Berlin Bromley (Gastrezension: Tanja Meurer) 

 

1976 ist das Jahr des Umbruchs. Hippie und Glamrock werden abgelöst von Punk.
Berlin Bromley ist eine kleines Rädchen in dem Getriebe der Veränderung; ein vielleicht unbedeutendes, das selten erwähnt wird. Aber durch ihn verbinden sich die Stränge des beginnenden Punks. Siouxie Sioux, The Sex Pistols, Adam and the Ants, …
Die Wiege des englischen Punks ist der recht Öde Londoner Vorort Bromley zu sein, aus dem selbst David Bowie und Billy Idol kommen.
Berlin begegnet Bowie zu Beginn des Buches, als dieser selbst gerade erst Ziggy Stardust heraus gebracht hatte und noch nicht wirklich berühmt ist.
Für Berlin, der eigentlich Bertie Marshall heißt, sind Nico, John Lennon & Yoko Ono, Andy Warhol, Liza Minelli, Judy Garland (Lizas Mutter), David Bowie und Jean Cocteau Ikonen die Glamour, Rebellion, Freiheit, Traurigkeit und Tod bedeuten. Er kettet sein Leben daran. Er trägt jenen Glamour wie eine stumme Maske mit sich und verbirgt sich dahinter.
Der extravagante, aber sehr schüchterne Junge hat bereits mit 13 die Schule verlassen und ist zu beginn des Buches (1976) fünfzehn und arbeitslos. Mit seiner Familie kommt er nicht klar und kapselt sich ab. Er weiß, dass er Homosexuell ist. Seinen ersten körperlichen Kontakt hatte er bereits 1973, mit seinem Cousin.
Mit seinem Arbeitslosengeld finanziert er sich Make-up, Kleidung, Speed und Platten. Er ist ein Kunstgeschöpf, dass sich nicht wagt, aus sich heraus zu gehen. Als sehr mädchenhafter Junge, ist er wohl sehr schön und dennoch so gehemmt, dass er selten spricht.
Durch eine junge Schwarze – Simone – und deren Freund Simon lernt er Siouxie Sioux kennen, die sofort gefallen an Berlin findet. Sie teilen Ideen, Träume und Wünsche . Die beiden werden zu unzertrennlichen Freunden (eine Freundschaft, die bis in die Gegenwart gehalten hat). Sie lehrt Berlin, sich richtig zu schminken, zeigt ihm die verrücktesten Outfits und den Laden, der die Punkmode begründet (SEX - von Vivianne Westwood und Malcom McLaren). Die Jugendlichen wollen auffallen; auf Gedeih und Verderb. So kommt es auch zu einer Szenerie, in der Siouxie im 50er Jahre Kostüm, High Heels und knallbunten Haaren Berlin an der Hundeleine in Cherrys Weinbar gehen und den Laden wirklich aufmischen. Berlin spielt brav ihren Hund und trinkt aus einem Wassernapf. Daraufhin fliegen die beiden aus dem Laden. Das Motto der Beiden: Auffallen ist alles!
Im Club Louise lernt Berlin die Lesbe Lynda kennen, die zum späteren Anlaufpunkt und Heimathafen vieler der Kids wird. Lynda ist nett, verrückt und reich. Sie nimmt Drogen wie Bonbons und hat einen Freund, der bereits in der ersten Nacht, die Berlin bei ihr verbringt, mit ihm schläft. David ist der erste Mann, den Berlin hat.


Der Club 100 ist der Ort der ersten Begegnung mit den Sex Pistols, die 1976 gegründet wurden. In ihrer Musik findet sich alle Aggression gegen die Gesellschaft wieder. Berlin scheint zu Anfang sogar richtig eingeschüchtert von Johnny Rotten, dem Sänger.
Im Verlauf des Buches kommt es immer wieder zu einem Zusammentreffen der Bandmitglieder und Berlin. Er lädt sie sogar einmal zu einer Party ein, die er veranstaltetet, als seine Eltern an einem Wochenende nicht da sind. Das Ergebnis ist eine Katastrophe.
Nicht nur dass die Musik bis in den Morgen zu laut ist, die Bandmitglieder stürzen sich auf alles Weibliche auf der Party, was sich nicht schnell genug aus dem Staub machen kann. Siouxies Auftritt, nur in Netzstrumpfhosen und einer Servierschürze, bringt dann das Fass zum Überlaufen, als sie der Nachbarin die Türe öffnet und sie mit einer neunschwänzigen Katze zum Teufel jagt.
In der Zeit beschließen Siouxie und ihr Freund Steve Severin (in den Berlin ziemlich verliebt ist), eine Band zu gründen – Siouxie and the Banshees. Teil der Band: Sid Vicious, der später zu den Sex Pistols wechselt.
Mit Sid kommt Berlin nicht aus. Er ist das „Enfant Terrible“ unter den Jugendlichen des Bromley Contingent. Im Jahr 1976 wird das Bromley Contingent zu dem Urbild des Punks erklärt.
Da Berlin, Siouxie und die anderen immer noch bei ihren Eltern leben, gibt es immer wieder Reibereien. Davon abgesehen fühlt sich Berlin nicht mehr so ganz im Zentrum der Aufmerksamkeit, weil seine Freunde alle Musiker werden und nach Ruhm streben.
Nachdem seine Mutter all sein Make-up wegwirft, ist ihm der Mief der Vorstadt zu viel. Er beschließt nach London umzusiedeln. Seine erste gemeinsame Wohnung hat er mit Domini Mauconduit zusammen. Sie ist die Tochter eines reichen Mannes aus Australien und eine Ausreißerin. Aber um nicht ganz auf Glamour und Drogen zu verzichten, geht sie auf den Strich. Domini ist der Einstieg in die Stricherszene für Berlin.


Oft verliebt sich der Junge in Männer. Viele Enttäuschungen treffen ihn. In dem Strudel aus Sex und Drogen stumpft er ab. Sein Leben finanziert er sich durch Blowjobs und Analsex, bzw. das Arbeitslosengeld. Er zieht oft um und endet schließlich mit Tracy in einem Zimmer. Sie ist ein Jahr älter als Berlin, cool und verrückt. Davon abgesehen ist sie mit Steve Jones (ehem. Sex Pistols) zusammen. Mehr als er, verkörpert sie das Bild des Punks. Tracy arbeitet bei Vivianne und Malcom als Verkäuferin, lässt immer mal wieder Geld und Klamotten mitgehen (was die beiden Designer vermutlich locker verschmerzen können) und ist Berlins heimliches Gewissen.
Sie stirbt 1978 an Knochenmarkskrebs. Der Einschnitt ist heftig für Berlin. Er wacht erst durch ihren Tod auf und lässt das ganze Leben in London hinter sich, um schließlich in den Mief seines Elternhauses zurückzukehren.


Erst 2001 lernt Berlin (er heißt wieder Bertie) die Stadt kennen, nach der er sich benannt hatte. Freunde raten ihm, seinen Traum zu verwirklichen und nach Berlin zu reisen.
Er ist geschockt. Berlin hat nicht den Zauber der alten Filme. Die Stadt fehlt jedweder Glamour und die Tristesse des Winters, sowie seine chronische Geldknappheit erschweren ihm das Leben dort. Nach bereits zwei Tagen muss er aus seinem Billighotel in Kreuzberg ausziehen und macht die Erfahrung, dass er nirgends eine Unterkunft bekommt (weil er es sich in einem Schwulen Club mit dem jungen Stricher verscherzt).
Wesentlich später erst findet er Unterschlupf bei autonomen Hausbesetzern. Hauke, ein typischer linksradikaler Punk, setzt sich vollkommen uneigennützig für Bertie ein und lässt ihn bei sich wohnen. Für Bertie verwischen immer mehr die Grenzen …


Berlin Bromley ist eine Autobiographie. Bertie Marshall erzählt seine Geschichte zwischen 1976 und 1979, bzw. im Winter 2001. Er gehört zu den Mitgliedern des Bromley Contingent, ist also einer der ersten wirklichen Punks. Allerdings sind diese Punks nicht das, was wir heute darunter verstehen; vielleicht doch …
Der Punk der 70er ist noch ziemlich unpolitisch. In den Grundlagen geht es darum, aufzufallen und zu revoltieren. Dazu nutzen die Jugendlichen vorwiegend Make-up, Kleidung und Burlesken. Berlin läuft sehr oft so androgyn herum, dass man nicht sagen kann, ob er Mädchen oder Junge ist. Sein Gesicht ist immer geschminkt.
Siouxie mahlt sich Schönheitsflecken in Form von Hakenkreuzen auf, oder exerziert auf der Bühne, während Berlin sich immer wieder in den gleichen Männertyp verliebt: Kerle mit blondem Haar und grünen Augen, am besten muskulös und groß, ein wenig verwegen vielleicht noch, mit gebrochener Nase und fehlenden Zähnen.
Das ganze hat wenig mit Neonazis oder Oi!-Punks zu tun. In dem Buch erwächst eher der Verdacht, dass es vollkommen unpolitisch Mittel zum Zweck, also reines Stilmittel der Mode und der Faszination ist.
Berlin selbst fühlt sich in dem Buch von den radikalen (politischen) Punks verschreckt, bzw. abgeschreckt. Er weißt diese Menschen eher von sich. Erst Hauke bewundert er für seinen starken sozialen und politischen Einsatz; so sehr, dass er sich in den heterosexuellen Mann sogar verliebt.


Dieses Buch ist nicht im Romanstil geschrieben. Stellenweise hat alles ein wenig das Flair eines Tagebuches, an anderen Stellen ist es sehr detailliert beschrieben.
Sexszenen erwähnt er, aber wenige werden genauer dargelegt.
Sein Blowjob mit seinem Cousin, das erste Mal mit David, dann der Dreier mit Terry und Terence und der abschließende, sehr brutale Sex mit Martin sind Eckpunkte und Wandlungen in seinem Leben, die ihn immer in eine bestimmte Richtung führen, weswegen sie Erwähnung finden.
Marshall wird von Jon Savage, einem befreundeten Autor, in seinem Buch "Englands Dreaming" erwähnt. Savage ist es auch, der Bertie 2001 bei einer Lesung in Berlin rät, seine Biographie zu schreiben.
Das Buch ist nichts für eingefleischte Politpunks, zumal die deutsche Punk-Szene doch stark homophob reagiert. Allerdings ist es ein rasches, interessantes Psychogramm eines Jugendlichen, der ausbrechen will und ein Ventil findet, dass ihn hinab zieht.
Persönlich habe ich den Eindruck, dass Bertie bis heute nicht das Leben gefunden hat, was er für sich als erträglich empfindet.


Der Erzählstil ist dem Konsum Berties/ Berlins mit Speed angepasst. Anfangs geht es detailliert und scheu los und steigert sein Tempo massiv, bis es wie rasche Tagebucheinträge oder Gedankenfetzen zerfliegt. Die Geschichte hinterlässt bei mir einen eigenartigen Nachgeschmack von Hilflosigkeit und Wut, wie sie vermutlich immer in Bertie sein wird. Dennoch ist es sehr gut geschrieben. Man begreift, warum Bertie handelt, wie er handelt und warum ihm der Erfolg immer ferner steht, als den anderen. Seine persönliche Scheu und die Berührungsängste zu anderen, die ihn verletzen könnten, sind zu groß.
Dennoch ist er eine glamouröse Gestalt des 70er-Jahre Punks!

 

Titel:

Berlin Bromley

Autor:

Bertie Marshall

Genre:

Biografie

Verlag:

Ventil Verlag, 2008

Preis:

11,90 Euro

ISBN:

978-3931555702

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