Gelegenheit macht Diebe

 

Der 25-jährige Julian Sivers, kurz Jan, lebt in einer WG mit seiner besten Freunden Andrea in dem kleinen Ort Diblingen. Er ist arbeitslos, ein Träumer und ist selten in der Lage das Leben ohne Hilfe zu meistern. Immer wieder muss ihm Andrea aus der Patsche helfen, die ihn bereits seit über 10 Jahren kennt und ihm schon während der Schulzeit zur Seite gestanden hat. Denn Jan ist schwul und selten in der Lage sich zur Wehr zu setzen. Als Jan in der Schwulenbar „Knock’Out“ über den charismatischen Marco stolpert und den ganzen Abend mit ihm tanzt, ist es um Jan geschehen. Hals über Kopf verliebt er sich in Marco und dieser scheint sogar seine Gefühle zu erwidern. Von diesem Moment an kann Jan an niemand anderen mehr denken und versucht ihn wieder zu finden.
Tage später wird Andrea auf offener von einem Taschendieb angegriffen. Da Jan sich zufällig in der Nähe befindet, eilt er seiner Freundin zu Hilfe und verpasst dem Unbekannten ein Veilchen. Erfolgreich schlägt er den Dieb in die Flucht.
Seltsamerweise verändert Marco bei der nächsten zufälligen Begegnung mit Jan sein Verhalten komplett (und hat ein blaues Auge). Er ist abweisend und versucht ihn zu ignorieren, doch der tollpatschige, unsichere junge Mann lässt sich davon nicht in die Flucht schlagen. Selbst als Marco ausfällig wird, kann Jan seine Gefühle nicht ändern. Als bei einem Streit zwischen den beiden plötzlich die Polizei auftaucht und Marco die Flucht ergreift, muss Jan erkennen, dass Marco sein Geld nicht auf legale Art und Weise verdient – er ist ein gesuchter Dieb. Marco wird von der Polizei festgenommen und ausgerechnet in dieser Zeit fährt Andrea für zwei Wochen auf eine Bildungsmaßnahme ihrer Firma. Damit fehlt Jan der zwar der Gesprächspartner, jedoch hat er erstmals die Gelegenheit Dinge zu tun, die Andrea nicht gutheißen würde.
So beschließt Jan nach etlichen Überlegungen Marco in der Untersuchungshaft zu besuchen, um noch einmal in Ruhe mit ihm zu sprechen. Doch Marco ist alles andere als begeistert Jan zu sehen und attakiert diesen bei dem Gespräch sogar an. Nur das schnelle Eingreifen des wachhabenden Polizisten kann Schlimmeres verhindern. Trotzdem lässt sich Jan nicht davon abbringen an der Unschuld seiner großen Liebe zu glauben und diesen in Schutz zu nehmen. Das ändert sich auch nicht, als die Medien über den Fall des Diebes berichten und seine nahende Verhandlung dafür nutzen all seine Vergehen ans Licht zu bringen. Nicht einmal Andrea gelingt es Jan ins Gewissen zu reden, als sie wieder zurück in Diblingen ist und erkennen muss, wie sehr ihr bester Freund von Marco vereinnahmt ist.
Als dieser schließlich eine Vorladung vom Gericht erhält, um im Fall Marco Obeck, der von einigen Firmen wegen Veruntreuung verklagt wird, seine Aussage zu dem Übergriff im Gefängnis zu machen, gerät Jan in einen Gewissenskonflikt, denn im Grunde möchte er Marco nicht in Schwierigkeiten bringen…

 

„Gelegenheit macht Diebe“ ist der erste Roman Marty Tolstoys über Jan und seine Gefühle zu dem Gesetzesbrecher Marco. Auf 260 Seiten erzählt der Autor die verwirrende und inkonsistente Geschichte einer Liebe, die nicht wirklich nachvollziehbar ist. Der Leser erhält zwar einen tiefen Einblick in Jans Gefühlswelt, doch aufgrund seiner Art und seines Charakters wirkt der Protagonist so unselbstständig und unfähig, dass es schwer fällt ihm etwas Positives abzugewinnen. Jan ist weder in der Lage allein zu leben, noch ist er in irgendetwas wirklich gut. Andrea macht wirklich alles für ihn – sie arbeitet, bezahlt die Wohnung, kümmert sich um die Rechnungen, kocht, putzt und steht ihrem Freund bei. Jan macht kaum etwas für sie, außer sich zu Beginn darüber zu beschweren, dass er nichts für Andrea machen kann. Es stört mich einfach ungemein, wie sehr er seine WG-Partnerin ausnutzt, wie wenig er bereit ist überhaupt zu tun und wie sehr er sich über sein Leben beschwert, ohne sich darum zu bemühen etwas aus sich zu machen. Er ist faul, überheblich und so übersensibel, dass er aus jeder noch so kleinen Gelegenheit solch ein Drama macht, das es dem Leser mit der Zeit einfach zu viel wird. Zu oft mimt er den Leidenden und den armen Schwulen, der von allen Seiten fertig gemacht wird.
Auch Andrea kann nicht so viele Sympathien für sich gewinnen, insbesondere als Marty Tolstoy über die Fortbildungsmaßnahme schreibt, als sich Andreas Freundin Tina in Lennard verliebt, der jedoch nur Augen für Andrea hat.
Marco Obeck als Gegenpol ist gänzlich unausgegoren, da der Leser überhaupt nicht nachvollziehen kann, warum er so wenig nachvollziehbar handelt. Insbesondere der Angriff auf Jan ist einfach nur seltsam und macht überhaupt keinen Sinn mehr. Warum Marco so plötzlich wie ein geistesgestörter Schwerverbrecher dargestellt wird, wird überhaupt nicht erklärt.

Die Geschichte strotzt nur so von Logikfehlern und seltsamen Handlungssträngen. Da ist von einem milliardenschweren (!!) Taschendieb die Rede, der auf offener Straße, mitten am Tag eine junge Frau bestehlen will (und bei ihr stehen bleibt, als der Diebstahl misslingt), von einer Polizeidienstelle, die zugleich Untersuchungshaft ist und anderen Logiklücken, die nichts mit der Realität zu tun haben (deutsche Gefängnisse haben beispielsweise keine vergitterten Zellen, Beamte sind in deutschland nicht mit Schlagstöcken ausgestattet etc.) und einem Gerichtsprozess, der wie eine Episode von Richterin Barbara Salesch wirkt. Es hätte der Geschichte wirklich gut getan, wenn Marty Tolstoy zumindest einige Dinge recherchiert hätte und auf logische Zusammenhänge achtet. Doch auch ohne diese grundlegenden Hintergrundinformationen ist die Handlung langatmig, wirkt aufgesetzt und über alle Maßen irreal. In Kombination mit den unlogischen und unsympathischen Charakteren, ist es wirklich eine Qual „Gelegenheit macht Diebe“ zu lesen. Unerklärlicherweise bekommt der Leser mitten in der Handlung um Jan (aus dessen Sicht der Roman in der Ich-Perspektive geschrieben wird) auch noch Einblicke in Andreas Fortbildung. Man erfährt von Andreas Freundin Tina und dem gutaussehenden Lennard, der für einigen Ärger zwischen den Freundinnen sorgt. Diese Passagenwirken einfach nur störend und unpassend, da sie mit der Hauptgeschichte so überhaupt nichts zu tun haben. Sie verwirren nur und sorgen dafür, dass einem Andrea zunehmend unsympathisch wird, da ihre Art mit Tinas und Lennards Gefühlen zu spielen einfach falsch ist.

 

Neben all den Schwächen in Charakterbildung und Spannungsaufbau ist auch Marty Tolstoys Schreibstil problematisch und sehr schwer zu lesen. Er ist sehr einfach, unausgereift und umgangssprachlich. Zudem gibt es etliche Rechtschreibfehler, Wortwiederholungen, der Satzbau ist einfach nur ein Graus und die grammatikalischen Grundlagen werden mehr als einmal ignoriert. Es werden unheimlich viele unsinnige Sätze und Wörter eingebaut, teilweise könnte man ganze Seiten streichen, da sie vollkommen uninteressant sind. Das fängt bei Jans inneren Monologen an, geht über die ewigen Wiederholungen in Bezug auf Marco bis hin zu den ermüdenden Beschreibungen von Jans Träumen, die so wirr sind, dass sie keinerlei Bedeutung haben. Teilweise wird Jans Tagesablauf minutiös beschrieben, dann wird wieder einiges von Bedeutung übersprungen. Was der Autor nicht erklären kann, wird damit dargestellt, dass Jan nicht zuhört oder in seine Gedanken wegdriftet. Damit bleibt der Leser unwissend zurück.

 

All das macht „Gelegenheit macht Diebe“ zu einem unheimlich langatmigen, unausgereiften Roman, dem ein wirklich guter Lektor gefehlt hat. Es gibt so viel Unstimmigkeiten, Logiklücken und schlechht durchdachte, unsympathische Charaktere, dass es schwer fällt etwas Positives zu finden. Die Grundgeschichte hätte man problemfrei mit einer anderen Handlung wesentlich besser erzählen können, wenn Marty Tolstoy mit einem starken Protagonisten gearbeitet und sich d im Vorfeld mehr Gedanken um Recherche und Spannungsaufbau gemacht hätte.
Als homoerotischer Roman kann man „Gelegenheit macht Diebe“ kaum ernst nehmen, da Jan sich noch schlimmer als jedes Mädchen verhält. Mehr als einen Kuss kann der Fan homoerotischer Literatur nicht erwarten und die gesamte Beschreibung der Liebesgeschichte wirkt einfach nur unrealistisch. Für ein Jugendbuch ab 14, wie es auf der Internetseite des Romans angekündigt ist, ist es zu unspannend und unspektakulär, zumal es trotz des Fehlens jeglicher Erotik für Jugendliche dennoch absolut ungeeignet ist.

 

Insgesamt ist „Gelegenheit macht Diebe“ nicht empfehlenswert. Wer wirklich gute homoerotische Literatur (auch Jugendbücher) sucht, sollte sich nach Werke wie „Ihr mich auch“, „Adrian Mayfield“ und „Die Mitte der Welt“ umschauen. Marty Tolstoy gelingt es einfach nicht mit seinem Buch zu überzeugen.

 

Titel:

Gelegenheit macht Diebe
Autor: Marty Tolstoy
Genre: Alltag, Drama
Verlag: Ge-Ma-Di- Verlag, 2010
Preis: 12,50 Euro
ISBN: 978-3981426601
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