"Mord ohne Leiche" von Tanja Meurer

Part 2

Genre: Steampunk, Mystery, Drama

 

Anabelle war sich nicht im Klaren, ob die beiden Frauen in Zaidas Haus wirklich ausreichend Schutz fanden. Allein der bizarre Angriff auf Libby, der offensichtlich aus heiterem Himmel kam, sprach dagegen. Ohne Jewas Eingreifen wäre es vielleicht anders ausgegangen.Ein unschöner Gedanke. Momentan war sie anhand ihrer schwächer werdenden Zauberfähigkeiten hilflos. Ihre Gegner besaßen übersinnliche Gaben, denen sie nicht gewachsen war. Seit dem Angriff von Jewas Meisterin vor einem Jahr, verlor sie stetig den Bezug zu der geringen Restmagie in sich. Normal lastete die Anforderung auch nicht auf ihr. Victoria verlangte nur, dass sie ihr mit wissenschaftlichem Rat und körperlichem Schutz zur Verfügung stand. Für alles andere waren Zaida und Jewa da.

Anabelle rieb sich unwillkürlich die Schultern. Ihr Blick glitt zur Decke des Salons, in der ersten Etage befanden sich die Schlafräume und Bäder.

Jewa, bitte kümmere dich gut um die beiden Frauen.

„Nervös?“

Anabelle nickte, ohne Hailey anzusehen. Obwohl er sich freundlicherweise erboten hatte, Nachtwache zu halten, war ihnen beiden bewusst, wie wenig er ausrichten konnte.

Schon während der Rückfahrt hatte sie ihm alles erzählt. Im Gegensatz zu Zaida, die ihm selten vollständige Informationen weiter gab, verschwieg sie ihm nichts. Sie waren dieses Mal aufeinander angewiesen.

Sein Blick stach unangenehm in ihren Rücken. Wollte er eine Idee, einen Plan, oder suchte er einfach nur nach einer Möglichkeit ein Gespräch anzufangen?

Er schwieg. Jewa, die sich aus der Realität in ihre eigene Welt aus Kälte zurückgezogen hatte, lehnte neben Anabelle am Kamin. Ihr Blick verlor sich in den Flammen. Das warme Licht spielte auf ihrer fahlen Haut und den dunkelblonden Haaren. Die Härte, die sich in ihre Züge schlich, verdeutlichte, wie wenig ihr diese Situation gefiel. Ein dumpfes, unartikuliertes Knurren kam über ihre Lippen.

Hailey beantwortete es mit einem ähnlich sinnlosen Laut.

„Mon dieu! Ich habe auch keine weitere Idee mit was wir es hier zu tun haben, nur dass es etwas vielleicht etwas mit der Familie Fortesque zu tun haben könnte.“

Er schnaubte. „Nicht gerade viel, Missi?“

Sie musste sich nicht umwenden, um den Ingrimm in seinem Gesicht zu sehen. Er verströmte das Gefühl der hilflosen Wut. Allerdings wollte er auch nicht selbstständig nachdenken. Ihm seine Arbeitvollständig abnehmen? Nein. Sollte er ruhig mal seinen schwerfälligen Verstand nutzen!

Sie straffte sich. „Wir sollten Informationen sammeln und auswerten, Monsieur Hailey.“

Hailey stand auf. Der kleine Sessel ächzte leise. Er gesellte sich zu Jewa und ihr ans Feuer.

„Libby hat uns Hinweise gegeben, die sich auf den Vorfall beziehen, nur wenige bezüglich Pennys verschwinden – bis auf das, was sie gesehen und gehört hat.“

Aufmerksam musterte Hailey sie.

Ah, er dachte also doch noch mit.

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Wir wissen, dass Madame Fortesque sie entlassen hat. Warum? Möglicherweise um das Mädchen von Abigale fern zu halten.“ Sie machte eine vage Handbewegung. „Aber das ist nur eine Annahme, wie alles, was ich jetzt von mir gebe. Es sind unbestätigte Theorien.“

Er rollte mit den Augen. „Machen Sie schon.“

Mit gehobenen Brauen fuhr sie fort: „Vermutlich hat Libby auch irgendwann von ihrer Cousine Penny erzählt und natürlich, wo ihre Familie wohnt. Anders kann ich mir zurzeit nicht erklären, wie der Buttler der Fortesques ausgerechnet auf Penny Reed kommen könnte.“

„Zufall?“ Hailey zuckte die Schultern. „Schließlich sollten wir beide an soche eigenartigen Zufälle gewohnt sein, Miss Anabelle.“

„Ich bin Wissenschaftlerin. Zufälle gibt es selten, Monsieur Hailey.“

„Leben Sie mal eine Weile im Eastend, dann wollen Sie glauben, dass viele Geschehnisse nur vom Zufall gesteuert werden.“

„Das mag sein, aber gerade eben haben wir nur Theorien und keinen einzigen Beweis. Bevor wir nicht klar wissen, was Mademoiselle Reed passiert ist, müssen wir sture Ermittlungsarbeit leisten.“

Er stöhnte. „Schon klar, der schwerfällige Hailey kann ja die Lauferei erledigen.“

„Non, ich komme mit.“

Überrascht sah er sie an. „Miss?“

Sie stieß sich ab und lief im Salon auf und ab. „Ich bin nicht Zaida. Ein Fall lässt sich nicht vom Salon aus lösen. Ich muss alles selbst sehen.“

Er pfiff leise durch die Zähne. „Das ist mal was anderes, Missi.“

„Trotzdem sollten wir nicht aus den Augen verlieren, was Libby sagte. Das, was sie gesehen haben will, klingt nach einem Monster, was Mademoiselle Reed die Seele aus dem Leib …“ Sie blieb stehen. Erneut erwachten ihre Überlegungen. Konnte man so etwas ohne einen Kristall oder einen aktiven Magier? Magier … Was war der Mann ohne Gesicht, vielleicht genau das?

Haileys Blick haftete an ihr, während Jewa sie ignorierte.

„Ein Seelentransfer“, murmelte er.

Anabelle nickte. „Warum die Seele dieser Frau? Was macht sie zu etwas Besonderem?“

Er zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Sie soll sehr hübsch gewesen sein. Mehr habe ich über das Mädchen nicht gehört.“

Anabelle schnaubte. „Das ist keine Qualifikation, Monsieur.“

Ärgerlich legte er die Stirn in Falten. „Ich sage nur, was ich von den Männern aus der Gegend gehört habe.“

„Das mag sein, aber Schönheit ist kein Kriterium, um eine Seele zu extrahieren.“

Er hob die Schultern. Seine Mimik glättete sich etwas. Schließlich seufzte er. „Schon klar. Es geht nur um das, was die Person ist, welches Wissen und welche Talente sie mit sich bringt.“

Anabelle nickte ernst. „Was war das Besondere an Penny?“

„Was weiß ich?“, knurrte er, wobei er nach oben wies. „Die Frage können Ihnen die beiden Damen beantworten.“

 

*

 

Hailey saß wenig entspannt neben Anabelle, am Küchentisch. Er spielte unentwegt an seinen Fingernägeln herum.

Ihm gegenüber nahm Libby Platz, während ihre Tante sich mit großen Augen umsah. Natürlich stand sie Jewa, die noch immer mit der Hausarbeit beschäftigt war, im Weg, doch das schien sie nicht weiter zu berühren. Anabelle konnte nachvollziehen was in Mable angesichts vom so viel Platz und offenkundigem Geld vor sich ging. Im Gegensatz zu der beengten Wohnung im Eastend gab es hier alles im Überfluss.

In ihrer Mimik zuckte es. Muskeln um ihren Mund gaben ihr einen unruhigen Ausdruck. Sie wirkte nervös, unsicher. Scheinbar schien sie erst jetzt zu realisieren, dass sie in absoluter Armut lebte. Wahrscheinlich fühlte sie sich schlicht fehl am Platz. Nach einigen Sekunden setzte sie sich neben Libby.

„Und das bewohnen Sie allein?“

Anabelle schüttelte den Kopf. „Das Haus gehört einer lieben Freundin. Ich bewohne nur eine Etage.“

Mable zuckte unter diesen Worten erschrocken zusammen. „Sie sind nicht die Hausherrin?“

„Non. Ich lebe hier nur zur Untermiete.“

Mable riss die Augen auf. „Und ihrer Freundin ist das recht, dass so zwei fremde Frauen hier unterkriechen?“

Jewa stellte eine Porzellanterrine auf dem Tisch ab. Anabelle nahm den würzigen Duft von Borschtsch wahr.

russische Gerichte gab es selten. Zumeist stritten sich Zaida und Jewa um die Vorherrschaft in der Küche. Wer gewann, stand außer Frage.

Obwohl Anabelle essen und trinken konnte, nahm sie den Geschmack nicht mehr als solchen wahr sondern nur noch über den Geruchssinn, der zumeist ein vollkommen falsches Bild vermittelte; besonders bei der angolanischen Küche.

Aber wann saß sie schon mit anderen Personen gemeinsam bei Tisch? Die Küche war ohnehin der wohl unwahrscheinlichste Raum im ganzen Haus, in sie sich aufhielt.

Sie wartete, bis Jewa die Teller gefüllt und Brot auf den Tisch gestellt hatte. Um den Schein zu wahren, probierte sie einen Schluck des Weins, den Jewa ihr präsentierte. Sie wusste nicht, ob er zu der Suppe passte. Die Entscheidung überließ sie gewöhnlich den Personen, die kochen und etwas schmecken konnten.

Anerkennend nickte sie Jewa zu. „Eine sehr gute Wahl.“

Der Blick der sie traf drückte Jewas ganze Verachtung zu der Wahl aus.

Was denn? Ich kann es nicht einschätzen!

Jewa zog eine Braue hoch und schenkte den wein aus.

Haileys vernichtenden Blick ignorierte Anabelle. Er kannte die Charade und verachtete sie für dieses schlechte Laienspiel. Trotzdem enthielt er sich jedweden Kommentars.

Libby schien seine abwertende Mimik aufzufallen. Irritiert senkte sie den Kopf.

Wenn man nicht einordnen konnte, was geschah, war es immer am klügsten so zu tun, als habe man nichts bemerkt. Die Taktik ging sicher in den Kreisen der Bediensteten gut auf. Das machte diese Menschen zu wertvollen Informanten. Sie ar durchaus in der Lage einzuordnen, was andere sahe aber nicht verstanden.

Anabelle entfaltete die Servierte, strich sie auf ihrem Schoß glatt und nickte den beiden Damen auffordernd zu, nachdem Jewa die Suppenteller gefüllt hatte.

Scheinbar störten sich beide nicht daran, dass die stumme Russin sich zu ihnen gesellte. In vielen Haushalten war es üblich, dass einfachere Mitglieder der Herrschaft in der Küche mit dem Personal speisten. Vielerorts sorgte das für ein wenig mehr Offenheit zwischen den unterschiedlichen Gesellschaftlichen Rängen.

Anabelle nahm ein paar Löffel Suppe, die einfach nur dumpf schmeckten, aber angenehm dufteten, bevor sie sich an die beiden Damen wandte.

„Können Sie mir vielleicht ein paar Hinweise darauf geben, wie Mademaioselle Penny war?“

Mable, die gerade einen Löffel mit fettigem Suppenfleisch zu den Lippen geführt hatte, hielt inne. Der musternde Blick gefiel Anabelle nicht.

Aus den Augenwinkeln bemerkte sie Haileys schadenfrohes Grinsen. Unter dem Tisch trat sie ihm gegen den Fuß.

Bevor sein Verhalten auffiel, schlürfte er seinen Löffel leer.

„Sie war sehr hübsch und sehr beliebt.“ Libby richtete sich auf. „Jeder, der mit Penny zusammengearbeitet hatte, mochte sie.“

Besonders bei den Männern.

Allerdings verbiss sich Anabelle den Kommentar. Es war klüger niemand zu provozieren. Warum sie beliebt war, stand schließlich außer Frage, wenn sie tatsächlich so gut aussah.

„Dann war sie nett?“

Libby nickte. „Ja, sehr. Die Arbeiter in der Fabrik mochten sie, weil sie sich für einige Verbesserungen einsetzte.“

Hailey hustete. Er schien sich verschluckt zu haben.

„Eine Sozialistin?“ Wenn diese Andeutung zutraf, stand möglicherweise doch mehr hinter der hübschen, leichtlebigen Penny.

Libby sank in sich zusammen. Sie deutete ein Nicken an.

Interessiert hob nun auch Hailey den Kopf. Er tupfte sich die Lippen ab und nahm einen Schluck Wein. Er verzog die Lippen. Offenkundig war er ihm zu sauer.

„Erzählen Sie, mon ami.“

In das zerschundene Gesicht Libbys schlich sich neuerlicher Schmerz. „Sie war in der Fabrik beliebt bei den Arbeitern und Vorarbeitern. Sie setzte Veränderungen durch, die kein anderer für möglich gehalten hätte.“

Das klang verwaschen. Warum? Libby schien sehr an ihrer Cousine zu hängen. Aber wie gut konnte man einen menschen kennen, den man nur selten sah? Laut eigener Aussage war Libby im Haushalt der Fortesques rund um die Uhr eingespannt.

Nein, sie konnte Penny gar nicht so genau kennen. War es Hörensagen? Das was Mable ihr über Penny mitteilte?

„Und welche?“ Hailey lehnte sich zurück.

Libbys Blick huschte zu ihm. Zögernd öffnete sie die Lippen.

„Anhebung der Löhne, Senkung der Stunden und all so was, nehme ich an.“

Ihre Stimme versagte.

Hailey wandte sich ungerührt an Mable. „Können Sie mehr darüber sagen?“

„Penny war in der Gewerkschaft, das ist wahr. Sie hat auch wirklich ein paar Veränderungen bewirkt, aber ich glaube, das waren nur unbedeutende, so was wie Waschgelegenheiten, Extraportionen Essen, ein paar Pence mehr bei Überstunden, nichts Bedeutendes.“

Das klang schon mehr nach kleinen Vergünstigungen, die eine einzelne Person erwirken konnte. Die meisten aktiven Gewerkschaftler kümmerten sich um dieserlei Kleinzeug nicht. Ihnen lag mehr am Wohl der Menschen in den Fabriken oder sie stachelten die Arbeiter zu Revolten an. Gleich wie, ein Vollblutgewerkschaftler ging garantiert nicht mit Bobbys tanzen, sondern verbrachte seine Zeit mit gleichgesinnten Männern und Frauen.

Anabelle räusperte sich, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. „Wo genau hat Penny gearbeitet?“

„In der Weberei von Curver & Fortesque.“

„Wieder Fortesque.“ Eigentlich wunderte sie sich nicht einmal wirklich darüber. Derzeit stolperte sie alle paar Minuten über den Namen.

Sie warf Hailey einen Blick zu.

„Wir sollten der Fabrik und auch Madame Fortesque einen Besuch abstatten, mein lieber Freund.“

 

*

 

Hailey hatte sich nach einer unruhigen Nacht auf dem Sofa zu Hause frisch gemacht.

Gegen sieben Uhr in der Früh fuhr seine Droschke vor. Anabebelle löste sich vom Fenster und trat auf den Flur. Jewa hielt ihr den Mantel und einen Regenschirm hin.

„Merci, mon ami.“

Sie nahm beides entgegen, ohne sich fertig anzukleiden. Rasch griff sie nach ihrem Hut und eilte nach draußen.

Offenbar hatte sich der Himmel dazu entschieden anstatt vorweihnachtlichem Schnee herbstliche Niederschläge über London herab gehen zu lassen. Jedenfalls stand das Wetter in keinem Vergleich zu den arktischen Temperaturen des Vorjahres. Kälte und Hitze machten ihr nichts aus. Trotzdem mochte sie weder Regen noch Nebel oder Schnee.

Rasch huschte sie die Stufen hinab und eilte mit gerafften Röcken auf die Droschke zu. Der Fahrer hockte dick vermummt auf seinem Bock und beobachtete sie argwöhnisch.

Für die gesellschaftliche Stellung, die sie begleitete, nahm sie sich zu viel heraus. Wahrscheinlich belauerten einige konservative Nachbarn sie auch schon wieder in ihren Nachthemden und Morgenröcken. Ein Skandal vor dem Frühstück war doch in der Vorweihnachtszeit vortrefflich - Idioten! Letztlich war Anabelle gleichgültig, was andere Personen über sie dachten. Sie war eine Maschine. Warum musste sie Mensch spielen, wenn sie sich nicht so fühlte?

Über dieses Paradoxon wollte sie sich keine weiteren Gedanken machen.

Hailey erwartete sie bereits in dem offenen Wagenschlag. Er wirkte übernächtigt und ungeduldig, aber wenigstens suaber und rasiert.

„Bonjour, Monsieur Hailey.“

Rasch stieg sie ein. Hailey warf hinter ihr die Tür zu und schlug gegen das Droschkendach.

Zügel peitschten. Gehorsam setzte sich das Pferd in Gang.

„Morgen Miss Anabelle.“ Er deutete auf Mantel und Hut, die sie auf ihren Knien abgelegt hatte. „Ziehen Sie sich erst mal standesgemäß an.“

Sie stemmte sich aus den Polstern, um seiner Aufforderung nachzukommen.

„Sie sehen erschöpft aus, Monsieur.“

„Und Sie nass, Miss.“ Offenbar hatte er keinerlei Lust, sich mit ihr zu unterhalten. Bitteschön, sollte er. Anabelle zog sich den Mantel zurecht, um sich wieder zu setzen.

Neben ihm lagen mehrere Zeitungen. Anhand der Tatsache, dass sie zerknittert und durchgeweicht waren, konnte sie sich vorstellen, dass Hailey unter anderem wegen der Artikel missgelaunt sein musste.

„Schlechte Presse?“

Er nickte düster. „Sie haben noch keine davon gelesen?“

„Non, Monsieur. Ich war bis heute früh beschäftigt.“

Sollte er sich Gedanken darüber machen womit. Sie wollte nichts davon sagen, dass sie den Anhänger für Zaida fertig gestellt und die Nacht mit grübeln zugebracht hatte. Schlaf brauchte sie ja selten.

„Ich weiß, Jewa hat mich heute Früh verabschiedet.“

Er presste ärgerlich die Lippen aufeinander, reichte ihr dann aber den Stapel nassen Papiers. Allem Anschein nach hatte der Artikel es bei den meisten Blättern nicht auf die Titelseite geschafft. Immerhin. Damit schenkte die Bevölkerung der Sache weniger Aufmerksamkeit.

In den seriösen Blättern, dem Observer, der Times, dem Guardian und der Daily Telegraph, stand nur ein kurzer Abriss über das mysteriöse Verschwinden einer jungen Frau aus Ostlondon. Die Reporter hielten sich weder mit Spekulationen, noch mit wirren Räuberpistolen auf. Im Evening Standard klang die Berichterstattung noch etwas nebensächlicher, aber in der News of the World, der Pall Mall Gazette, dem Political Register und anderen Arbeiterzeitungen spannen die Reporter die Geschichte weiter. In einer Zeitung wurde Penny entführt, in einer anderen ermordet und ihr Körper in der Themse versenkt, ein weiteres Blatt sprach von einem unheimlichen Massenmörder, der durch die Armutsvierteln schlich und Frauen abschlachtete, allerdings fehlte diesem Tintenkleckser die Fantasie, sich auszumalen, was er mit den Leichen tat.

Fazit war, dass in jedem Blatt die Polizei der Sache Hilflos gegenüber stand.

„Mon dieu.“ Einerseits klang es erheiternd, was in diesen Blättern stand, andererseits schadete es dem Ansehen der Beamten, insbesondere Hailey und seiner winzigen vier-Mann-Abteilung.

„Mein Lieblingsartikel ist der Massenmörder.“

Hailey grunzte ärgerlich, ging aber nicht darauf ein. Viel mehr straffte er sich.

Anabelle legte die Zeitungen neben sich ab.

„Was haben denn die beiden Damen in der vergangenen Nacht noch alles erzählt, nachdem ich schlafen gegangen bin?“

Sie sah ihm ernst in die Augen. „Ein wenig mehr über Penny.“

Neugierig beobachtete er sie. Anabelle ließ sich Zeit. In aller Seelenruhe zog sie die Bänder ihrer Handtasche auf und entnahm einen kleinen Kamm.

„Spannen Sie mich doch nicht so auf die Folter, Mädchen!“

Sie hob eine Braue. „Monsieur …“ Plötzlich musste sie grinsen. „Schauen Sie in meine Tasche. Darin ist ein rostiges Medaillon mit einer Fotografie von Penny.“

„Anabelle, Sie sind ein Goldstück!“

Die Worte klangen so ehrlich, dass sich ihre Essenz freudig zusammen zog. Hailey war ein ehrlicher, aufrichtiger Mann, trotz aller Diskrepanzen ein wirklich guter Freund. Wahrscheinlich würde sie ihr Leben lang keinen besseren Gefährten und Verbündeten finden, wären nur nicht seine Gefühle für Zaida …

Erwartungsvoll fixierte er den unscheinbaren Stoffbeutel. Trotzdem wagte er nicht, danach zu greifen. Schüchterner Kerl. Sie lächelte, als sie die langen Haarnadeln aus ihrem Hut zog. Wenn er sich die Tasche nicht nahm, musste er den Moment noch warten.

Nervös befeuchtete er seine rissigen Lippen. In seinem Blick lag etwas, dass Anabelle bei ihm nicht kannte. War das schlichte Neugier? Nein, sicher nicht. Aber warum … Natürlich. Hailey musste ein Verbrechen bearbeiten, bei dem ihm das Opfer fehlte und er nur eine schwache Vorstellung der Frau bekam, Dank der Tatsache dass Mable und Libby gern ausschmückten, oder um das Thema herum redeten. Insofern konnte sie ihn gut verstehen.

Nachdem ihr Hut endlich fest saß und nicht bei jedem Londoner-Schlagloch wie ein Federbusch hüpfte, widmete sie sich dem Medaillon.

Den schlichten, ovalen Deckel verunzierten etliche Roststellen. In der Nacht hatte sie allerdings den Verschluss und die Scharniere wieder in Ordnung gebracht. Sie drückte den winzigen Hebel.

Hailey neigte sich über das blasse, leicht verschwommene Bild. Trotzdem es sehr klein war, konnte man deutlich sehen, wie bezaubernd Penny war. Die langen Locken umspielten ihr puppenhaft schönes Gesicht. Ihre riesigen Rehaugen starrten den Betrachter aus dem Medaillon heraus an. Der Blick zeugte von Unschuld und Verführung. Wie alt sie auf der Aufnahme sein mochte, konnte Anabelle nur raten.

Behutsam nahm Hailey ihr das Schmuckstück ab. „Wie schön sie ist.“

Sie nickte. „Oui. Dieses Mal teile ich die Meinung aller. Penny ist eines der schönsten Mädchen, was ich je gesehen habe.“

Er hob den Blick, bevor er die Hand fest um den Anhänger schloss. „Meinen Sie, dass Penny ihre Schönheit vielleicht zum Verhängnis wurde?“

Während der Nacht, hatte sie sich darüber ausgiebig Gedanken gemacht, ohne zu einer brauchbaren Erklärung zu kommen.

Die Wahrscheinlichkeit lag sogar nah, auch wenn sie nicht genau sagen konnte, inwieweit das Aussehen etwas mit der Qualität einer Seele zu tun haben mochte. Dass ein Seelentransfer stattgefunden hatte, stand ja letztlich außer Frage.

Sie verschränkte die Arme vor der Brust und starrte eine Weile nach draußen, in den Regen. Vor ihren Augen verschwammen die Häuserzeilen zu grauen Schemen, die mit dem Wasser auf der Scheibe in Schlieren auseinander liefen und sich zusammenzogen.

„Anabelle?“

Er dachte offenbar, dass sie sich geistig schon wieder verlor. Sie musste schmunzeln.

„Ich bin noch da, Monsieur Hailey.“

Unbeholfen rutschte er auf der Bank nach vorn. „Ich dachte nur. Weil Sie nicht geantwortet haben.“

Sie wandte sich ihm wieder zu.

„Leider habe ich keine befriedigende Antwort. Wir müssen abwarten, was eine Befragung in der Fabrik ergibt.“

 

*

 

Feuchtigkeit kondensierte an den kleinen, verschmutzten Kassettenfenstern des Büros. Feine Wassertröpfchen hinten in Staubwehen und Spinnweben. Durch die winzigen Scheiben fiel kaum Licht.

Der Raum beherbergte zwei ausladende Schreibtische und mehrere Regale, angefüllt mit Rechnungsbüchern und Warenlisten.

Ein alternder, gebeugter Sekretär bearbeitete ungerührt seine Post, sortierte sie, ging sie flüchtig durch und stempelte sie ab. Ihm schien gleichgültig zu sein, dass zwei Beamte im Zimmer standen. Er setzte zwischendurch seine Brille ab und reinigte die Gläser an seiner Weste. Neben ihm stapelten sich ungeöffnete Briefe und Rechnungsbögen, an denen mit Bleistift Randnotizen gekritzelt worden waren.

Anabelle warf einen flüchtigen Blick auf den Briefkopf des oben liegenden Schreibens im Eingangskorb. Der Briefkopf stammte von Charles Digby Harrod.

Harrods? Das Kaufhaus vertrieb bisher nur Nahrungsmittel, Parfum und Schreibwaren. Wollte der Großhändler sein Sortiment auf Stoffe und Kleidung ausweiten?

Insofern das zutraf, würde die Weberei einen finanziellen Aufschwung erleben.

Anabelle schob sich näher an den Tisch des Sekretärs. Unauffällig fokussierte sie ihren Blick.

Sehr geehrter Mr. Curver,

eingangs möchte ich erwähnen, dass mir die Vorführung Ihrer Ware und die außergewöhnliche Qualität aufs vortrefflichste zugesagt hat. Unter der Darbietung …

Der Sekretär zog den Briefkorb heran und warf einen Stapel bearbeiteter Post auf das Schreiben. Absicht? Wahrscheinlich.

Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, dass auch Hailey der Briefbogen nicht entgangen war.

„Inspektor Hailey, Miss Tallyrand?“

Engländer - selten gelang es ihnen das ey in Talleyrand auszusprechen. Sie anglisierten einfach alles.

Anabelle wandte sich um.

„Talleyrand“, verbesserte sie, während sie ihre Hand ausstreckte.

Der Mann, der eingetreten war, mochte Mitte zwanzig sein, kein klassischer Genleman. Er zählte er zu dem Typus Arbeiter, ein breitschultriger Kerl mit freundlichen, offenen Gesichtszügen und dem typischen Oberlippenbart, der zurzeit modern war. Sein lockiges Haar fiel ihm widerspenstig in die Stirn. Trotz des feinen Zwirns, den er trug, verrieten seine Hände, dass er eher gewohnt war anzupacken.

„Sorry, Ma’am.“ Er lächelte, wobei er eine Reihe gesunder, aber schiefer Zähne entblößte. Auch sein Händedruck war kräftig, vielleicht sogar etwas zu fest.

„Ich bin Charles Curver - der Sohn, versteht sich.“

Der Firmeneigner war demnach sein Vater. Eigentlich logisch, ansonsten würde er bestenfalls als zweite Person im Firmennamen geführt.

Danke für diese Information.

Anabelle nickte, als sei diese Nachricht keine Neuigkeit. „Oui Monsieur. Ich bin von nichts anderem ausgegangen.“

Curver deutete eine Verneigung an und wies auf den zweiten Bürostuhl, den einzig freien Sitzplatz. Sie kam der Aufforderung zögernd nach. Hoffentlich protestierte das Holz nicht zu stark unter ihrem Metallkörper.

Das Leder knisterte leise. Offensichtlich war der Bezug alt. So vorsichtig sie konnte, ließ sie sich in die Polsterung sinken. „Merci.“

Der offenkundig lüsterne Blick, mit dem Curver sie musterte, gefiel ihr nicht. Hinter seinen zusammengezogenen Lidern funkelten die Augen. Er strich deutlich interessiert an ihrer Gestalt hoch und wieder hinab. Schließlich blieb sein Blick an ihrem Gesicht hängen. Er schien es beinah erst jetzt zu bemerken.

Was fand er an ihr? Gab es für Männer nichts Wichtigeres als Äußerlichkeiten?

Das war doch nichts als eine hübsche Hülle. An ihrem einst lebenden Körper hätte er sicher weniger Interesse entwickelt.

Er leckte sich über die Unterlippe.

Was denkst du? Was tust du gerade in deiner Vorstellung mit mir?

Eigentlich wollte sie davon gar nichts wissen. Aber sein Interesse war so offenkundig und plump, dass es ihr Übelkeit bereitete.

Hast du das auch bei der schönen Penny getan – dir vor Gier die Lippen geleckt? Sicher. Penny war eine Schönheit gewesen, die vermutlich nichts anbrennen ließ und sich nicht allen an einen Mann verschwendete. Dieses Exemplar schien als Partner für gewisse Stunden wie geschaffen zu sein. Lüsternes Schwein … Hilflose Wut ballte sich in ihr zusammen. Hoffentlich sah er ihr diese Gedanken nicht allzu gut an.

Hailey trat zu Anabelle. Seine schwere Hand legte sich beinah liebevoll auf ihre Schulter. War das sein Versuch sie zu beschützen?

Sie musste lächeln. Guter Hailey, lieber Freund.

Langsam entspannte sie sich.

Er ergriff das Wort. „Mr. Curver, Sie kannten Miss Penny Reed?“

Überrascht hob er die Brauen. „Das war eine meiner Arbeiterinnen.“ Er rieb sich den Kiefer. „Sie ist gestern nicht zur Arbeit erschienen, weshalb ich einen Laufburschen zu ihre geschickt hatte. Der sagte mir, dass ihr möglicherweise etwas passiert sein könnte.“ Er unterbrach sich. „Sind Sie wegen Penny da?“

Er schien zumindest leidlich gut informiert zu sein. Wahrscheinlich hatte auch er Zeitung gelesen. Pennys Name wurde zwar nicht breitgetreten, aber zumindest beschrieben einige Reporter die Gegend und erwähnten, dass es sich bei dem Opfer um eine Fabrikarbeiterin handelte.

Hailey grunzte ärgerlich. „Sie kennen ihre Arbeiter aber ziemlich gut, wenn Sie mit dem Namen auch gleich die Person assoziieren können.“

Womit Hailey recht hatte. In der Weberei allein arbeiteten hunderte Frauen und Männer, von der Färberei ganz zu schweigen.

Curver zuckte unbeeindruckt die Schultern. „Sie war ein außergewöhnliches Mädchen. Man konnte sie nicht übersehen.“

Das denke ich mir. Wahrscheinlich kanntest du sie sehr genau.

Der Sekretär räusperte sich. „Sir?“

Curver ignorierte ihn. „Natürlich kenne ich meine Angestellten. Schließlich arbeite ich täglich mit ihnen zusammen. Besonders Miss Reed stach aus der Masse hervor. Sie angagierte sich stärker als alle anderen Arbeiterinnen.“

Er erregte sich. Seine Stimme nahm schrille Züge an. Offenbar schien ihm Penny tatsächlich etwas bedeutet zu haben. Nun galt es, ihn nicht überschnappen zu lassen. Ein Gespräch in Wut endete zumeist mit beleidigtem Schweigen.

„Was war ihre Aufgabe in Ihrer Fabrik, Monsieur Curver?“

Er stutzte. „Nun ja, sie war eigentlich nur für die Arbeit an einem der neuen, elektrifizierten Webstühle verantwortlich.“

Hailey grunzte leise. „Keine Aufgabe, in der man sich sonderlich hervortut.“

„Non, Monsieur le Inspekteur." Anabelle wandte sich ihm zu. „Da irren Sie. Die Webstühle, von denen Monsieur Curver spricht, werden nicht mehr wie bisher bedient. Sie werden überwacht und gewartet. Arbeiter an einem solchen Webstuhl zu sein bedeutet, Mechaniker und Elektriker zu sein. Das ist eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe.“

Hailey verzog zweifelnd das Gesicht.

„Sie kennen sich aber gut aus Ma’am.“

Anabelle legte die Hände übereinander. „Ich bin Ermittlerin und Wissenschaftlerin im Auftrag von Madame la reine, Victoria.“

Etwas in dem Blick Curvers veränderte sich. Er musterte sie. Alle Freudnlichkeit verschwand aus seinem Gesicht.

„Eine Expertin also?“

Der Tonfall – er spie die Worte fast aus. Die Wandlung in seinem Verhalten deutete auf ein Geheimnis hin, dem sie gerade mit ihrer Eröffnung zu nah gekommen sein musste.

„Was stört Sie daran, Monsieur?“

„Gerade vor einer Weile war erst ein Inspektor der Königin da und hat meine Fabrik und alle Maschinen bis ins Kleinste getestet …“

„Demnach gab es Grund zu …“

„Nein.“ So verärgert wie er klang, hatte sie ins Schwarze getroffen. Demnach gba es etwas zu verbergen, Details, die möglicherweise mit Penny Reed zu tun hatten, insbesondere weil sie mehr war als eine einfache Arbeiterin. Dieses Mädchen wurde wirklich interessant. Wer war sie? Was war sie? Hinter dem schönen Puppenantlitz steckte mehr – Technikerin, Mechanikerin, Gewerkschaftlerin.

Wer bist du, Penny Reed?

Er zog seine Taschenuhr aus der Weste und ließ sie aufschnappen. Ohne einen Blick darauf zu werfen räusperte er sich. Seiner Mimik nach zu urteilen würde er sie gleich hinaus bitten. Seine Augen verengten sich.

„Ich möchte den arbeitsplatz von Miss Reed sehen.“

Haileys Stimme klang nach einem Befehl, der kein Nein erlaubte. Er zog die Brauen zusammen und ballte die Fäuste. Seine Wut war ihm unverkennbar in das Gesicht gemeißelt. Die Lippen ähnelten nur noch einem dünnen Stirch, während zwischen seinen Brauen eine Steile Falte zu seinem Haaransatz strebte. Mit vorgeschobenem Unterkiefer und zornesroten Wangen schlug er seine flache Hand auf den Tisch des Sekretärs. Seine Pranke krampfte sich zusammen. Er zerknüllte das Papier, was direkt darunter lag. Curver und sein Assistent zuckten beide zusammen, offenbar entging ihnen, dass Hailey den Bogen, den er zerdrückt hatte, in seiner geballten Faust verbarg und einen Moment später in die die Tasche seines Mantels verschwand.

Bewundernswert, mit welcher Dreistigkeit Hailey vorging. Er war Ostlondoner, ein Schlitzohr und ein Säufer, aber auch ein hellwacher und talentierter Beamter.

Anabelle erhob sich. „Monsieur Curver, es wäre angeraten, sich dem Gesetz nicht weiter in den Weg zu stellen, bevor ich persönlich bei der Königin eine Untersuchung der Fabrik erwirke und selbst die Untersuchung überwache. Das wollen Sie doch sicher nicht?“

Sein Blick umwölkte sich zusehends. Er presste die Lippen aufeinander. Gut dass er und dieser wiederwärtige Sekretär ausschließlich auf sie achteten. Haileys klebrige Finger sackten weitere Schriftstücke ein.

„Stehe ich in irgendeiner Weise unter Verdacht, etwas mit Penny Reeds Verschwinden zu tun zu haben?“

„Sie behindern absichtlich und in äußerst plumper Weise die Ermittlungen, Sir.“ Hailey beendete den Satz mit einem leisen, knurrenden Geräusch, setzte aber sofort wieder an, bevor Curver etwas sagen konnte: „Dass Sie sich damit verdächtig machen, steht wohl außer Frage. Ich muss Ihnen wohl kaum erklären, dass Ihre Antworten nicht ausreichen, um die berechtigte, polizeiliche Neugier zu befriedigen, insbesondere weil sich der Eindruck aufdrängt, dass Miss Reed eine durch und durch wertvolle Mitarbeiterin Ihrer Produktionsstätte war.“

Curver schnappte nach Luft.

Bewundernswert, Hailey einmal in voller Fahrt zu erleben und nicht sein Opfer zu sein. Anabelle musste sich ein zufriedenes Grinsen verkneifen.

„Ich möchte den Webstuhl untersuchen und die Kollegen von Mademoiselle Reed befragen. Mir wäre es sehr lieb, Moniseur Curver, vollkommen freie Hand zu bekommen.“

Er nickte abgehackt. „Wallace wird Sie begleiten.“ Mit einer knappen Handbewegung wies er auf den alternden Sekretär.

Ein Aufpasser? Nun gut, vielleicht war es sogar keine schlechte Idee. Mit etwas Glück oder den Einschüchterungsversuchen von Hailey mochte das auch gelingen. Wallace sah zumindest nicht so aus, als habe er viel mehr Mut als sein junger Chef.

Sie strich sich ihr Kleid glatt und zupfte den Kragen ihres Mantels zurecht.

Hailey trat auf den jungen Mann zu. „Halten Sie sich bitte zu Verfügung, Mr. Curver.“

Offenbar hatte er den Bogen überspannt. Wut blitzte in Curvers Augen auf. Um seine Mundwinkel zuckten die Muskeln.

Offenbar musste Curver seinen Zorn schwer zurückhalten. Schließlich räusperte er sich. „Gleich habe ich einen Termin. Dürfte ich Sie beide nun bitten?“

 

Während Hailey dem Serkretär über die Galerie in die Fertigungshalle hinab folgte, blieb Anabelle an der Tür stehen und wandte sich zu Curver um.

„Monsieur, ich möchte Ihnen eine Frage stellen, eine sehr persönliche Frage.“

Die Mimik Curvers hatte sich gerade erst wieder ein wenig entspannt. Nun zuckte sein Augenlid nervös. „Was, Ma’am?“

In seiner Stimme klangen Unbehagen, aber auch eine leise Drohung durch.

Er wirkte wenig beeindruckend mit dem Angstschweiß auf der Stirn.

Anabelle neigte sich zu ihm. „Ihre Antwort wird in keinem Polizeibericht auftauchen, Monsieur.“

Eine Braue zuckte hoch. Er schwieg.

„Gab es zwischen Ihnen und Mademoiselle Penny Reed eine persönliche, außerberufliche Beziehung?“

Er räusperte sich. „Sie haben recht, Ma’am, die Frage ist persönlich. Deswegen werde ich sie auch nicht beantworten.“

Anabelle musterte ihn. Seine Mimik verschloss sich, zugleich drehte er einen einfachen Goldring immer wieder nervös an seinem Finger. Volltreffer.

„Danke, das ist mir Antwort genug, Monsieur.“

 

*

 

Hailey befragte die Arbeiterinnen und Arbeiter, die zusammen mit Penny in einer Art Gruppe gearbeitet hatten. Anabelle hörte nur mit halbem Ohr zu. Der Webstuhl war ein wahres Wunderwerk der modernsten Technik. Die Elektrifizierung der Stadt schritt rasend schnell voran. Nahezu alle großen Werke schlossen sich Stück um Stück an das Stromnetz an. Um Konkurenzfähig zu bleiben, bemühten sich kleinere Fabriken wie Curver & Fortesque, ihre Investitionen ebenfalls auf die Neutechnologisierung zu verlegen. Die Webstühle, die nun elektrisch betrieben wurden, waren weitaus weniger als die herkömmlichen mechanischen, aber effektiver und akkurater, zumindest solang sie beständig gewartet und die Verschleißteile ausgetauscht wurden.

Die elektrische Einzelfadensteuerung war Bestandteil des Bonelli-Webstuhls, aber die Vollelektrifizierung wurde gerade erst in den deutschen Werkstätten der Firma Siemens getestet. Interessant. Der Webstuhl wäre ein Schmuckstück für die nächste Weltausstellung.

Es war gar nicht einmal schwer nachzuvollziehen, in welcher Weise dieser Apparat funktionierte. Er war einfach, intelligent und effektiv. Von wem auch immer er hergestellt worden war - nirgends ließ sich ein Firmenlogo finden.

Eigenartig. Keine Maschinenmanufaktur ließ sich diese Art von Werbung entgehen.

Was wiederum interessant war, die ganzen wuchtigen, dicken Leitungen verliefen nicht, wie sooft über Kabelbrücken nach oben, sondern verschwanden im Boden. Anabelle kniete nieder. Unter alle den ganzen Seidenfäden, fand sie Aussparungen, Schächte, ausgekleidet mit Blech, die hinab führten. Offenbar baute sich die Werkshalle so auf, dass es hier eine Zwischenebene gab, in der die Kabel verliefen, was es den Technikern im Fall eines Kurzschlusses einfacher machte, die Reparaturen anzugehen. Intelligent gelöst.

Anabelle erhob sich. „Monsieur Wallace?“

Der Sekretär löste sich von Haileys Seite. Er blieb neben Anabelle stehen.

„Ja, Ma’am?“

„Ich würde mir gern das Technikgeschoss ansehen, wo die Kabel hinverlaufen.“

Wortlos hob er eine Braue.

Was sollte diese Reaktion. Verstand er nicht?

„Bitte?“, fragte er verspätet.

„Ich möchte mir gern Ihre Technik etwas genauer ansehen, Monsieur Wallace.“

„Das müsste ich erst Mr. Curver fragen, Ma’am.“

Anabelle verschränkte die Arme vor der Brust. „Vite, s’il vous plaît. Schnell.

 

Wenig erfreut eilte Curver hinter Wallace her, der aufgebracht schimpfte.

„Was hat die uns eigene Technik bitte mit dem Verschwinden von Penny zu tun?“ Seine Stimme dröhnte über den Lärm der Webstühle. Binnen Sekunden lag die vollständige Aufmerksamkeit aller Arbeiter in der Werkshalle auf ihm.

Anabelle verschränkte die Arme vor der Brust.

„Monsieur Curver, solang uns noch jedwedes Motiv fehlt, müssen wir mit allem arbeiten, was wir vorfinden.“

Irritiert sah er sie an. „Motiv?“

„Es kann sein, dass sie entführt wurde.“

Sie wies auf die Maschine. „Diese Technik ist noch sehr neu, eigentlich als solche noch gar nicht auf dem Markt. Zusätzlich ist die Maschine nicht ausgewiesen und damit natürlich auch für Produktionsspionage nicht uninteressant. Da sie Technikerin war, ist ihr Wissen über diesen Webstuhl weitaus tiefer gehend als bei anderen Arbeitern. Sie wäre also ein wertvolles Opfer für jeden anderen Stofffabrikanten.“

Seine Kinnlade klappte herab. Tatsächlich war diese Ausführung einfach nur eine an den Haaren herbeigezogene, aber zumindest logische Ausrede, um sich genauer damit zu befassen. Curver schien darauf hereinzufallen.

„Dann wissen Sie also noch gar nicht, warum Penny entführt, verschleppt oder ermordet wurde?“

Anabelle schüttelte den Kopf. „Non, Monsieur. Leider nicht.“

Sie wies auf den Webstuhl. „Moglicherweise um Ihnen diese Technik zu stehlen.“

Er senkte den Kopf. In seiner erschlaffenden Haltung lag Resignation. „Dann kommen Sie, Ma’am.“

 

Curver musste sich erst den Schlüssel zu dem Technikgeschoss unter der Werkshalle aus seinem Büro holen, kam aber schnell wieder. Er wirkte blass und abgespannt.

Als er die Stahltür zu der Leitertreppe aufsperrte, die hinab führte, seufzte er nur noch, als läge ihm nah zu reden. Aus irgendeinem Grund konnte er nicht.

Er schaltete das Licht ein und kletterte in einen trockenen, staubigen Zwischenraum, in dem er kaum auftrecht stehen konnte.

Hailey hätte hier nur gebückt gehen können. Diese Doppelbodenkonstruktion ruhte auf einer Ansammlung von Stahlträgern und Stützen, die die Vibbration und das immense Gewicht der Webstühle abtrugen. Rund um die Stützen sammelten sich Kabelbündel, die farblich unterschiedlich markiert worden waren. Die meisten davon schienen Strom zu führen. Leichte Vibbartionen leiteten sich ab. Das dumpfe Wummern der Maschinen verschwand fast vollständig in der massiven Decke.

Anabelle richtete sich auf. Sie konnte hier problemfrei stehen. Das alles schien ausschließlich auf kleine Menschen oder Frauen angepasst worden zu sein, passend für Penny.

Penny … die Maschine ohne Firmenlable. War sie an der Konstruktion beteiligt gewesen?

Anabelle maß die Raumhöhe nachdenklich. Einiges deutete darauf hin.

„Mademoiselle Penny war die Erfinderin Ihrer Maschinen, non?“

Er zuckte zusammen. Seine Schultern sackten nach vorn. In seinem fahlen Gesicht sammelte sich Schmerz.

„Sie war eine außergewöhnliche Frau, ein intelligenter, unternehmungslustiger Mensch, gar nicht wie die stumpfen Weiber aus dem Eastend. Sie sah meine Konstruktionspläne und konnte mir sofort sagen, wo etwas nicht funktionierte.“

„Sie und Penny …“ Anabelle seufzte. „Ja, sie war eine besondere Frau, Monsieur Curver. Ich glaube aber, dass sie tot ist.“

Er nickte schwerfällig. „Ma’am, ich weiß, dass sie nicht mehr lebt. Sie musste sterben, weil sie woohl in etwas verstrickt war … ihre ewige Neugier …“

„Wie?“ Anabelle spannte sich. „Wovon reden Sie?“

Er schluckte hart, bevor er sich mit dem Handrücken über die Augen fuhr. „In der Nacht, in der sie verschwand, wollte sie unbedingt mit mir reden, aber ich hatte Besuch. Lady Fortesque war mit ihrem Buttler bei mir.“

Wieder die Fortesques! Anabelle ballte die Fäuste.

„Warum mitten in der Nacht?“

„Es ging um die Anteile ihres verstorbenen Sohnes an der Fabrik. Sie wollte sich aus der Produktion heraushalten, den Namen auf Curver & Son ändern lassen, um nur noch als stille Teilhaberin zu fungieren, sagte sie. Sie investiere in andere technische Projekte, würde sich aber gern an der Technisierung der Fabrik und den Gewinnausschüttungen beteiligen.“

Anabelle schnappte nach Luft. Also waren Penny und die Fortesques an diesem Punkt aufeinander getroffen. Aber das erklärte noch lang nicht alles.

Innerlich kochte sie. Nur mit Mühe drängte sie ihre Neugier herab. „Erzählen Sie einfach, Monsieur.“

Er nickte verbissen. „Wir wollten gerade die Verträge im Beisein meines Vaters besiegeln, da platzte Penny herein. Als sie meinen Vater sah, wollte sie gleich wieder gehen.“

„Warum?“

„Er hatte ihr innerhalb der letzten Jahre, die sie für uns arbeitete, immer wieder besondere Aufgaben zugeschanzt, die sie für Anhebung ihres Lohns und ihrer Position lösen sollte. Das lehnte sie strickt ab. Sie wollte dafür Vergünstigungen für die Arbeiter haben.“

Daher also … Gewerkschaftlerin im Herzen. Anabelle musste lächeln. Sie war ein gutes Mädchen.

„Diese Vereinbarung lief außerhalb aller Verträge und Absprachen mit Fortesque. Das war alleinig unsere Sache.“

„Wie reagierte Madame Fortesque auf Penny?“

Unbehaglich hob er die Schultern. „Eigenartig. Sie schien Penny interessant zu finden. Ihr Blick änderte sich. Es war als …“ Er stockte, hob hilflos die Schultern und schüttelte den Kopf. „Da war ein besonderes Interesse, Neugier vielleicht – ich weiß nicht so recht.“ Er zuckte die Schultern. „Sie bat Penny sogar zu bleiben und wollte anschließend mit ihr reden.“

„Sie ging aber doch an diesem Abend verfrüht nach Hause, oder?“

Er nickte. „Eigentlich wollten wir uns treffen, aber dazu kam es ja nicht mehr.“

Anabelle nagte an ihrer Unterlippe. „Sie sagten, sie habe vielleicht etwas übernommen, was sie das Leben gekostet haben könnte?“

„Sie hatte es angedeutet. Darüber wollten wir uns unterhalten. Es ging wohl um etwas nicht gerade Legales.“

Wie gut das doch plötzlich alles ineinander passte.

Das Bild setzte sich zusammen.

Anabelle nickte düster. Dieses Mädchen war wertvoll – vielleicht viel mehr als sie alle glaubten.

 

 

~ to be continued ~



 

Tanja Meurer:

Tanja Meurer, geboren 1973, in Wiesbaden, ist gelernte Bauzeichnerin aus dem Hochbau und arbeitet seit 2001 in bauverwandten Berufen und ist seit 2004 bei einem französischen Großkonzern als Dokumentationsassistenz beschäftigt. Nebenberuflich arbeitet sie als Illustrator für verschiedene Verlage.

Tanja Meurer über sich selbst:

Als Tochter einer Graphikerin und Malerin blieb es nicht aus, dass ich schon sehr früh mit Kunst in Berührung kam, weshalb ich auch seit 1997 nebenberuflich als Illustratorin arbeite.
Seit meiner Kinderzeit schreibe ich auch. Mit 8 Jahren kamen die ersten – zugegeben sehr lächerlichen – Krimis zustande. Während der Schulzeit habe ich das erste Mal eine Geschichte für den Verkauf in der Schule auf PC geschrieben.
1997 kam die erste Kurzgeschichte in einem Fantasy-Magazin heraus und vier Jahre später weitere.
2007, 2009, 2010 und 2011 gewann ich sechs Ausschreibungen, wobei die Kurzgeschichten und –Romane bei Kleinverlagen erschienen.

Die stärksten Einflüsse kommen bei mir durch Autoren wie E.T.A. Hoffmann, Oscar Wilde, Hermann Hesse und Neil Gaiman.

Mehr über mich findet ihr unter:
www.tanja-meurer.de