"Die wilde Jagd" von Andrea Bottlinger

Genre: Fantasy, Romance


Der Abgrund war nur einen Schritt entfernt. Pechschwarz lauerte das Wasser unter dem dünnen Eis. Nur ein Schritt würde Rebekka über den Rand des Stegs tragen. In Eiswasser könne man nicht schwimmen, hatte sie gehört. Nicht für lang jedenfalls. Und die Kälte würde hoffentlich jeden Schmerz betäuben. Auch den, den sie seit Adrianas Tod mit sich herumtrug.

Sie holte tief Luft. Die Entscheidung war gefallen. Die trostlose Zukunft verschwand, und was blieb, war dieser letzte Augenblick. Überdeutlich nahm sie ihn wahr, den schneidenden Wind, die Schneeflocken, die er ihr entgegentrieb. Das Eis knackte und das tote Schilf raschelte leise.

Dann trat sie über den Abgrund.

Der Wind heulte auf. Eine Bö traf Rebekka, nahm ihr den Atem und das Gleichgewicht. Mit einem schwachen Knirschen gab das Eis nach. Im nächsten Moment fand sich Rebekka auf dem Rücken wieder. Das Holz des Stegs drückte kalt gegen ihre Wange. Eisige Kälte kroch in ihren Schuh.

Wie ein verwundetes Tier heulte der Wind und peitschte ihr einen Wirbel aus Schneeflocken ins Gesicht. Rebekka setze sich auf und zog den Fuß aus dem Wasser. Nicht einmal umbringen konnte sie sich richtig. Wütend hieb sie mit der Faust auf den Steg.

„Lauf!“

Sie hielt inne. War da gerade eine Stimme im Wind gewesen? Inzwischen fiel der Schnee so dicht, dass sie das andere Ufer des Sees nicht mehr sehen konnte. Er wirbelte, formte geisterhafte Gestalten, die sich im nächsten Moment wieder auflösten.

„Lauf, Rebekka!“ Sie hätte schwören können, es war Adriana, die da rief. Angst und Sorge schwangen in der Stimme mit. Doch Adriana war tot, hatte mit einem blutigen Loch in der Brust in ihrer Wohnung gelegen.

Eine weitere Bö traf Rebekka, Eisfinger griffen in ihr Haar. Inzwischen wirbelten die Schneeflocken in einem wilden Tanz, nahmen ihr beinahe jede Sicht. Und im Wind schwang noch mehr mit als nur diese eine Stimme. Ein Heulen und Knurren, das ihr das Rückgrat hinunterkroch und uralte Instinkte weckte. Instinkte, die sich nicht darum kümmerten, dass sie eigentlich sterben wollte.

Wie von selbst kam sie auf die Füße, stolperte den Steg entlang. Weg vom schwarzen Wasser und dem gebrochenen Eis. Auf ihrer Flucht hinterließ sie eine nasse Spur, die sofort vom Schnee überdeckt wurde.

Der Wind zerrte an ihrer Jacke, Stimmen flüsterten in ihr Ohr. Dort! Ein Gesicht im wirbelnden Weiß. Oder etwa nicht? In der Ferne wieherte ein Pferd, Rufe wehten zu ihr herüber.

„Zum Haus, Rebekka. Schnell!“

Es war Adriana. Beinahe glaubte Rebekka, sie neben sich zu spüren. Wenn sie nur stehen blieb und die Hand ausstreckte, dann ...

Doch ihr Körper hatte andere Pläne. Er duckte sich gegen den Wind, rannte und sprang über Schneeverwehungen. Nur raus aus dem Wind, weg von den Stimmen und dem dunklen Lockruf des Wassers.

Irgendwo im Schneetreiben musste das Haus ihrer Eltern liegen. Nur wo? Lief sie überhaupt in die richtige Richtung?

Dort, ein Licht! Es schimmerte direkt vor ihr, riss ein helles Rechteck aus dem düsteren Winterabend. Gleich hatte sie es geschafft.

Als wäre der Gedanke ihr Stichwort gewesen, huschten Gestalten an ihr vorbei. Wie um sie zu verhöhnen, schoben sie sich vor das Licht. Rebekka erhaschte Eindrücke von wehendem wildem Haar, zupackenden Händen und gefletschten Hundezähnen. Alles in Weiß, wie aus Schneewirbeln geschaffen, nur um im nächsten Moment wieder zu zerfallen.

Rebekka wirbelte herum. Doch überall wogten die Gestalten. Unaufhaltsam kreisten sie sie ein. Nur eine ... eine stand still. Ihr Haar verwehte in kleine Flocken, Trauer lag in Augen so dunkel wie das Wasser unter dem Eis.

„Es tut mir leid, Rebekka.“

„Adriana!“

All die Gestalten ringsum wurden unwichtig, nichts als Kulisse für die Erscheinung vor ihr. Adriana war zurückgekehrt. Es kümmerte Rebekka nicht, wie und warum. Nichts kümmerte sie, weder der heulende Wind noch ihr nasser Schuh. Sie machte einen Schritt nach vorn.

In diesem Moment teilte sich das wirbelnde Weiß und spuckte ein Pferd samt Reiter aus. Im Gegensatz zu den Schneegestalten wirkte der Reiter wirklich und fest. Der Wind zerrte an seinem Umhang und seinem weißen Bart. Und während das rechte Auge Rebekka durchdringend musterte, war es das linke, milchig weiß und blind, das bis in ihre Seele zu blicken schien. Unwillkürlich wich sie einen Schritt zurück.

Sechs Beine. Dieser Gedanke hing für einen Moment zusammenhanglos in ihrem Geist, bis ihr Blick über die graue Gestalt des Pferdes glitt und sie erkannte, was ihr Unterbewusstsein bereits wusste.

Das Pferd hatte sechs Beine.

„Du hast die wilde Jagd gesehen, Sterbliche.“ Die Stimme des Reiters übertönte mühelos den Wind. „Wer das tut, der muss sie so lange begleiten, bis er erlöst wird.“

„Nein!“

Der Wind trieb einen dichten Vorhang aus Schnee zwischen Rebekka und den Reiter. Das kalte Weiß zog sich zusammen, verdichtete sich zu kleinen Wirbeln. Und im nächsten Augenblick schälte sich eine Gestalt aus den fallenden Flocken. Schützend stellte sie sich vor den im Sturm verlorenen Mensch. Ihr Haar peitschte Rebekka ins Gesicht, und sie spürte das Prickeln kleiner Eiskristalle auf der Haut.

„Adriana, bist wirklich du das?“

Doch die Gestalt reagierte nicht auf die Frage. Stattdessen ging sie vor dem Reiter auf die Knie. „Bitte. Ich bezahle jeden Preis, wenn du sie nur gehen lässt.“

Diese Worte verwischten die letzten Zweifel. Tränen rannen Rebekka über die Wange. Sie trat vor, ging neben der Gestalt aus Schnee in die Hocke. Da waren sie, die vertrauten Züge, mal mehr mal weniger deutlich zu sehen in den wirbelnden Flocken.

„Wenn ich dadurch wieder mit dir zusammen sein kann, schließe ich mich gern dieser wilden Jagd an.“ Rebekka spürte die durchdringenden Blicke des Reiters auf sich ruhen, doch er sagte nichts, schwieg und wartete.

Adriana wandte sich ihr zu, die Augen traurig und schwarz im wirbelnden Weiß. Sie streckte die Arme aus, und Rebekka spürte den Hauch einer kalten Umarmung. „Tu mir das nicht an“, säuselte der Wind an ihr Ohr. „Es ist einsam und kalt in dieser Jagdgesellschaft. Und der einzige Gedanke, der mir Trost und Wärme spendet, ist der, dass du lebst, dass du die Chance hast, noch einmal glücklich zu werden.“

„Ich werde nie wieder glücklich ohne dich.“ Nun rannen die Tränen ungehemmt. Sie gefroren auf Rebekkas Wangen, aber sie nahm es kaum wahr.

„Ach komm, jetzt sei nicht so melodramatisch.“ Der Tonfall war tadelnd und liebevoll zugleich. „Du kannst keine fünfzig Jahre um mich trauern, und so viel Zeit hast du sicher noch vor dir. Ich freue mich, wenn du mich nie vergisst. Aber was du vorhin am See vorhattest, war sehr dumm.“

„Ich vermisse dich so sehr.“ Ihre Stimme war nur ein heiseres Flüstern. Rebekka streckte die Hand aus, wollte ihre Geliebte festhalten, doch da war nichts als Wind und Schnee.

Zärtlich fuhr ihr eine Bö ins Haar. „Es hat niemand gesagt, dass es immer leicht ist, zu leben. Aber du hast nur dieses eine. Wirf es nicht fort, nur weil du dich im Moment elend fühlst. Das geht vorbei. Nichts hält ewig, sowohl die guten als auch die schlechten Dinge. Tu mir den Gefallen und finde heraus, was noch vor dir liegt. Tot sein kannst du danach lange genug.“

Das Knirschen von Schnee unter schweren Stiefeln ließ Rebekka aufsehen. Der Reiter war vom Pferd gestiegen. Er trat auf sie zu. „Steht auf.“

Es war schwer, dieser Stimme nicht zu gehorchen. Rebekka erhob sich langsam, und neben ihr richtete sich der Schemen auf, der von Adriana geblieben war. Das blinde Auge starrte Rebekka an.

„Willst du leben oder nicht?“

Sie atmete tief durch, wischte sich mit dem Handrücken die Eistränen aus dem Gesicht. „Wenn es Adriana wichtig ist, dass ich lebe, dann will ich das. Doch noch lieber wäre mir, wenn wir beide leben könnten.“ Der letzte Satz wurde aus einer vagen Hoffnung geboren. Sie wusste nicht, wer der einäugige Mann auf dem sechsbeinigen Pferd war, sie wusste kaum, ob sie ihn wirklich sah oder ober ob sie träumte. Aber sie erahnte seine Macht.

Er trat noch näher. Der Wind wich vor ihm zurück, ließ ihnen eine Zone der Ruhe im Sturm. „Würdest du deine verbleibende Zeit mit ihr teilen?“

„Wenn ich noch fünfzig Jahre habe, kann sie fünfundzwanzig haben.“ Die Antwort kam ohne Zögern, und sie zauberte ein Lächeln auf die Züge des Reiters.

„Ihr seid ein erstaunliches Paar. Aber was tot ist, muss tot bleiben. Alles, was ich euch geben kann, ist eine Nacht. Die erste der Raunächte, in denen die Grenzen zwischen den Welten am dünnsten sind.“

Mit diesen Worten wandte er sich um und schwang sie wieder auf sein Pferd. Es bäumte sich auf und galoppierte davon, verschwand im wirbelnden Schnee.

Ihm folgte der Wind wie ein treuer Hund. Der Sturm ließ nach, die Flocken fielen wieder gemächlich.

Und mitten in der Winterlandschaft vor dem Haus von Rebekkas Eltern stand Adriana. Eiskristalle hingen in ihrem Haar und ihren Wimpern. Sie trug nur ein zerrissenes Hemd, die Lippen blau in der Kälte. Dennoch lächelte sie.

Rebekka fiel ihr um den Hals, hielt sie fest, als könnte sie sie damit in der Welt der Lebenden verankern. Dann zog sie ihre Geliebte eilig in das einsame Haus am See. Sie schlichen durch den Flur, vorbei an dem kleinen, geschmückten Baum und in Rebekkas Zimmer.

Ohne ihre Wintersachen oder auch nur den nassen Schuh auszuziehen, wickelte sie Adriana in warme Decken und rubbelte ihre Hände und Füße, damit sie warm wurden. Rebekkas Geliebte lachte. „Ich werde mir keine Erkältung mehr holen können. Du dagegen schon.“

Behutsam schälte Adriana sie aus ihrer nassen Kleidung. Achtlos landeten der Mantel, der dicke Pullover und die vom Schnee durchgeweichte Hose auf dem Boden. Schließlich klammerten sie sich unter den Decken aneinander fest. Und diesmal weinten sie beide.

„Es tut mir leid, dass ich dich alleingelassen habe“, flüsterte Adriana. „Da war dieser Einbrecher, und ich dachte, ich könnte ihn verjagen.“

„Und du sagst mir, ich würde dumm Dinge tun ...“ Rebekka atmete tief durch, versuchte sich zu fassen. Sie löste sich von ihrer Freundin, fuhr die Konturen ihres Gesichts mit den Fingern nach, konnte es noch immer nicht ganz glauben, dass dies mehr als ein Traum sein sollte. „Ich bin froh, dass ich dich zurück habe, auch wenn es nur für eine Nacht ist.“

„Es wird dich eine Nacht deines Lebens kosten. Der Reiter schenkt einem nichts.“

Rebekka lächelte. „Das ist es mir wert.“ Sie beugte sich vor, und ihre Lippen berührten die Adrianas. Sie schmeckte dort den Schnee und die Kälte des Winterabends. Doch sie war entschlossen, beides durch Wärme und Liebe zu ersetzen, bevor der Morgen graute.

Kühle Finger strichen ihr Rückgrat entlang, und sie erschauerte wohlig. „Ich habe eine Frage.“ Adrianas Atem streifte ihr Ohr. „Hast du es ernst gemeint, als du gesagt hast, dass du leben willst? Kannst du mir versprechen, nie wieder so etwas zu versuchen wie heute Abend, auch wenn ich fort bin?“

„Ich verspreche es. Ich werde versuchen, für uns beide zu leben, so gut ich kann.“

„Danke ...“

Eng umschlungen sanken sie aufs Bett.

 

Als die schwache Wintersonne in einen wolkenlosen Himmel kletterte und sich ihr Licht auf der weißen Landschaft brach, wehte ein Schneewirbel aus einem Fenster des einsamen Hauses am See.

„Danke“, hörte Rebekka Adrianas Stimme. „Ich hätte mir niemand besseren in meinem Leben wünschen können.“ Dann war sie fort und hinterließ ein Loch in Rebekkas Herzen.

Sie fiel zurück auf die zerwühlten Laken, schon wieder Tränen in den Augen. Es würde nicht einfach werden. Doch sie hatte ein Versprechen gegeben, und sie würde sich bemühen, das Beste aus dem zu machen, was ihr geblieben war.

 


 

Andrea Bottlinger

 

Als Kind einer Familie, in der Bücher einen großen Teil der Einrichtung ausmachen, war es eigentlich unvermeidlich, dass ich irgendwann selbst anfange zu schreiben. Es begann mit den unbeholfenen Versuchen, Marion Zimmer Bradley und Terry Pratchett nachzuahmen und hat bisher eine Handvoll veröffentlichter Kurzgeschichten und Heftromane hervorgebracht.

Mehr über  mich:
http://www.traumsphaeren.de/