Der Abgrund war nur einen Schritt entfernt.
Pechschwarz lauerte das Wasser unter dem dünnen Eis. Nur ein Schritt würde
Rebekka über den Rand des Stegs tragen. In Eiswasser könne man nicht
schwimmen, hatte sie gehört. Nicht für lang jedenfalls. Und die Kälte würde
hoffentlich jeden Schmerz betäuben. Auch den, den sie seit Adrianas Tod mit
sich herumtrug.
Sie holte tief Luft. Die Entscheidung war
gefallen. Die trostlose Zukunft verschwand, und was blieb, war dieser
letzte Augenblick. Überdeutlich nahm sie ihn wahr, den schneidenden Wind,
die Schneeflocken, die er ihr entgegentrieb. Das Eis knackte und das tote
Schilf raschelte leise.
Dann trat sie über den Abgrund.
Der Wind heulte auf. Eine Bö traf Rebekka, nahm
ihr den Atem und das Gleichgewicht. Mit einem schwachen Knirschen gab das
Eis nach. Im nächsten Moment fand sich Rebekka auf dem Rücken wieder. Das
Holz des Stegs drückte kalt gegen ihre Wange. Eisige Kälte kroch in ihren
Schuh.
Wie ein verwundetes Tier heulte der Wind und
peitschte ihr einen Wirbel aus Schneeflocken ins Gesicht. Rebekka setze
sich auf und zog den Fuß aus dem Wasser. Nicht einmal umbringen konnte sie
sich richtig. Wütend hieb sie mit der Faust auf den Steg.
„Lauf!“
Sie hielt inne. War da gerade eine Stimme im Wind
gewesen? Inzwischen fiel der Schnee so dicht, dass sie das andere Ufer des
Sees nicht mehr sehen konnte. Er wirbelte, formte geisterhafte Gestalten,
die sich im nächsten Moment wieder auflösten.
„Lauf, Rebekka!“ Sie hätte schwören können, es war
Adriana, die da rief. Angst und Sorge schwangen in der Stimme mit. Doch
Adriana war tot, hatte mit einem blutigen Loch in der Brust in ihrer
Wohnung gelegen.
Eine weitere Bö traf Rebekka, Eisfinger griffen in
ihr Haar. Inzwischen wirbelten die Schneeflocken in einem wilden Tanz,
nahmen ihr beinahe jede Sicht. Und im Wind schwang noch mehr mit als nur
diese eine Stimme. Ein Heulen und Knurren, das ihr das Rückgrat
hinunterkroch und uralte Instinkte weckte. Instinkte, die sich nicht darum
kümmerten, dass sie eigentlich sterben wollte.
Wie von selbst kam sie auf die Füße, stolperte den
Steg entlang. Weg vom schwarzen Wasser und dem gebrochenen Eis. Auf ihrer
Flucht hinterließ sie eine nasse Spur, die sofort vom Schnee überdeckt
wurde.
Der Wind zerrte an ihrer Jacke, Stimmen flüsterten
in ihr Ohr. Dort! Ein Gesicht im wirbelnden Weiß. Oder etwa nicht? In der
Ferne wieherte ein Pferd, Rufe wehten zu ihr herüber.
„Zum Haus, Rebekka. Schnell!“
Es war Adriana. Beinahe glaubte Rebekka, sie neben
sich zu spüren. Wenn sie nur stehen blieb und die Hand ausstreckte, dann
...
Doch ihr Körper hatte andere Pläne. Er duckte sich
gegen den Wind, rannte und sprang über Schneeverwehungen. Nur raus aus dem
Wind, weg von den Stimmen und dem dunklen Lockruf des Wassers.
Irgendwo im Schneetreiben musste das Haus ihrer
Eltern liegen. Nur wo? Lief sie überhaupt in die richtige Richtung?
Dort, ein Licht! Es schimmerte direkt vor ihr,
riss ein helles Rechteck aus dem düsteren Winterabend. Gleich hatte sie es
geschafft.
Als wäre der Gedanke ihr Stichwort gewesen,
huschten Gestalten an ihr vorbei. Wie um sie zu verhöhnen, schoben sie
sich vor das Licht. Rebekka erhaschte Eindrücke von wehendem wildem Haar,
zupackenden Händen und gefletschten Hundezähnen. Alles in Weiß, wie aus
Schneewirbeln geschaffen, nur um im nächsten Moment wieder zu zerfallen.
Rebekka wirbelte herum. Doch überall wogten die
Gestalten. Unaufhaltsam kreisten sie sie ein. Nur eine ... eine stand
still. Ihr Haar verwehte in kleine Flocken, Trauer lag in Augen so dunkel
wie das Wasser unter dem Eis.
„Es tut mir leid, Rebekka.“
„Adriana!“
All die Gestalten ringsum wurden unwichtig, nichts
als Kulisse für die Erscheinung vor ihr. Adriana war zurückgekehrt. Es
kümmerte Rebekka nicht, wie und warum. Nichts kümmerte sie, weder der
heulende Wind noch ihr nasser Schuh. Sie machte einen Schritt nach vorn.
In diesem Moment teilte sich das wirbelnde Weiß
und spuckte ein Pferd samt Reiter aus. Im Gegensatz zu den Schneegestalten
wirkte der Reiter wirklich und fest. Der Wind zerrte an seinem Umhang und
seinem weißen Bart. Und während das rechte Auge Rebekka durchdringend
musterte, war es das linke, milchig weiß und blind, das bis in ihre Seele
zu blicken schien. Unwillkürlich wich sie einen Schritt zurück.
Sechs Beine. Dieser Gedanke hing für einen Moment
zusammenhanglos in ihrem Geist, bis ihr Blick über die graue Gestalt des
Pferdes glitt und sie erkannte, was ihr Unterbewusstsein bereits wusste.
Das Pferd hatte sechs Beine.
„Du hast die wilde Jagd gesehen, Sterbliche.“ Die
Stimme des Reiters übertönte mühelos den Wind. „Wer das tut, der muss sie
so lange begleiten, bis er erlöst wird.“
„Nein!“
Der Wind trieb einen dichten Vorhang aus Schnee
zwischen Rebekka und den Reiter. Das kalte Weiß zog sich zusammen,
verdichtete sich zu kleinen Wirbeln. Und im nächsten Augenblick schälte
sich eine Gestalt aus den fallenden Flocken. Schützend stellte sie sich
vor den im Sturm verlorenen Mensch. Ihr Haar peitschte Rebekka ins
Gesicht, und sie spürte das Prickeln kleiner Eiskristalle auf der Haut.
„Adriana, bist wirklich du das?“
Doch die Gestalt reagierte nicht auf die Frage.
Stattdessen ging sie vor dem Reiter auf die Knie. „Bitte. Ich bezahle
jeden Preis, wenn du sie nur gehen lässt.“
Diese Worte verwischten die letzten Zweifel.
Tränen rannen Rebekka über die Wange. Sie trat vor, ging neben der Gestalt
aus Schnee in die Hocke. Da waren sie, die vertrauten Züge, mal mehr mal
weniger deutlich zu sehen in den wirbelnden Flocken.
„Wenn ich dadurch wieder mit dir zusammen sein
kann, schließe ich mich gern dieser wilden Jagd an.“ Rebekka spürte die
durchdringenden Blicke des Reiters auf sich ruhen, doch er sagte nichts,
schwieg und wartete.
Adriana wandte sich ihr zu, die Augen traurig und
schwarz im wirbelnden Weiß. Sie streckte die Arme aus, und Rebekka spürte
den Hauch einer kalten Umarmung. „Tu mir das nicht an“, säuselte der Wind
an ihr Ohr. „Es ist einsam und kalt in dieser Jagdgesellschaft. Und der
einzige Gedanke, der mir Trost und Wärme spendet, ist der, dass du lebst,
dass du die Chance hast, noch einmal glücklich zu werden.“
„Ich werde nie wieder glücklich ohne dich.“ Nun
rannen die Tränen ungehemmt. Sie gefroren auf Rebekkas Wangen, aber sie
nahm es kaum wahr.
„Ach komm, jetzt sei nicht so melodramatisch.“ Der
Tonfall war tadelnd und liebevoll zugleich. „Du kannst keine fünfzig Jahre
um mich trauern, und so viel Zeit hast du sicher noch vor dir. Ich freue
mich, wenn du mich nie vergisst. Aber was du vorhin am See vorhattest, war
sehr dumm.“
„Ich vermisse dich so sehr.“ Ihre Stimme war nur
ein heiseres Flüstern. Rebekka streckte die Hand aus, wollte ihre Geliebte
festhalten, doch da war nichts als Wind und Schnee.
Zärtlich fuhr ihr eine Bö ins Haar. „Es hat
niemand gesagt, dass es immer leicht ist, zu leben. Aber du hast nur
dieses eine. Wirf es nicht fort, nur weil du dich im Moment elend fühlst.
Das geht vorbei. Nichts hält ewig, sowohl die guten als auch die
schlechten Dinge. Tu mir den Gefallen und finde heraus, was noch vor dir
liegt. Tot sein kannst du danach lange genug.“
Das Knirschen von Schnee unter schweren Stiefeln
ließ Rebekka aufsehen. Der Reiter war vom Pferd gestiegen. Er trat auf sie
zu. „Steht auf.“
Es war schwer, dieser Stimme nicht zu gehorchen.
Rebekka erhob sich langsam, und neben ihr richtete sich der Schemen auf,
der von Adriana geblieben war. Das blinde Auge starrte Rebekka an.
„Willst du leben oder nicht?“
Sie atmete tief durch, wischte sich mit dem
Handrücken die Eistränen aus dem Gesicht. „Wenn es Adriana wichtig ist,
dass ich lebe, dann will ich das. Doch noch lieber wäre mir, wenn wir
beide leben könnten.“ Der letzte Satz wurde aus einer vagen Hoffnung
geboren. Sie wusste nicht, wer der einäugige Mann auf dem sechsbeinigen
Pferd war, sie wusste kaum, ob sie ihn wirklich sah oder ober ob sie
träumte. Aber sie erahnte seine Macht.
Er trat noch näher. Der Wind wich vor ihm zurück,
ließ ihnen eine Zone der Ruhe im Sturm. „Würdest du deine verbleibende
Zeit mit ihr teilen?“
„Wenn ich noch fünfzig Jahre habe, kann sie
fünfundzwanzig haben.“ Die Antwort kam ohne Zögern, und sie zauberte ein
Lächeln auf die Züge des Reiters.
„Ihr seid ein erstaunliches Paar. Aber was tot
ist, muss tot bleiben. Alles, was ich euch geben kann, ist eine Nacht. Die
erste der Raunächte, in denen die Grenzen zwischen den Welten am dünnsten
sind.“
Mit diesen Worten wandte er sich um und schwang
sie wieder auf sein Pferd. Es bäumte sich auf und galoppierte davon,
verschwand im wirbelnden Schnee.
Ihm folgte der Wind wie ein treuer Hund. Der Sturm
ließ nach, die Flocken fielen wieder gemächlich.
Und mitten in der Winterlandschaft vor dem Haus
von Rebekkas Eltern stand Adriana. Eiskristalle hingen in ihrem Haar und
ihren Wimpern. Sie trug nur ein zerrissenes Hemd, die Lippen blau in der
Kälte. Dennoch lächelte sie.
Rebekka fiel ihr um den Hals, hielt sie fest, als
könnte sie sie damit in der Welt der Lebenden verankern. Dann zog sie ihre
Geliebte eilig in das einsame Haus am See. Sie schlichen durch den Flur,
vorbei an dem kleinen, geschmückten Baum und in Rebekkas Zimmer.
Ohne ihre Wintersachen oder auch nur den nassen
Schuh auszuziehen, wickelte sie Adriana in warme Decken und rubbelte ihre
Hände und Füße, damit sie warm wurden. Rebekkas Geliebte lachte. „Ich
werde mir keine Erkältung mehr holen können. Du dagegen schon.“
Behutsam schälte Adriana sie aus ihrer nassen
Kleidung. Achtlos landeten der Mantel, der dicke Pullover und die vom
Schnee durchgeweichte Hose auf dem Boden. Schließlich klammerten sie sich
unter den Decken aneinander fest. Und diesmal weinten sie beide.
„Es tut mir leid, dass ich dich alleingelassen
habe“, flüsterte Adriana. „Da war dieser Einbrecher, und ich dachte, ich
könnte ihn verjagen.“
„Und du sagst mir, ich würde dumm Dinge tun ...“
Rebekka atmete tief durch, versuchte sich zu fassen. Sie löste sich von
ihrer Freundin, fuhr die Konturen ihres Gesichts mit den Fingern nach,
konnte es noch immer nicht ganz glauben, dass dies mehr als ein Traum sein
sollte. „Ich bin froh, dass ich dich zurück habe, auch wenn es nur für
eine Nacht ist.“
„Es wird dich eine Nacht deines Lebens kosten. Der
Reiter schenkt einem nichts.“
Rebekka lächelte. „Das ist es mir wert.“ Sie
beugte sich vor, und ihre Lippen berührten die Adrianas. Sie schmeckte
dort den Schnee und die Kälte des Winterabends. Doch sie war entschlossen,
beides durch Wärme und Liebe zu ersetzen, bevor der Morgen graute.
Kühle Finger strichen ihr Rückgrat entlang, und
sie erschauerte wohlig. „Ich habe eine Frage.“ Adrianas Atem streifte ihr
Ohr. „Hast du es ernst gemeint, als du gesagt hast, dass du leben willst?
Kannst du mir versprechen, nie wieder so etwas zu versuchen wie heute
Abend, auch wenn ich fort bin?“
„Ich verspreche es. Ich werde versuchen, für uns
beide zu leben, so gut ich kann.“
„Danke ...“
Eng umschlungen sanken sie aufs Bett.
Als die schwache Wintersonne in einen wolkenlosen
Himmel kletterte und sich ihr Licht auf der weißen Landschaft brach, wehte
ein Schneewirbel aus einem Fenster des einsamen Hauses am See.
„Danke“, hörte Rebekka Adrianas Stimme. „Ich hätte
mir niemand besseren in meinem Leben wünschen können.“ Dann war sie fort
und hinterließ ein Loch in Rebekkas Herzen.
Sie fiel zurück auf die zerwühlten Laken, schon
wieder Tränen in den Augen. Es würde nicht einfach werden. Doch sie hatte
ein Versprechen gegeben, und sie würde sich bemühen, das Beste aus dem zu
machen, was ihr geblieben war.