummer Kampf um die Vorherrschaft des Winters. Satoshi schlug den Kragen seines schwarzen Mantels hoch und versuchte sein Gesicht vor dem Wind zu schützen, als plötzlich eine ruhige, muntere Stimme an sein Ohr drang und ihn dazu brachte inne zu halten. Diese eine Stimme die dafür sorgte, dass die Welt für einen Augenblick still stand und sogar der Wind das Atmen vergaß.
„Es ist so schön hier, nicht wahr?“
In dem Eingang eines alten Hauses saß ein junger Mann, fast noch ein Junge. Er mochte nicht einmal zwanzig Jahre alt sein und gehörte damit wahrscheinlich eigentlich noch in die Schule. Aber er trug keine Uniform, er störte sich nicht einmal an dem vielen Schnee, der auf den Stufen lag auf denen er saß und einfach den Flocken beim Fallen zusah und den Menschen wie sie umherliefen und ihre Pläne verfolgten. Ein Junge wie er machte keine Pläne. Er war die Art von Mensch, die man nicht an Bahnsteigen sah, denn sie zogen es vor durch die Welt zu streunen auf ihren eigenen zwei Füßen wie Katzen.
Und Satoshi wusste nicht was ihn davon abhielt einfach weiter zu gehen und sich auf sein Ziel zu konzentrieren, aber die Stimme des jungen Mannes war wie ein Bannspruch. Er hatte keine Chance sich ihm zu widersetzen, noch weniger, als der Junge den Blick hob und ihn mit Augen wie aus Eis fixierte. Es war eben jener Moment in dem die Welt plötzlich aus ihrer Umlaufbahn gerissen wird, in der Oben zu Unten wird, Rechts zu Links und sich die Gedanken nur noch in einem Strudel ineinander verdrehen und verquirlen. Es gab keine Hoffnung mehr, denn in eben diesem Augenblick war er rettungslos verloren.
Der Junge führte ihn fort vom Gewühl der Straßen.
„Ich heiße Satoshi.“, sagte er, doch der Junge lächelte nur und ging weiter geradeaus, wohl wissend, dass Satoshi ihm folgte.
„Ein guter Name. Ein starker Name. Ein Name wie für einen Geschäftsmann geplant.“, erwiderte er nach einigen Augenblicken der Stille und weil Satoshi so in die Betrachtung seines hübschen, schlanken, weißen Nackens versunken war, vergaß er ganz was er gesagt hatte. Der Junge hatte langes schwarzes Haar das sich in seinem Schal verhedderte, aber er schien sich nicht daran zu stören und Satoshi gefiel der Anblick.
Dieser Junge war ganz anders als er es von einem Tokioter Jugendlichen erwarten würde. Er war kein bisschen ordentlich. Seine Klamotten wollten nicht recht zusammenpassen, sie sahen eher aus wie aus der Altkleidersammlung und seine Jeans hatte hier und da sogar kleine Löcher oder bunte Flicken. Auch seine Schuhe hatten bessere Tage sicher schon gesehen und waren für dieses Wetter und diese Jahreszeit eindeutig nicht die richtigen. Wahrscheinlich hielt man es darin im Augenblick nur mit vier Paar Socken aus. Aber auf den fein geschwungenen blassen Lippen lag ein stilles Liedchen und er wirkte so herrlich losgelöst von den Problemen dieser Welt, dass es Satoshi eine Freude war ihn einfach nur zu beobachten.
Der Junge, der seinen Namen offensichtlich nicht nennen wollte führte ihn zwischen Häusern hindurch, kreuz und quer durch die Stadt bis sie die Häuser hinter sich ließen. Unweit des Gedränges standen ein paar einsame, alte Bauten mit kaputten Scheiben die wie leere Augenhöhlen blickten, mit Türen die aus den Angeln gerissen waren und alten Vorhängen die im Wind nach draußen flatterten. Die Treppenstufen waren vereist und obwohl ihm tausend mögliche Gefahren durch den Kopf schossen folgte Satoshi dem Jungen in eines der Häuser und er folgte ihm auch nach oben in den obersten Stock in eine große Wohnung. Natürlich gehörte sie dem Jungen nicht, aber wie es aussah hatte er sich hier eingerichtet.
„Lebst du auf der Straße?“, fragte Satoshi ruhig als er sich umsah, auch wenn er das Gefühl hatte das seine Vernunft Amok lief und ihn mit aller Macht aus dieser verfallenen Wohnung zu ziehen versuchte. Er sollte nicht hier sein. Er hätte ihm nicht einmal folgen sollen. Er hätte weitergehen sollen als gäbe es ihn nicht. Wahrscheinlich tat jeder das, wahrscheinlich sah niemand diesen Jungen wenn er am Straßenrand saß und so lieblich vor sich hinlächelte wie in diesem Augenblick und diesem fahlen Licht.
Die Glühbirne war kaputt, die von der Decke baumelte, man konnte schon das Kupfer durch die Isolierung sehen. Wenn es rein regnen würde wäre diese Wohnung nicht nur an dieser Stelle lebensgefährlich. Aber in seinem Kopf war kein Platz für solche rationalen Ideen und er sah auch nicht die Gefahr die wohlmöglich lauern könnte hinter der nächsten Ecke. Wohlmöglich hatte dieser Junge ihn hergelockt damit er ihn mit der Hilfe eines Freundes überfallen konnte, wohlmöglich wartete sein Komplize schon hinter der nächsten Tür.
Diese Wohnung war perfekt. Dieser Moment war perfekt.
„Ich lebe hier. Nicht auf der Straße.“, erwiderte der Junge lächelnd und wies allumfassend auf die alte, kaputte Wohnung. Die Fensterscheibe im ehemaligen Wohnraum war zerschlagen und der kalte Wind war hier oben besonders unfreundlich. Auf dem Boden im Wohnraum lag eine große Matratze umgeben von zahlreichen, weichen, zerknautschen Kissen, sie war ebenso alt wie alles andere und noch dazu nur notdürftig mit einem alten, weißen Laken überspannt, dass schon mehr grau aussah. Auch daran störte sich Satoshi nicht. Es kümmerte ihn auch nicht als der Junge ihm den Koffer aus der Hand nahm und zur Seite stellte oder als er ihm den Mantel abnahm, ihn achtlos zu Boden warf und Satoshi mit sich zu der Matratze zog.
Er sah nur das freche Lächeln, das die Mundwinkel des blassen Jungen umspielte und das Funkeln in den so ungewöhnlichen, blauen Augen. Sie sahen aus wie zwei Kristalle aus Eis, als er sich auf die Zehenspitzen stellte und ihn zu einem Kuss an sich zog. Sein Kopf war wie leergefegt und in seiner Brust tobte das Gefühl unbändiger Freiheit. Er wusste das es falsch war was er tat als er den Kuss erwiderte und den Jungen auf die Matratze drängte, er wusste das er verlobt war, er wusste das er nie zuvor mit einem Mann geschlafen oder auch nur darüber nachgedacht hatte. Sein Leben war immer zu gradlinig gewesen und so sollte es auch weiterhin sein, aber das hier war ein Schlenker in die falsche Richtung.
Wie konnte etwas das falsch war sich nur so gut und richtig anfühlen?
Nur für diesen einen Moment wollte er ausbrechen aus den Zwängen der Gesellschaft, ausbrechen, ausrasten, verrücktspielen, sich gehen lassen, durchdrehen und sich ganz und gar in diesem süßen Strudel aus Gefühlen und wirren Gedanken verlieren. Jede Berührung dieses Jungen war wie das Streicheln von Federn auf seiner Haut und bevor er sich versah hatte er sich vollkommen in diesem süßen Gefühl verloren mit ihm zu verschmelzen, mit einem vollkommen Fremden, der so viele Gefahren bot, mit jemandem, den er besser nicht einmal ansehen sollte.
Bei ihm vergaß er die Welt jenseits der kaputten Fenster. Die Welt war aus ihrer Bahn gerissen, sie eierte irgendwo im Universum herum, ohne Zeit und Raum und so verging Stunde um Stunde. Er vergaß wofür er hergekommen war, er vergaß das jemand in ein paar Tagen auf ihn wartete, er vergaß sogar das Handy das ständig in seiner Tasche klingelte, denn dieser liebliche Körper ließ ihn vergessen mit jedem Zentimeter Haut den er erkundete und mit jedem Streicheln der langen Finger. Satoshi prägte sich jedes Detail ein, jede kleine Narbe, jede Unebenheit, den viel zu dünnen Körper, die langen Beine, die schlanken Arme.
In diesem Licht bei diesem eisigen Wetter dort draußen sah er zerbrechlich aus, als wäre er selbst aus Eis und mit jeder Berührung zerschmolz er mehr unter ihm. Jede seiner Bewegungen war so geschmeidig und elegant wie die eines Raubtiers. In diesen süßen, kostbaren Stunden gab es keinen vollkommeneren Menschen für ihn. Es war keine Liebe, das wusste er, aber zu ihm fühlte er sich auf eigentümliche Art und Weise hingezogen wie von einem Magneten. Er war gefangen in seiner Gier nach ihm und der eigenen Hilflosigkeit sich gegen ihn zu wehren.
Er war gefangen in diesen Augen und er war gefangen in seinem Lachen und seinem stillen Lächeln. Tage später fand er sich in diesem Raum wieder und ihm war, als wären erst Stunden vergangen. Er wusste nicht wie viel Zeit wirklich verstrichen war und alles in ihm sagte ihm, dass es unmöglich schon vier Tage sein konnten, aber der Kalender auf seinem Handy bewies ihm das Gegenteil. Heute war der Tag an dem seine Verlobte ihn erwartete und er hatte nichts von dem getan was er tun wollte und was von ihm erwartet wurde.
Der Kopf des Jungen lag in einem Anflug zarter Vertrautheit auf seinem Schoß und eine alte, muffige Wolldecke lag über seinem schneeweißen Leib. Den kalten Wind spürte er kaum, der durch das kaputte Fenster herein drang. Wann hatte er das letzte Mal gegessen? Wann das letzte Mal etwas getrunken, geduscht oder richtig geschlafen? Mit diesem Jungen hier zu sein, war als befände er sich in einer anderen Welt. Er strich über das schwarze, weiche Haar des namenlosen jungen Mannes. Er hatte keine Ahnung wie alt er war, woher er kam, was er tat oder wie er hieß und doch war er ihm so viel vertrauter als seine eigene Verlobte die er alsbald heiraten musste.
Sein Blick glitt zu einem zersprungenen Spiegel in dem er in den letzten Tagen immer wieder gierig beobachten konnte wie der junge Leib sich unter ihm bewegte und sich nach mehr verzehrte. Er hatte alles ausprobieren wollen und jetzt, wo er sich bereit fühlen sollte zu gehen und diesen Schritt des Erwachsenwerdens zu gehen, fühlte er sich noch verlorener als je zuvor. Das Gewicht auf seinen Schultern war entsetzlich schwer, während auf seinem Bein dieser federleichte Kopf lag und er den Blick wissender Augen auf sich spürte. Mit ihm war alles so leicht und einfach.
Er brauchte nichts sagen damit dieser Junge wusste was los war oder was er wollte. Sie verstanden sich stumm, es genügte ein Blick.
Der Schnee malte Eisblumen an die Fenster, wunderschöne, kleine, zarte, filigrane Gebilde aus Eiskristallen. Von dieser Wohnung aus konnte er immerzu die Züge hören, die über die Bahnstrecke fuhren, die gleich hinter dem Haus entlang führte. Wahrscheinlich waren sie deswegen unbewohnt. Für Satoshi war das Rattern der Züge wie Musik. Für ihn könnte es ewig so weitergehen.
Doch der zarte, flüchtige Augenblick, der nicht mehr gewesen war als das Seufzen des Windes, endete so jäh wie er gekommen war. Der Namenlose löste sich von ihm und sah ihn mit einem Blick an, der Satoshi bewusst werden ließ auf welchen Weg er sich begeben hatte.
„Du musst jetzt gehen.“, sprach er unvermittelt, wo er doch so selten das Wort an ihn gerichtet hatte. Satoshi blieb nichts anderes übrig als zu Nicken. Er wusste was passierte wenn er nicht ging. Wenn er nicht ging, müsste er unweigerlich diesem neuen Pfad folgen. Er würde bei diesem fremden Jungen bleiben, dessen Namen er nicht einmal kannte. Er würde sich nie wieder bei seiner Verlobten melden oder seinen Eltern die Ansprüche auf sein Leben stellten, die er nicht mehr erfüllen wollte. Er würde den alten Satoshi begraben und ein Leben führen wie dieser Junge, unbeschwert und frei wie ein Vogel.
Aber das war nicht der Plan.
Nachdem er sich angezogen hatte und nach seinem Koffer griff, drehte er sich noch einmal zu ihm um. Der Namenlose lag wie ein Kater auf der Matratze und überstreckte den Hals um ihn aus seinen Eisaugen zu fixieren und keine Bewegung zu verpassen die Satoshi machte. Er sah das Funkeln, das ihn schon am ersten Tag eingefangen hatte und schauderte.
„Verrätst du mir wenigstens deinen Namen?“
Ob der Namenlose enttäuscht war das er fortging und sich nicht für ihn entschied? Sein Lächeln war wie das der Sphinx; Es war unmöglich es zu deuten, als er den Kopf schüttelte und sich seine Mundwinkel zu einem verspielten Grinsen verzogen.
„Das nächste Mal.“, erwiderte er frech und Satoshi blieb nichts anderes übrig als ihn hinter sich zu lassen und hinaus in den Schnee zu gehen.


Als er Tage später wieder zurück zu dieser Wohnung kam, war der Namenlose fort. Nur die Matratze, die Kissen und die Decke erinnerten an das heimliche Liebesnest, das sie geteilt hatten. Satoshi wartete Stunde um Stunde, aber er kam nicht zurück und auch in den folgenden Tagen blieb er verschwunden. Seine Verlobte sollte nie erfahren was in diesen vier Tagen geschehen war, in denen er heimlich in dieser Stadt geweilt hatte. Am vierundzwanzigsten war er zum Bahnhof gegangen als wäre nichts gewesen und die Hochzeit rückte mit jedem Tag der verstrich immer näher und doch fand er sich beinahe jeden Tag in dieser leerstehenden Wohnung wieder.
Satoshi, Satoshi, Satoshi. Auch ein Jahr danach ging ihm die süße Stimme des Jungen nicht mehr aus dem Kopf. Immer wenn er daran dachte wie er ihn angesehen und seinen Namen so voller Hingabe ausgesprochen hatte schauderte er und hätte sich am liebsten aus dem Haus gestohlen. Er hatte die Wohnung gekauft, auch wenn seine Frau natürlich nichts davon wusste und er selbst auch nicht erklären konnte was ihn dazu getrieben hatte.
Er wurde die Erinnerungen nicht los, er wurde das Bild des Jungen nicht los und der Gedanke, dass er ihn vielleicht vergessen haben könnte brachte ihn beinahe um den Verstand.
Es war der vierundzwanzigste Dezember als er sich auf den Weg durch Schneegestöber und Frost in die Innenstadt von Tokyo machte. Es war ihm ein Graus mit dem Auto durch die Stadt zu fahren und so nahm er lieber die Kälte in Kauf. Heute gehörte er zu der Art Menschen, die man nicht am Bahnsteig sehen konnte, denn er zog es vor auf seinen eigenen zwei Füßen durch die Welt zu streunen, auch wenn seine Frau ihn dafür belächelte. Er war unterwegs um es ihr zu Weihnachten recht zu machen und ihr teuren Schmuck zu kaufen wie sie es sich von ihm wünschte und es von ihm erwartet wurde.
Die Stadt war voller Menschen und es war ihm zuwider hier zu leben. Männer in schwarzen Anzügen, die zur Arbeit hetzten oder zu wichtigen Geschäftsterminen, Frauen die auf hohen Hacken und in viel zu engen Bleistiftröcken die Bürgersteige entlangtrippelten und ihre grässlichen Designerhandtaschen als Waffen einsetzten oder Schüler die eigentlich in der Schule sein müssten, stattdessen aber auf dem Weg in das nächste Burgerrestaurant waren. Als er an einem Hauseingang vorbeikam stoppte er jäh und sah auf die verschneiten Stufen.
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.
Wann war er wohl zuletzt in dieser Wohnung gewesen? Nachdem er sie gekauft und mit seinen eigenen Händen renoviert hatte, war er ein paar Monate lang jeden Tag dort gewesen um auf diesen Jungen zu warten. Manchmal hatte er etwas vor die Tür gestellt für ihn, aber nie war jemand dort gewesen der es mitgenommen hatte. Irgendwann hatte er es aufgegeben. Wie hatte er so dumm sein können den Worten eines Fremden zu glauben? Wie hatte er so dumm sein können sich auf all das einzulassen und sich in diesen Empfindungen zu verlieren?


Heute, am vierundzwanzigsten Dezember, verschlug es ihn wieder zu dieser Wohnung. Durch Schnee und heftigen Wind bahnte er sich seinen Weg dorthin. Er schritt die vereisten Stufen nach oben, hielt sich am Geländer fest und stieg hoch ins oberste Stockwerk. Heute war er neunundzwanzig Jahre alt, Geschäftsführer im Konzern seines Vaters, verheiratet mit einer schönen, tugendhaften, perfekten Frau und würde nächstes Jahr Vater werden. Sein Leben lief genau nach Plan und jeden Tag, wenn er am Bahnhof vorbeikam, dachte er an die grauen Stoppelfelder außerhalb der Stadt, dort wo eine andere Zeit war.
Das Treppenhaus wurde nur spärlich beleuchtet, aber das kümmerte ihn nicht. Auch blind würde er sich zurechtfinden und als er das oberste Stockwerk betrat flackerte die einsame Glühbirne in ihrer Halterung an der Decke.
Vor der Tür der Wohnung Nummer vierundzwanzig saß eine Gestalt. Sie störte sich nicht daran das der Boden kalt war, sie störte sich auch nicht an dem kalten Wind, der durch die kaputten Scheiben hereinwehte, die zu beiden Enden des Flures eingelassen waren. Der junge Mann mit dem rabenschwarzen Haar saß einfach dort wie ein junger Kater der nach Futter betteln wollte, weil er wusste, dass er an dieser Tür immer welches bekam. In dem diffusen Licht der flackernden Glühbirne wurde sein Gesicht nur schwach beleuchtet, aber als sich die Eisaugen auf ihn richteten, schauderte Satoshi und verharrte wie angewurzelt.
„Es ist schön hier, nicht wahr?“, fragte Satoshi unvermittelt und lächelte schwach.
Einen kurzen Augenblick senkte der Namenlose den Blick und lächelte verlegen. Seine Kleidung passte nicht zusammen, seine Jeans hatte hier und da kleine Löcher oder bunte Flicken.
„Ich heiße Yuki.“, erwiderte dann der Junge nach einer Weile als Satoshi langsam näher kam. Die Schlüssel klimperten in seiner Hand als er sie aus seiner Tasche zog um die Tür aufzuschließen.
„Ein guter Name.“


 

Julia Blaß

 

Geboren: 11. April 1990

Beruf: Auszubildende

Animexx: nishiki