"Eisblumen" von Anna Maske
Genre: Drama
Eisblumen zierten die Ränder der Fensterscheibe.
Der Garten und die Terrasse lagen unter einer glitzernden Schicht weißer
Schneekristalle verborgen. Zwei Kinder spielten zwischen den Bäumen, formten
Schneebälle und lieferten sich eine Schlacht, die keines der Beiden zu
verlieren gedachte. Lächelnd sah die alte Dame dem Treiben der Kinder
durch die Verandatür zu. Das Feuer im Kamin prasselte leise vor sich hin und
erfüllte den Raum mit einem orangenen Schein und behaglicher Wärme. Trotzdem
hatte die alte Dame einen Schal um ihre Schultern geschlungen. Feine
Ornamente waren in ihn hinein gewebt und die Fransen zierten zierliche
Perlen, welche einen leisen, silbernen Klang von sich gaben, wenn sie
aneinander rieben . Wieder ertönte das Lachen der Kinder vom Garten.
Der Hund im Hof fing an zu bellen, ein Holzscheit im Kamin knackte laut und
zischte.
Das Lachen der Kinder verzerrte sich und wurde zu Schreien
und statt des prasselnden Kaminfeuers waren nun Einschläge von entfernten
Artilleriegeschossen zu hören. Die Tür flog auf und eine junge Frau
stürmte atemlos in das Zimmer. „Helen, meine Güte. Warum bist du noch
hier? Der Evakuierungsbefehl kam schon vor einer Ewigkeit! Wir müssen weg,
die Deutschen kommen immer näher!“ Die Frau am Fenster schreckte auf, als
die kalte Hand ihrer Freundin sich um ihr zierliches Handgelenk legte. Ohne
Gegenwehr ließ sie sich mitziehen. In der Diele standen zwei Koffer, der
Pferdeschlitten war vorgefahren und der Kutscher rutschte unruhig auf seinem
Kutschbock hin und her, sich immer wieder nach den Einschlägen der
Panzergeschosse umschauend. Die Pferde schnaubten nervös, tänzelten
unruhig und zerrten an ihrem Geschirr. Nervös warfen sie immer wieder den
Kopf nach oben und in ihren Mäulern bildete sich Schaum, obwohl das Gebiss
erst vor kurzem angelegt wurde. „Wir müssen los, Gnädiges Fräulein.“,
rief der Kutscher durch die offen stehende Eingangstür des Herrenhauses, als
er den beiden Damen gewahr wurde. Helen legte ihren Mantel an und warf einen
letzten Blick zurück. Sie wusste, sie würde dieses Haus niemals wieder
sehen, wenn sie erst einmal durch die Tür nach draußen getreten war. Wieder
griff Maries Hand um ihr Handgelenk. „Bitte, Helen. Lass uns gehen, wir
können nicht länger bleiben.“ Die Koffer wurden von einem Burschen auf
den Schlitten geschnallt. Helen trat nach draußen. Der Garten glitzerte
unter einer weißen Schneeschicht und wären das Artilleriefeuer in der Ferne
nicht zu hören hätte sie denken können, sie befände sich auf einem Ausflug.
„Was ist mit den anderen Dienstboten?“ Helen wandte sich um zu dem
Burschen, welcher die Koffer festschnallte. „Sind alle fort, gnädiges
Fräulein. Nur meine Eltern, die Schwester und ich sind noch da.“ Helen
nickte. „Ihr solltet auch gehen. Nehmt den Wagen in der Scheune. Die Pferde
gehören euch, ich gebe sie euch. Sorgt gut für sie.“ Der Bursche nahm seine
Mütze ab und senkte den Kopf. „Ich danke Euch, gnädiges Fräulein. Möge Gott
sie und Fräulein Marie beschützen.“ „Und euch.“ Helen lächelte und wandte
sich ab und stieg auf den Schlitten. Ein Peitschenknall ertönte und das
Gefährt setzte sich in Bewegung.
Nur ein Verdeck schütze die beiden
Frauen vor dem Schneetreiben, welches einsetzte, kurz nachdem sie die Stadt
hinter sich gelassen hatten. Helen und Marie hatten eine Decke um sich
geschlungen, wärmten sich gegenseitig mit ihren Körpern und versuchten sich
mit der Gegenwart der jeweils anderen zu trösten. Ihre Blicke glitten immer
wieder zu den Seiten, suchten nach einem Anzeichen feindlicher Truppen, doch
sie sahen nichts weiter als einen schier endlosen Strom an Flüchtlingen und
die Schemen der Bäume welche im Schnee wie sich windende, graue Tänzer
wirkten. Ein erdrückendes Schweigen lag über ihnen und nur die Pferde gaben
ab und an ein Schnauben von sich.
Als es dämmerte erreichten sie ein
verlassenes Dorf. Der Schnee fiel nun in großen Flocken wie Federn aus Frau
Holles Betten zur Erde. Über dem Dorf lag eine beunruhigende Stille. Langsam
fuhr der Kutscher weiter, seinen Blick wachsam zu den Seiten gerichtet.
An einem Haus etwas abseits des Dorfplatzes machten sie halt. Der Kutscher
schaute sich um und half sodann den Damen vom Schlitten.
Marie
zitterte vor Kälte und ihre Lippen waren blassbläulich verfärbt, obgleich
sie die ganze Zeit an Helen geschmiegt auf dem Schlitten gesessen hatte.
Helen half ihrer zitternden Freundin ins Haus, während der Kutscher ihnen
mit einem Arm voll Feuerholz folgte. Das Haus war schon vor einer Weile
verlassen worden. Reif lag auf den, zum Teil umgekippten Möbeln und es roch
nach vergorener Milch. In der Vorratskammer fand Helen nur leere, ebenfalls
mit Reif bedeckte Regale und einen Krug mit etwas darin, das sie als den
Urheber des Gestankes identifizierte. Sie ging zurück in den Zentralen Raum
des Hauses, in welchem mittlerweile ein kleines Feuer im Kamin flackerte.
Marie saß in einer Decke eingewickelt nahe am Kamin, die Hände gegen die
Flammen gestreckt und lächelte matt, als sie ihre Freundin zurückkehren sah.
Mit einem enttäuschten Kopfschütteln setzte sich Helen neben sie. „Hier gibt
es gar nichts mehr.“, seufzte sie und schaute in die Flammen. „Mach dir
keine Sorgen, wir haben noch Vorräte auf dem Schlitten.“, versuchte Marie
ihre Freundin aufzuheitern. Der Kutscher stand auf und verneigte sich kurz.
„Ich werde ihre Koffer und die Vorräte holen. Ich würde auch gerne die
Pferde in das Haus bringen. Hinter dem Haus gibt es nur einen kleinen
Hühnerstall und ich fürchte, dieser wird für die Tiere zu niedrig sein.“
Helen nickte dem Kutscher zu. „Bitte tun sie das, die armen Tiere erfrieren
uns sonst dort draußen.“
Ein seltsames Geräusch riss Helen aus ihrem
Schlaf. Sie setzte sich auf und versuchte im schwachen licht des
erlöschenden Feuers etwas zu erkennen. Marie schien nichts gehört zu haben,
denn sie schlief ruhig neben ihr, ihren Arm um Helens Hüfte gelegt. Wieder
ein Scharren auf dem Boden und das nervöse Schnauben der Pferde. Nun
erwachte auch der Kutscher und erhob sich von seinem Platz am Kamin. Er
deutete der jungen Frau zu bleiben wo sie war und schlich lautlos ans
Fenster. In der draußen herrschenden Dunkelheit waren nur die grauen Schemen
der Kutsche zu erkennen. Kein Stern war zu sehen, dazu war die Wolkendecke
zu dicht und noch immer fielen Schneeflocken vom Himmel. Der Kutscher ging
in den Nebenraum, in welchem sich die Pferde befanden. Diese wirkten nervös
und zerrten an ihren Stricken und der Kutscher versuchte vergeblich die
Tiere zu beruhigen. Marien war nun ebenfalls erwacht und blickte
ängstlich zu ihrer Freundin. Diese strich ihr sanft über den Arm und
versuchte sie so zu beruhigen, doch auch Helen beschlich ein mulmiges
Gefühl. Die beiden Frauen standen auf. Das Feuer war nahezu erloschen und
nur noch die Glut glomm im Kamin und erhellte den Raum spärlich. Helen
deutete Marie sich in den Nebenraum zu begeben, sie selbst schlich zum
Fenster und spähte nach draußen. War dort nicht eben ein Schatten bei dem
Schlitten? Angestrengt blickte sie in die Dunkelheit hinaus. Sie hätte
schwören können, dort hätte sich etwas bewegt, doch nun war es fort.
Unbehagen beschlich sie und sie begab sich nun ebenfalls in den Raum, in
welchem sich die Pferde befanden. Der Kutscher war gerade dabei, den Tieren
ein provisorisches Geschirr anzulegen, als Helen den Raum betrat. „Es tut
mir Leid, gnädiges Fräulein, aber ich fürchte wir müssen dieses Haus sofort
verlassen.“, flüsterte er. „Die Tiere sind unruhig, sie wittern etwas.“
„Aber wäre es dann nicht besser, wir würden im Haus bleiben? Was ist wenn
dort draußen Wölfe lauern?“ Helen versuchte sich in der Dunkelheit zur
orientieren und blickte in die Richtung aus der sie die Stimme ihres Dieners
vernahm. Marie indessen klammerte sich an ihren Arm. Helen merkte, dass sie
zitterte und strich sanft mit einer Hand über die zierlichen Finger ihrer
Freundin. „Das halte ich für unwahrscheinlich, gnädiges Fräulein. Ich
habe keine Anzeichen von Tieren gesehen, es gab keine Spuren oder
dergleichen, als ich mich umgeschaut habe und Geräusche konnte ich bis jetzt
auch keine vernehmen.“ „Sie glauben, dass es Deutsche sind?“, fragte
Marie mit zitternder Stimme. „Ich fürchte es, gnädiges Fräulein. Alles
spricht dafür.“ „Sie werden uns erschießen, wenn wir das Haus
verlassen.“, schluchzte Marie. „Ich fürchte das werden sie auch, wenn
sie uns hier drinnen finden. Das oder schlimmeres.“, sie stricht ihrer
Freundin über das Haar und hoffte, dass diese Geste sie ein wenig beruhigte.
„Wir müssen es versuchen, wir haben keine Wahl, Marie.“ Mit sanfter Gewalt
zog Helen sie mit sich. „Ich bin bei dir, es wird gut gehen, dass verspreche
ich dir.“ Schemenhaft erkannte Helen den Kutscher und die beiden Tiere. Sie
nahm einen der Zügel und lotste das Tier in Richtung der Hintertür. Sanft
redete sie auf das Pferd ein, versuchte ihm die Angst zu nehmen und auch
sich selbst. Der Kutscher indessen spähte aus dem Fenster, die Zügel des
zweiten Pferdes in der Hand. Er konnte zwei Schatten erkennen, welche sich
über den hellen Schnee bewegten. Keinen Zweifel, das waren Soldaten und sie
kamen hier her. Er wusste nicht, wie viele sich noch im Dorf befanden, doch
wenn er nicht sterben wollte, wenn er nicht wollte, dass seine Herrschaften
starben, mussten sie einen Flucht riskieren. „Fräulein Marie, sitzen sie
auf, Fräulein Helen, setzen sie sich hinter Fräulein Marie. Die Tür ist hoch
genug, wenn sie sich dicht über den Hals des Tieres beugen, werden sie durch
die Tür kommen. Nehmen sie den Weg am Hühnerstall vorbei, der führt vom Ort
weg, ich folge ihnen.“ Helen nahm Maries Hand, mit der anderen hielt sie
die Zügel. „Es wird gut gehen.“, versuchte sie sich und ihrer Freundin Mut
zu zu sprechen. Sie half Marie auf den Rücken des Tieres und stieg dann
ebenfalls auf. Das Pferd schnaubte einmal als es das Gewicht der jungen
Frauen auf seinem Rücken spürte, ließ sich aber von Helen schnell wieder
beruhigen. Vorsichtig öffnete Der Kutscher die Hintertür, spähte in den Hof
nach verdächtigen Schatten oder Bewegungen in der Dunkelheit, doch er konnte
nichts entdecken. Verlassen lag der Hof unter der Schneedecke und schien zu
schlummern. Der Kutscher hatte das Tier aus dem Haus geführt, da
erschütterte ein Schuss die Stille. Das Tier bäumte sich auf vor Schreck und
preschte davon. Die jungen Frauen verloren beinahe das Gleichgewicht, ihre
Oberkörper ruckten nach hinten, als das Pferd sich so ruckartig in Bewegung
setzte. Dann ein zweiter Schuss. Helen griff blind nach den Zügeln, beugte
sich wieder über den als des Pferdes und hielt Maries Körper so ebenfalls
auf dem Pferd. Sie wusste nicht, ob der Kutscher ihr folgte. Immer wieder
warf sie einen kurzen Blick nach hinten, doch sie konnte nichts erkennen.
Links und rechts flogen die Bäume an ihr vorbei, doch sie preschte weiter.
Erst nach einem schier endlosen Ritt verlangsamte sie das Tier und hielt
schließlich an. „Ich glaube sie verfolgen uns nicht, Marie. Doch ich
kann den Kutscher nirgendwo entdecken.“ Sie blickte sich um und schaute dann
auf ihre Freundin hinab. „Marie?“ Die junge Frau beugte sich noch immer
über den Hals des Pferdes, die beiden Arme um dessen Hals geschlungen.
„Meine Brust …... sie tut weh …....“, hörte Helen sie schwach. Sofort
sprang sie vom Pferd und zog ihre Freundin dann ebenfalls hinab. Ihr stockte
der Atem. Auf der Brust der jungen Frau breitete sich ein großer, tiefroter
Fleck aus. „Marie …. oh nein …... wie …..“ Helen schluchzte. „Wir sind
ihnen ….. entkommen …..... oder?“ Maries Atem rasselte. „Das sind wir.“
Tränen sammelten sich in Helens Augen und strömten über ihre Wangen.
„Sie ….... werden uns ….. nicht ….“ Marie hustete und ein dünnes Rinnsal aus
Blut lief aus ihrem Mund. „Nein. Sie werden uns nichts tun.“ Helen
erzitterte, unfähig ihrer Freundin zu helfen. „..... frierst …....“,
lächelnd schaute Marie hinauf. Mit einer fahrigen Bewegung zog sie sich
ihren Schal von den Schultern und reichte ihn Helen. Schluchzer
erschütterten Helens Körper. Sie nahm Maries Hand in ihre und küsste sanft
die Fingerspitzen. „Geh nicht …...“ Ihre Worte erstickten in einem weiteren
Schluchzen. „ ….. gehe …...... vor …......“ Marie hob die Hand und
strich Helen eine Träne von der Wange „Werden uns ….... wieder sehen ….....
ich …...... werde warten …......“ Helen zog Marie an sich und vergrub das
Gesicht in ihrer Halsbeuge. „Liebe ….. dich …....“, flüsterte Marie in
Helens Haar und schloss die Augen. Ein Lächeln lag auf ihren Lippen und der
erste Sonnenstrahl des neuen Morgens fiel durch die kahlen Zweige der Bäume
auf die beiden Frauen.
Die alte Dame zog den Schal enger um sich und
blickte wieder nach draußen. Der Garten lag nun wieder verlassen vor ihr und
die Sonne versank langsam im Westen hinter den Bäumen. Mit einer Hand
strich sie über den kleinen dunkleren Teil des Stoffes, direkt über ihrem
Herzen. Ein wehmütiges Lächeln lag auf ihrem Gesicht und ihr Blick schweifte
in den Himmel. Der Abendstern zeigte sich hinter den Wolken, zwei Meisen
landeten auf dem Geländer der Terrasse angelockt von den Körnern, welche die
Kinder am Nachmittag auf dem Schnee verteilt haben. „Bald schon sehe ich
dich wieder, Marie.“, flüsterte sie leise und blickte lächelnd auf die
beiden Vögel. „Nur noch eine kleine Weile …..“
Anna Maske
Geschlüpft im
April 1984 und aufgewachsen in der schönen Mecklenburgischen Schweiz.
Liest, schreibt
und zeichnet gerne und holt momentan ihr Abi in Wiesbaden nach. Der Traum ist
die Veröffentlichung ihrer Bücher und vielleicht sogar ein eigener Buchladen.
Ihre Lieblingsfarbe ist Preussisch-Blau und am liebsten würde sie nach
Schottland, Irland, Neuseeland und Japan reisen. 2 Ratten und 2 Hasen wohnen
mit ihr zusammen in ihrer Wohnung in Wiesbaden, sie liebt Chai Tee und Chai
Latte und findet es unheimlich entspannend auf ihrem Super Nintendo alte
Spieleklassiker zu zocken. Außerdem baut sie in ihrer Freizeit Cosplay- und
LARP-Waffen und wenn sie könnte, würde sie gar nicht mehr schlafen um all
ihren Hobbys frönen können.
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