"Weihnachten auf St. Andrew’s" von Lum Cheng

(Genre: School, Romance)

 

~Kapitel 1~

 

Der Nebel hing noch in den Büschen und auf den Wiesen rund um das Mädcheninternat, obwohl es fast mittags war. Der Himmel wirkte grau und diesig.
Die Atemzüge und das Keuchen der Mädchen klangen etwas gedämpft durch die feuchte, kalte Luft, genau wie ihre Schritte auf dem nassen Rasen, auf dem teilweise noch Raureif lag.
„Julia... hier zu mir!“, rief Nadine und rannte auf das gegnerische Tor zu, ohne den Ball dabei aus den Augen zu lassen. Sie überholte Sarah und ein anderes Mädchen aus der Nebenklasse, schlängelte sich auch noch an Gina vorbei und nahm den Pass an, den Julia ihr zuspielte. Mit voller Kraft trat sie nach dem Fußball und im nächsten Augenblick landete dieser im Tor, drehte sich dort kurz im Netz und fiel zu Boden
„Strike!“
Nadine rannte zurück ins Mittelfeld, wurde von ihrer Mannschaft lautstark beglückwünscht und das Spiel ging weiter.
Eigentlich hätte heute am Samstag aufgrund der miesen Wetterlage das Training draußen gar nicht stattfinden sollen, doch die blonde Mannschaftskapitänin hielt es ohne Fußball nur schwer aus und die anderen hatten auch Lust gehabt, also hatten sie sich kurzerhand auf dem Platz eingefunden.
Ein paar Mädchen waren besorgt, dass sie ohne Aufsicht Ärger bekommen würden, doch Nadine hatte trotzig erwidert, dass sie die Verantwortung auf sich nehmen würde.
Was sollte schon passieren? Die paar blauen Flecken und Kratzer, die sie sich bei jedem Training zuzogen, waren normal.
Mittlerweile spielten sie schon über eine halbe Stunde und bei dem kalt-feuchten Wetter war es anstrengender, als sonst.
Schwer atmend und schon völlig durchgeschwitzt lief Nadine zu ihrer Torfrau, die sich offenbar nicht ganz auf ihre Abwehr verlassen konnte.
Doch sie kam zu spät. Der Ball war drin und die andere Mannschaft bekam den Punkt.
Wütend rannte sie ins Mittelfeld zu Christin und schnauzte sie an.
„Was machst du hier? Du bist in der Abwehr! Ich habe euch schon oft genug gesagt, ihr sollt auf euren Posten bleiben!“
Total stinkig sah sie ihre Mitschülerin an und blieb vor ihr stehen, stützte die Hände auf die Oberschenkel und verschnaufte kurz. Ihre Torfrau spielte etwas mit dem Ball, um ihnen Zeit zu verschaffen. Christin verschränkte die Arme vor der Brust und frotzelte: „Ja, was machst du denn dann hinten bei Meike? Ich denke, du bist Stürmerin.“
„Irgendwer muss ja in die Abwehr gehen, wenn du-“
„HEY!“, unterbrach Sarah das Ganze. „Können wir weitermachen?! Das könnt ihr auch hinterher klären.“
Immer noch sauer richtete Nadine sich wieder auf und zog den Saum ihres nassen Shirts hoch, um sich damit über das Gesicht zu wischen.
„Idiot...“
Doch kurz darauf war das Spiel wieder in vollem Gange und es lief recht gut für die Mannschaft der Blonden, doch dann rutschte sie beim Versuch, den Ball noch zu erwischen auf dem nassen Rasen aus und konnte kaum noch auftreten.
Mit wütendem Gesicht saß sie auf dem feuchten, leicht matschigen Untergrund und hielt sich den Knöchel. Es war ihr ein Rätsel wieso das trotz der Spikes passieren konnte.
Sie wollte sich aufrichten, knickte wieder weg und fluchte.
„Komm her...“
Gina griff ihr unter die Arme und zog sie in einer fließenden Bewegung hoch.
„Wer stützt Nadine bis zum Krankenzimmer?“
„Krankenzimmer?“, rief Nadine ungläubig, „Das geht auch so. Ein, zwei Tage und ich bin wieder wie neu. Das braucht sich die alte Schreckschraube nicht anzusehen.“
Gina schüttelte den Kopf.
„Kommt nicht in Frage. Du gehst! Oder haste‘ Schiss vor ihrer Rede, weil wir trotzdem gespielt haben?“
„Ich? Schiss vor der? Bestimmt nicht.“
Widerwillig ließ sie sich von Sarah in Dr. Browns Büro führen und kam sich schon etwas blöd vor, wie sie da alleine auf der Liege saß, nachdem die andere wieder weggeschickt wurde, mit dem dringenden ’Befehl’, das Spiel sofort abzubrechen.


Dr. Stacey Brown war sauer.
Sie erhob sich von ihrem Bürostuhl und kam auf das blonde Mädchen zu. Sie dachte gar nicht daran, sich erstmal den Knöchel anzusehen.
„Was glaubst du eigentlich, wer du bist, einfach eigenmächtig zu entscheiden, dass das Training doch stattfindet? Du spinnst wohl, Fräulein! Ein Wunder, dass du die Einzige bist, der verletzt wurde. Gerade du müsstest doch wissen, dass es nicht gut ist, bei solchem Wetter zu spielen. Ich bin wirklich enttäuscht, Nadine, dass du immer noch so verantwortungslos handelst und dich und andere durch deine Gedankenlosigkeit in Gefahr bringst.“
Doch Nadine schwieg und starrte auf Dr. Browns schwarze Stiefel. Sie hörte nur halb zu und fragte sich, warum die Ärztin nicht mal Turnschuhe trug, sondern immer nur diese komischen Stiefel. Im Sommer musste man darin doch schwitzen, oder?
„Nadine!“
„Hm?“, machte sie und hob langsam den Kopf.
„Ich hoffe das war das letzte Mal, dass so eine Aktion von dir kam. Weitere Sachen werden verwarnt und in die Schulakte eingetragen, haben wir uns verstanden?“
„... ja.“, brummte Nadine und dachte daran, dass sie die Schulärztin eigentlich nicht leiden konnte. Aber dass sie keinen Eintrag machte, war überraschend nett.
„Gut“, meinte Dr. Brown und klang schon wieder etwas freundlicher. „Dann wollen wir uns das hier mal ansehen. Du bist umgeknickt? Der rechte Knöchel, ja?“
Vorsichtig schnürte sie den Schuh auf und zog ihn Nadine zusammen mit der Socke aus. Blind zog sie den kleinen Hocker zu sich und setzte sich hin, um den Fuß auf ihren Oberschenkel zu legen, den Knöchel abzutasten und vorsichtig das Fußgelenk einmal in alle Richtungen zu dehnen.
Nadine verzog schmerzhaft das Gesicht.
„Ahh, das tut weh, du...!“
Krampfhaft grub sie ihre Finger in den Schaumstoff der Liege.
Die Ärztin zog nur eine Augenbraue hoch und sagte nichts. Sie war es gewohnt von dem blonden Wildfang nicht gesiezt und zudem frech behandelt zu werden. Es nützte kaum etwas, es ihr immer und immer wieder zu sagen.
„Er ist bloß verstaucht, das wird in ein paar Tagen wieder. Heute und morgen bleibst du im Bett und legst den Fuß hoch. Montag dürfte es wieder soweit okay sein, dass du in die Schule kannst. Ich gebe dir Eisgel mit und mache dir einen Stützverband.“
Ein paar Minuten später stand Nadine auf und hielt sich an der Liege fest, da sie nur auf dem linken Fuß auftreten konnte.
Sarah war leider schon weg. Wie sollte sie jetzt auf ihr Zimmer kommen?
Doch Dr. Brown erkannte sofort, was Nadine gerade beschäftigte und nahm seufzend ihre Schlüssel vom Schreibtisch.
„Ich bring dich auf dein Zimmer.“
Nadine senkte den Blick und nuschelte ein leises ’Danke’, bevor sie zusammen mit der jungen Ärztin das Büro verließ.


~*~*~


Entspannt und die Augen geschlossen saß Nadine auf ihrem Bett.
Das Kopfkissen hinter ihrem Rücken an der Wand, den Fuß auf der zusammengerollten Bettdecke hochgelegt, entspannte sie dort und hörte Musik.
Nur sehr leise war die Melodie außerhalb der Kopfhörer im Zimmer zu vernehmen.
Es war bereits Nachmittag und sie langweilte sich furchtbar. Sarah, ihre Zimmergenossin, war mit ein paar anderen ins Kino gegangen. Furchtbar gerne wäre sie mitgekommen, doch Dr. Brown kannte kein Pardon, immerhin sollte sie sich schonen, damit sie morgen, am Montag, fit genug für die Schule war.
Irgendwann nahm sie die Stöpsel aus den Ohren und die Musik dudelte leise weiter. Seufzend drehte sie ihren Kopf Richtung Fenster. Es wurde immer eher dunkler draußen, das Wetter war und blieb mies - ohne Schnee.
Suchend sah sie sich anschließend im Zimmer um. Nach dem Mittagessen hatte sie versucht ein Buch zu lesen, doch auch das war ihr langweilig geworden, sie war es einfach gewohnt sich viel zu bewegen und immer aktiv zu sein.
Bettruhe war wirklich die Hölle, eine echte Strafe.
Nadine war so in Gedanken vertieft, dass sie das Klopfen an der Tür erst beim zweiten Mal bemerkte.
„Ja? Herein“, sagte sie laut und wandte ihren Kopf zum Eingangsbereich des Zimmers.
Anjanka trat ein und schloss leise die Tür hinter sich.
„Hey...“ Sie kam näher und zog sich einen Stuhl ans Bett.
„Wie geht’s deinem Knöchel?“
Die andere musterte sie und fragte sich, warum Anjanka alleine kam. Normalerweise klebten sie und Valerie doch laufend zusammen.
„Etwas besser. Danke.“
Jetzt erst bemerkte sie, dass die Dunkelhaarige etwas mitgebracht hatte.
„Oh, was hast du da?“, fragte Nadine neugierig.
Anjanka schmunzelte leicht.
„Ich habe dir Kuchen mitgebracht. Ich war auch in der Stadt, bin aber nicht mit ins Kino gegangen.“
Sie stellte das Mitgebrachte auf den Nachtschrank, schlug die Beine übereinander und kreuzte die Arme vor der Brust. Verwundert sah Nadine die Tüte an.
„Wow... also, dankeschön. Aber warum bist du nicht mitgegangen, um dir einen Film anzusehen?“
Anjanka sah zur Seite, schloss kurz die Augen und hüstelte leicht gegen ihre rechte Hand, die sie zu einer lockeren Faust geschlossen hatte.
„Naja, ich dachte, dass du ein bisschen Gesellschaft brauchen kannst, dir ist doch sicher langweilig.“
Erstaunt weiteten sich die Augen des blonden Mädchens.
„Oh...“

Sie kannten sich schon ein paar Jahre und Nadine zählte Anjanka zu ihren Freunden, doch mit solchen Aktionen überraschte die Kleinere sie immer wieder.
Nadine schaute auf ihre Knie und meinte leise: „Das ist nett von dir.“
„Schon okay.“, sagte die andere nun etwas lauter, um die komische Stimmung zu vertreiben. Sie mochte solch gefühlsduseliges Zeug nicht.
Sie schwiegen eine Weile und nur die leise Musik aus den Kopfhörern füllte die Stille im Raum.
„Was hörst du da? Klingt ja ziemlich nach Melancholie... bist du deprimiert? Weil du nicht raus darfst?“
Langsam schüttelte die Ältere den Kopf.
„Nicht weil ich hier festsitze, ist ja nur noch heute... aber ich...“
Sie brach ab und zögerte, weiter zu sprechen.
Aufmerksam sah Anjanka sie an, jedoch forderte sie sie nicht zum Sprechen auf. Nadine sollte selber entscheiden, was sie ihr anvertrauen wollte und was nicht.
„Bald ist Weihnachten und ich musste an letztes Jahr denken, als wir zu Hause gegen Abend den Pudding gegessen haben. Irgendwie endete das Ganze in einem Desaster“, sagte sie nach einer Weile leise und machte wieder eine Pause.
„Ich habe neue Fußballschuhe und einen Laptop bekommen und meine Eltern haben sich das Übliche geschenkt. Er ihr eine Handtasche und sie ihm eine Krawatte. Beim Essen dann habe ich schon gemerkt, dass die gute Stimmung weg war und am Ende haben sie sich wieder gestritten und angeschrien.“
Sie sah aus dem Fenster und sprach weiter.
„Mir ist da echt alles vergangen und ich habe mich auf mein Zimmer verzogen. Ich glaube am meisten hat mich angekotzt, dass keiner von beiden später mit mir gesprochen oder sich entschuldigt hat. Ich habe immer das Gefühl, ich bin ihnen egal. Immer geht es nur um sie und ihre Probleme.“
Nachdenklich zog Nadine das linke Bein an und legte ihr Kinn auf das Knie, während sie mit den Armen das Bein umschlang. Anjanka sah sie nicht an und schwieg.
„Am nächsten Morgen beim Frühstück hieß es dann, sie wollten sich scheiden lassen. Natürlich wurde ich gar nicht erst gefragt. Sie hatten besprochen, ich sollte bei meinem Vater bleiben und fertig. Ständig wollen sie über meine Zukunft entscheiden, als wenn ich das nicht alleine könnte... Letzten Endes haben sie sich zwar geschieden, aber meine Mutter ist nicht ausgezogen. Doch ich habe irgendwie das ungute Gefühl, dass es dieses Jahr wieder so ausarten könnte.“
Sie schloss die Augen und es war still im Raum geworden, da die Musik aufgehört hatte zu spielen.
„Ich möchte an Weihnachten nicht nach Hause...“
Einige Zeit später hörte man Anjankas langen Atemzug und das Rascheln ihrer Kleidung, als sie ihren rechten Arm ausstreckte und Nadine durch die blonden, wilden Haare wuschelte.

 

~Kapitel 2~

 

„So, packt eure Sachen zusammen. Die Stunde ist gleich zu Ende“, sagte Mrs. Sneyder und blickte ihre Klasse an. „Mrs. Franklin ist krank und ihr habt die nächsten zwei Stunden Vertretung bei Miss Peters. Ich glaube, sie wollte mit euch etwas Praktisches machen, daher räumt bitte alles weg.“ Kaum hatte sie ausgesprochen, gongte es zur Fünf-Minuten-Pause und die Schülerinnen fingen sogleich an, wild durcheinander zu reden. 
„Cool, Mathe fällt aus. Das allein ist schon eine Menge Wert“, meinte Nadine zufrieden und legte ihren Kopf auf die Tischplatte. Ihr war es egal, was sie machen würden, Hauptsache kein Mathe, Chemie oder Physik. „Ich habe gehört, dass Miss Peters gestern mit einer anderen Klasse Kuchen gebacken hat“, erzählte Valerie aufgeregt, „Wäre es nicht toll, wenn sie mit uns auch backen würde?“ Die übrigen Mädchen schienen jedoch nicht sehr begeistert. 
Nadine dachte kurz nach und murmelte nachdenklich: „Aber immerhin hätten wir dann etwas Leckeres zu essen, nicht wahr?“ Judy lachte: „Ja, wenn du nicht wieder Salz und Zucker verwechselst oder sonst irgendwas Schlimmes anstellst. Du versaust doch alles, was du in die Finger bekommst.“ Beleidigt wandte die Blonde den Kopf zur anderen Seite und erwiderte nichts. Erstmal abwarten, was überhaupt während der Vertretungsstunde auf dem Plan stand. Danach konnten sie sich immer noch gegebenenfalls über einen verbrannten, ungenießbaren Kuchen lustig machen. 
Kurz darauf betrat auch Miss Peters die Klasse und trug einen großen, geflochtenen Weidenkorb bei sich. 
„Setzt euch bitte. Schnell, schnell. Wir haben mit den zwei Stunden nicht allzu viel Zeit für das, was ich mit euch vorhabe. Ich möchte mit euch Kekse backen. Seid ihr einverstanden?“  Allgemein stieß dieser Vorschlag dann doch auf große Zustimmung und die Lehrerin begann die Schülerinnen in kleine Zweier-Gruppen einzuteilen. 
Nadine, der gerade eingefallen war, dass sie keine Biohausaufgaben gemacht hatte, beugte sich nach hinten zu Anjanka und nahm gerade deren Heft entgegen, um in der Stunde heimlich abzuschreiben, als Miss Peters an ihren Tischen vorbeikam.  
„Na, meine Damen? Wenn sie sich so gut verstehen, dass sie hier sogar schon Hefte austauschen, werden sie sicher auch in der Lage ihr, Kekse zusammen zu backen, oder?“ Die beiden Mädchen sahen sich an. Nadine hatte kein Problem damit, aber sie fragte sich, ob Anjanka nicht lieber mit Valerie zusammengearbeitet hätte. Doch die Dunkelhaarige zuckte nur mit den Schultern und tauschte mit Sarah den Sitzplatz, damit die wiederum hinten bei Valerie sitzen konnte, um somit die letzte Zweiergruppe zu bilden.  
Nachdem alle eingeteilt waren, musste jeweils eine aus jedem Grüppchen nach vorne kommen und die Zutaten holen, während die andere das Rezept notierte, welches Miss Peters gerade an die Tafel schrieb. Nadine und Anjanka einigten sich darauf, dass die Fußballerin die Schreibarbeit machte, da Anjanka irgendwie geschickter war, was Verarbeitung von Essen anbelangte.  
Kaum war sie fertig mit Schreiben, sah sie neugierig zu ihrer Freundin rüber. Anjanka hatte bereits alle Zutaten abgewogen und in eine Plastikschüssel gegeben. Jetzt galt es, den Teig geschmeidig zu kneten. Gebannt schaute die Blonde in die Schüssel und wartete darauf, dass die andere anfing. Doch nichts geschah. 
Verwundert sah sie hoch.  
„Anjanka?“ Die andere schaute sie an. 
„Willst du das nicht machen? Immerhin habe ich den Kram hierher geholt und alles portioniert.“  „Was? Ich? Nein... wirklich nicht. Außerdem hab ich schon abgeschrieben“, erwiderte Nadine und klopfte zufrieden auf das Heft, in welchem nun das Keksrezept stand.  „Wenn du den Teig knetest, dann darfst du das nachher von mir abschreiben.“  Sie hoffte, dass diese Drohung ziehen würde, denn sie hatte wirklich keine Lust, ihre Finger in der flockig-matschigen Pampe zu vergraben und das Ganze so lange zu kneten, bis man sie ausrollen und in Formen stechen konnte. Anscheinend hatte Anjanka aber auch keine Lust darin rumzumanschen.  
„Ach, so... du hast Bio also doch schon gemacht, sagst du?“  Anjanka kreuzte überlegen die Arme vor der Brust und lächelte gespielt kühl.  
„Na, dann brauche ich es dir ja nicht mehr geben...“  „Haaalt! Nein, warte, Anjanka, ich brauch das, bitte!“, jammerte die Größere und packte sie am Unterarm.  „Anjanka!“, nölte sie und sah sie eindringlich an.  Jene seufzte schwer und meinte: „Na los, wasch dir die Hände.“  Etwas beleidigt ließ Nadine sie los und ging nach vorne zum Waschbecken, um sich die Hände zu reinigen. So etwas Dummes. Sie liebte Essen über alles, aber an der Herstellung war sie so rein gar nicht interessiert. 
Missmutig kehrte sie zurück und sah, dass die Schwarzhaarige bereits ihre Ärmel hochgekrempelt hatte.  
„Wie jetzt?“, fragte Nadine verwirrt. „Wir werden das jetzt zusammen machen“, erklärte Anjanka und stellte auffordernd die Schüssel in die Mitte des Tisches.  Nadine starrte misstrauisch hinein. Unten war ein weißer, puderiger Berg Mehl, darin schwammen ein paar Eier in Milchsoße, außen herum waren Butterflocken verteilt, hier und da glitzerte der Zucker hindurch und das Ganze wurde von ein paar braunen Spritzern geziert, bei denen es sich nur um das Vanillearoma handeln konnte, dessen Duft bereits den gesamten Klassenraum erfüllte.  
Zögernd streckte sie ihre Hände aus und berührte mit den Fingerspitzen das weiche Mehl, grub ihre Finger tiefer hinein, merkte, wie ein bisschen Butter an ihrer Haut kleben blieb und sah, wie das Eiweiß und die Milch über ihren Handrücken schwappten. 
Kurz darauf tauchten auch Anjankas Hände in ihrem Blickfeld auf. Lange, schlanke Finger, kurze, sauber geschnittene Nägel, dunkelblaue Adern, die sich auf den Handrücken abzeichneten und schmale Handgelenke. 
Nadine beobachtete, wie diese schönen Hände auf ihre eigenen zukamen und im letzten Moment zog sie die Schüssel etwas ungeschickt zu sich. 
„Ist schon in Ordnung. Ich mach das.“ Verbissen darum bemüht, nicht rot zu werden, knetete sie den Teig, der allmählich fester wurde, und hielt den Blick gesenkt. So entging ihr die leichte Irritation auf Anjankas Gesicht, die sich wieder auf ihren Stuhl gesetzt hatte und nun begann, die Ausstechförmchen aus einer kleinen Schachtel hervor zu holen. 
Es sah ganz so aus, als wenn das Backen heute mal nicht in einem Desaster enden würde. 

 

~Kapitel 3~


Die Landschaft flirrte schnell an ihr vorbei. Bäume, Büsche, Schilder, Strommasten, kleine Hügel, Wiesen und weitläufige Felder. 
Missmutig wandte Nadine den Blick vom Fenster ab und sah, wie die anderen aufgeregt durcheinander redeten und sich freuten. 
Sie selbst freute sich nicht! 
Nach dem Unterricht hatten sie beschlossen in die Eishalle zu fahren. Jeder war Feuer und Flamme gewesen, doch die Blonde konnte sich immer noch nicht mit dem Gedanken anfreunden, auf dem rutschigen Eis zu laufen und lustige Figuren zu drehen. 
Bereits beim letzten Mal war sie alles andere als begeistert gewesen und jetzt musste sie schon wieder mit.  
„Du kannst schließlich nicht alleine hier bleiben, wenn die anderen sich amüsieren“, hatte Dr. Brown zu ihr gesagt und sie kurzerhand mit in den Bus verfrachtet.  Sie hatte noch versucht zu protestieren, auch weil ihr Knöchel noch nicht wieder ganz belastbar war, doch es hatte nichts gebracht. Gegen diese Schreckschraube und ihre Entscheidungen war kein Kraut gewachsen. 
Und nun saß sie hier zwischen den anderen Mädchen und guckte düster in die Runde. 
Niemand registrierte sie und ihre miese Laune.  
Wenig später hielt sie Bus auf einem Parkplatz und sie stiegen aus. Valerie hängte sich rechts bei ihr ein und lachte.  
„Was schaust du denn so sauer? Sei doch froh - wir bekommen nicht oft so etwas vom Internat spendiert.“  Auch Anjanka gesellte sich zu sieen und ging links neben Nadine. Die Hände hatte sie in den Taschen ihrer dicken Jacke vergraben. 
In den letzten Tagen war es immer kälter draußen geworden.  
„Ist es wegen deinem Knöchel?“, fragte sie gelassen. „Hast du Angst, du könntest aus Versehen umknicken und es wieder schlimmer machen?“  Nadine schüttelte den Kopf. Wussten die anderen es denn nicht mehr? Sie hasste Eislaufen! 
Letztes Jahr hatten sie ihr geholfen und auch wenn es gegen Ende doch noch lustig gewesen war, so musste sie dennoch immer daran denken, wie verkrampft sie anfangs auf dem gefährlichen Untergrund gestanden hatte. Sie mochte dieses Gefühl wirklich nicht.  
„Ich mag Sport nur auf festem, nicht glattem Boden“, erwiderte sie und schaute auf die große Halle, der sie immer näher kamen. „Kein Problem“, meinte Valerie überschwänglich. „Wir helfen dir, dann gewöhnst du dich im Nu daran.“  Doch Nadine hatte da so ihre Zweifel. 
Argwöhnisch nahm sie die Schlittschuhe entgegen, die man ihr aushändigte und setzte sich etwas abseits der anderen auf eine der vielen Bänke des kleinen Eisstadions. 
Es waren bereits viele Leute auf dem Eis; scherzten, fuhren gemeinsam oder alleine, versuchten hin und wieder Pirouetten zu drehen und zu allem Überfluss dudelte auch noch Gute-Laune-Weihnachtsmusik aus den Lautsprechern an der Decke der Halle. 
Die Blonde ließ sich immens viel Zeit beim Ausziehen ihrer Turnschuhe und dem Anziehen der Schlittschuhe. Umständlich schnürte sie die Schuhe erst fast komplett auf, schlüpfte dann übervorsichtig hinein und bewegte probeweise das Fußgelenk. 
Langsam, sehr langsam, fädelte Nadine die Schnürsenkel wieder durch die Löcher und zog alles mit großer Sorgfalt fest. 
Irgendwann (es hatte wohl über zehn Minuten gedauert) war sie aber doch fertig und guckte zerknirscht auf ihre Füße hinab. Bedächtig erhob sie sich, hielt sich an der Lehne der Bank vor ihr fest und stakste unsicher zum Mittelgang, um von dort aus auf die Eisfläche zu humpeln. 
Unterwegs hielt sie sich ständig an den Bänken fest, aus Angst, sie könnte umknicken, dabei war der Holzboden mit Gummimatten ausgelegt.  
Schließlich hatte sie es geschafft und war unten angelangt. Suchend glitt ihr Blick über die fröhliche Menge, während sie sich die Handschuhe überzog. 
Anjanka, Valerie und der Rest hatten eine Reihe gebildet und nahmen viel Platz in Anspruch, worüber sich einige Besucher ärgerten. 
 Seufzend hielt sie sich an der Bande fest und setzte misstrauisch den rechten Fuß aufs Eis. Kurz darauf folgte der Linke und sie rutschte versuchsweise mit beiden Füßen ein bisschen vor und zurück. Solange sie sich am Rand festhalten konnte, fühlte sie sich noch einigermaßen sicher. Fast ein wenig neidisch schaute sie ihren Freunden nach, die gerade lachend und in einem für sie mordsmäßigem Tempo an ihr vorbeigerauscht waren.  
Kurz darauf löste sich allerdings eine große Gestalt mit dunklem Haarschopf aus der Gruppe und kam zurück. Anjanka fuhr auf sie zu und kam in einer eleganten, halben Drehung neben ihr zum Stehen.  
„Na komm. Du hast doch sonst keinen Schiss“, meinte sie und grinste. „Lass mich“, fauchte Nadine und wurde etwas böse. Die hatte gut reden, sie konnte ja Eislaufen im Gegensatz zu ihr. 
Die Dunkelhaarige stöhnte genervt und packte sie kurzerhand am Oberarm. 
„Los jetzt, du kannst das auch!“ Ohne Zögern zog sie sie vom Rand weg und bewegte sich mit weiten, ausholenden Schritten durch die Halle. 
Erschrocken hielt Nadine sich an ihrem Arm fest und ließ sich einfach nur mitziehen. 
„Warte, Anjanka... das geht nicht, ich...“  Dann geschah, was geschehen musste. Da war ein kleines Loch im Boden und Nadine blieb mit der Spitze ihrer linken Kufe darin hängen, verlor das Gleichgewicht, stürzte nach vorne und zog ihre Freundin dabei mit sich. 
„Waahh!“  Mit einem dumpfen Laut landeten beide auf dem Eis (Anjanka halb auf Nadine) und schauten sich verwirrt an. Die Blonde wollte gerade anfangen, der anderen Vorwürfe zu machen, als diese laut anfing zu lachen.  
„Was ist so komisch?“, fragte Nadine argwöhnisch und schob sie von sich runter.  Eigentlich war es ein gutes Gefühl, Anjankas angenehm schweren Körper auf sich zu spüren, doch dies war definitiv der falsche Ort für solche Gedanken.  
„Nichts... aber war es jetzt so schlimm ein Mal hinzufallen?“, fragte sie munter und rappelte sich wieder auf.  Sie streckte ihr ihre Hand hin, um ihr ebenfalls hoch zu helfen.  
„Ist doch nichts passiert, oder?“  Schweigend ließ die Ältere sich hochziehen und wurde fast ein zweites Mal zu Boden gerissen, als Valerie angerauscht kam und sie als Stopper benutzte.  
„Was macht ihr beiden denn da? Na los, nicht einschlafen!“ Verdutzt ließ Nadine sich mitziehen, als die beiden sie zwischen sich nahmen und nun gemeinsam ein paar Runden drehten. 
Nach einigen Minuten stahl sich ein kleines Lächeln auf das Gesicht der blonden Chaotin und sie begann den anfangs vermurksten Nachmittag doch noch zu genießen. 

 

~Kapitel 4~

 

Polternd stellte Laura einen großen, verschlossenen Pappkarton auf den Tisch im Aufenthaltsraum.
Verwundert sahen die anderen Schülerinnen sie an.
„Was ist das?“, begehrte Nadine sofort zu wissen.
Laura deutete mit dem Daumen hinter sich auf den Flur.
„Helft mir lieber, anstatt mich mit Fragen zu löchern. Draußen stehen noch drei davon.“
Valerie kam sofort zum Tisch geeilt und beugte sich über den braunen Karton.
„Ist das eine Überraschung?“, fragte sie aufgeregt, während Nadine daneben stand und nicht gewillt war, auch nur einen Finger zu rühren, bevor sie nicht wusste, was es hiermit auf sich hatte.
Anjanka erhob sich seufzend aus ihrem Sessel, packte ihr Buch beiseite, in dem sie bis eben noch gelesen hatte, und ging raus auf den Flur, um Laura zu helfen.
Tatsächlich standen hier noch ganze drei weitere, große Kisten. Kurz kratzte sie sich etwas ratlos am Hinterkopf, dann bückte sie sich und nahm einen Karton.
Er war viel leichter, als die Dunkelhaarige gedacht hatte und so trug sie ihn ohne Probleme rein, stellte ihn ebenfalls auf dem Tisch ab und holte den nächsten. Sarah nahm den Letzten und als endlich alle Kisten im Zimmer waren, öffnete ihre Tutorin die erste und hielt kurz darauf triumphierend eine Lichterkette in die Höhe.
Die Mädchen sahen sie verwundert an.
Was sollte das denn jetzt?
Frustriert ließ Laura den Arm wieder sinken.
„Tss... ihr sollt das Haus schmücken mit dem Kram aus den Kisten. Schaut euch mal die anderen beiden Häuser an. Da können wir doch locker gegen anstinken, oder?“
Nadine runzelte die Stirn.
„Du meinst... so weihnachtlich schmücken? Mit viel Kitschkram und Lichtern?“
Zweifelnd öffnete sie einen weiteren Karton und sah hinein. In Amerika standen sie total auf so was, das hatte sie im Fernsehen gesehen. Manche hatten ihre Häuserfassaden sogar komplett in Lichternetze eingehüllt. Fast ein bisschen abartig.
„Valerie?“, fragte sie die gebürtige Amerikanerin. „Ihr macht das bei euch immer so, oder? Mit dem vielen Schmücken...?“
Sie nickte.
„Ja, sicher. Auch in der Stadt ist alles bunt und glitzernd. Aber in London wirst du es ähnlich erleben. Aber hier auf dem Land ist es eher... sparsam“, drückte sie sich vorsichtig aus und zog eine silberne Girlande hervor.
„Wunderbar!“, ergriff nun wieder die Älteste das Wort.
„Dann habt ihr ja einen Experten hier, nicht wahr? Jetzt schafft ihr das sicher locker. In einer Stunde komme ich wieder und schaue mir das an. Dann bekommt ihr auch Kakao und Kekse.“
Lange Blicke folgten ihr, als sie den Aufenthaltsraum verließ. Sobald es ans Arbeiten ging, war sie weg und bei ‚Kakao und Keksen’ war sie wieder dabei.
Doch Nadine, Anjanka, Valerie und die anderen Mädchen machten sich ans Werk und hängten in der nächsten Stunde zusammen Lichterketten auf, verfingen sich immer wieder in glitzernden Girlanden, dekorierten die Fenster und Lampen und schlussendlich hatte Valerie sich auf einen Stuhl gestellt, um einen Mistelzweig am Holzrahmen über der Tür des Aufenthaltsraums zu befestigen.
Das Ganze wurde von Kate mit Argusaugen beobachtet.
„Valerie...“, meinte sie langsam. „Bist du sicher, dass das nötig ist? Jungs werden hier sicher nicht vorbeikommen.“
Sie erstarrte in der Bewegung und wurde augenblicklich ein wenig rot um die Nase, doch ehe sie etwas erwidern konnte, sagte Anjanka ruhig: „Lass sie doch. Vielleicht bekommen wir ja unerwartet Besuch, hm?“
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, welches sie schnell versteckte, indem sie vorgab, sich mit der rechten Hand an der linken Wange zu kratzen. Etwas wacklig stieg Valerie von dem Stuhl herunter und stellte ihn an den Tisch zurück.
„Wir sind fertig, oder?“
„Ich denke schon“, murmelte Nadine und schaute auf ihre Armbanduhr. „Wo bleibt Laura? Es ist schon mehr als eine Stunde um. Ich will Kekse!“
„Fresssack!“, klang es von der Türschwelle herüber und alle Köpfe wandten sich um. Laura stand dort mit einem Tablett, auf dem ein paar Tassen mit heißem Kakao und eine Schale voller Schokokekse standen.
„Ich nehm’s dir ab!“, meinte Nadine großzügig und nahm der Älteren schnell das Tablett weg, bevor sie auf die Idee kommen konnte, ihr etwas davon zu verwehren.
Ein paar Minuten später saßen sie alle schweigend beieinander und hingen ihren Gedanken nach. Es war ungewöhnlich, dass keiner von ihnen sprach, doch niemand wagte es, die friedliche Stimmung zu stören.
Sarah hatte die Kerze auf dem Weihnachtsgesteck angezündet und die meisten starrten nun in ihren warmen Schein, der das Zimmer ein wenig erleuchtete, denn draußen war es bereits fast dunkel geworden.
Nadine sah hinaus. Jeden Tag wurde es ein wenig kälter und früher dunkel als am Vortag.
Aber wo blieb der Schnee? Sie seufzte still, nahm noch einen Schluck Kakao und sah wieder aus dem Fenster, in der Hoffnung, dass bald, sehr bald, sich ein paar weiße Flocken aus der Wolkendecke stehlen würden, um auf die Erde hinabzusegeln und sie in glitzerndes Weiß zu hüllen.


~Kapitel 5~

 

Längst war der Unterricht vorbei und die Schülerinnen von St. Andrew’s hielten sich in ihren Wohnheimen auf, da es draußen in Strömen regnete.
Anjanka las in ihrem Buch, Nadine döste in einem der bequemen Sessel und der Rest spielte beim Schein der Kerzen und Lichterketten Karten am Tisch.
Wieder war eine Runde zu Ende und Valerie sammelte das Blatt ein und begann es erneut zu mischen. Nachdenklich sah sie auf den kleinen Stapel und meinte in die Stille hinein: „Sagt mal... was haltet ihr davon, wenn wir anonyme Weihnachtskarten machen?“
„Weihnachtskarten?“, wiederholte Judy stirnrunzelnd.
„Meinst du so valentinsmäßig?“, fragte nun auch Nadine skeptisch.
Anjanka sah von ihrer Lektüre auf, hielt sich aber vorläufig aus dem Gespräch raus.
Valerie wurde etwas verlegen. „Ähm, nun ja...“
„Mal angenommen, wir würden das machen“, warf Kate ein. „Wem sollen wir sie dann geben? Wir sind hier auf einem Mädcheninternat. Willst du sie dem Koch vorbeibringen?“
„Oder schreib doch eine an Dr. Brown, die freut sich sicher!“, lachte Sarah und spielte damit auf die offensichtliche Homosexualität ihrer Schulärztin an.
Jedoch folgte daraufhin betretenes Schweigen.
Valerie senkte peinlich berührt den Kopf. Letztendlich war aber doch sie diejenige, die die Stille durchbrach.
„Hört mal... ich meinte ja auch nicht, dass wir... Liebesbotschaften oder so was drauf schreiben. Eben einfach nur nette Karten an jemanden, den wir mögen. Und natürlich bleibt der Absender geheim!“
Anjanka klappte das Buch zu. „Warum nicht?“, meinte sie und stand auf. „Es gibt sicher einige unter uns, die sich vielleicht nicht so auf Weihnachten freuen, dann können wir uns doch wenigstens untereinander nette Sachen schreiben, oder?“
Sie sah niemanden Bestimmtes an, während sie sprach, doch Nadine fühlte genau, dass die letzte Aussage sich vor allem auf sie bezog.
„Okay“, murmelte sie langsam und fuhr lauter fort. „Ich bin dafür. Also... ich mach mit. Wer noch?“
Etwas überrascht sah die Schwarzhaarige jetzt zu ihr hinüber. Nadine wollte mitmachen? Eher hatte sie damit gerechnet, dass der blonde Hitzkopf sich sträuben würde.
Auffordernd sah sie in die Runde. Die anderen nickten zögernd und dann war es beschlossene Sache.
Valerie und Sarah holten die Kiste mit den Tonpapierresten vom Vortag, die sie nicht zum Basteln und Dekorieren gebraucht hatten, und Judy durchwühlte die Schublade der großen Kommode nach Stiften, Klebstoff und Scheren.
Schon gute zehn Minuten später saßen, hockten und lagen die Mädchen über den Aufenthaltstraum verteilt und bastelten zusammen Weihnachtskarten. Es war ein seltsamer Anblick die Sportlerinnen bei so etwas zu sehen, doch sie hatten Spaß dabei, auch wenn es wohl von sich aus keiner offen zugeben würde, abgesehen von Valerie.
Sie fand eine kleine Schachtel in einem der Schränke und meinte: „Die fertigen Karten kommen hier rein. Ich werde sie dann Dr. Brown geben, damit sie sie später verteilt. So bleibt der Absender noch eine Weile geheim.“
Nadine war als erste fertig und quälte sich vom harten Linoleumboden hoch, auf dem sie bis eben noch auf dem Bauch gelegen hatte. Fast ein wenig muffig schlurfte sie zur Anrichte, nahm sich einen der Umschläge, steckte ihre Karte hinein und legte sie in die kleine Schachtel.
Nachdem das erledigt war, widmete sie sich wieder ihrer Lieblingsbeschäftigung dieser Tage: Auf dem Fenstersims hocken und in den Himmel starren. Auf Schnee hoffen.
Als wenn sie sonst nichts zu tun hätte... wenn die Ärztin davon Wind bekäme, was sie Nachmittag für Nachmittag tat, anstatt für die Schule zu lernen – sie würde ihr vermutlich die Leviten lesen.
Nach und nach wurden auch die anderen fertig mit ihren Karten und Valerie brachte die Schachtel gleich darauf zu Dr. Brown, während Anjanka sich ebenfalls aus dem Zimmer stahl. Nadine bemerkte es nicht. Sie war völlig in ihre Gedanken versunken, während sie raus gesehen hatte.
Plötzlich spürte sie etwas an ihrem rechten Oberschenkel und wandte erstaunt den Blick von draußen ab. Sie wunderte sich, was das sein konnte, da sie die Beine auch auf dem Sims hatte und mit dem Rücken an der Einbuchtung der Wand neben dem Fenster lehnte.
Anjanka stand neben ihr und ihr warmer Körper berührte sie leicht, während sie sich mit der rechten Hand auf der Fensterbank hinter Nadines Po abstützte und die Linke hinter dem Rücken verbarg.
Die Blonde warf einen flüchtigen Blick in den Raum und stellte fest, dass sie gerade alleine waren.
„Was hast du da?“, fragte sie neugierig und meinte damit die verborgene Hand ihres Freundin.
Leicht lächelnd holte Anjanka eine kleine Dose hervor.
„Was ist das?“, begehrte die Größere erneut zu wissen und sah zu, wie die andere die Spraydose gegen das Fenster richtete.
Sie folgte ihr und hörte das leise Zischen, als eine weißlich-durchsichtige Flüssigkeit an der Scheibe haften blieb. Nur Sekunden später sah es aus, als wenn das Zeug kristallisierte und sich dabei weiter ausbreitete und wuchs, dabei wunderschöne Eisblumen an das Glas malte.
„Woah...“
Faszinierend sah Nadine dabei zu und berührte vorsichtig eine Blume. Es war ein wenig klebrig, aber es sah toll aus. Und definitiv weihnachtlich.
„Wenn der Schnee schon auf sich warten lässt“, sagte Anjanka leise, „dann kann man sich ja zumindest hiermit behelfen...“
Entspannt und zufrieden sah Nadine die künstlichen Eisblumen an. Beide schwiegen, aber es war keine unangenehme Stille. Sie war friedlich.
„Danke... Anjanka!“

 

~Kapitel 6~


Missmutig zog Nadine ihren Kopf zwischen die Schultern und vergrub ihre Hände tiefer in den Jackentaschen. Als Letzte stapfte sie hinter den anderen her, die sich angesichts dieser Kälte jedoch nicht von ihrer fröhlichen Stimmung abbringen ließen.
Kurz blieb die Blonde stehen und sah in den wolkenverhangenen Himmel hinauf.
Ein Rabe schreckte aus einem der nahen Bäume hoch und stob kreischend der Wolkendecke entgegen. Man konnte meinen der Himmel wäre an solchen Tagen der Erde näher, fast schien er greifbar nahe durch den tiefhängenden Dunst.
Längst hatte sich die Kälte durch Nadines Kleidung geschlichen. Ihre Zehen spürte sie kaum noch und auch ihre Oberschenkel und Arme, geschweige denn das Gesicht, waren eiskalt.
Nur ihr Bauch und ihr Brustkorb waren noch angenehm warm unter der dicken Daunenjacke. Leise fluchte sie vor sich hin, da sie ihre Handschuhe nicht hatte finden können. Zum Glück hatte sie noch den Schal ausgraben können, der nun die Kälte daran hinderte, ihren Nacken hinab zu kriechen.
Valerie drehte sich halb um und rief: „Nadine! Was machst du denn da? Beeil dich, wir sind gleich da.“
Die Angesprochene brummte und setzte sich wieder in Bewegung. Valerie, bekanntlich immer zu Unternehmungen und Ausflügen neigend, hatte vorgeschlagen einen Winterspaziergang zu machen und durch den nahen Wald bis zu der kleinen Hütte zu wandern, um sich dort mit Kakao aufzuwärmen und anschließend wieder den Rückweg anzutreten.
Dr. Brown und Laura hatten diesen Vorschlag sehr begrüßt. Je mehr die Kids an die frische Luft kamen, desto besser.
Besser jedenfalls als ständig nur in der Stube zu hocken - und heute war es ausnahmsweise trocken draußen, wenn eben auch kälter als zuvor in diesem Jahr
Doch so gut ein Spaziergang auch für die Schülerinnen war, so wollten die beiden Älteren selber nicht teilnehmen, hatten angeblich zu viel zu tun, und so hatten sich Anjanka, Nadine, Valerie, Sarah, Judy und Kate allein auf den Weg gemacht.
Nadine holte auf und entschied sich relativ schnell und unbewusst dafür, neben Anjanka zu gehen. Diese lächelte leicht, als die Blonde aufschloss und meinte leise, sodass nur sie es hören konnte: „Wenn das Wetter weiterhin so kalt bleibt, dann wird sich der Regen bald in Schnee verwandeln.“
Nadine nickte und seufzte kaum hörbar. „Ich hoffe es...“
Gerade kam ihr wieder in den Sinn, wie Anjanka gestern das Eisspray für sie geholt hatte. Wie sie alleine im Aufenthaltsraum gewesen waren, das Fenster angestarrt hatten und als die Dunkelhaarige dann...
„Seht nur, da vorne ist es!“, rief Valerie begeistert und trieb sie zur Eile an.
Nadine wurde aus ihren Gedanken gerissen und schaute geradeaus. Vor ihnen lag tatsächlich eine kleine Holzhütte am Ende des Waldwegs.
Warmes Licht schien durch die urigen Fenster nach draußen und versprach trockene Behaglichkeit.
Minuten später saßen die Schülerinnen alle an einem wackligen Holztisch in der gemütlichen Hütte und hatten jeder eine Tasse dampfend heißen Kakao vor sich.
Fröstelnd wärmte Nadine ihre eisigen Finger an der Tasse. Außer ihnen waren nur vier weitere Personen hier. Der Besitzer, der hinter dem Tresen stand, sowie drei ältere Herren, die an einem runden Tisch saßen, Karten spielten und dabei Grog tranken. In dieser friedlichen, heimeligen Atmosphäre konnte man sich gut entspannen und aufwärmen.
„Wir sollten vielleicht öfter mal kommen“, sagt Sarah in die Stille an ihrem Tisch hinein. „Warum haben wir das nicht schon früher gemacht? Wer hatte überhaupt die Idee? Du, Valerie?“
Sie nickte und strich sich eine blonde Strähne hinter das rechte Ohr, die sofort wieder zurückfiel, da sie zu kurz war. In die Kerze auf der Mitte des Tisches starrend, meinte sie: „Meine Tante hat mir einmal hiervon erzählt, aber ich hatte es vergessen und es ist mir erst wieder heute während des Unterrichts in den Sinn gekommen, als wir in Geschichte die DIAs von Fräulein Coughlan angeschaut hatten. Da war dieses eine Bild von dem eingeschneiten Holzhäuschen, was versehentlich dazwischen geraten war, ihr erinnert euch?“
Sie lachte leise und die anderen schmunzelten. Natürlich hatten sie es alle mitbekommen. Eine willkommene Abwechslung zum schnöden Unterricht.
Sie wärmten sich noch etwa eine halbe Stunde auf, bis Anjanka sie alle mahnend daran erinnerte, dass es schon dunkel wurde und sie Dr. Brown versprochen hatten, vor dem Abendessen wieder da zu sein.
Wenig später verließen die Mädchen aufgewärmt und erneut dick eingemummelt das winzige Gasthaus und versprachen wiederzukommen.
Während Sarah Valerie mit einem Gespräch über Geisterphänomene in alten Häusern gefesselt hatte und Kate und Judy etwas über die drei alten Männer aus der Hütte lästerten, ließen Nadine und Anjanka sich ein wenig hinter den anderen zurückfallen und liefen schweigend nebeneinander her. Die Stimmen und das Gelächter der Vier vor ihnen drangen nur gedämpft bis nach hinten zu ihnen durch. Ihre eigenen Schritte und ihr Atem klangen dafür umso lauter in den Ohren der beiden Freundinnen.
Nadine starrte vor sich auf den Weg, Anjanka sah nachdenklich geradeaus, während sie ihre Taschen durchwühlte. Der Älteren entging das nicht und sie wandte sich ihr halb zu.
„Suchst du etwas?“, fragte sie leicht verwundert. Vielleicht hatte Anjanka ihre Schlüssel oder ihr Portemonnaie dort vergessen?
„Nein, ich...“, sie stockte kurz und gab dann scheinbar auf. „Ich hab meinen Lippenpflegestift gesucht. Hab ihn wohl nicht eingesteckt. Hm, hast du einen Labello oder etwas Ähnliches dabei?“
Auffordernd sah sie Nadine an, in deren Hirn es plötzlich rasend schnell zu arbeiten begann. Natürlich hatte sie einen Fettstift dabei. Immer bei so einer Kälte, wo die Lippen schnell spröde und rissig wurden. Sie war stehen geblieben und die Schwarzhaarige tat es ihr gleich, in der Erwartung, sie würde gleich das Gewünschte von ihrer Freundin ausgehändigt bekommen.
Nadine überlegte immer noch. Wenn sie ihren Stift, den sie ja vorher benutzt hatte, Anjanka gab, dann war das... so etwas wie ein Kuss, oder? Erst hatten ihre Lippen ihn berührt und dann würden die der anderen... und wenn sie gleich darauf den Pflegestift auch wieder benutzen würde, dann...
Doch es kam der Blonden eine andere Idee.
Zögernd trat sie einen Schritt näher an Anjanka heran und sah ihr offen ins Gesicht.
„Tut mir Leid, ich habe auch keinen dabei... allerdings, nun, wenn du trockene Lippen hast, dann...“
Sie brach ab und schwieg. Anjanka wartete.
„Dann?“, half sie schließlich nach und sah die Größere ermunternd an.
Plötzlich musste Nadine über diese absurde Situation lachen. Hatte sie eben wirklich daran gedacht, ihre Freundin einfach so küssen zu können? Am liebsten hätte sie laut gelacht, doch sie gab nur ein leises, kurzes Kichern von sich und meinte, während sie sich abwandte, um weiter zu gehen: „Dann solltest du sie nass machen!“
Kaum war sie einen Schritt gegangen, spürte sie, wie die andere sie am linken Oberarm packte und sie zu sich zurückzog.
„Nadine.“
Ein wenig überrumpelt landete der Blondschopf an der Brust der Marathonläuferin und brauchte ein paar Sekunden um zu realisieren wie nahe sie sich jetzt standen und dass sie sich fast an sie anlehnte.
Langsam machte sie mit den rechten Fuß einen Schritt nach vorne und richtete sich zu ihrer vollen Größe auf.
Warum klopfte ihr Herz auf einmal so schnell? Und vor allem so laut, dass sie das Pochen regelrecht in ihren Ohren vernehmen konnte.
Doch ehe sie sich weiter Gedanken darüber machen konnte, hatte Anjanka zwei Finger unter ihr Kinn gelegt, es angehoben und sie somit gezwungen, ihr ins Gesicht zu sehen. Einen weiteren Augenblick später hatte die Schwarzhaarige die letzte Distanz zwischen ihnen überbrückt und drückte nun sanft ihre etwas rauen Lippen auf die der Fußballspielerin.
Überrascht und glücklich zugleich weiteten sich Nadines Augen erst, bevor sie sie dann schloss und sich ihrer Freundin sanft entgegendrängte.
Es war windig, das Wetter allgemein sehr ungemütlich und erneut wurden Nadines Zehen eiskalt, wie schon auf dem Hinweg, doch irgendwie spielte das alles in diesen Momenten keine Rolle mehr...

 

~Kapitel 7~

 

Aufgeregt schnatternd trat die kleine Gruppe in die Bar ein, die von außen nicht zu übersehen gewesen war. Die bunte Leuchtreklame war ihnen schon von weitem aufgefallen.
Die Wärme begrüßend, öffneten die Schülerinnen ihre Jacken und Mäntel und entledigten sich ihrer Schals und Handschuhe.
Nadine, die mit den Knöpfen ihres Wintermantels zu kämpfen hatte, sah kurz auf zu Valerie und fragte: „Gehen wir in den großen Saal oder nehmen wir ein Zimmer?“
Etwas überrascht schaute die Angesprochene in die Runde. „Also... mir ist es egal. Hab mir ehrlich gesagt keine Gedanken darüber gemacht...“
Es war Samstagabend und Valerie hatte die Mädchen zur Abwechslung mit in eine Karaokebar geschleppt. Anfangs hatten sie sich zwar etwas gesträubt, so wie fast jedes Mal, doch irgendwie hatte sie es dann doch geschafft alle zu überreden und so standen die Sechs jetzt hier und starrten sich an. Keiner wollte eine Entscheidung treffen.
Einerseits wäre der Privatraum von Vorteil, da sie dann unter sich wären, aber sie wären sozusagen ’gezwungen’ zu singen. Der große Saal bot den Vorteil, dass man übergangen werden konnte, dafür hatte man dann aber auch Pech, wenn man aufgefordert wurde, da man dann vor einem breiten Publikum singen musste – falls man das nicht mochte.
Und bis auf Valerie schien keine der Sportlerinnen erpicht darauf zu ihr, die anderen ihre wunderbare Singstimme hören zu lassen. Aber was tat man nicht alles, um mit Freunden in der Freizeit Spaß zu haben...
„Gut, wenn es euch auch egal ist, dann gehen wir eben in den Hauptraum“, sagte sie und ging zum Garderobier, um ihre Jacke und die anderen Sachen abzugeben. Nach kurzem Zögern taten die anderen es ihr gleich und bekamen daraufhin ihre Chips.
Eine nette, junge Dame begleitete sie zum Saal und gab ihnen einen großen, runden Tisch mit zwei Eckbänken, der ziemlich in der Mitte des riesigen Raumes angesiedelt war.
Noch war die Bühne abgedunkelt und einzig das Lachen und das Gerede der vielen Anwesenden waren zu hören. Es ging wohl noch nicht los.
Ein wenig unglücklich setzte Nadine sich neben Anjanka und sah sich misstrauisch um. Sie saßen hier wie auf dem Präsentierteller. Es würde sie nicht wundern, wenn jeder einzelne von ihnen mindestens einmal im Laufe des Abends dran kam.
Auch Sarah, Kate und Judy setzten sich ihnen gegenüber und schauten um sich.
Gleich darauf kam die junge Frau wieder und brachte ihnen die Karten inklusive der Playlisten.
„Habt ihr schon mal was in so einem Schuppen bestellt?“, fragte Judy und nahm sich eine Karte. „Ist das Essen hier gut?“
Kate zuckte mit den Schultern. „Bin zum ersten Mal in so einer Bar“, gab sie offen zu und studierte die Liste der Songs, die zur Auswahl standen.
Anjanka ließ ihren Blick über die große Auswahl an Getränken und Knabberzeug schweifen. Sie schwankte zwischen einem Cocktail oder Saft. Im Grunde mochte sie keinen Alkohol, zumindest nicht das hochprozentige Zeug, was die anderen hin und wieder an Land zogen, doch ein Cocktail hatte Stil und sah gut aus und außerdem hatte sie gehört, dass man aus den meisten wohl auch kaum den Alkohol rausschmecken sollte.
Unschlüssig beugte sie sich zu Nadine hinüber. „Was nimmst du?“, raunte sie und sog unbewusst den frischen, etwas fruchtigen Geruch vom Duschgel ihrer Freundin ein.
Die Blonde wandte den Kopf und ihre Gesichter schwebten direkt voreinander. Unbeabsichtigt blieb ihr Blick an Anjankas Lippen hängen, doch sie riss sich mit Gewalt von diesem Anblick los und schaute hoch in ihre Augen.
„Ich denke, ich nehme einen Swimmingpool und Käsesticks mit Schokosoße.“
Erst nachdem sie es ausgesprochen hatte, fiel ihr auf, was für eine widerliche Mischung das war und sie sah noch einmal in die Karte.
Anjanka seufzte und lehnte sich nun auf die andere Seite. Vertrauensvoll legte sie ihr Kinn auf Valeries Schulter und stellte ihr dieselbe Frage wie zuvor Nadine.
„Hm...“, überlegte die Kleinste der Gruppe. „Kiwisaft klingt gut. Und Tortilla Chips mit Guacamole. Und du?”
„Weiß noch nicht”, erwiderte Anjanka und richtete sich wieder auf. Valerie trank also auch keinen Alkohol, was die anderen vier Mädchen jedoch scheinbar vorhatten, so wie sie es aus ihren Gesprächen raushören konnte.
„Ich nehm doch eine Bloody Mary“, verkündete Nadine laut und klappte die Karte zu, legte sie in die die Mitte des Tisches, um sich auf dem Rückweg eine Playlist zu schnappen und auch diese zu studieren.
Kurz darauf kam eine Kellnerin, nahm ihre Bestellungen auf und huschte wieder weg.
„Okay, jetzt zum komplizierten Teil“, frotzelte Nadine und wedelte mit der Liste der Songs, die eigentlich für jeden Geschmack etwas bereithielt.
„Habt ihr euch schon entschieden, falls man euch auffordert? Ich denke, ich nehm I’m too sexy“, sagte sie munter und lachte dann laut.
„Ghostbusters!“, kam es wie aus der Pistole geschossen von Sarah, die auch gleich anfing die Melodie zu summen. Nadine grunzte und verschluckte sich vor Lachen an ihrer eigene Spucke.
Anjanka runzelte die Stirn, klopfte ihr auf den Rücken und schlug dann die Seite der Karte um und überlegte. Ja, doch... sie hatte sich entschieden, FALLS sie drankommen sollte, denn das wollte sie versuchen auf jeden Fall zu verhindern, aber genehm dem Fall, dass... nun, dann hatte sie etwas gefunden, was mit ihrer Stimme wohl zu bewältigen war.
„Ich weiß es noch nicht genau“, gab Valerie schüchtern zu. „Ähm, My heart will go on? Oder... hm...”
Sie nagte an ihrer Unterlippe und suchte verbissen weiter.
Und während Judy und Kate darüber stritten, ob Justin Timberlake oder die Backstreet Boys cooler waren, wurden die Snacks und Getränke gebracht.
Fast zur selben Zeit gingen auch endlich die Scheinwerfer auf der kleinen Bühne an und ein Mann mittleren Alters trat auf die Bühne, hieß die Gäste willkommen und wünschte viel Spaß an diesem Abend.
Dann hieß es: Freiwillige vor.
Offenbar gab es aber genug Leute, die total versessen darauf waren sich der breiten Masse zu präsentieren und so mangelte es die nächsten zwei Stunden nie an jungen Menschen, die gerne bereit waren, alleine oder zusammen ihre Lieblingssongs ins Mikro zu schmettern.
Die sechs Schülerinnen von St. Andrew‘s genossen den Abend und hatten viel Spaß an den Darbietungen, die teilweise sogar richtig gut waren, andere dagegen waren so schräg, dass es schon fast kultig wirkte und ebenfalls großen Applaus verdiente.
Nachdem ein junger, attraktiver Mann gerade einen Song von Bon Jovi beendet hatte, kam er von der Bühne und steuerte direkte auf den Tisch der sechs Freundinnen zu.
Nadine ahnte Übles, doch zu ihrer größten Erleichterung überreichte er das Mikrofon an Anjanka und machte ihr schöne Augen.
Die Dunkelhaarige senkte den Blick, seufzte ergeben und nahm dann das Mikro in Empfang, während sie sich elegant erhob. Die anderen fünf hielten den Atem an und fragten sich, was für einen Song Anjanka sich wohl ausgesucht hatte.
Nadine war jedoch einfach nur erleichtert, dass es sie nicht getroffen hatte - noch nicht.
Aber sie hatte ein wenig Mitleid mit ihrer Freundin, die nun langsam die drei Stufen hinaufstieg und dem Mann an der Technik mitteilte, für was sie sich entschieden hatte.
Die Scheinwerfer wurden auf sie gerichtet und man konnte sehen, dass sie sich nicht ganz wohl fühlte, doch Kneifen war nicht ihre Art und so hob sie das Mikro an die Lippen, als eine sanft-rockige Melodie zu spielen begann.
Man erkannte sofort nach den ersten Riffs, um welchen Song es sich handelte.
Anjanka sang Heaven von Bryan Adams. Mit beiden Händen hielt sie das Mikrofon umklammert und schloss ihre Augen, als sie begann zu singen.
Nadine hingegen riss überrascht ihre Augen auf. Sie hatte ihre Freundin nie singen gehört... und es klang wirklich gut. Ihre Singstimme war unglaublich und passte einfach perfekt zu dem Lied. Dunkel, warm und ein wenig heiser für eine junge Frau.
Gänsehaut kroch über ihre Arme, zog sich hinauf bis zu den Schultern, ihren Rücken hinab.
Gab es eigentlich irgendetwas, was die Läuferin nicht konnte? In nahezu jeder Sportart war sie richtig begabt, war gut in der Schule, konnte super schauspielern und sah als Geisha auf dem letzten Schulfest einfach nur klasse aus.
Singen konnte sie also auch noch verdammt gut. Nadine hörte staunend zu.
Fast ein wenig erschrocken registrierte sie dann, dass Anjanka ihre Augen aufgeschlagen hatte und unverwandt zu ihr rüber sah. Unsicher schaute sie nach links und rechts, doch es gab keine Zweifel. Anjankas Blicke galten ihr.
Das Herz der Fußballspielerin schlug heftig gegen ihren Brustkorb, ihr Magen krampfte sich etwas zusammen und sie bekam ein mulmiges, warmes Gefühl im Bauch.
Innerlich raufte Nadine sich die Haare, äußerlich bekam sie lediglich rote Ohren und stürzte in einem Zug den Rest ihres dritten Cocktails runter.
Sie schreckte hoch, als begeisterter Beifall den Saal erfüllte und Anjanka von der Bühne stieg, das Mikro an wen anders abgab.
Die Dunkelhaarige setzte sich wieder zu ihnen an den Tisch und wurde mit Bewunderung und Glückwünschen überhäuft. Nur Nadine schwieg. Doch Anjanka beachtete sie scheinbar nicht, trank in Ruhe ihren Mojito aus und meinte: „Es ist schon nach 11... sollten wir uns nicht langsam auf den Weg machen? Wir haben gesagt, dass wir spätestens um Mitternacht wieder da sind.“
Der Vorschlag stieß auf Zustimmung und so erhoben sie sich, holten sich ihre Mäntel wieder und bezahlten die Getränke und Knabbereien.


Die Kälte schlug ihnen draußen unangenehm entgegen, doch ihre Stimmung war gut genug, um sich davon nicht stören zu lassen.
Nadine ging als Letzte hinter den anderen her und dachte über den Song nach, den Anjanka gesungen hatte. Eben jene ließ sich zurückfallen und wartete, bis die Blonde zu ihr aufgeschlossen hatte, bevor sie an ihrer Seite weiterging.
„War es dir unangenehm?“, fragte Anjanka geradeheraus. „Ich habe es für dich getan...“
Nadine lächelte. Irgendwie war es ihr ja schon etwas peinlich gewesen, aber allein die Tatsache, dass jemand anderes so etwas für sie tat, für SIE allein, ließ sie schmunzeln.
Sie machte einen großen Schritt nach vorne, drehte sich zu Anjanka um und blieb dann vor ihr stehen.
Kurz vergewisserte sie sich mit einem Blick über die Schulter, dass die anderen bereits um die nächste Ecke gebogen waren, dann wandte sie sich wieder der Jüngeren zu und lehnte sich nach vorne, näherte sich dem Gesicht der anderen, um ihr auf ihre Art Danke zu sagen.
Vielleicht würde Weinachten dieses Jahr nicht in einem Desaster enden, wenn sie wusste, dass es da jemanden gab, der an sie dachte und versuchte ihre trüben Gedanken zu zerstreuen.
Nadine war zuversichtlich.

 


 

Lum Cheng:

 

Ich wurde 1986 geboren, bin fünf Jahre lang auf einem Internat gewesen und habe danach in den unterschiedlichsten Berufen gearbeitet. Ich war beispielsweise als Köchin, Friseurin, Fotografin, Bildbearbeiterin, Kamerafrau und Video-Editorin tätig.
Das Schreiben war seit der Grundschule stets ein großes Hobby von mir, dem ich auch künftig Beachtung schenken möchte.
Beruflich zieht es mich jedoch eher in Richtung Bildbearbeitung und Fernsehen ;)


Kontakt: batdriven@googlemail.com