BruderSeit einem halben Jahr ist Marius tot, gestorben an einer Krankheit, die kein Arzt feststellen konnte und die für einen beständigen Tremor und seltsame Verwirrtheit sorgte. Einen Tag bevor er fünfzehn geworden wäre, beschließt seine Mutter auf ihre Art endgültig Abschied zu nehmen – sie will Marius Habseligkeiten im Garten verbrennen. Seinem Bruder Lukas bleibt nur die Möglichkeit, wenigstens einen kleinen Teil von Marius in Sicherheit zu bringen: das Tagebuch, das er ihm einst zum Geburtstag geschenkt hat. Um die intimsten Gedanken seines Bruders vor dem Ritual seiner Mutter zu bewahren, beginnt Lukas zunächst auf die leeren Seiten zu schreiben, später kommentiert er die Einträge seines Bruders direkt. So entdeckt er nicht nur Marius’ größte Geheimnisse und Gedanken, er kommt seinem Bruder näher als jemals zuvor und nimmt auf seine eigene Art Abschied … Der niederländische Autor Ted van Lieshout legt mit „Bruder“ einen sehr gefühlvollen, tiefgründigen und teilweise schwer verdaulichen Jugendroman vor, der 1999 zu Recht mit dem deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde. Die Grundidee zwei Brüder nach dem Tod des einen über ein Tagebuch einander näher zu bringen ist interessant und sehr gefühlvoll umgesetzt. Eine ähnliche Aufarbeitung des Themas fand später durch Håkan Lindquist mit „Paul, mein großer Bruder“ statt, wenngleich dieser Roman weniger in die Sparte Jugendbuch fällt.
Ted van Lieshout hat ein Händchen dafür sowohl Lukas, als auch Marius anhand von
Tagebuchaufzeichnungen zum Leben zu erwecken und ihnen eine große emotionale
Tiefe zu verleihen. Auf knapp 170 Seiten lernt man zwei Brüder kennen, die
unterschiedlicher nicht sein könnten, und die sich dennoch in einigen Punkten
ähneln, insbesondere in ihrer Homosexualität. Sowohl Lukas als auch Marius
zeigten an Jungen eher Interesse, als an Mädchen, doch während Marius nicht nur
versucht offen damit umzugehen und mit seinem Bruder gemeinsam eine Lösung zu
finden, schließt Lukas sich in sein Zimmer ein und verleugnet sich selbst, aus
Angst verstoßen zu werden. Dass sich dadurch die Brüder zu Lebzeiten voneinander
entfernen und Marius diese tiefe Kluft zwischen sich und Lukas nie schließen
kann, ist zentrales Thema in seinen Aufzeichnungen. Das ungewöhnliche, geheime Zwiegespräch zwischen den beiden sorgt jedoch nicht nur dafür, dass Lukas sich selbst akzeptiert und bereit ist zu dem zu stehen, wer er ist; es dient auch der Trauerbewältigung und des Abschiednehmens. Für Lukas steht hierbei die Frage im Zentrum, ob er nach Marius Tod überhaupt noch ein Bruder ist, oder ob er unterdessen nur noch als Einzelkind weiterlebt. Erst während des Lesens und Niederschreibens seiner Gedanken und Gefühle findet er für sich selbst heraus, was ihm geblieben ist und wo seine Gefühle liegen.
Trotz des geringen Umfangs und der ungewöhnlichen Erzählstruktur lernt der Leser
die beiden Brüder sehr gut kennen und erfährt auch nach und nach von Marius
heimtückischer Krankheit, die sich zunächst nur in winzigen Zuckungen zeigt und
erst im Laufe einiger Jahre schlimmer wird. Ted van Lieshout erschafft
lebendige, realistische Protagonisten, die man ins Herz schließt und die besser
charakterisiert sind, als so manche Figur längerer Bücher oder Reihen.
Stilistisch legt Ted van Lieshout ein beeindruckendes Werk vor, dessen einfache
und doch ausdrucksstarke Sprache gut zu den jugendlichen Erzählern passt. Sowohl
Marius’, als auch Lukas’ Schreibstil werden berücksichtigt, und gerade das
Zwiegespräch zwischen den beiden, in denen Lukas die einzelnen Sätze und
Passagen seines Bruders kommentiert, sind sehr gut in Szene gesetzt. Selbst
Marius’ kurzer Eindruck über sein erstes Mal wirkt passend für sein Alter, aber
auch ein wenig überraschend (sowohl für Lukas, als auch für den Leser). „Bruder“ von Ted van Lieshout ist ein beeindruckendes, stilistisch perfektes und ergreifendes Meisterwerk, das zu Recht mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde. Der Autor verknüpft zwei schwierige Themen (Tod und Homosexualität) durch das ungewöhnliche Zwiegespräch zweier Brüdern miteinander und schafft einen sensiblen, lesenswerten Jugendroman. Dank seiner gefühlvollen Sprache und der gut nachvollziehbaren Figuren entfaltet „Bruder“ eine unglaubliche Wucht und wirkt lange nach. Ted van Lieshout „Bruder“ ist ein wundervolles, intensives Jugendbuch, das zum Nachdenken anregt und welches in keinem Bücherschrank fehlen sollte. Uneingeschränkt zu empfehlen …
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