"Kainar kommt frei" von Charlotte Engmann

(Genre: Action, Drama, Dark Fantasy)

 

Neu-England, 2004


Aleš stieg aus. Behutsam schloss er die Wagentür und ging zum Geländer hinüber, das die Straße auf dem Staudamm sicherte. Er spähte in die Dunkelheit hinab, die auf der anderen Seite lauerte. In der Tiefe plätscherte friedlich der kleine Überlaufbach. Eine Eule schuhute in den Tannen am nördlichen Ufer. Ein Windhauch streichelte kalt über seine Wange.
Der Agent schlug den Kragen seines dunklen Jacketts hoch. Tief atmete er ein, um sein klopfendes Herz zu beruhigen. Er hatte nur diese eine Chance, dem Horror des Labors zu entkommen, und er war es Valentin schuldig, diese zu ergreifen.
Der Vollmond spendete genug Licht, um die nähere Umgebung erkennen zu lassen, und was er sah – oder auch nicht sah – war beruhigend. Der Treffpunkt bot keine Gelegenheit für einen Hinterhalt, und sollte der Geldkurier seine Freunde mitbringen, würde er sie früh genug kommen sehen.
Ein leises Plätschern schreckte Aleš auf. Was war das? Alarmiert sah er sich um. Nichts und niemand war zu sehen. Das Geräusch wiederholte sich nicht. Ohne in seiner Wachsamkeit nachzulassen, zog er seine Pistole und entsicherte sie. Langsam ging er zu seinem Ford zurück, um nachzusehen, was sich auf der anderen Seite des Damms verbarg.
Nichts. Still ruhte der Stausee. Mondlicht glänzte auf dem Metallgeländer. Aleš senkte die Waffe. Schweigen umfing ihn wie die Umarmung eines Liebhabers. Im Sommer war der künstliche See ein beliebtes Ausflugsziel; an seinem oberen Ende standen einige rustikale Blockhütten, in denen überarbeitete Städter, Angelfreunde und Naturliebhaber ruhige Ferien verbrachten. Jetzt, in der Wintersaison, war die abgelegene Gegend jedoch menschenleer. Zeit und Ort waren optimal für die Übergabe. Doch Aleš wäre nicht mehr am Leben, wenn er nicht stets mit dem Schlimmsten rechnen würde.
›Was schief gehen kann, geht schief‹, so lautete nicht nur Murphys erstes Gesetz, sondern auch seine eigene oberste Direktive. Vielleicht versuchte Santos ihn hereinzulegen. Oder die Laboranten hatten den heimlichen Ausstieg ihres Topagenten bemerkt und ihn trotz der unzähligen falschen Fährten aufgespürt. Und dann wären all seine Opfer und Mühen umsonst gewesen. Niemals würde er in Frieden leben können.
In der Ferne erklang das Rattern eines Hubschraubers, das allmählich lauter wurde. Das musste Santos' Kurier sein, überlegte Aleš. Er startete seinen Wagen, schaltete aber das Licht nicht ein. Zwar war die Transaktion für seinen Käufer weit wichtiger als für ihn, dennoch konnte der Wirtschaftsmagnat versuchen, ihn nach der Übergabe vom Leben zum Tode zu befördern. In diesem Fall würde ein laufender Motor das Zünglein an der Waage des Überlebens sein.
Mit der Ruhe eines langen, harten Trainings und einer noch längeren Berufserfahrung blickte Aleš dem Hubschrauber entgegen. Über das Tal, durch das der nun gestaute Fluss geplätschert war, näherte sich das Gefährt. Ein Suchscheinwerfer erfasste den Agenten, tauchte ihn in gleißendes Licht. Schützend hob er den Arm vor die Augen und versuchte, die Dunkelheit hinter dem blendenden Schein zu durchdringen. Der Wind der Rotorenblätter fuhr unter sein Jackett, schlug ihm schmerzhaft ins Gesicht.
Um auf der Dammstraße landen zu können, musste der Hubschrauber abdrehen, doch er hielt seine Richtung bei. Wie eine gigantische Hummel steuerte das Gefährt direkt auf Aleš zu. Wachsam zog dieser seine Pistole. Ein Maschinengewehr ratterte los. Kugeln hagelten auf die Straße nieder. Die Geschosse perforierten den Boden, schleuderten Betonsplitter nach allen Seiten. Aleš riss die Waffe hoch und feuerte auf den Hubschrauber. Goldene Funken stoben, als das Gefährt getroffen wurde.
Für einen winzigen Augenblick verstummte der Kugelhagel, um dann mit doppelter Macht erneut auszubrechen. Aleš spürte, wie die Geschosse an seinem Jackett zerrten. Er setzte an, um über die Motorhaube in Deckung zu flanken, da prallte jemand gegen seinen Rücken. Er wurde gepackt und vorwärts gestoßen, durch den Kugelhagel und über das Geländer hinweg. Er stürzte die Staumauer hinunter, dem sicheren Tod entgegen.
Die Geschehnisse verlangsamten sich. Er erkannte, dass ihn ein Mann gepackt und über das Geländer befördert hatte. Und noch immer hielt der Unbekannte seine Taille fest umschlungen. Er musste diese Aktion besser geplant haben, als es aussah.
Hoffnung keimte auf. Atemlos krächzte Aleš: »Bungee?«
»Wer ist Bungee?«, ertönte eine dunkle Stimme dicht neben seinem Ohr.
Aleš' Herz setzte einen Schlag aus. Er starrte auf den Boden, der auf ihn zuraste. Der Anblick des Überlaufs fraß sich in seinen Geist, ebenso die Umrisse der Felsbrocken, die ihn zerschmettern würden. Innerhalb von Sekunden lief vor seinem inneren Auge sein Leben ab, seine Kindheit und Jugend, die Aufnahme in das Labor. Der angebliche Unfalltod seines Freundes Valentin, der offene Mord an seiner Mentorin Daniela und sein Entschluss, das Labor zu verlassen – eine Entscheidung, die ihn auf diesen Todesflug geschickt hatte. Der Boden stürzte auf ihn zu. Er kniff die Augen zusammen. Erwartete den Aufprall.
Der nicht kam.
Abrupt wurde sein Sturz gebremst. Seine Arme und Beine sackten weiter nach unten. Ein schmerzhafter Ruck ging durch seinen Körper, dann pendelten die Glieder wieder nach oben.
Aleš riss die Augen auf. Knapp einen Meter unter ihm lagen die Steine, auf denen er hätte sterben müssen. Doch er selbst … er schwebte frei in der Luft.
Der Fremde hinter ihm murmelte etwas wie: »Endstation, alles aussteigen!«
Er schwebte das letzte Stück hinab und legte Aleš auf dem Boden ab.
Reglos blieb der Agent liegen, während sein Verstand versuchte, das Geschehen zu fassen. Über sich spürte er den Körper des Fremden, der auf ihm lag und keine Anstalten machte, zu verschwinden. Er roch ein teures Aftershave, gemischt mit dem Duft regennasser Erde. Er fühlte, wie die Kälte der Steine durch seinen Rollkragenpullover kroch, hörte das Rauschen des Überlaufbaches und das ferne Rattern des Hubschraubers.
Er lebte. Noch wusste er nicht, wieso, aber er lebte. Der Fremde hatte ihn aufgefangen und irgendwie für eine sichere Landung gesorgt. Es war unglaublich, aber wahr. Ungeheure Erleichterung überschwemmte ihn. Er fühlte sich leicht wie eine Feder, bar jeder Angst und Not. Schon oft hatte er dem sicheren Tod ins Auge geblickt, doch das Gefühl, überlebt zu haben, dem Ende entkommen zu sein, war berauschend wie beim ersten Mal.
Der Suchscheinwerfer glitt über ihn hinweg, blendete ihn für einen Augenblick. Aleš' Herz machte einen Satz. Er erwartete das Losschlagen des Maschinengewehrs, doch die Schüsse blieben aus. Der Hubschrauber drehte ab.
Als das Rattern der Rotorenblätter leiser wurde, verschwand das Gewicht des Fremden von Aleš' Rücken. Langsam drehte sich der Agent um. Während er seinen Retter musterte, überkam ihn das Gefühl, das alles nur zu träumen. Einige Details schienen einfach nicht mit der Wirklichkeit übereinzustimmen. Oder war er gestorben und der Mann ein Todesengel, gekommen, um ihn ins Jenseits zu geleiten? Zumindest würde das die fast unwirkliche Schönheit des ebenmäßigen Antlitzes erklären, in dem zwei Augen wie Onyxe glänzten. Doch die moderne schwarze Lederkluft, in der der athletische Körper steckte, sprach dagegen. Ebenso die schmalen Riemen, die über die breiten Schultern liefen und offensichtlich zu einem Rucksack gehörten. Aber wo war das Sprunggeschirr, das den Sturz aufgefangen hatte?

Michail ließ der Laborratte Zeit, ihn ausführlich zu mustern, während er das gleiche tat. Er spürte, wie sich sein Magen schmerzhaft zusammenzog. Janosch, geisterte ein Name durch seinen Kopf. Sein Gegenüber ähnelte dem Jugendfreund auf fast erschreckende Weise. Das offene Gesicht mit den hohen Wangenknochen, das dunkle Haar und die funkelnden Augen – so war ihm sein einstiger Spielkamerad im Gedächtnis geblieben.
Die plötzliche Konfrontation mit der Vergangenheit schuf ein neues Verständnis der damaligen Gegebenheiten. Bislang verkannte und verleugnete Gefühle schwemmten in Michail hoch. Mit Janosch hatte ihn mehr verbunden als unschuldige Knabenstreiche oder blutige Waffengänge. Obwohl er es zu Lebzeiten nicht einmal sich selbst eingestanden hatte, hatte er Janosch geliebt und begehrt.
Ich muss ihn näher kennen lernen, dachte Michail. Ob er vielleicht Interesse hat, aus diesem Treffen ein richtiges Rendezvous zu machen? Verdammt, ich bin nicht zu meinem Vergnügen hier. Ich muss mich auf meinen Auftrag konzentrieren!
»Wie … wie hast du das gemacht?«, unterbrach der Agent seine Gedanken.
»Der Stunt mit dem Staudamm?« Michail grinste flüchtig. »Es war kein Sturz, sondern ein Flug.« Er machte eine Kunstpause. »Ich bin ein Vampir. Ich kann fliegen.«
Das Gesicht des Anderen verriet, wie er sich zuerst auf den Arm genommen fühlte, dann, wie er sich über den vermeintlichen Witz ärgerte, und schließlich verschloss sich seine Miene – für den Karpaten das Zeichen, dass der Mann die Erklärung langsam schluckte.
»Ich bin Michail. Michail Vladescu«, stellte er sich vor.
»Du arbeitest für Santos?«
»Gelegentlich. Ich bin Söldner und für solche Aufgaben sein bester Mann.« Er half dem Agenten auf und drängte ihn, sich auf einen größeren Felsen zu setzen. »Und wie heißt du?«
»Kainar.« Ein kurzes Zögern. »Alexandr. Aleš.«
Ein tschechischer Name, bemerkte Michail. »Du bist verwundet.« Er lehnte sich vorwärts, und der Andere wich zurück. »Keine Angst, ich beiße nicht.« Der Karpate lachte leise. »Aber ich lüge.«
Aleš verzog keine Miene. Er zog sein Jackett aus und zog den Pullover hoch, so dass Michail die Wunde untersuchen konnte.
»Ein Streifschuss. Nichts Ernstes, kann es aber werden.« Der Karpate legte die Lederjacke ab, schlüpfte aus seinem T-Shirt, und während er letzteres in Streifen riss, fragte er möglichst nonchalant: »Irgendeine Idee, warum uns deine Leute erledigen wollten?«
»Wieso meine Leute? Was ist mit Santos?«
»Warum sollte er dich ausschalten, bevor er seine Ware hat?« Michail schüttelte den Kopf. »Nein, das waren deine Laboranten. Hast du ihnen das Zeug gestohlen?«
»Geht dich das was an?«
»Nur, wenn wir noch öfter ins Geschäft kommen wollen«, antwortete er ruhig. »Wo hast du eigentlich das Serum?«
»Erst das Geld.«
Obwohl Aleš' Gesicht eine steinerne Maske blieb, entging Michail nicht, dass hinter der kühlen Fassade ein Abgrund lauerte. Der Mann war eine harte Nuss, ein echter Profi, der – wenn überhaupt – nur schwer zu knacken war. Er musste vorsichtig sein, wenn er ihn als potentiellen Verbündeten oder gar für ein Stelldichein gewinnen wollte. Von ein paar coolen Sprüchen und Vampirfähigkeiten würde Aleš sich nicht beeindrucken lassen.
Michail nahm den Rucksack von seinen Schultern und reichte ihn dem Agenten. Routiniert überprüfte dieser den Inhalt, bevor er aus der Innentasche seines Jacketts eine Art Zigarrenetui zog und es dem Karpaten zuwarf. Während Aleš den Rucksack über seine Schultern schnallte, öffnete Michail das silberne Behältnis, in dem drei schmale, mit einer bläulichen Substanz gefüllte Glasröhrchen in Schaumstoff eingebettet lagen.
Er nickte nachdenklich. Das Zeug sah gar nicht so bedeutend aus, aber er wusste, was das für ein Serum war. Das Labor war auf chemische und biologische Kampfstoffe spezialisiert. Dies hier war ein Virus, der das Blut im menschlichen Körper zersetzte, schnell und unaufhaltsam. Eine tödliche Gefahr – und nicht nur für die Sterblichen.
Mit einem leisen Klicken ließ der Vampir das Etui zuschnappen und steckte es ein, ehe er sich wieder Aleš' Verletzung widmete. Er drückte einen Stofffetzen auf die Wunde und wickelte den provisorischen Verband darum.
Plötzlich spürte er Aleš' Hand über seine Schulter streicheln. Federleicht glitten die Fingerspitzen über seine kühle Haut, sie strichen über seinen Hals und verfingen sich spielerisch in seinen langen, dunklen Haaren.
Was hat er vor?, überlegte Michail. Will er mich etwa verführen? In diesem Moment war es ihm ganz recht, dass Aleš sein Gesicht nicht sehen konnte, denn er konnte ein hoffnungsvolles Lächeln nicht unterdrücken. Er wusste, wie verdammt hübsch sein Antlitz war – wobei die Betonung auf verdammt lag – und sein bloßer Oberkörper mochte das Übrige tun.
Doch als die Hand auf einer bestimmten Stelle an seinem Hals verharrte, erkannte er die wirkliche Absicht der Geste. Mit einem gespielten Seufzen richtete sich auf, nachdem er den Verband verknotet und den Pullover darüber gezogen hatte.
»Ich habe keinen Puls.« Er nahm die Hand von seiner Halsschlagader und legte sie auf die Stelle, wo einst sein Herz geschlagen hatte. »Spürst du es? Kein Puls. Keine Atmung.«
Aleš starrte ihn erschüttert an, und überrascht merkte Michail, wie seine Gefühle mit ihm durchgingen. Er wollte den Mann in die Arme nehmen, ihn überzeugen, dass man ihn nicht fürchten musste, dass er zwar ein Vampir, aber trotzdem ein zivilisiertes Wesen war, das nicht wahllos und unkontrolliert über die Menschen herfiel.
Doch ehe er die richtigen Worte gefunden hatte, verschloss sich Aleš' Gesicht. Enttäuscht stellte Michail fest, dass der Agent seine Versicherung nicht brauchte: Die Laborratte hatte keine Angst vor ihm, nur weil er ein Vampir war.
»Ich habe eine Hütte oben am See«, erklärte er mit rauer Stimme, während er in seine Lederjacke schlüpfte. »Dort können wir deine Wunde richtig versorgen, und dann bringe ich dich zurück in die Stadt. Einverstanden?«
Aleš stand auf und zog das Jackett über. »Gehen wir.«
»Sagte ich etwas von gehen?« Michail schlang seine Arme um den Agenten und flog mit ihm die Staumauer hinauf. Aleš' Blick fing den seinen ein, und der Karpate hatte das Gefühl, als durchschaue ihn der Andere. Denn wie er sich selbst eingestand, war diese Aktion nur ein billiger Vorwand, um Aleš fest an sich zu pressen.
Oben auf der Dammstraße ließ er den Agenten los, der sich fragend umsah. Der Wagen war nur noch ein brennender Schrotthaufen. Das Maschinengewehr hatte den Tank getroffen, und der Ford war explodiert, während sie die Staumauer hinabgestürzt waren.
»Wie bist du hergekommen?« Aleš' Miene verriet kein Gefühl. Er musste ein unglaublicher Pokerspieler sein.
»Über den See.« Michail wies die Staumauer hinab, an deren Fuß sein Sportboot befestigt war. »Ich hab' im Boot gewartet, und als ich den Hubschrauber hörte …« Er zuckte mit den Schultern, nickte zur Brüstung hin. »Kommst du?«
Aleš trat auf ihn zu. Der brennende Blick seiner braunen Augen nahm Michail gefangen, und wenn er noch geatmet hätte, er hätte die Luft angehalten. Der Agent legte die Arme über seine Schultern, schmiegte sich an ihn und wisperte in sein Ohr: »Nur, wenn der Sex gut ist.«
Michail verschlug es die Sprache. Ist das jetzt eine Einladung? Mit einem so schnellen Erfolg hatte er nicht gerechnet. Ich hoffe es, ich hoffe es wirklich. Plötzlich hatte er es eilig, nach Hause zu kommen.

Angenehm überrascht schaute sich Aleš um. Michails ›Hütte‹ war größer und vornehmer, als die legere Bezeichnung vermuten ließ. Die elegante Einrichtung hätte gut zu einem englischen Landsitz gepasst und sprach von Geld und Geschmack. Der Duft von Michails Aftershave mischte sich mit der rauchigen Würze des Feuers, das hinter ihm im offenen Kamin leise knackte.
Sein Blick wanderte durch das Wohnzimmer zur Flurtür, durch die in diesem Moment sein Gastgeber trat. Ein einladendes Lächeln legte sich auf seine Lippen. Jetzt, da er nicht mehr unter dem Eindruck der Rettung in letzter Sekunde stand, wurde ihm Michails unverschämt gutes Aussehen noch stärker bewusst. Der nur scheinbar junge Mann mit den seidigen schwarzen Haaren und den nachtdunklen Augen hätte als Modell ein Vermögen verdienen können. Männer wie Frauen mussten ihm scharenweise zu Füßen liegen.
Als hätte Michail seine Gedanken erraten, erschien ein wissendes Lächeln auf den bleichen Lippen. Mit samtigweicher Stimme forderte er seinen Gast auf: »Zieh dich aus.«
Aleš' Lächeln vertiefte sich. Er kannte seine gefühlsmäßige Reaktion auf eine überstandene Todesgefahr, die überwältigende Sehnsucht nach menschlicher Nähe und Wärme, die ihm versicherte, dass er noch lebte, dass er noch fähig war zu empfinden, zu genießen und sich zu erfreuen. Meistens hatte sein Freund Valentin diese Not gelindert, doch bei anderen Gelegenheiten hatte er sein Bedürfnis bei mehr oder weniger billigen Burschen gestillt. Michail jedoch war alles andere als billig; er schien sogar recht vermögend zu sein. Auch verbargen sich hinter seinem engelsgleichen Antlitz Entschlossenheit, Erfahrung und eine Abgebrühtheit, die Aleš zu schätzen gelernt hatte. Und war er seinem Lebensretter nicht ein wenig Dank schuldig?
Aufreizend langsam strich er das Wolljackett von seinen Schultern. Mit beiden Händen zog er den Rollkragenpullover über seinen Kopf und ließ ihn achtlos zu Boden gleiten, ehe er lasziv in den rotbraunen Ledersessel zurücksank.
Mit einem Nicken deutete er auf die Einrichtung. »Schicke Hütte. Ich habe wohl den Beruf verfehlt.« Er bemerkte, dass er nicht scherzend, sondern verbittert klang.
»Das meiste ist mit den Jahren zusammengekommen«, schwächte Michail ab. Plötzlich wieder ernst und sachlich schob er den störenden Couchtisch zur Seite und kniete vor Aleš nieder. Mit einem hörbaren Klicken öffnete er den Erste-Hilfe-Kasten, den er aus seinem Wagen geholt hatte. »Santos zahlt eine Menge, besonders für seine Topleute«, fuhr er fort. »Ich könnte dich ihm empfehlen.«
»Seine Top-Leute, so so.« Aleš lächelte flüchtig. »Danke. Aber nein danke.«
Michail suchte eine Schere aus dem Erste-Hilfe-Kasten und zerschnitt den provisorischen Verband um Aleš' Brust. »Du willst also ganz aus dem Geschäft aussteigen? Darf ich fragen, warum?«
Schweigend strich der Agent durch sein dunkelbraunes Haar, in dem die Anzahl der grauen Strähnen in den letzten Jahren über Gebühr gestiegen war. Er war das endlose Sterben leid. Er hatte Feind und Freund getötet, hatte gesehen, wie gute Menschen zu Grunde gingen und die Ratten triumphierten.
»Ich will nicht mehr«, erklärte er lakonisch.
Michail musterte ihn prüfend, ehe er nickte. »Ich verstehe.« Er wies auf die Verletzung. »Du solltest so bald wie möglich einen Arzt aufsuchen. Ich habe nicht viel Ahnung von Krankenpflege.«
Aleš blickte auf die Schusswunde, die zu bluten aufgehört hatte. Michail erweckte den Eindruck, als würde er ihn tatsächlich verstehen; vielleicht aufgrund ähnlicher leidvoller Erlebnisse, vielleicht aufgrund einer übermenschlich langen Lebenserfahrung. Bestimmt war er älter als die Mitte zwanzig, die man ihm ansah. Aleš dachte an die vielen Gerüchte und Legenden, die es über Vampire gab. Welche entsprachen wohl der Wahrheit?
Unvermittelt streckte er die Hand aus und strich über Michails Lederjacke. Er bohrte einen Finger durch ein Loch auf der linken Seite. »Eine Kugel?«
»Passiert mir dauernd.« Michail lächelte jungenhaft. »Die Klamotten gehen in Fetzen, und ich brauche eine gute Erklärung, woher die Einschusslöcher stammen.«
»Was kannst du noch alles?«
»So allerlei. Leute in meinen Bann schlagen, sie Sachen vergessen lassen, und mich in ihre Träume drängen.«
»Dazu musst du kein Vampir sein«, sagte Aleš weich.
Langsam hob Michail den Kopf. Aufmerksam betrachtete er seinen Gast, und in dem leidvollen Blick der haselnussbraunen Augen las er ein unmissverständliches Verlangen. Ein sanftes Lächeln legte sich auf seine Lippen. Obwohl Aleš ein eher unauffälliger Mann war, irgendwo zwischen Ende dreißig und Anfang vierzig, mit kurzen, graubraunen Haaren, einem sehnigen Körper und müdem Gesicht, zog er den Vampir unausweichlich in seinen Bann. So hätte Janosch wohl mit den Jahren ausgesehen, wäre er nicht so lange vor seiner Zeit gestorben.
Michail legte die Hände auf Aleš' Knie, stützte sich leicht ab und richtete sich gerade auf. Gemächlich beugte sich der Agent zu ihm herab, verheißungsvoll öffneten sich seine Lippen. Der Karpate wagte nicht, sich zu rühren, während die Distanz zwischen ihnen schmerzhaft langsam dahinschmolz. Endlich trafen sich ihre Lippen. Michail schloss die Augen, um die Berührung wie eine exotische Frucht zu kosten. Er spürte, wie Aleš' Zunge über seine Lippen streichelte, sich weiter vorwagte, und gab seine Zurückhaltung auf.
Eine kleine Ewigkeit verharrten sie bei diesem Kuss, bis sich Michail aufrichtete. Er wollte Aleš aus dem Sessel ziehen, da stöhnte der Agent schmerzvoll auf,
Michail löste sich von ihm und murmelte entschuldigend: »Ich hab's vergessen.«
Aleš presste die Hand auf die Wunde. »Ich auch. Aber du hast mich ja gewarnt, dass du Leute Sachen vergessen lässt.«
Mit einem leisen Lachen begann Michail, die Verletzung zu verbinden, obwohl es ihm schwer fiel, sich auf diese Aufgabe zu konzentrieren. Viel lieber hätten seine Hände die warme Haut gestreichelt und die glatte Brust liebkost oder wären tiefer zum Hosenbund geglitten …
»Fertig.« Michail ließ sich auf die Fersen zurücksinken und strich seine Haare zurück. Es kostete ihn seine gesamte Selbstbeherrschung, nicht sofort über Aleš herzufallen. Dabei war das Ambiente geradezu klassisch: Im Kamin knisterte ein Feuer, und das Bärenfell davor sah wirklich kuschelig aus. Na ja, vielleicht ein anderes Mal, tröstete er sich. »Das Schlafzimmer ist unten im Keller.«
»Du redest zuviel«, bemerkte Aleš spöttisch. Er streifte die Lederjacke von Michails Schultern, legte seine Hände auf dessen Brust und schob ihn langsam rückwärts, dirigierte ihn hin zum Bärenfell. Willig ließ sich Michail auf die weiche Unterlage sinken, und durch einen Gedanken entzündet, flammten sämtliche Kerzen im Raum auf.
Fragend hob Aleš eine Augenbraue, doch diesmal verkniff sich Michail eine Bemerkung und antwortete nur mit einem Augenzwinkern. Mit einem kaum wahrnehmbaren Kopfschütteln drückte sich Aleš vom Sessel ab. Vorsichtig in seinen Bewegungen näherte er sich seinem Gastgeber. Langsam schob er seinen Körper über Michail und ließ ihn sein Gewicht spüren. Er stützte seine Unterarme rechts und links des Kopfes ab, vergrub seine Hände in den dunklen Strähnen und nahm Michails Mund mit dem seinigen gefangen. Mit einem zufriedenen Seufzen schloss Michail die Augen und genoss die Wärme, die Aleš' heißer Leib verströmte.

Aleš drehte sich auf die Seite, stützte sich auf seinen angewinkelten Arm und betrachtete Michail im weichen Schein des indirekten Lichts, das das Schlafzimmer im Keller erhellte. Jetzt, wo der Schlaf Michails Züge entspannt hatte, trat die mädchenhafte Schönheit seines Gesichts vollständig zu Tage. Er wirkte verletzlich und unschuldig, als könne er kein Wässerchen trüben.
Aleš lächelte sanft. Dabei hatte es Michail faustdick hinter den Ohren. Hinter den coolen Sprüchen verbarg sich ein einfühlsamer und geschickter Liebhaber. Es musste an seinem Alter liegen. – Oder war es nur der Versuch, die ehemaligen Laborratte für Santos zu gewinnen?
Aleš seufzte lautlos. Was auch immer Michails Beweggründe waren, er würde der Versuchung widerstehen, die die Schlafende darstellte. Leise stand er auf und verließ das Schlafzimmer, das sie im Laufe der Nacht aufgesucht hatten. Er fühlte sich lebendiger denn je. Vielleicht würde er die erregende Gefahr, das Rauschen des Adrenalins in seinen Adern vermissen, doch dafür würde er endlich Ruhe und Frieden finden. Das Labor hielt ihn für tot, und das Geld, das er durch das Serum verdient hatte, würde ihm ein neues Leben ermöglichen. Er konnte nach Europa gehen, untertauchen und die Erinnerungen an das Vergangene hinter sich lassen. Und selbst Michail würde ihn nicht davon abhalten.
Er kehrte ins Wohnzimmer zurück und suchte seine Kleidung zusammen, die zwischen dem rotbraunen Sessel und dem Kamin verteilt lag. Da klingelte Michails Handy. Schrill und fordernd schallten die Signaltöne durch das stille Haus.
Aleš zuckte zusammen. Hastig suchte er nach dem Mobiltelefon. Er entdeckte es in der Innentasche von Michails Lederjacke und presste zusätzlich seinen Wollpullover darauf, um das laute Klingeln zu dämpfen.
Doch es war zu spät.
Wie ein Geist stand Michail plötzlich hinter ihm. Sanft schob er Aleš zur Seite, holte das Handy aus der Jacke und nahm den Anruf entgegen. »David? Ja, alles klar. Ich habe das Serum.«
Aleš hielt den Atem an. Sein Magen krampfte sich zusammen. Am anderen Ende der Verbindung war also Michails Auftraggeber, der Wirtschaftsmagnat David Santos. Würde Michail ihm verraten, dass Alexandr Kainar noch lebte? Und würde Santos von seinem Söldner verlangen, ihm die abtrünnige Laborratte auszuliefern?
Durch seinen Körper jagte der Impuls, Michail zur Seite zu stoßen und davonzulaufen, doch der unergründliche Blick aus den schwarzen Augen seines Gastgebers bannte ihn auf seinen Platz.
Michail sprach weiter mit Santos: »Kainar ist tot. Das Labor hat uns einen Hubschrauber vorbeigeschickt, und die haben seinem Wagen einen Volltreffer in den Benzintank verpasst. Kainar und das Geld sind nur noch ein Häufchen Asche.« Kurze Pause. »Ich melde mich wieder. Bis dann.«
Fassungslos starrte Aleš ihn an. Es fiel ihm schwer zu glauben, mit welcher Ruhe und Gelassenheit Michail seinen Auftraggeber belog. So etwas konnte einem den Kopf kosten, wenn die Wahrheit ans Licht kam.
»Warum?«, fragte er heiser.
Michail zuckte mit den Schultern. »Offensichtlich konnte ich dich nicht verleiten zu bleiben. Und ich werde keinen Mann aufhalten, der nach seiner Freiheit strebt.« Aus seiner Lederjacke zog er seine Brieftasche, der er die Papiere für seinen Wagen entnahm. Zusammen mit einer Visitenkarte drückte er sie Aleš in die Hand. »Die Schlüssel hängen im Flur an der Wand.«
»Wieso tust du das?«, fragte Aleš perplex.
»Damit du mich anrufst, falls du es dir eines Tages anders überlegst.«
»Ich glaube kaum.« Er streckte die Hand aus und streichelte ein letztes Mal über die makellose Brust seines Gegenübers. Das Schlüsselwort war ›makellos‹. Keine einzige Narbe entstellte Michails Körper. Welche Wunden er auch erlitt, sie heilten schnell und hinterließen ihre Spuren höchstens in seinem Geist. Spurlos zogen die Kämpfe und die Jahre an ihm vorbei.
Aber Alexandr Kainar war sterblich. Eines Tages würde ihn eine Kugel in die Brust treffen oder ein Messer sein Herz erreichen. Doch je weiter er dem Labor fernblieb, desto später würde dieser Tag kommen.
Er drückte Michail einen Abschiedskuss auf die Lippen, nahm die Wagenschüssel und verschwand von der Bildfläche.

Weitere Abenteuer mit Michail, Kainar, Santos und dem Labor sind in dem Episodenroman "Knie nieder und friss Feenstaub" zu lesen, der 2011 im dead soft verlag erscheint.

 


 

Charlotte Engmann:

Charlotte Engmann wurde 1971 in Neuss geboren und lebt jetzt in Köln, wo sie Germanistik, Anglistik und Geschichte studiert und eine Ausbildung zur Verlagskauffrau absolviert hat.

Im vergangenen Jahrzehnt wurden von ihr zwölf Einzeltitel und über dreißig Kurzgeschichten der Genres Fantasy und Horror veröffentlicht. In dem auf schwule Literatur spezialisierten dead soft verlag sind bislang drei Titel erschienen: Der Horror-Roman "Dämonen über Luxemburg", das Fantasy-Werk "Sturmbrecher" und der homoerotische Fantasy-Roman "Entführung nach Alhalon". Mit "Knie nieder und friss Feenstaub" soll im kommenden Jahr ein weiteres Buch beim gleichen Verlag erschienen.

Weitere Informationen zu ihren Werken und ihrem Wirken finden sich auf ihrer Homepage: www.charlotte-engmann.de