Girls Love Adventskalender
*
24.12.2010 *
"O
Tannebaum" von Andrea Bottlinger
mit
der Illustration "Baumherz" von Tanja Meurer
(Genre:
Fantasy, Romance, Drama)
Die
Frau saß auf der obersten Treppenstufe, umweht von dem Duft frischen Gebäcks,
der aus einer der Wohnungen drang. Sie hatte den Kopf in die Hände gestützt,
und ihr langes, braunes Haar war in einem dichten Vorhang nach vorn gefallen.
Zwischen dem hohen Geländer auf der einen und der sterilweißen Wand auf der
anderen Seite wirkte sie klein. Klein und verloren.
Die
Frau hob den Kopf, als Ronja die Treppe erklomm, und ein schmales Gesicht kam
zum Vorschein, blass und zerbrechlich wie Porzellan. Grüne Augen schienen
direkt in ihre Seele zu schauen und dort etwas zu suchen.
Angesichts
dieses Blicks blieb Ronja stehen, noch immer einige Stufen von der Frau
entfernt. Nervös rückte sie ihre Tasche zurecht und rieb sich die von der
Winterkälte klammen Finger. „Geht es Ihnen nicht gut?“
Was
für einen Grund gab es sonst, im Treppenhaus zu sitzen? Hatte die Frau sich
ausgesperrt? Ronja war sich nicht sicher, sie überhaupt je zuvor im Haus
gesehen zu haben. Doch das mochte nichts bedeuten. Einige der Mieter blieben
gern für sich.
Die
Intensität des grünen Blicks brach, als er sich nach innen richtete. Für
einen Moment schien sie auf etwas zu lauschen. „Ich ... bin mir nicht
sicher.“
Ronja
ging die letzten Stufen hinauf, hockte sich neben der Frau nieder. „Kann ich
irgendetwas für Sie tun? Einen Arzt rufen? Wohnen Sie hier?“
Die
Frau schüttelte den Kopf. „Kein Arzt. Aber ein Schluck Wasser
vielleicht.“
„Gern.
Kommen Sie.“ Ronja erhob sich und streckte die Hand aus. Kühle Finger
schoben sich in ihre.
Die
Frau saß in Ronjas Küche, den Blick fest auf den Adventskranz gerichtet, der
vergeblich versuchte, Weihnachtsstimmung zu verbreiten. Ronja hatte ihn in der
Hoffnung gekauft, er könne ihre Einsamkeit vertreiben, doch er machte sie nur
schlimmer. Mehrmals war sie kurz davor gewesen, das Ding wegzuwerfen.
Die
Frau hieß Li, oder so ähnlich, mehr hatte Ronja ihr nicht entlocken können.
Sie leerte Wasserglas um Wasserglas, und mit jedem Schluck blitzte mehr Leben
in ihren Augen. Sie lächelte, wirkte nun nicht mehr klein und schon gar nicht
verloren. Sie erhob sich, kam mit wiegenden Schritten auf Ronja zu. Ganz im
Bann der grünen Augen ließ die zu, dass Li ihr Gesicht in die Hände nahm.
„Nun
erinnere ich mich wieder, wo ich hingehöre. Ich danke dir für das Wasser.“
Die Frau beugte sich vor, und ein flüchtiger Kuss streifte Ronjas Lippen.
Dann war sie fort. Nur ein leichter Duft nach Tannennadeln blieb zurück.
Für
einen Moment regte Ronja sich nicht, zu überrumpelt von dem, was soeben
geschehen war. Schließlich schüttelte sie den Kopf, um ihn zu klären.
Dieser Tagtraum war erschreckend real gewesen.
Sie
setzte sich an den Küchentisch, steckte drei der Kerzen des Adventskranzes
an. Ihre Mutter hatte die Vorweihnachtszeit geliebt. Doch sie selbst fühlte
nichts, während sie in die Flammen starrte. Nur der flüchtige Kuss prickelte
noch auf ihren Lippen.
*
Es
war nun über ein Jahr her, dass der Lkw das Auto gerammt hatte, in dem ihre
Eltern und ihr Bruder gesessen hatten. Das erste Weihnachten nach dem Unfall
war die Hölle gewesen. Das zweite würde vor allem einsam werden. All ihre
Freunde verbrachten diese Zeit mit ihrer Familie. Nur sie hatte keine mehr.
Mit
einem dumpfen Plumpsen landete der Adventskranz in der Mülltonne, und Ronja
strich sie Tannennadeln von den Händen, erleichtert, diese Last losgeworden
zu sein. Mit dem Adventskranz verschwand auch das Gefühl, sie wäre in
irgendeiner Weise verpflichtet, während der Feiertage glücklich zu sein. Sie
wandte sich ab, stapfte durch den Schnee zurück zur Haustür.
Bibbernd
rannte Ronja die Treppe wieder hinauf. Für den kurzen Weg zur Mülltonne
hatte sie keine Jacke angezogen. Nun atmete sie erleichtert auf, als sie
wieder in ihre warme Wohnung trat. Eilig schloss sie die Tür hinter sich und
sperrte die Kälte aus.
Sie
streifte die Schuhe ab, hielt dann jedoch mitten in der Bewegung inne und
legte lauschend den Kopf schief. Lief da nicht Wasser in der Küche? Ronja
runzelte die Stirn. Es konnte doch nicht sein, dass sie vergessen hatte, den
Hahn zuzudrehen?
Schnell
kickte sie ihre Schuhe beiseite und durchquerte den Flur. Auf der Schwelle zur
Küche hielt sie überrascht inne. „Li?“
Li
wandte sich zur ihr um, noch blasser als am vergangenen Tag, doch ihre grünen
Augen strahlten. Zum ersten Mal nahm Ronja die Kleidung der Frau bewusst wahr.
Fließendes Grün, das sich mit den Kaskaden des braunen Haars zu vermischen
schien und jeder Bewegung eine besondere Eleganz verlieh. Ein Ärmel rutsche
bis zum Ellenbogen, als Li einen Schluck aus dem Wasserglas in ihrer Hand
nahm. Dann deutete sie in Richtung Tisch. „Es freut mich, dass du die
makabere Sammlung losgeworden bist.“
Ronja
blinzelte, brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass Li von dem
Adventskranz sprach. „Du bist ein seltsamer Tagtraum.“
„Ein
Traum? Wirke ich wie ein Traum?“ Sie leerte ihr Glas in einem Zug, und ihre
Augen erstrahlten wie Smaragde. Mit wenigen Schritten war sie bei Ronja. Ihre
kühlen Finger strichen über deren Wange und den Hals hinunter, hinterließen
eine prickelnde Spur auf ihrer Haut. „Fühlt sich das an wie ein Traum?“
Ronja
schluckte. Ein Teil von ihr wollte sich der Berührung entgegenlehnen, doch
der Rest ihres Bewusstseins war mit der Frage beschäftigt, was hier
eigentlich vor sich ging. „Wenn du kein Traum wärst, müsste ich mir
Gedanken machen, wie du hier hereingekommen bist.“
Ein
Lächeln huschte über Lis Züge. „Du hast mich eingeladen.“ Sie trat noch
einen halben Schritt näher und der Geruch von Tannennadeln stieg Ronja in die
Nase.
Sie
schüttelte den Kopf, um ihn zu klären und um zu verneinen. „Das war
letztes Mal. Bevor du einfach so ...“ Bevor sie verschwunden war, direkt
nach dem Kuss.
Als
hätte Li ihre Gedanken gelesen, beugte sie sich vor, eine Hand in Ronjas
Nacken. Doch diesmal widerstand diese dem Bann der grünen Augen, wich zurück.
Die Hand glitt an ihrem Hals entlang und fiel hinab.
„Wenn
du kein Tagtraum bist, was bist du dann?“
„Einsam,
genau wie du.“
„Das
war nicht, was ich wissen wollte.“ Ronja verschränkte die Arme vor der
Brust, als wäre es möglich, so eine Barriere zwischen ihnen zu errichten.
Sie spürte noch immer den Nachhall von Lis Berührung, doch gleichzeitig war
ihr das Wesen, das da in ihrer Küche stand, nicht ganz geheuer. „Normale
Menschen lösen sich nicht einfach in Luft auf, wie du es getan hast. Wenn du
also kein Traum bist ...“ Sie stockte. Wollte sie das wirklich aussprechen?
Doch was machte es schon? Es war niemand da, der sie deswegen für verrückt
halten würde. „Wenn du kein Traum bist, dann bist du vielleicht ein
Geist?“ Allein der Gedanke jagte ihr einen Schauer den Rücken hinunter.
Schnell schüttelte sie den Kopf. „Oder ein Traum, der leugnet ein Traum zu
sein.“
Li
seufzte. Für einen Moment wirkte sie, als wolle sie erneut die Hand
ausstrecken. Doch sie schien es sich anders zu überlegen, änderte die
Richtung der Bewegung und wickelte eine braune Haarsträhne um ihren Finger.
In ihren Augen blitzte so etwas wie eine Herausforderung. „Würdest du mir
glauben, wenn ich sage, dass ich eine Dryade bin? Oder würdest du mich als
einen Traum bezeichnen, der behauptet eine Dryade zu sein?“
Vielleicht
hatte Li recht. Ronjas Träume waren sonst zumindest nie so sarkastisch. Und
es fühlte sich alles viel zu echt an. Noch immer prickelte ihre Haut dort, wo
ihr seltsamer Gast sie berührt hatte. Nicht unangenehm. Alles andere als
unangenehm.
Eine
Dryade also ...
„Das
ist so eine Art Baumgeist, oder?“ Unwillkürlich sah Ronja sich um. Ihr
Blick blieb an dem Kaktus auf der Fensterbank hängen. „Von was für einem
Baum?“
Ein
helles Lachen perlte durch den Raum, als Li ihrem Blick folgte. Doch dann
wurde ihre Miene ernst. Erneut trat sie näher, und diesmal wich Ronja nicht
zurück. Die Hände der Dryade ergriffen die ihren, und grüne Augen sahen sie
bittend an. „Frag mich nicht nach Dingen, an die ich nicht denken will. Ich
bin hergekommen, um meine Einsamkeit für eine Weile zu vergessen. Erlaubst du
mir, dass ich bleibe?“
Die
Bitte war so direkt, so ehrlich, dass Ronja nicht anders konnte als zu nicken.
Erst im nächsten Moment kam ihr eine Frage in den Sinn. „Ähm ... was
willst du denn hier t...?“
Ein
Kuss schnitt den Rest ihrer Worte ab. Er war vorsichtig, beinahe ebenso flüchtig
wie der am Tag zuvor, als fürchte Li, sie zu erschrecken. Ronja erwiderte
ihn, bevor sie wusste, was sie tat.
Erstaunlich
starke Arme umfingen sie, sie spürte Lis schlanken Körper dicht an ihrem, spürte
wie ihr Herzschlag sich beschleunigte. Atemlos trennten sie sich nach einer
Weile wieder. Für einen Moment schien der Boden unter Ronja zu schwanken. Sie
fühlte sich schwindelig, als wäre die Luft zu dünn zum Atmen. Erneut schüttelte
sie den Kopf, um ihn zu klären. Mit einem Mal, war sie sich nicht mehr so
sicher, ob es klug war, was sie da tat.
Ronja
wich einen Schritt zurück, erleichtert darüber, dass Li nicht versuchte sie
festzuhalten. Doch im selben Moment spürte sie die Tischkante im Rücken und
ihre Erleichterung verebbte so schnell wieder, wie sie gekommen war. „Ich
glaube, ich stelle mich gerade nicht sonderlich schlau an. Ich weiß nicht
mal, ob Dryaden Menschen allgemein freundlich gesinnt sind. Es gibt ziemlich
viele Geschichten, in denen es heißt, dass man sich vor verführerischen übernatürlichen
Wesen in Acht nehmen soll.“
„Verführerisch?
Das war ein Kompliment, oder nicht?“ In Lis Augen blitzte es schelmisch.
Dann jedoch wurde ihre Miene ernster. „Du hast mir Wasser gegeben und mich
in dein Heim eingeladen. Ich bin dir sehr dankbar und würde dir nie etwas
tun.“ Langsam streckte sie eine Hand aus, wie man es bei einem scheuen Tier
tun würde. „Bitte, hab keine Angst vor mir.“
So
verharrte sie, den Arm halb erhoben, wartend, während Ronja zögerte. Mit
einem Mal war da wieder ein Anflug der Verlorenheit, die Li im Treppenhaus
umgeben hatte. Ein schlechtes Gewissen durchzuckte Ronja, und sie nahm die
ausgestreckte Hand, streichelte die kühlen Finger. „Es tut mir leid, du
verwirrst mich einfach.“
„Du
hast schon recht, vorsichtig zu sein. Es gibt Wesen, die ein Mensch nicht über
die eigene Schwelle bitten sollte.“ Li streckte nun auch die zweite Hand
aus, zog Ronja wieder zu sich. Irrte sie sich, oder hatte das Haar der Dryade
eine leicht grünliche Färbung angenommen, war kaum mehr von ihrem Gewand zu
unterscheiden?
„Aber
du bist keines davon?“
„Nein.
Ich war nur zu lange allein. Es gibt nicht mehr viele von uns, und von den
Menschen, die mich hier umgeben, hat sonst keiner ein so großes Herz wie
du.“
Ronja
kicherte nervös, wehrte sich aber nicht, als Li erneut die Arme um sie legte.
Es war nichts Bedrohliches an dieser Geste. „Ich wusste nicht, dass ich ein
besonders großes Herz habe.“
„Denkst
du, jeder hätte eine verwirrte Frau im Treppenhaus aufgelesen? Und dein Herz
hat zuerst gesprochen, als du mich zum Bleiben aufgefordert hast. Erst danach
ist dein Verstand zu Wort gekommen.“ Grüne Augen fingen Ronjas Blick.
„Ihm sage ich nun, was dein Herz längst weiß: Ich werde nichts tun, was du
nicht willst.“
Die
Ernsthaftigkeit der Worte ließ Ronja lächeln. Ihre Nervosität schmolz
dahin, und fand den Mut, sich in Lis Umarmung zu schmiegen. Sie atmete den
Duft von Tannennadeln, es gab keinen Grund, sich nicht sicher zu fühlen.
„Du wusstest nicht, ob ich geküsst werden wollte.“
„Du
hättest mir sagen können, ich soll es lassen.“ Ronja spürte den Atem der
Dryade auf ihrer Wange. Eine Hand wanderte hinauf zu ihrer Schulter, strich
ihr Haar beiseite. „Ein Wort und ich höre auf, ein weiteres und ich lasse
dich allein. Doch bis dahin genieße ich deine Nähe.“
Li
senkte den Kopf. Ihre Lippen fanden Ronjas Hals, wanderten daran hinab und
sandten sanfte Schauer ihren Rücken hinunter. Wie von selbst reckte Ronja das
Kinn in die Höhe, als die Dryade ihre Kehle küsste, alle Bedenken dahin. Li
lachte, leise und doch voller tiefempfundener Freude, als ihre Gastgeberin
sich enger an sich schmiegte. Ihre Umarmung wurde fester, besitzergreifender.
Erneut blickte Ronja in grüne Augen. „Soll ich aufhören?“ Es lag ein
neckender Tonfall in Lis Stimme.
„Wag
es ja nicht.“ Ronja beugte sich nun ihrerseits vor, um einen Kuss zu
ergattern, fühlte eine kühle Hand unter ihren Pulli gleiten. Die Dryade drängte
sie nach hinten, und wieder spürte sie die Tischkante im Rücken. Doch
diesmal machte sie sich keine Sorgen. Es spielte auch keine Rolle, ob dies ein
Traum war oder nicht, ob Li tatsächlich war, was zu sein sie behauptete. Es zählte
allein, dass die Einsamkeit dahinschmolz, die seit Tagen an ihr nagte. Dass
sie nicht mehr an Weihnachten denken musste und daran, mit wem sie dieses Fest
eigentlich verbringen sollte. Es gab nur noch Lis Lippen, ihre Zunge und ihre
Hände, die sich anschickten, jeden Zentimeter von Ronjas Körpers zu
erkunden.
Schließlich
lagen sie eng umschlungen in Ronjas Bett, erschöpft und zufrieden. Es war Li,
die als erste die Umarmung löste. Inzwischen hatte ihr Haar die Farbe ihrer
Augen, und raue Stellen, wie Baumrinde, bildeten Muster auf ihrer Haut. Ronja
allerdings fühlte sich viel zu wohl, um sich daran zu stören.
Dennoch
runzelte sie die Stirn, während sie zusah, wie Li aus dem Bett stieg. Dort,
wo die Haut der Dryade noch vollkommen menschlich war, schien sie so dünn,
dass die Adern blau darunter schimmerten. Lis Augen leuchteten nicht mehr,
waren nur noch von einem matten Grün. Sie lächelte schwach. „Ich muss
gehen.“
Ronja
setzte sich auf, die Decke verrutschte und kühle Zimmerluft strich über ihre
nackte Haut. „Warte. Was ist mit dir? Du siehst nicht ...“
Li
legte einen Finger auf ihre Lippen, schüttelte den Kopf. „Bis bald.“ Dann
war sie fort.
*
Eine
Nacht verging voller Sorge. Li hatte krank und erschöpft gewirkt. Irgendetwas
war nicht in Ordnung, und Ronja konnte nur hoffen, dass es ihr gut ging. Sie
hatte die Dryade in so kurzer Zeit so fest in ihr Herz geschlossen, dass die
Ungewissheit sie schier zu zerreißen drohte. Sie wälzte sich in dem Bett hin
und her, das noch immer nach Tannennadeln roch, und fand keinen Schlaf.
Gleichzeitig
konnte Ronja nicht aufhören an das zu denken, was geschehen war. Es war nicht
ihre Art, sich so vollständig fallen zu lassen, wie sie es in Lis Armen getan
hatte. Es war auch nicht ihre Art, sich so überstürzt zu verlieben. Und doch
konnte sie sich die Gefühle, die sie plagten, nicht anders erklären.
Sie
konnte nicht lang geschlafen haben, als fröhliche Kinderschreie aus der
Nachbarwohnung sie weckten. Irgendjemand sang schief „O Tannebaum“, machte
mit Lautstärke wett, was ihm an musikalischem Talent fehlte.
Weihnachtsmorgen. Ronja stöhnte und presste sich das Kissen auf die Ohren.
Nach
einer Weile gab sie es auf, setzte sich mit einer Tasse Kaffee in die Küche.
Als plötzlich Finger durch ihr Haar strichen, zuckt sie zusammen und heiße
Flüssigkeit schwappte über den Tisch. Lis leises Lachen schwebte durch die Küche.
„So schreckhaft.“
Ronja
drehte sich nicht um, lehnte sich nur zurück, als die Dryade von hinten die
Arme um sie schlang. „Ich bin es nicht gewohnt, dass Leute aus dem Nichts
auftauchen.“
Li
schwieg, nur ihr Atem strich über Ronjas Wange. Nach einer Weile ließ sie
abrupt los, richtete sich auf. „Hast du etwas Wasser für mich?“
„Klar.“
Ronja stand auf, wandte sich um. Ihr Blick glitt über Lis Züge, und sie
runzelte besorgt die Stirn. Die grünen Augen waren matt, das ebenso grüne
Haar hing kraftlos über ihre nackten Schultern. An Kleidung schien die Dryade
keinen Gedanken verschwendet zu haben, doch selbst die rindenartigen Muster
auf ihrer Haut wirkten blass und farblos.
Ronja
öffnete den Mund, um eine Frage zu stellen, überlegte es sich dann jedoch
anders. Sie eilte zum Schrank, holte ein Glas hervor und füllte es mit Wasser
aus dem Hahn. Li trank gierig, und Ronja konnte förmlich dabei zusehen, wie
sie an Kraft gewann. Wie ein Funke Leben in ihre Augen zurückkehrte.
„Was
ist nur mit dir?“
Li
schüttelte den Kopf, hielt das Glas nun selbst unter den Hahn und leerte es
danach erneut. Als sie es senkte, lächelte sie. „Nun geht es mir wieder
gut.“
Sie
begegnete Ronjas skeptischem Blick beinahe trotzig. Dann trat sie einen
Schritt vor, gerade nah genug, damit Ronja die Wärme ihres Körpers durch den
dünnen Pyjama spüren konnte, den sie noch immer trug. Die Nähe weckte
Erinnerungen an den vergangenen Nachmittag. Sie räusperte sich.
„Ich
glaube nicht, dass es dir gut geht.“
„Wie
willst du das feststellen? Hast du gestern nicht gesagt, dass du so gut wie
nichts über Dryaden weißt?“ Lis Finger spielten mit dem Saum von Ronjas
Pyjamaoberteil, glitten unter den Stoff und strichen über nackte Haut. Ganz
offensichtlich hatte sie anderes im Sinn als reden. Doch Ronja wollte sich
nicht schon wieder von ihren Fragen abringen lassen. Sie tastete nach Lis
Handgelenk, hielt es fest.
„Ich
weiß, dass deine Augen gestern heller geleuchtet haben als heute.“
Ein
schmerzlicher Ausdruck huschte über die Züge der Dryade. Sie seufzte.
„Vielleicht hast du ein zu großes Herz, dass du so etwas bemerkst.“
„Sagst
du mir, was los ist?“
Wieder
seufzte Li. „Du kannst wahrscheinlich nicht noch ein wenig warten, bis ich
diese Frage beantworte?“ Ihre Fingerspitzen zeichneten Muster auf Ronjas
Haut.
„Nein,
ich kann meine Sorge nicht einfach vergessen, egal wie schön es mit dir
ist.“
Die
Dryade nickte, als hätte sie das bereits geahnt. „Wie du willst.“ Sie
atmete tief durch, und ihr Blick verschleierte sich, schien sich auf etwas zu
richten, das in weiter Ferne lag. Nun hatte der Schmerz einen festen Platz in
ihrer Miene gefunden. Als sie sprach war ihre Stimme leise und tonlos. „Du
hast mich gefragt, zu welchem Baum ich gehöre, dabei kennst du die Bräuche
der Menschen besser als ich. Du weißt, was für Bäume um diese Jahreszeit in
den Häusern stehen.“
Ronja
schluckte. Mit einem Mal war ihre Kehle wie zugeschnürt. „Bäume, die gefällt
wurden.“
Li
nickte. „Sterbende Bäume. Bunte Kugeln und Kerzen schmücken die Äste von
meinem. Es wäre schön, würde er nicht langsam vertrocknen. Und ich mit ihm,
egal wie viel Wasser ich hier trinke.“ Sie schlang die Arme um Ronjas Hüfte,
zog sie an sich. „Ich wollte noch ein paar schöne Stunden mir dir
verbringen, bevor ich es dir sage. Ich wollte dich gerne noch einmal küssen.“
„Du
kannst mich küssen so viel zu willst.“ Ihre Stimme war heiser, von Tränen
erstickt. Ronja schmeckte Salz, als ihre Lippen sich berührten, als Li sie an
sich drückte, als wäre sie ihr Anker im Sturm. Die Fingernägel der Dryade
gruben sich in ihren Rücken, doch Ronja spürte es kaum.
„Gibt
es irgendetwas, das ich tun kann, um dir zu helfen?“
Sie
spürte mehr, wie Li den Kopf schüttelte, als dass sie es sah.
„Der
Baum würde nicht wieder Wurzeln ziehen, wenn man ihn jetzt noch ins Wasser
stellt?“
Wieder
ein Kopfschütteln, diesmal allerdings begleitet von einem leisen Lachen.
„Und selbst wenn, würdest du wirklich deinen Nachbarn ihren Baum wegnehmen,
um mich zu retten?“
„Natürlich.“
Ronja schob Li ein Stück von sich weg, blickte in grüne Augen, in denen noch
immer ein amüsiertes Funkeln stand. „Das ist nicht lustig!“
„Nein,
ist es nicht. Aber es macht mich glücklicher, als du dir vorstellen
kannst.“ Wieder beugte die Dryade sich vor, und ihre Lippen berührten die
Ronjas. Was als sanfter Kuss begann, wurde schnell ungestümer, verzweifelter.
„Tust
du mir einen Gefallen?“, fragte Li nach einer Weile.
„Was
immer du willst.“
„Genieß
die nächsten Stunden.“
Es
wurden mehr als ein paar Stunden, beinahe ein ganzer Tag. Als sie zu erschöpft
waren, um sich zu lieben, lagen sie nebeneinander in Ronjas Bett, und Li erzählte
davon, wie es war, den Wind in den Blättern zu spüren und die Wurzeln tief
in den Boden zu graben. Von Ronja wollte sie wissen, wie die Schokolade
schmeckte, die die Kinder der Nachbarsfamilie am Abend unter ihrem Baum finden
würden. Wie es an anderen Orten auf der Welt war, die sie nie gesehen hatte.
Wie weit reicht das Meer? Wie fühlt es sich an, über einen Strand zu laufen?
Als
Li sichtlich immer schwächer wurde, kämpfte Ronja erneut mit den Tränen.
Die Dryade nahm sie in den Arm, strich ihr über den Rücken, obwohl sie doch
diejenige war, die den Trost nötiger gebraucht hätte. Irgendwann verebbten
die Schluchzer.
„Hast
du gar keine Angst?“
„Doch.
Aber du bist bei mir, das macht es weniger schlimm.“
Nun
hielt Ronja Li, hielt sie, als könne sie so das Unvermeidliche verhindern.
Irgendwann fielen ihr die Augen zu.
Als
sie erwachte, war die Dryade fort.
*
Einen
Tag lang tigerte Ronja durch ihre Wohnung und wartete darauf, dass Li sich
noch einmal zeigte. Am Abend des zweiten Weihnachtsfeiertags musste sie
einsehen, dass es vergeblich war. Sie weinte viel und aß wenig. Schnell rückte
Sylvester näher, und ihre Freunde meldeten sich wieder bei ihr. Sie
allerdings schlug alle Einladungen aus.
Erst
als all ihre Vorräte aufgebraucht waren und der Hunger stärker wurde als die
Trauer, ging Ronja wieder vor die Tür. Sie trat in den Hof hinaus, in dem
erstarrter Schneematsch ein Feld aus Fußfallen bildete.
Dort
sah sie ihn.
Ronja
wusste nicht, welchen Nachbarn die kleine, zerzauste Tanne als Weihnachtsbaum
gedient hatte. Sie wusste ebenso wenig, bei welchen Nachbarn Lis Baum
gestanden hatte. Dies konnte irgendein beliebiger Baum sein. Doch irgendetwas
zog sie über den Hof. Eis barst unter ihren Schuhen.
Sie
erspähte den Tannenzapfen schon von weitem, fragte sich kurz, ob dies die
richtige Jahreszeit dafür war, und schob den Gedanken dann beiseite. Wen kümmerte
das?
Ganz
vorsichtig schloss sie die Hände um den kleinen Zapfen, brach ihn ab. Der
Duft von Tannennadeln stieg ihr in die Nase. Lis Duft. Für einen Moment kämpfte
Ronja gegen die aufsteigenden Tränen. Sie trat zurück und schob den
Tannenzapfen in ihre Tasche.
Dann
fuhr sie in die Stadt.
Als
sie zurückkehrte, lagen nicht nur Lebensmittel in ihrem Kofferraum, sondern
auch ein großer Kübel und mehrere Säcke Blumenerde.
*
Das
letzte Weihnachten war traurig, aber auch schön gewesen. Dieses würde die Hölle
werden. Doch damit hatte Ronja inzwischen Erfahrung.
Sie
ließ sich vor dem Blumenkübel auf dem Boden nieder, in dem im letzten Jahre
eine kleine Tanne gewachsen war. Vielleicht war es die falsche gewesen,
vielleicht funktionierte es so einfach nicht. Sie konnte es nicht sagen. Li
jedenfalls war nicht wieder aufgetaucht. Doch der Duft der Tannennadeln
beruhigte sie. Sie streckte sich neben dem Baum auf dem Teppich aus,
Kinderlachen drang durch die Wände. Weihnachtsabend.
Ronja
schloss die Augen.
Warme
Finger strichen durch ihr Haar, liebkosten ihre Wange und glitten ihren Hals
hinab. Sie spürte das Gewicht eines Körpers auf ihrem, fühlte die Berührung
weicher Lippen. Ein leises Lachen schwebte durch den Raum.
„Wach
auf.“
„Nein“,
hörte sie sich murmeln. „Sonst endet der Traum.“
Zähne
knabberten sanft an ihrem Hals, und diesmal erklang die Stimme dicht an ihrem
Ohr. „Fühlt sich das an wie ein Traum?“
Mit
einem Ruck setzte Ronja sich auf, blickte in grüne Augen. Li lächelte.
„Wir sollten den Baum schmücken. Ist das nicht Brauch um diese Jahreszeit?
Ein Geschenke habe ich darunter auf jeden Fall schon gefunden.“
Andrea
Bottlinger:
Als
Kind einer Familie, in der Bücher einen großen Teil der Einrichtung ausmachen,
war es eigentlich unvermeidlich, dass ich irgendwann selbst anfange zu
schreiben. Es begann mit den unbeholfenen Versuchen, Marion Zimmer Bradley und
Terry Pratchett nachzuahmen und hat bisher eine Handvoll veröffentlichter
Kurzgeschichten und Heftromane hervorgebracht.
Mehr über mich:
http://www.traumsphaeren.de/
Tanja
Meurer:
Tanja
Meurer, geboren 1973, in Wiesbaden, ist gelernte Bauzeichnerin aus dem Hochbau
und arbeitet seit 2001 in bauverwandten Berufen und ist seit 2004 bei einem
französischen Großkonzern als Dokumentationsassistenz beschäftigt.
Nebenberuflich arbeitet sie als Illustrator für verschiedene Verlage.
Tanja Meurer über sich selbst
Als
Tochter einer Graphikerin und Malerin blieb es nicht aus, dass ich schon sehr
früh mit Kunst in Berührung kam, weshalb ich auch seit 1997 nebenberuflich
als Illustratorin arbeite.
Zu
meinen Kunden gehören Verlage, Firmen, Privatkunden.
Ein
ganz besonderer Auftrag war das schaukampffähige Buckelschild für Bernhard
Hennen, an dem ich zusammen mit meiner Partnerin Juliane Seidel gearbeitet
habe.
Weniger
kreativ, aber eine ziemliche Herausforderung stellt der Auftrag eines
benachbarten Antiquars dar, für den wir das Schriftlayout seines
Werbeschildes fertigen.
Erwähnenswert
ist auch die Arbeit an der Karte von Paris für Sarah Lukas’ Roman „Der
Kuss des Engels“, der zur Buchmesse Leipzig bei Piper-Fantasy erschien.
Wohin
es für mich mit meiner Arbeit geht, weiß ich nicht. Allerdings bin ich
bereit alle Herausforderungen anzunehmen, einfach um auch ständig besser zu
werden.
Mehr
Informationen unter: www.tanja-meurer.de
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