"Kainar ist krank" von Charlotte Engmann

(Genre: Dark Fantasy, Action)

 

Frankfurt, 2005


»Nun geh schon weiter«, murmelte Leon ungeduldig. Sein Kommentar galt dem Mann, der langsam den Gehsteig entlang schlurfte und ihm dadurch die Einfahrt auf den Parkplatz hinter dem Dreihundert verwehrte. Sein Tag war anstrengend gewesen, und er wollte nur noch schnell nach Hause, um seinem Lebensgefährten eine romantische Überraschung zu bereiten: ein leichter Wein, Kerzen, duftender Badeschaum und eine Auswahl gesunder Leckereien sollten für ein erfrischendes Badevergnügen sorgen.
Der Mann wurde noch langsamer, und schon hob Leon die Hand, um kräftig zu hupen, da schwankte der Fußgänger. Fast wie in Zeitlupe brach er in die Knie, die Einkaufstüte rutschte aus seinen Händen und fiel auf den Gehsteig. Zwei orange-weiße Röhrchen kullerten auf das Pflaster.
Leon fluchte verhalten. Er setzte zurück, parkte den Wagen am Kantstein und stieg aus. Der Parkplatz lag auf der Rückseite von Leon's Fit-In, das die Szene nur kurz als das Dreihundert bezeichnete. Als Besitzer und Manager des Sportstudios trug er die Verantwortung, dass hier niemand betrunken oder stoned auf der Straße lag.
Als er näher trat, bemerkte er, dass der Mann auf dem Boden weder ein Penner noch ein Junkie war. Dazu war seine Erscheinung zu gepflegt, sein Äußeres zu ordentlich und sauber. Er trug ein dunkles Wolljackett über einem hellen Pullover, dazu eine Blue Jeans und Lederschuhe. Graue Strähnen zogen sich durch sein braunes Haar, obwohl er noch nicht so alt war. Leon schätzte ihn auf Ende Dreißig, Anfang Vierzig. Insgesamt hätte er recht unauffällig gewirkt, wenn nicht irgendetwas in seinem Gesicht Leon in seinen Bann gezogen hätte – und es war nicht die krankhafte Blässe der Wangen oder der fiebrige Glanz in den braunen Augen.
»Hallo? Kann ich Ihnen helfen?«, sprach er den Fremden an. Sein Blick erfasste die beiden Röhrchen mit Vitamintabletten, sowie den Orangensaft und die Dose Hühnersuppe, die in der Einkaufstüte steckten. »Soll ich einen Krankenwagen rufen?«
»Kein … Krankenwagen. Keine Ärzte«, wisperte der Mann. Ein halb bitteres, halb resigniertes Lächeln erschien auf seinen bleichen Lippen. »Muss zurück … ins Husarenquartier. Kann da in Ruhe …« Seine Stimme wurde immer leiser, und Leon musste sich vorbeugen, um das letzte Wort zu verstehen. »… sterben.«
»Nein!«, entfuhr es Leon. Er war nicht der Mann, der einen anderen – selbst einen Fremden – im Stich ließ. Er würde seinen Findling nicht in eine schmierige Absteige bringen, damit dieser dort stillschweigend verendete.
»Ich bin Leon«, stellte er sich vor.
»Aleš«, antwortete der andere nach einem kurzen Zögern. Das Atmen fiel ihm sichtlich schwer, doch tapfer sog er Zug um Zug die kalte Winterluft in seine Lungen.
»Okay, Aleš, du kommst mit mir. Ich wohne hier gleich um die Ecke.« Er schnappte sich die Einkaufstüte und zog seinen Findling auf die Füße. »Gibt es jemanden, den ich für dich anrufen kann? Verwandte? Freunde?«
Gequält schloss Aleš die Augen. Er schüttelte den Kopf, verblieb einen Moment reglos, schaute Leon wieder an. »Michail. Die Nummer … ist in meiner Brieftasche.«
»Wer ist das? Ein Freund? Ich werde ihn anrufen.«

* * *

Verdammter Papierkram!, fluchte Michail. Verdammte moderne Zeiten! Der Karpate warf einen missmutigen Blick auf die Unterlagen, die sich auf seinem Schreibtisch türmten. Die Vernetzung von Verwaltung und Computertechnik hatte es in den letzten Jahrzehnten immer schwerer gemacht, unauffällig Gelder anzulegen und langfristig Immobilien zu besitzen. Vor allem seine gewissenhaften Finanzgnome aus der Schweiz waren auf dem besten Weg herauszufinden, dass ihre Familien seit über vierhundert Jahren für ein und den selben Auftraggeber arbeiteten.
Ich brauche einen Strohmann, überlegte der Vampir. Am besten einen Sterblichen, der mit der Zeit altert. Aber wem kann ich meine Finanzen anvertrauen? Es ist eine Menge Geld. Er lachte leise bei dem Gedanken an sein Familienwappen. Ein echter Drachenschatz.
Schwungvoll setzte er seine Unterschrift auf eine Zahlungsanweisung, da klingelte sein Telefon. Die Anzeige im Display zeigte eine Frankfurter Nummer. Michail runzelte die Stirn. Er kannte niemanden, der in der Mainmetropole wohnte.
»Hallo?«, meldete er sich, und aus einer Laune heraus ergänzte er: »Schloss Drachenburg. Sie sprechen mit Michail Vladescu.«
»Ja, hallo«, antwortete eine fremde Männerstimme. »Mein Name ist Leon. Sie werden mich nicht kennen, aber Ihr Freund Aleš hat mich gebeten, Sie anzurufen. Ich habe ihn auf der Straße aufgelesen. Es geht ihm nicht gut.«
Michail erstarrte. Er kannte nur einen Aleš – Alexandr Kainar, den ehemaligen Spion jener geheimen Organisation, die man in eingeweihten Kreisen als das Labor bezeichnete. Wachsam hakte er nach: »Welcher Aleš?«
»Moment.« Eine kleine Pause entstand. Michail horchte angestrengt auf Geräusche im Hintergrund, die ihm mehr über den Anrufer und seine Absichten verraten würden. Er hörte Leder schaben, Papier knistern und Plastik rascheln, als würde jemand in einer Brieftasche blättern.
»Hm«, erklang es schließlich durch das Telefon. »Er hat keinen Ausweis dabei. Und ich möchte ihn nicht wecken, er ist gerade eingeschlafen.«
Eingeschlafen oder eingeschläfert?, dachte Michail beunruhigt. Dieser Anruf war entweder eine Falle des Labors, oder Aleš steckte wirklich in Schwierigkeiten. Dieser Leon klang zwar aufrichtig und sympathisch, aber er konnte ebenso gut ein ausgezeichneter Schauspieler sein.
»Sie sagten, es gehe ihm nicht gut?«
»Er ist krank. Irgendein Fieber, glaube ich. Vielleicht eine Tropenkrankheit?«
»Unwahrscheinlich«, meinte Michail geistesabwesend. Unter anderem stellte das Labor biologische Kampfstoffe her, und vermutlich hatte sich Aleš dort irgendeinen beschissenen Virus eingefangen, der ihm die so hart erkämpfte Freiheit wieder versaute. Und daraus folgte, wenn ihm überhaupt einer helfen konnte, dann war es Michail.
»Ich komme zu Ihnen. Wo finde ich Sie?«
»Über dem Dreihundert«, antwortete Leon. Er gab die Adresse und eine Wegbeschreibung durch. Danach beendeten sie das Gespräch.
Nachdenklich löste Michail den Blick vom Telefon. Einerseits hatte Leon einen ehrlichen Eindruck gemacht, andererseits war das Labor ein Gegner, den man unter keinen Umständen unterschätzen durfte. Womöglich hatten sie Aleš in ihrer Gewalt und wollten nun auch Michail, der dem Spion bei seinem Ausstieg aus der Organisation geholfen hatte. Oder sie wollten den Karpaten als Köder, um die abtrünnige Laborratte aus ihrem Versteck zu locken.
Sein Blick fiel auf seine Sammlung antiker Schwerter, die zu einem Stern geordnet über dem Kamin hing. Einige Klingen hatte er mit Blut bezahlt, andere mit Geld und Gold. Die übrigen hatte er als Lohn bekommen oder als Geschenk erhalten. Jede einzelne besaß ihre eigene Geschichte und ihren besonderen Wert für ihn. Er grinste gefährlich. Aber nach Frankfurt würde ihn keins dieser alten Schätzchen begleiten, sondern das eine oder andere hübsche neue Spielzeug aus der Schusswaffen-Kiste.


* * *

Knapp eine Stunde später parkte Michail seinen BMW auf dem Platz hinter dem Dreihundert. Er stieg aus und sah sich aufmerksam um, doch er konnte nichts Verdächtiges erkennen. Die asphaltierte Fläche ruhte im mattgelben Schein der Straßenlaternen, die allesamt brannten, ohne zu flackern. In keinem der parkenden Fahrzeuge warteten irgendwelche Männer, weder in Nadelstreifen noch im Kampfanzug. Der kalte Novemberwind strich ungestört über den schwarzen Boden, unbelastet von befremdlichen Geräuschen oder ungewöhnlichen Gerüchen.
Ohne jedoch dem Frieden zu trauen, erklomm Michail die Treppe, die auf der Rückseite des Gebäudes zu einer Wohnung im ersten Stock führte. Auf sein Klingeln folgte ein Moment der Stille, bevor ein hochgewachsener Mann die Tür öffnete.
Michail unterdrückte den Impuls, sich auf die Zehen zu stellen. In seiner Jugend war er mit seinen sechs Fuß ein Riese unter den Zeitgenossen gewesen, doch inzwischen überragten ihn immer mehr Menschen. Sein Gegenüber maß an die zwei Meter. Pullover und Jeans betonten seine sportliche Figur, hinter der zweifellos ein gezieltes Training steckte. In einem normalen Faustkampf mochte der Hüne ein beeindruckender Sparringpartner sein – aber er war kein Gegner für einen schlachterprobten Vampir.
»Du musst Michail sein. Ich bin Leon.« Sein freundliches Lächeln spiegelte sich wider in dem warmen Blau seiner Augen, und wie um die Bedeutung seines Namens zu betonen, umwallte üppiges blondes Haar sein markantes Gesicht.
»Hi, Leon.« Michail unterdrückte ein freches Grinsen. Innerhalb eines Herzschlages hatte sich die Haltung des Blonden verändert; aus einem neutral-geschäftlichen Ausdruck war der Ansatz eines Flirts geworden. Wie so viele andere war Leon auf den ersten Blick dem vampirischen Charme des Karpaten verfallen. Wie konnte es auch anders sein? Michail wusste, in der schwarzen Ledermontur, die seinem athletischen Körper auf so aufdringliche Weise schmeichelte, mit seinem engelsgleichen Gesicht unter den dunklen, seidigen Haaren und den Augen wie tiefe Brunnen der Finsternis, war er schlichtweg unwiderstehlich.
Doch er war nicht zu seinem Vergnügen nach Frankfurt gekommen, sondern um einem Freund zu helfen, der auf die eine oder andere Weise in der Klemme steckte.
»Wo ist Aleš? Kann ich ihn sehen?«, drängte er. Wenn Leon jetzt irgendwelche Ausflüchte oder Ausreden von sich geben würde, um ihm das Zusammentreffen mit Kainar zu verwehren, würde dies die Falle verraten.
Aber der blonde Mann ließ ihn ohne Weiteres eintreten und führte ihn ins Gästezimmer. Wie der Rest des großzügig geschnittenen Apartments war der Raum stilsicher und mit modernen Möbeln eingerichtet, doch Michail hatte kein Auge für das geschmackvolle Interieur. Sein Blick galt allein Alexandr Kainar, der in dem breiten Bett schier verschwand. Auf der bleichen Stirn glänzte der Schweiß, während die Wangen fiebrig glühten. Ein unangenehmer Geruch hing in der Luft, wie der Vorbote des nahenden Todes.
»Aleš«, rief der Karpate leise, während er sich auf die Bettkante setzte. Angestrengt lauschte er auf den flachen, gequälten Atem und den erschreckend schwachen Herzschlag. »Ich bin's. Michail.«
Gefangen zwischen Schlaf und Bewusstlosigkeit murmelte Aleš ein paar unverständliche Silben. Seine Lider flackerten unruhig, doch die braunen Augen blieben geschlossen. Besorgt fühlte Michail seine Stirn und zog erschrocken die Hand zurück. Aleš brannte regelrecht! Wenn er nicht bald Hilfe bekam, würde er innerlich verglühen.
Er wandte sich an Leon. »Hast du einen Arzt gerufen?«
»Wollte er nicht«, antwortete der Blonde, und Michail verstand. Welche Krankheit Kainar auch immer quälte, sie hing mit seiner Vergangenheit als Laborratte zusammen. Ein Krankenhaus würde bestimmt ein seltenes Fieber diagnostizieren und Rat bei einem entsprechenden Spezialisten suchen, der wiederum im Dienste des Labors stehen würde. Michail ballte die Fäuste. Wäre der Anruf doch bloß eine Falle gewesen!
»Wir müssen die Temperatur runterkriegen«, überlegte er laut. »Und zwar so schnell wie möglich.«
»Packen wir ihn in die Badewanne.« Leon wandte sich zum Gehen. »Ich stell' schon mal das Wasser an.«
Er ließ Michail mit Aleš allein. Voller Sorge legte der Karpate seine kühle Hand auf das glühende Gesicht. Obwohl ihre erste und bislang einzige Begegnung kaum eine Nacht gedauert hatte, hatte Kainar ihn in seinen Bann gezogen. Nur allzu gerne wäre Michail ihm ein Freund gewesen, doch er gehörte zu eben jener hässlichen Vergangenheit, die Aleš hinter sich lassen wollte – und die ihn doch wieder eingeholt hatte.
Michail zog seine Lederjacke aus und ließ unauffällig die Pistole in der Innentasche verschwinden, ehe er Aleš aus den durchgeschwitzten Kleidern schälte. Vorsichtig hob er den Kranken auf seine Arme und folgte dem Geräusch von fließendem Wasser ins Badezimmer. Der Raum war im mediterranen Stil eingerichtet, mit sandfarbenen Wänden und braunroten Fliesen. Ein paar Grünpflanzen und zwei Terrakottavasen setzten Akzente, doch das Prunkstück war eine große, runde Wanne, in der mit Leichtigkeit zwei Personen Platz fanden.
»In dieser Riesenbütt geht Aleš ja unter«, entfuhr es Michail.
Leon, der gerade einen Stapel Handtücher aus einem Schrank nahm, drehte sich zu ihm um. »Bütt? Du kommst aus Köln?«
»Geboren wurde ich in den Karpaten. Aber wenn man eine Weile im Rheinland lebt, färbt das schon mal ab.« Er warf einen prüfenden Blick auf Aleš, dessen sehniger Körper mit unangenehmer Wärme gegen seine Brust presste. Die Hitze des Fiebers durchdrang sein T-Shirt und brannte auf seiner kalten Haut.
»Aus reiner Neugier: Wohnst du hier allein?«, erkundigte er sich. Die Überlegung, das Ganze könne eine Falle des Labors sein, hatte er längst fallen gelassen. Aleš hatte einfach das Glück gehabt, dass ihm ein guter – und gut aussehender – Samariter zu Hilfe geeilt war.
Leon warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Mein Freund Miôs müsste jeden Augenblick nach Hause kommen. Er arbeitet im Zoo als Tierpfleger.«
»Miôs? Das ist der griechische Name für den ägyptischen Löwengott Mahes. Ihr nehmt das mit dem Partnerlook wohl etwas zu ernst.« Er lächelte flüchtig. »Kommt dein Freund von dort? Aus Ägypten, meine ich.«
Brix schaute ihn verwundert an. »Wow. Das wissen nur wenige. Bist du Ägyptologe oder sowas?«
»Keineswegs. Ich habe einen …« Michail zögerte und entschied sich bewusst für das neue Modewort, »Lover, der aus Ägypten stammt. Ich habe eine Menge von ihm gelernt.«
»Ach ja?« Leon hob die Augenbrauen.
Michail lachte auf. »Oh ja. Und wir haben uns nicht nur mit Sprachen beschäftigt. Obwohl ich ein Talent dafür habe – für Sprachen, meine ich.«
Ein leises Stöhnen unterbrach sein Geplänkel mit Leon, und er blickte wieder auf Aleš hinab. Ihn überkam das unangenehme Gefühl, dass dessen Temperatur in den letzten Augenblicken weiter gestiegen war. Verdammt, wann wurde dieses Monster von Wanne endlich voll!
Kurzerhand trat er einen Schritt vorwärts und stieg in voller Montur in die Badewanne. Den reglosen Aleš sorgsam in den Armen bergend, lehnte er sich in das eiskalte Wasser zurück. Er merkte, wie seine eigene Temperatur in unangenehme Tiefen sank – aber auch Aleš' Körper kühlte ab. Je mehr Wasser ihn umspülte, desto besser schien es ihm zu gehen.
Ein Ruf aus den Tiefen des Apartments lenkte die Aufmerksamkeit auf sich, und Leon erklärte: »Das ist Miôs. Du kommst allein zurecht?«
»Kein Thema.« Kurz lauschte Michail auf die Schritte im Flur, die Haustür, die ins Schloss fiel, eine knappe Begrüßung, gefolgt von einer beredten Stille und schließlich Leons Stimme, die die Erlebnisse des Abends schilderte.
Ein Zittern lief durch Aleš' Körper. Seine Lider flatterten. Er öffnete die Augen und betrachtete seine Umgebung mit unstetem Blick.
»Du bist in Sicherheit.« Michail schloss seine Arme enger um die ehemalige Laborratte. »Ich bin's, Michail. Du erinnerst dich hoffentlich. Damals, am Staudamm. Und in meiner Hütte.«
»Deinem Landhaus, meinst du wohl«, murmelte Aleš.
»Egal ob Hütte oder Landhaus, Hauptsache, ein Dach über'm Kopf.« Erleichterung, dass Aleš zumindest wieder ansprechbar war, flutete über Michail hinweg. »Was machst du nur für Sachen, mein Freund? Lässt dich schon wieder von einem heißen Typen retten, eh?«
»Zu spät«, wisperte Aleš, und Michail spürte, wie sich der Aussteiger entspannt gegen ihn zurücklehnte. Nein, nicht entspannt – resignierend. Kainar wusste, er war dem Tode nah. »Mischa, ich werde es nicht schaffen. Das ist kein normaler Virus, sondern eine spezielle Züchtung des Labors. Ist die Krankheit erst einmal ausgebrochen, kann sie nichts und niemand mehr stoppen.«
Eine eiserne Faust legte sich um Michails Herz. Heiser fragte er: »Bist du sicher?«
»Todsicher. Ich weiß nicht, wann sie mir den Virus verpasst haben, aber jetzt ist es zu spät, um noch etwas dagegen zu unternehmen.«
»Nein, Aleš«, weigerte sich Michail, das Unabwendbare zu akzeptieren. Es musste doch eine Lösung geben! »Santos kann sicherlich …«
»Nein. Meine Zeit ist abgelaufen. Morgen früh bin ich Geschichte.«
Der Karpate fluchte verhalten. Seine vampirischen Sinne meldeten ihm erbarmungslos, dass Kainar seine Lage richtig einschätzte. Er konnte regelrecht den Tod hören, wie er sich mit leisen Schritten näherte. Selbst wenn der Wirtschaftsmagnat Santos nicht in den USA leben würde, würde es zu lange dauern, bis man in seinen Laboratorien ein Gegenmittel entwickelt hätte. Und so schwer es ihm auch fiel, Aleš sterben zu sehen, ihn zu einem Vampir zu machen, war ausgeschlossen. Er würde seinem Freund nicht die Seele rauben und ihm damit die wahre Unsterblichkeit vorenthalten. Das einzige, was er für ihn tun konnte, war ihm eine Existenz zwischen Leben und Tod zu schenken.
»Du könntest mein Blut trinken«, sagte er bedächtig. »Es würde dich in einen Ghoul verwandeln, und dann wärst du immun gegen jede Art von Krankheit, selbst gegen diesen künstlich erzeugten Virus.«
»Aber …?«
»Du würdest zugleich mein gehorsamer Diener werden.«
Aleš lachte rau. »Danke, aber nein danke.«
»Es ist nicht so schlimm, wie du glaubst«, versicherte ihm Michail hastig. »Du würdest ja nicht gleich zu einer Art Igor mutieren. Dein Aussehen bleibt dir erhalten, ebenso dein Verstand und vor allem deine Seele. Du verlierst lediglich die Fähigkeit, dich meinen Anweisungen zu widersetzen. Vertrau mir. Es soll dein Schaden nicht sein.«
Aleš schüttelte wortlos den Kopf. Er schloss die Augen und sank zurück in die Arme des Schlafes.
Michail seufzte lautlos. Fest biss er die Zähne zusammen, die leise zu klappern begannen. Die Kälte des Wassers hatte seine Knochen längst erreicht, doch die Kälte in seinem Herzen machte ihm viel mehr zu schaffen. Wie er Aleš bei ihrem ersten Treffen versichert hatte, war er nicht der Mann, der einem anderen die Freiheit raubte. Aber ein Ghoul war ihm lieber als ein toter Freund. Er wollte Alexandr nicht verlieren, nicht unter diesen Umständen.
Ich sollte es einfach tun, überlegte Michail. Sobald er sich verwandelt hat, wird er seinen Widerstand vergessen. Sicher, er hat sein Leben riskiert, um aus dem Labor zu entkommen, aber ich werde ihm ein besserer Herr sein. Außerdem brauche ich jemanden, der sich um meine Finanzen kümmert, und einem Ghoul kann ich bedingungslos vertrauen. Er nickte zufrieden. Zumindest für ein paar Jahre konnte Aleš bei ihm bleiben und ein friedliches und erfülltes Leben auf Schloss Drachenburg führen.
Er hob die Hände, um seine Pulsader zu öffnen, da kehrte Leon ins Badezimmer zurück. Ihn begleitete ein junger Mann, der nur Miôs sein konnte: Das schwarze Haar, die dunkle Haut und die ausgeprägten Gesichtszüge sprachen von seiner nordafrikanischen Abstammung, und Michail hatte genügend junge Araber kennen gelernt, um das entsprechende Heimatland einigermaßen einschätzen zu können.
»Hi, ich bin Miôs.«
»Michail.« Er streckte die Hand dem jungen Mann entgegen, der sich auf dem Wannenrand niederließ. Die Arbeit im Zoo hatte Miôs in einen Mantel aus strengem Tiergeruch gehüllt, doch unter den Ausdünstungen der grünen Kleidung entdeckte Michail den verheißungsvollen Duft des Orients nach exotischen Früchten, Gewürzen und heißem Sand. Die dunklen, fast schwarzen Augen nahmen ihn gefangen und zogen ihn hinab in die unendliche Tiefe seines Blickes. Um Michail herum verschwand das Badezimmer, Miôs und Leon lösten sich auf, Decke, Wände und Boden verloren an Substanz.
Einen Moment lang umwaberte grünbrauner Dunst um den Karpaten, ehe er sich an einem Ort wiederfand, den er sofort als das Ufer des Nils erkannte. Er lag in den trägen, schlammigen Fluten wie ein Krokodil, das die Wellen an Land gespült hatten. Über ihm leuchtete der Sternenhimmel mit überwältigender Klarheit, und der kühle Nachtwind raschelte leise in den hohen Papyrus-Stauden, die rechts und links sein Blickfeld begrenzten. Neben ihm hatte sich ein Löwe ausgestreckt und drückte ihn mit seiner Pranke in den Sand des Ufers. Nein, kein Löwe, es war eine Sphinx, ein Löwe mit einem Menschenkopf, nein, ein Mann mit Löwenkopf …
Michail blinzelte, da die Bilder ineinander überblendeten wie bei einer viel zu schnellen Diashow. Innerhalb eines Herzschlages wurde ihm klar, das war mehr als eine Vision. Vielleicht ein Ausflug in die Vergangenheit? Aber in wessen? Und warum?
»Wer bist du?«, fragte er in den paar Brocken Ägyptisch-Arabisch, an die er sich erinnern konnte.
»Du kennst mich unter dem Namen Maahes«, erklärte der Löwenmann, dessen Erscheinung sich langsam zu einer Sphinx stabilisierte. Vermutlich, weil dieses Bild den stärksten Eindruck in Michails Geist hinterlassen hatte. »Du hast etwas, das mir gehört.«
Michail spannte die Muskeln an. Maahes war ein wilder Gott, ein Gott des Krieges und des Blutes, und ja, er besaß tatsächlich etwas, das seinem Besitz entstammen mochte: Ein uraltes ägyptisches Schwert, dessen Parierstange in zwei Löwenköpfen auslief. Sein Liebhaber Achmeni hatte ihm einst dieses Prachtstück geschenkt als Andenken an ihre gemeinsamen Abenteuer in seinem Heimatland.
Maahes fuhr fort: »Ich bin bereit, das Leben deines Freundes gegen das Schwert meines Hohenpriesters einzutauschen.«
Michail stöhnte unterdrückt auf. Das war's mit seiner Schwertersammlung! Erst Michael, dann Maahes, dachte er mürrisch. Wer kommt als nächstes und will sein Schwert zurückhaben – Barbarossa? Karl der Große? 
Das leise Schwappen der Fluten des Nils gemahnte ihn an die reale Welt, in der er einen sterbenden Freund in seinen Armen barg. Die Löwenpranke, mit der ihn Maahes in das kalte Wasser drückte, brannte mit jeder Sekunde heißer auf seiner Haut und verriet ihm dadurch, dass Kainars Temperatur erneut anstieg.
»Einverstanden«, lenkte er ein, ohne recht zu wissen, warum er dieses schöne Schwert für Aleš opferte. In hundert Jahren würde der Spion nur noch eine langsam verblassende Erinnerung sein – aber an der antiken Waffe hätte er noch lange seine Freude haben können. Andererseits besaß Aleš eine auffallende Ähnlichkeit mit Janosch, seinem einstigen Spielgefährten und späteren Waffenbruder, den er viel zu früh verloren hatte.
Die Vision verschwand so übergangslos, wie sie gekommen war. Michail fand sich in dem mediterranen Badezimmer wieder. Miôs hatte sich leicht vorgebeugt, und seine Hände lagen auf Aleš' Brust. Ein sanftes, fast unsichtbares Licht flutete aus seinen Fingern und drang durch Kainars Haut in den fieberkranken Leib.
Michail wagte nicht, sich zu rühren. Das war es also. Dieser viel zu hübsche Bursche war auf irgendeine Art mit Maahes verbunden, vielleicht sogar sein Priester, und der Löwengott schenkte ihm die Macht, Alexandr aus dem Netz des Todes zu befreien. Voller Erleichterung nahm der Karpate wahr, wie das Fieber sank. Mit jeder Sekunde gewannen Herzschlag und Atmung an Kraft, und für einen kurzen Moment öffnete Aleš die Augen, ehe ihn der Schlaf der Genesung übermannte.
Blass vor Erschöpfung löste Miôs die Hände von Kainar. Er tauschte mit Leon einen wissenden Blick, ein aufforderndes Lächeln, und der blonde Hüne trat an seine Seite. Mit vereinten Kräften hoben sie Aleš aus der Wanne und wickelten ihn in ein großes, flauschiges Badetuch, ehe sie ihn ins Gästezimmer zurücktrugen.
Leise stöhnend sank Michail tiefer ins Wasser. Mühsam angelte er mit dem Fuß nach dem Stöpsel und zog ihn heraus. Noch während das kalte Nass abfloss, drehte er den Heißwasserhahn bis zum Anschlag auf. Gefangen zwischen der Erleichterung, Aleš außer Gefahr zu wissen, dem Missmut über den Verlust eines Schwertes und der Müdigkeit, die die Unterkühlung ausgelöst hatte, schloss er die Augen. Er lauschte dem beruhigenden Rauschen des Wassers, das nach und nach seine Umgebung erwärmte, und dachte an Janosch, der jetzt durch Aleš weiterleben würde.
Erst Leons Rückkehr ließ ihn wieder die Augen öffnen. Der blonde Hüne stellte ein Tablett mit Wein und einer Schale dampfender Hühnersuppe auf einem Hocker ab. Er kniete neben der Wanne nieder und fasste nach Michails Schulter. »Du bist ja immer noch eiskalt!«
»Der Winter in Russland war schlimmer.« Der Karpate zog das Knie an, um die Motorradstiefel auszuziehen, doch auf halbem Weg fing Leon seinen Fuß ab und begann, die Schnallen zu lösen. Das Schuhwerk hatte das unfreiwillige Bad überraschend gut überstanden, aber es würde eine Weile dauern, bis es getrocknet war.
Nachdem Leon die Stiefel auf einem Bodentuch abgestellt hatte, beugte er sich über den Karpaten. Sanft streichelten seine Hände über Michails Brust, während er den Saum des T-Shirts aus der Hose zog. Er schnurrte: »Komm, ich helfe dir.«
Genüsslich spürte Michail die Nähe des blonden Mannes. Das war doch genau die richtige Art, um sich wieder aufzuwärmen: ein Schlückchen Wein davor, ein Bisschen Blut danach … Ruckartig setzte er sich. Er drängte sich nicht blindlings in andere Beziehungen, schon gar nicht, wenn dem anderen Mann übernatürliche Kräfte zur Verfügung standen. Er hatte seine Lektion gelernt, damals, als er sich zwischen den Schlangenschatten Ladon und dessen Objekt der Begierde gestellt hatte.
»Was ist mit Miôs?«, verlangte er harsch zu wissen.
»Er sitzt bei Aleš und ruht sich aus. Aber er meinte, es wäre eine Schande, wenn ich mich nicht persönlich um das Wohlergehen unseres Gastes kümmern würde«, versicherte ihm Leon rasch. »Er hat mich regelrecht zu dir geschickt.«
»Wenn das so ist.« Er legte die Hand in Leons Nacken und zog den Blonden zu sich heran, um ihm seine Lippen auf den Mund zu pressen. Erwachende Erregung weckte seinen Hunger. Er fühlte Leons Hände, die seinen Gürtel lösten, und hob den Hintern, damit der andere ihm die durchweichte Hose abstreifen konnte.
Der Hüne lachte leise. »So kalt scheint das Wasser nicht mehr zu sein.«
Michail sah an sich herab. Er brauchte sich seines Körpers nicht zu schämen, egal, wie kalt das Wasser war. Dennoch: »Etwas mehr Wärme könnte ich schon vertragen.«
»Kommt sofort.« Im Nu entledigte sich Leon seiner Kleidung und stieg zu ihm in die Wanne. Geschmeidig spielten die Muskeln unter der Haut, die jetzt im Winter nur leicht getönt war. Michail zog den Hünen in seine Arme und schickte seine Hände auf Wanderschaft, während er Leons Mund ein weiteres Mal mit einem Kuss gefangen nahm. Doch schon bald löste er sich wieder von den weichen Lippen, um Wange, Kinn und Hals mit weiteren Küssen zu bedecken. Er spürte, wie sich der Herzschlag des Mannes beschleunigte. Heiß pulsierte das Leben und die Lust durch Leons Körper, und die Erregung benebelte seine Sinne. Michail rief die Verwandlung herbei. Seine Eckzähne verlängerten sich zu messerscharfen Fängen. Mit einem letzten Kuss markierte er die Stelle am Hals, an der er sich laben wollte. Dann biss er zu. Leon stöhnte auf, von Lust und Schmerz zugleich gequält. Michail fasste nach der Erektion, die sich hart und schwellend gegen seinen Leib drängte, und abgelenkt von seinen erfahrenen Händen bemerkte Leon nicht, dass sein Gast sich wie ein Blutegel an ihm nährte.
Aber ein Anderer bemerkte es. Als Michail gesättigt von dem Hünen abließ, erfasste ihn Leons Blick mit unerwarteter Majestät. Goldbraun färbten sich die blauen Augen. Die markanten Züge flachten ab und streckten sich zugleich, bis das Gesicht eines Löwen das menschliche Antlitz überlagerte. Michail schluckte hart. Seine Erregung verflog, während das Blut in seine Wangen stieg. Maahes. Der Löwengott, mit dem er um Aleš' Leben geschachert hatte, hatte von Leon Besitz ergriffen. Aber warum hatte er …? Das Löwengesicht verzog sich zu einem im wahrsten Sinne des Wortes raubtierhaften Grinsen. Schwindel erfasste Michail, als er bemerkte, dass der Körper immer noch einem Mann gehörte. Einem erregten Mann.
Seine Lippen bildeten einen lautlosen Fluch. Er wusste, er hatte verloren. Dieses Mal würde er unten liegen. Keine Gottheit ließ sich von einem kleinen Vampir ficken, und schon gar nicht eine, der er etwas schuldig war.


* * *


Obwohl eine lange, erschöpfende Nacht hinter Michail lag, fühlte er sich lebendiger denn je. Immer noch konnte er Maahes in sich spüren, und das nicht nur im biblischen Sinne. Er schien von innen heraus zu glühen, als würde Licht durch seine Adern fließen, und seine Haut war ungewöhnlich warm. Fast augenblicklich trockneten die klammen Kleider an seinem Leib, was ihm ein schiefes Grinsen entlockte.
Er durchschritt den Flur und blieb auf der Schwelle zum Gästezimmer stehen. Der warme Schein einer Nachttischlampe fiel auf das Bett und den Mann, der auf den hellen Laken seiner Genesung entgegenschlief. Aleš' Wangen hatten wieder Farbe bekommen, und sein Atem ging tief und regelmäßig. Michail lächelte zärtlich. Sein Einsatz in dieser Nacht hatte sich wahrlich gelohnt.
In einem Sessel neben dem Bett döste Miôs, doch als der Karpate seine Lederjacke aus dem Zimmer holen wollte, erwachte der junge Ägypter. Er musterte Michail von Kopf bis Fuß, aber wenn er das innere Glühen seines Gegenübers bemerkte, erwähnte er es mit keiner Silbe. »Du willst schon fahren?«
Michail nickte knapp. »Ich habe meinen Teil getan. Ihr kümmert euch doch um Aleš, bis er wieder gesund ist? «
»Das werden wir«, versprach ihm Miôs. Vorsichtig fügte er hinzu: »Ich weiß nicht, was für eine Krankheit dein Freund sich eingefangen hat, aber natürlichen Ursprungs scheint sie nicht zu sein.«
Michail zögerte, ehe er entschied, dass er ein wenig Vertrauen zu dem Maahespriester und seinem hünenhaften Freund haben konnte. Immerhin besaßen die beiden einen guten Draht zu den höchsten Kreisen. »Es ist ein künstlich gezüchteter Designervirus. Aber je weniger ihr darüber wisst, desto sicherer ist es für euch. Weder ich noch Aleš wollen euch weiter in die Sache reinziehen.«
»Habt ihr Ärger?«
»Wir sind eher die Typen, die Ärger machen.« Michail grinste flüchtig. »Ich möchte euch jedoch bitten, über diese Begegnung Stillschweigen zu bewahren. Niemand soll wissen, dass Aleš und ich in Kontakt stehen. Gewisse Leute halten Aleš für tot, und das soll auch so bleiben.«
»Was ist mir dir?«
Ich bin schon lange tot, lag Michail auf den Lippen, doch er verkniff sich die Antwort. Sollte doch Maahes die Fragen seines Priesters beantworten. Er selbst würde jetzt Frankfurt verlassen und nach Schloss Drachenburg zurückkehren in der Hoffnung, dass sein Besuch keinerlei Spuren hinterlassen würde – außer einem freien Platz in seiner Schwertersammlung.

Ob Kainar und Michail sich noch einmal wiedertreffen, ist nachzulesen in dem Episodenroman "Knie nieder und friss Feenstaub", der 2011 im dead soft verlag erscheint.

 


 

Charlotte Engmann:

Charlotte Engmann wurde 1971 in Neuss geboren und lebt jetzt in Köln, wo sie Germanistik, Anglistik und Geschichte studiert und eine Ausbildung zur Verlagskauffrau absolviert hat.

Im vergangenen Jahrzehnt wurden von ihr zwölf Einzeltitel und über dreißig Kurzgeschichten der Genres Fantasy und Horror veröffentlicht. In dem auf schwule Literatur spezialisierten dead soft verlag sind bislang drei Titel erschienen: Der Horror-Roman "Dämonen über Luxemburg", das Fantasy-Werk "Sturmbrecher" und der homoerotische Fantasy-Roman "Entführung nach Alhalon". Mit "Knie nieder und friss Feenstaub" soll im kommenden Jahr ein weiteres Buch beim gleichen Verlag erschienen.

Weitere Informationen zu ihren Werken und ihrem Wirken finden sich auf ihrer Homepage: www.charlotte-engmann.de