"Eispalast" von Tanja Meurer

(Genre: Mystery)

 

Mir träumte, ich wandelte allein in einem Palast aus Eis. Die Säulen, die eine kaum zu ermessende Kuppeldecke trugen, glichen Wasserfonthainen - erstarrt schon vor Jahrhunderten. Fein ziseliert, wie das Gerippe gotischer Kapellen, schwangen sie sich hinauf, bis sie sich unter der Dachkonstrukt in weichen Bögen trafen. Der Saal, den ich durchschritt, hatte etwas Heiliges. Für einen Moment dachte ich darüber nach, wie viele vor mir diesen Ort gesehen hatten und hier verweilten. Einen Herzschlag später schalt ich mich eine Närrin, denn dies war mein Traum. Niemand außer mir konnte diesen Palast betreten.


Ich breitete die Arme aus und spreizte die Finger. Langsam legte ich den Kopf in den Nacken und betrachtete den Himmel, die Eisnacht und den klaren Mond, der sich voll und hell über der Kuppel erhob. Sterne funkelten wie winzige Seelenlichter, als unterhielten sie sich untereinander in einer stummen Sprache über mich. Ich lächelte.
So war ich doch nicht vollkommen allein an dem Ort meiner Träume, sondern wohl behütet von diesen freundlichen, fernen Lebensfunken.
Ich senkte die Lider und verschloss das Bild tief in meinem Herzen. Der Widerhall des Gefühls, das sie in mir auslösten, spann eine lautlose Melodie, die mich ergriff, mich wärmte und jede Faser meines Körpers durchflutete. Langsam begann ich mich zu bewegen, drehte mich zu dem stummen Gesang der Sterne, lauschte ihnen und ließ den Frieden ihrer schweigenden Stimmen in mein Herz. Der Tanz bewegte meine nackten Füße leicht über den eisglatten Boden. Traumwandlerisch sicher, schneller und schneller wirbelte ich durch den Raum, ohne auch nur eine Säule zu berühren. Die Leichtigkeit, die mich trug, machte mich glauben zu fliegen. Selten fühlte ich mich freier als in diesem Moment. Es war meine Freiheit, fern aller grausamen Wirklichkeit zu sein. Ich schlug die Augen auf und sah mich unter kristallenen Lüstern entlang wirbeln. Sie verwuschen zu farbig kalten Schemen unter der weiten Kuppel. Zugleich flackerte kühlendes Licht in ihnen auf und fing sich in den unendlichen Facetten ihrer Kristalle, die leise gegeneinander schlugen.
Mit jedem klirren glaubte ich etwas wie feine Schneeflocken herab sinken zu sehen. Neugierig hielt ich inne in meinem Tanz und verharrte schwer atmend. Mir war nicht schwindelig. Aber das war ein Traum. Warum sollte ich mich drüber wundern?
Die tanzenden Flocken fanden wieder meine Aufmerksamkeit. Woher sie kamen war mir nicht klar. Ich hob den Blick. Die Decke war vollkommen unversehrt.
Eine der Flocken tanzte vorwitzig vor meinem Gesicht auf und ab, ließ sich dann auf meiner Wange nieder und stieg sofort, von der Hitze meines Körpers verschreckt, wieder auf, um sich fern von mir in ein winziges, bizarre Wesen zu verändern, dass wenig Ähnlichkeit mit einem Eiskristall hatte, aber nicht weniger kalt war. Für einen Herzschlag glühte es hell auf, stark, als sei es ein Stern, nur um dann zu verlöschen und wie Asche zu Boden zu sinken. Erschrocken sah ich hinab und glaubte, etwas Furchtbares getan zu haben. Hatte ich ein Leben genommen und etwas unsterbliches sterblich gemacht? Als ich den Blick schuldbewusst hob, sah ich, wie sie herab glitten, um einem verlorenen Freund Tribut zu zollen, nur um dann schnell wie ein Gedanke, aufzusteigen. Erneut irrten sie in wildem Tanz um die Kristalle der Kronleuchter.


Einige Zeit beobachtete ich sie reglos. Das Herz wurde mir schwer. Zu gerne hätte ich ihnen verständlich gemacht, dass ich kein Leben auslöschen wollte. Aber sie kamen mir nicht mehr nahe und ihr Widerwille gegen mich, die Lebende, deren Wärme den Tod brachte, schien nun stärker zu sein. Schließlich verloren sie sich in der unendlich weiten Dunkelheit des Palastes. Ich sah ihnen nach. Plötzlich schienen Wärme und Leben zu weichen. Einzig mein verwehender Atem schien ihnen folgen zu wollen, bis er an Kraft verlor und sich in eine feine Dunstwolke auflöste.
Allein und frierend stand ich da, fern von dem Ort, den ich mir als solch schönen Eispalast erträumt hatte, dennoch mitten in seinem Herz. Aber ich war hier nicht mehr willkommen.


Etwas erwachte! Es schlich am Rande meiner Wahrnehmung entlang und verwandelte die Eiswelt zu etwas Unheimlichen, Seelenlosen. Fast schien es mir, als habe diese stumme, gewaltige Bestie hier auf mich gelauert.


Licht und Leben waren Gewichen, die Wirklichkeit erwachte kalt und unbarmherzig, tastete mit ihren langen Spinnenfingern nach mir und ergriff einen winzigen Teil meiner Seele, um sie zu gefrieren. Sie starb ab, zerfiel, wie der winzige Seelenstern, der sich an mir verbrannte. Entsetzt wich ich zurück, sah mich nach der Bestie um, durchstreifte den Saal mit meinen Blicken, um zu sehen, um einen Fluchtpunkt zu finden. Da war nichts! Die Säulen, die erloschenen Lüster, die Eiskuppel und der Boden. Dann bemerkte ich es!
Die Schatten, deren Tiefe greifbar war, verdichteten sich zu etwas Stofflichem.
Ich spürte Gefahr, erahnte das Nahen einer unsagbar dunklen und kalten Entität, konnte aber nicht fort. Der Ort hielt mich und zwang mich in einen Dämmerzustand völliger Hilflosigkeit und Starre.
Teilnahmslosigkeit überflutete mich und ließ mein Herz ermatten. Alle Angst verschloss sich tief in mir zu einer qualvollen Erinnerung.
Schwach senkte ich den Blick. Vor meinen Augen bewegte sich etwas in den Mustern der Fliesen unter meinen Füßen. Es schien irgendeinen Sinn zu ergeben, aber ich konnte ihn nicht erfassen. Jeder Anflug geringen Widerstrebens erstickte. Alle Logik versank in einem matten Sumpf dunkler Nebel.
Langsam löste ich meinen Blick von dem Boden und starrte in die Dunkelheit. Sie zog sich zu etwas Stofflichem zusammen und spie unsichtbare Gegner aus, die ich nur in der Lage war auf einer sehr fahlen Gefühlsebene wahr zu nehmen.


Erneut strengte ich mich an, meinen Körper und meinen Geist wieder unter meine Kontrolle zu zwingen, doch gelang es mir nicht. Ich konnte nicht einmal mehr die Nacht mit meinen Augen durchdringen. Die Lösung dieses Geheimnisses gerann zu Desinteresse und schließlich zu einer für mich völlig irrelevanten Nichtigkeit. Viel mehr interessierte sich mein Verstand für einen Schatten in den Schatten, der dunkler, dunstiger und unstofflicher war als der Rest.
Wieder kniff ich die Augen zusammen und konzentrierte mich.
Vage vermutete ich eine nebulöse Person auf dem Boden, etwas, dass sich auf der Eisfläche klein zusammengekauert hatte. Es war ein Körper, aber er verschmolz fast mit der trügerischen Pracht des Palastes und seinen dunklen Häschern, den Schatten.


Wie von allein begann ich mich zu bewegen, schritt langsam näher heran, ohne jedoch an mein Ziel zu gelangen. Aber das war mir egal. Wie schon zuvor legte sich lähmende Gleichgültigkeit über mein Gemüt. Meine Aufmerksamkeit reichte kurzzeitig nicht einmal dazu aus, sich darüber zu ärgern, geschweige einen Anflug Angst zu erleben. Dafür nahm ich wahr, wie mein warmer Atem vor meinem Gesicht kondensierte und in der Luft hängen blieb. Nebulös wogte er, wurde dichter bei jedem Mal, wenn ich meine Lungen gefüllt hatte und die Luft ausstieß.
Meine Sicht schränkte sich zunehmend ein. Die Kraft rann aus mir, aktiv von mir gesteuert. Starb ich?
Ich blieb stehen, unfähig Schrecken darüber zu empfinden. Mein Geist war wach und ich konnte die Gefühle vom logischen Standpunkt nachvollziehen, aber nicht mehr empfinden. Eigentlich hätte mich Panik ergreifen müssen, aber nichts geschah. Ich wusste, dass ich besser den Versuch machen sollte, zu erwachen, oder zumindest zu fliehen, doch ich wollte es nicht.
Ruhig blieb ich stehen. Ich schloss die Augen. Vielleicht klärten sich meine Sicht und auch mein Verstand, wenn ich nach meinem inneren Fokus suchte.
Eine schwache Erinnerung von Nervosität berührte mich kurz, nur um sofort wieder zu verschwinden. Es gab in mir keinen Ruhepunkt mehr, keine Angst, keine Sorge, nur noch gefühllose Gedanken und Erinnerungen, die bedeutungslos und fremd waren.
Ein eisiger Hauch, den ein fremder Körper ausstrahlte, berührte meine Haut, streifte mein Haar und meine Wange. Ein leichter Schauer durchlief mich, aber es hatte nichts mit Furcht zu tun, sondern mit einer fremdartigen Form von Erwartung.
Langsam hob ich die Lider.
Dicht hinter mir spürte ich eine andere Person. Sie war mir so nah, dass ihre Anwesenheit fast einer Berührung gleich kam. Ich glaubte, sie lege ihre Finger auf meinen Schultern, meinem Rücken, doch sie hielt immer einen geringen Abstand ein. Meine Nackenhaare richteten sich auf. Doch wieder erwachte meine Angst nicht. Gelähmt verharrte ich.


Ein mir fremdes Bewusstsein tastete in meiner Seele, zwang sich mir auf, bizarr und kalt wie der Einspalast. Vielleicht begegnete ich hier dem Geschöpf, das diesen uralten Ort sein Heim nannte. Mir war nun klar, dass es sein Terrain war, nicht das meine. War es überhaupt mein eigener Traum?
Ich spürte, wie mir dieser Gedanke entglitt und zerrann. Etwas geschah mit mir. Dieses Wesen, gleich was es war, besaß die Macht der Gleichgültigkeit. Es schwächte mich nicht, nahm mir nichts Lebenswichtiges, und dennoch das, was mich ausmachte.
Schwach wallte etwas wie Widerwille in mir auf, versank dann aber im Nichts.
Ich fühlte die Kälte, die mich die ganze Zeit verschont hatte, in meinem Inneren, in meiner Seele, oder eher dort, wo sie einst gesessen haben mochte.
Es war mir gleich.
Plötzlich berührten mich Hände, starke, schlanke Finger umschlossen meine Oberarme und hielten mich mit erbarmungsloser Gewalt fest in ihrem Griff.
In dieser Sekunde erwachte ich aus meiner Teilnahmslosigkeit. Beseelt von glühender Panik, die aus der Angst um mein jämmerliches Leben herrührte, stemmte ich mich gegen das Wesen und stolperte haltlos nach vorne, als es mich unvermittelt los ließ.
Ich fuhr herum, wobei ich mich auf etwas unbeschreiblich Grauenhaftes gefasst machte. Wieder versuchte ich mir Angst einzureden. Ich mich auf Flucht oder Kampf gefasst, fand aber nichts Schreckliches. Reglos verharrte ich in dem Griff einer großen, schlanken Frau, deren Gesicht alterslos war, herb und schön. Ihre Augen betrachteten mich in tiefer Schwermut. Sie waren dunkel, wie die Nacht und aus ihrem langen, hellen Haar rieselten die winzigen, glühenden Schneeflockenseelen und umtanzten sie wie sie es zuvor mit mir taten.
Ihre Lippen pressten sich bitter aufeinander, doch ihr Blick haftete auf eine beunruhigende Art gelassen auf mir.
Sie schien das Universum in all seiner Unendlichkeit in sich zu tragen. Fraglos war sie ein machtvolles Geschöpf, das hier sein Heim hatte, aber zugleich auch gefangen war.
Ich empfand kein Mitleid mehr. Dieser Gefühle hatte sie mich beraubt.
Ich wusste wohl, dass sie mir die Seele lautlos und schleichend die Seele raubte. Für was? Weil ich eines ihrer Lichtgeschöpfe zerstört hatte?
„Warum?“, fragte ich nur leise.
Sie deutete auf einen Punkt hinter mir.
„Sieh selbst“, befahl sie mit dunkler Eisstimme.
Langsam, ruhig, wendete ich mich um und erkannte meinen Fehler. Sie wollte keine Rache. Vielleicht hatte ich eine Seele zerstört, die ihr gehörte. Aber das war gleichgültig. Sie richtete nicht über meine Taten. Sie war neutral und frei von allen Gefühlen. Ihre Aufgabe erschien mir nun so einfach, klar und so logisch.
Es lag eine seltsame Klarheit in der Erkenntnis, als ich in den gefrorenen Nebeln, meinen Leichnam auf dem Boden der Ruine liegen sah, den ich einst mein Heim nannte.
Es schien mir, al
s sei der Körper fast noch im erschöpfenden Schlummer gefangen. Dennoch fand ich mich erlegt von einem Wesen, dass mir - wie ein Vampir - Leben und Seele raubte. Sie tat es nur sanfter und stiller.
Hier her hatte ich mich geflüchtet.
Ich war an dem Ort meiner Erinnerungen eingeschlafen und erfroren, um nun, wie sie, am Rande der Nacht, in dem Eispalast, auf meine Opfer zu lauern und ihnen fern des Lebens, Atem und Seele zu rauben.

 


 

Tanja Meurer:

 

Tanja Meurer, geboren 1973, in Wiesbaden, ist gelernte Bauzeichnerin aus dem Hochbau und arbeitet seit 2001 in bauverwandten Berufen und ist seit 2004 bei einem französischen Großkonzern als Dokumentationsassistenz beschäftigt. Nebenberuflich arbeitet sie als Illustrator für verschiedene Verlage.

Tanja Meurer über sich selbst:

Als Tochter einer Graphikerin und Malerin blieb es nicht aus, dass ich schon sehr früh mit Kunst in Berührung kam, weshalb ich auch seit 1997 nebenberuflich als Illustratorin arbeite.
Seit meiner Kinderzeit schreibe ich auch. Mit 8 Jahren kamen die ersten – zugegeben sehr lächerlichen – Krimis zustande. Während der Schulzeit habe ich das erste Mal eine Geschichte für den Verkauf in der Schule auf PC geschrieben.
1997 kam die erste Kurzgeschichte in einem Fantasy-Magazin heraus und vier Jahre später weitere.
2007, 2009 und 2010 gewann ich drei Ausschreibungen, wobei die Kurzgeschichten und –Romane bei Kleinverlagen erschienen.

Die stärksten Einflüsse kommen bei mir durch Autoren wie E.T.A. Hoffmann, Oscar Wilde, Hermann Hesse und Neil Gaiman.

Mehr über mich findet ihr unter:
www.tanja-meurer.de