"Mittwinter"
von Tina
Alba
(Genre:
Fantasy, Romane)
Diese
Geschichte ist ein Offspin zu meinem im März bei Blitz erscheinenden Roman
„Feuersänger“. Die Szene kommt im Roman nicht vor, aber wenn Ihr auf den
Geschmack gekommen seid und mehr über Feuersänger und seine Freunde erfahren
wollt, dann könnt Ihr ab März weiterlesen.
Und
nun viel Spaß mit
Mittwinter
Feuersänger
starrte aus dem winzigen Fenster und traute seinen Augen nicht. Der Wald hatte
sich über den Tag hinweg in ein weißes Kleid gehüllt. Dick und schwer lag
das helle, schimmernde Zeug auf den Ästen der Silberbäume, hatte die Wiese
unter sich begraben und bedeckte die Sitzbänke am Versammlungsplatz. Jedes
Baumhaus war von einer im Sternenlicht bläulichweiß glitzernden Kappe
bedeckt. Kalter Wind pfiff um Sängers Nase. Er schauderte und ließ den
schweren Ledervorhang schnell wieder vor die kleine Öffnung fallen. Brr. Wenn
ein Nithyara etwas verabscheute, dann die Kälte des Winters – auch wenn
dieses weiße Zeug eine seltsame Faszination auf Sänger ausübte. Leise kroch
er wieder zur Schlafstatt, auf der sein Lehrmeister Sternenglanz noch tief und
fest schlief. Neben ihm lag zusammengerollt Silbersang, der Legendenbewahrer.
Feuersänger betrachtete ihn mit einem liebevollen Blick – Silbersang war
mehr als ein Freund, mehr als ein Geliebter für ihn. Er war sein Ta'nesha,
sein Seelengefährte. Das Beste, was ihm je passieren konnte.
Mit
einem Lächeln ließ Sänger seine Hand in Silbersangs weiches Haar kriechen
und kraulte ihn hinter einem spitzen Ohr. Silbersang seufzte im Halbschlaf,
gab ein leises Grummeln von sich, dann öffnete er träge die Augen.
„Ta'nesha!
Was ist los, warum schläfst du nicht?“
Sänger
grinste. „Ich war wach, und weil es sowieso bald Zeit für das Frühstück
ist, wollte ich mich nicht noch einmal umdrehen. Silbersang, es ist etwas
merkwürdiges passiert, draußen ist alles weiß!“
Zu
Sängers Überraschung nickte Silbersang nur. „Der erste Schnee, das war zu
erwarten.“
„Sch...nee?
Zu erwarten?“ Sänger merkte, dass er seinen Ta'nesha aus großen Augen
angesehen haben musste, denn Silbersang grinste, richtete sich auf und strich
ihm durchs Haar.
„Ja.
Schnee. Sag bloß, du hast noch nie Schnee gesehen, Ta'nesha!“
Sänger
schüttelte den Kopf. Dort, wo er gelebt hatte, bevor der Überfall durch die
Schattendämonen sein Dorf und seinen Clan ausgelöscht hatte, hatte es nie
strenge Winter mit so viel Frost und Kälte gegeben. Und dieses weiße Zeug,
das Silbersang Schnee nannte, auch nicht. Manchmal hatte ein wenig Raureif auf
den Bäumen im Wald vor den Höhlen gelegen, aber nie solche dicken weißen
Matten.
„Wenn
es in den Wäldern schneit, ist das ein gutes Zeichen dafür, dass wir das
Schlimmste vom Winter hinter uns haben. Du wirst es merken, wenn du
hinausgehst. Es ist nicht mehr so kalt. Der Schnee mag eisig aussehen, aber er
wärmt doch die Erde. Ah, herrlich – Zeit, das Mittwinterfest
vorzubereiten!“
„Das
was?“ Sänger kam sich auf einmal ziemlich dumm vor.
„Mittwinter“,
kam es aus den Fellen hinter Silbersang, und Sternenglanz kam hinter ihm zum
Vorschein, das Haar verstrubbelt und die Augen noch nicht ganz offen. „Ich
wollte dir alles darüber erzählen, wenn es an der Zeit ist. Also...“ Er gähnte.
„Heute. Bereite das Frühstück vor, und während wir essen, erklären wir
es dir.“
Sänger
neigte den Kopf und eilte zu seinen beinahe schon vergessenen Schülerpflichten.
Er kochte Tee, buk Fladenbrot und stellte noch eine Schale mit Nüssen und
getrockneten Beeren zu dem Honigtopf und den eingelegten, kalten Fleischstücken,
die beim gestrigen Essen übriggeblieben waren. Sänger stellte alles auf ein
Tablett, balancierte es zur Schlafstelle und schenkte für alle Tee ein. Wie
es sich gehörte, wartete er, bis sich Sternenglanz etwas genommen hatte,
wartete auch noch auf Silbersang, erst dann griff er selbst zu. Neugierig sah
er die beiden älteren Nityhara an.
„Also,
was hat es denn nun auf sich mit diesem Mittwinterfest? Wie kann man den
Winter feiern? Ich würde viel lieber feiern, wenn er vorbei ist und man sich
wieder hinaus trauen kann, ohne gleich zu erfrieren!“
Sternenglanz
grinste. „Wir feiern die Mitte des Winters. Danach werden die Nächte wieder
kürzer und wärmer. Das feiern wir. In Mitternachts Palast wird ein großes
Fest stattfinden, der ganze Clan wird dort sein. Die Halle wird mit immergrünen
Zweigen und silbernen Sternen und Monden geschmückt, es wird gegessen und
dann werden wir tanzen und singen, um den Winter auszutreiben.“
Sänger
lauschte fasziniert – das hörte sich gut an. Mitternachts Palast war wohl
tatsächlich das einzige Baumgebäude im Dorf das groß genug war, den
gesamten Clan zu fassen. Er glaubte, den Duft von gebratenem Fleisch, Süßigkeiten
und heißem Würzwein schon riechen zu können.
Silbersang
warf Sternenglanz einen Blick aus belustigt funkelnden Augen zu. „Das
Wichtigste hast du vergessen! Das Mittwinterfest ist nämlich auch ein Fest
der Geschenke. Jeder macht einem anderen, der ihm besonders viel bedeutet oder
den er sehr mag, ein kleines Geschenk zum Mittwinterfest.“
Sternenglanz
nickte. „So weit war ich noch nicht. Silbersang hat natürlich Recht – es
gibt Geschenke. Kleinigkeiten, die meisten verschenken zu diesem Fest etwas,
das sie in der kalten Zeit selbst hergestellt haben.“
Sänger
nickte. Seine Gedanken, die eben noch bei dem „Schnee“ gewesen waren,
begannen, sich um Dinge zu drehen, mit denen er seinem Lehrmeister und vor
allem seinem Ta'nesha eine Freude machen konnte. Etwas Selbstgemachtes? Sänger
schaute auf seine Hände. Er war nie ein guter Handarbeiter gewesen – er
konnte seine Kleider flicken, ein wenig sticken, Messer schärfen, Seile
flechten und Netze knüpfen, all die Dinge, die für das Überleben in den Wäldern
wichtig waren. Aber etwas Künstlerisches, etwas, das einfach nur schön war
und ein geliebtes Herz erfreuen konnte? Über so etwas hatte er sich noch nie
Gedanken gemacht. In seinem Dorf hatte er hübsche Dinge, die er seinen Lieben
schenken wollte, eingetauscht. Er war nicht geschickt mit Feder und Pinsel wie
Silbersang, er konnte nicht so kunstvoll schnitzen wie Sternenglanz und nicht
so feine Stoffe weben wie Sonnenwende. Er konnte keine so wunderbaren
Ledermasken herstellen wie Mondsichel und keine feinen Armbänder knüpfen wie
ihre Schülerin Kristallfunke. Sänger seufzte in seinen Tee.
„Was
ist los, Ta'nesha? Freust du dich nicht auf das Fest?“
„Doch,
schon... ich denke nur nach!“ Er lächelte. Auch wenn es schwierig war,
irgendetwas würde ihm schon einfallen. Vor allem für Silbersang sollte es
etwas ganz Besonderes sein. Vielleicht konnte er ja auch hier etwas
eintauschen. Oder doch versuchen, etwas selbst zu machen. Hatte Sternenglanz
nicht gesagt, er bräuchte dringend eine neue Jagdtasche? Sänger grinste in
sich hinein. Ja, mit Leder konnte er umgehen, und er hatte noch einiges an
Fellen von seinen erfolgreichen Jagdausflügen, aus denen er noch nichts für
sich selbst hergestellt hatte. Ja. Sternenglanz würde eine neue Tasche
bekommen. Aber Silbersang?
Eine
Hand stahl sich in das Haar in seinem Nacken. „Hör auf zu brüten, Ta'nesha.
Komm, zieh deine wärmsten Sachen an – wenn du noch nie Schnee gesehen hast,
dann musst du ihn aus der Nähe anschauen. Es ist zwar kalt, aber es ist auch
wunderschön!“
Sänger
verzog das Gesicht. „Ich hab's doch gesehen... vom Fenster aus. Der Wind ist
widerlich. Ich mag da nicht raus.“
Silbersang
grinste und Sternenglanz zerzauste Sänger das Haar.
„Silbersang
hat recht, du solltest es dir ansehen. Es ist wirklich wunderschön.“ Er
griff hinter sich und warf Sänger seinen Fellumhang zu – Sänger hatte sich
angewöhnt, in den Umhang gewickelt zu schlafen, als die Nächte immer kälter
und kälter wurden. Sänger sagte nichts, aber er nahm den Umhang und schlüpfte
in die wärmsten Kleider, die er besaß. Dazu zog er sich hohe Stiefel mit
Fellstulpen darüber an.
„Ich
kann mich kaum bewegen... ich hoffe, dass es das wert ist!“ Sänger duckte
sich, als Silbersang ein Fellkissen nach ihm warf, und öffnete die Tür, die
aus dem Baumhaus auf die Balustrade führte. Der kalte Wind ließ ihn zurückzucken,
doch Silbersang stand bereits hinter ihm in der Tür und schob ihn sanft vorwärts.
Sänger trat auf die Balustrade hinaus. Der Schnee knirschte unter seinen Füßen.
Auf den Stegen zwischen den Baumhäusern und unten auf dem Versammlungsplatz
sah er hier und da Fußspuren im tiefen Schnee, aber bis auf die Wachen am großen
Feuer unten auf dem Platz war niemand unten. Aus den Hütten schimmerte hier
und da goldenes Licht. Es war still. Noch nie hatte Sänger eine solche Stille
erlebt. Für einen Moment schloss er die Augen und atmete tief die klare Luft,
dann sah er sich um.
Der
ganze Wald sah aus, als sei er mit Sternenstaub überpudert. Wie winzige
Diamantsplitter funkelte der Schnee im Mondlicht. Es war, als lägen das Dorf
und der Wald unter einem Bann. Die Welt schlief, der Winter hatte sie
zugedeckt mit seinem Schnee.
„Gefällt
es dir?“
Sänger
nickte. Er trat beiseite, damit Silbersang und Sternenglanz ihm folgen
konnten, dann beugte er sich hinunter und hob mit seinen behandschuhten Händen
ein wenig Schnee auf. Er spürte die Kälte durch das fellgefütterte Leder,
aber für einen Moment vergaß er sie, als er sich den Schnee genau ansah.
Waren das wirklich Tausende und Abertausende winzig kleiner Sterne? Er pustete
hinein, ein wenig Schnee stob davon, der Rest schmolz in seinem warmen Atem.
„Aber...
das ist ja... Sternenstaub!“
Silbersang
nickte mit einem Lächeln auf den Lippen. „Ja, es sieht ganz genauso aus,
nicht wahr? Aber es ist nichts als gefrorenes Wasser... es kann auch nichts
anderes sein. Die Sterne sind nicht so kalt.“ Er zog seine Handschuhe aus
und nahm Schnee auf die bloße Hand. Er schmolz in wenigen Augenblicken und
zurück blieb nichts als Wasser, das Silbersang sich von der Hand leckte,
bevor er die Handschuhe wieder überstreifte.
„Kommt,
wir gehen zur heißen Quelle. Bei so einem Wetter ist es herrlich dort. Glaub
mir, Ta'nesha, ein Winterbad ist etwas ganz besonderes.“
Sänger
sah auf. „Glaubst du etwa, dass ich mich bei dieser Kälte an der Quelle
ausziehe? Vergiss es. Da kann das Wasser noch so heiß sein, ich werde
erfrieren, noch bevor ich mich hineinsetzen kann!“
Sternenglanz
lachte. „Du musst ja nicht baden.“
Sie
zogen los, drei fest in warme Mäntel und fellgefütterte Stiefel und
Handschuhe gehüllte Gestalten, deren silbriges Haar schimmerte wie der
Raureif auf den Bäumen. Sänger rückte die schwarze Halbmaske über seinen
Augen zurecht – er war noch nie so froh über den Brauch seines Volkes
gewesen, solche Masken zu tragen, das weiche Leder wärmte sein Gesicht und
hielt den scharfen Wind ab. Ohne die Maske würde ihm die Nasenspitze
abfrieren, da war er sicher. Er fror, und wie alle Nithyara hasste er es zu
frieren, aber Silbersang und Sternenglanz hatten recht – der Winterwald war
wunderschön. Schimmernder Schnee und glitzernder Raureif, wohin er blickte,
schillerndes Eis auf den Steinen nahe der heißen Quelle, deren vertraut
schwefliger Wasserdampf wie eine dichte weiße Wolke in der kalten Luft hing.
„Es
sieht aus, als wäre ein Stück Himmel herunter gekommen...“ Sänger
streckte seine behandschuhte Hand aus und berührte den dichten Nebel. Feine
Raureifkristalle bildeten sich an seinen Fingerspitzen. Er betrachtete sie
fasziniert. „Es ist wirklich wunderschön.“
Eine
Weile blieben sie bei der Quelle, dann wanderten sie durch den Wald, und
Silbersang und Sternenglanz zeigten Sänger die Wunder, die der Winter zu
bieten hatte. Als sie schließlich durchgefroren in Silbersangs Hütte
beieinander saßen und heißen Gewürzwein mit Honig teilten, schwebten vor Sängers
innerem Auge noch immer die Bilder von Raureif, Schneeflocken und Eiszapfen.
Er mochte die Kälte noch immer nicht, aber der kleine Ausflug hatte ihn
gelehrt, Schnee und Eis zu mögen. Und nun verstand er auch ein wenig besser
warum Eisstern, der Gefährte von Königin Mitternacht, seinen Namen so
mochte. Eissterne waren wunderschön, auch wenn sie kalt waren.
Die
Zeit verging, der Frost blieb, und das Mittwinterfest rückte näher und näher.
Sänger nutzte die Zeit, die Sternenglanz auf kurze Kundschafterausflüge
ging, um die Jagdtasche für seinen Lehrmeister zu nähen. Silbersang
beobachtete ihn dabei, während er über seinen Schriftrollen saß und schrieb
und zeichnete. Sänger fragte sich, ob Silbersang ihm wohl etwas schenken würde.
Vielleicht eine Geschichte? Oder eines seiner wunderbaren Bilder? Er seufzte
innerlich, denn er wusste noch immer nicht, was er seinem Ta'nesha, seinem
Seelenbruder und Geliebten, dem Mann, der für ihn das Wichtigste in seinem
Leben geworden war, schenken sollte. Das Fest war auf den fünfzehnten Tag des
zweiten Eismondes festgesetzt worden. Sänger fluchte innerlich. Eine Woche
noch. Die Tasche zu nähen hatte ihn fast zwei Wochen Zeit gekostet, weil er
nur daran arbeiten konnte, wenn Sternenglanz fort war. Silbersang aber war
immer in seiner Nähe. Er wollte es nicht anders, ganz und gar nicht – aber
wie bei der Sternengekrönten und dem Dunkelmond sollte man ein Geschenk für
jemanden basteln, der einem ständig auf die Finger schaute?
Silbersang
schien seine Unruhe zu bemerken, denn er kam zu ihm herüber und setzte sich
neben ihn. Sänger, der gerade letzte Hand an das Geschenk für Sternenglanz
legte, ließ die Arbeit aus den Händen gleiten und lehnte sich an Silbersang.
Silbersang hob die Tasche aus Fell und Leder auf und nickte anerkennend.
„Sternenglanz
wird sich freuen. Sag nie wieder, du könntest nichts mit seinen Händen
anfangen. Die Tasche ist sehr schön. Und praktisch!“
Sänger
seufzte. „Sternenglanz wird sich sicher freuen, auch über ein praktisches
Geschenk. Aber... sag, Ta'nesha, was wünschst du dir?“
Silbersang
lächelte, hauchte Sänger einen Kuss auf das Haar und dann einen auf die
Nasenspitze.
„Ich
bin wunschlos glücklich“, flüsterte er in Sängers Ohr, so sanft, dass die
feinen Härchen in seinem Nacken sich sträubten und ihn ein wohliger Schauer
überlief. Sänger schloss die Augen und seufzte. Er ließ eine Hand unter
Silbersangs Robe wandern und berührte die weiche warme Haut darunter. „Ich
auch“, flüsterte er. Für einen Moment vergaß er die Sorge um ein
Geschenk, als Silbersang begann, ihn sanft zu berühren. Sänger ließ sich
fallen, erwiderte die Zärtlichkeiten und sie vergaßen die Zeit und den
Winter. Zwischen ihnen war nichts als Wärme und Zärtlichkeit.
Der
Tag des Festes kam näher und näher. Überall wurden Vorbereitungen
getroffen. In die schneebedeckten Bäume wurden Lichter gehängt, die wie
Sterne leuchteten und die tiefe Finsternis des Winters vertreiben sollten. Von
den immergrünen Tannen und Fichten wurde der Schnee abgeschüttelt, die Männer
schnitten Zweige und die Frauen flochten in Mitternachts Halle Girlanden aus
Fichtenzweigen und Tannengrün. Die Girlanden wurden mit getrockneten und
kandierten Früchten und würzigem Honiggebäck geschmückt und dann in der
Halle aufgehängt. Überall wurde gearbeitet, gekocht und gebacken. Jeder, der
es vermochte, trug seinen Teil zum Gelingen des Festes bei. Silbersang würde
auf seiner Harfe spielen, die alten Lieder singen und eine Geschichte
vorlesen. Die Kundschafter würden einen Jagdtanz aufführen und die Männer
und Frauen von Mitternachts Wache einen Schaukampf. Sänger hatte lange darüber
nachgedacht, was er würde tun können – er würde zu den Feuern in der
Halle singen und den anderen Nithyara zeigen, wie er mit seinen Liedern das
Feuer beeinflussen konnte. Er hatte zudem einen Korb mit getrocknetem und
mariniertem Fleisch vorbereitet, den er zum Festessen beisteuern wollte. Die
Jagdtasche für Sternenglanz war in ein Stück Pergament gewickelt, das
Silbersang mit kunstvollen Verzierungen versehen hatte.
Nur
für Silbersang hatte Sänger noch immer nichts. Was er sich auch überlegt
hatte – bei näherem Hinsehen hatte sich jede Idee in seinen Augen als zu
wenig, zu klein, zu unwürdig, zu nichtssagend herausgestellt. Einfach als
nicht besonders genug. Und nun war es nur noch eine Nacht bis zum Fest, und Sängers
Hände waren noch immer leer. Am Tag, als Sternenglanz und Silbersang tief und
fest schliefen, lag Sänger wach und zergrübelte sich den Kopf. Bis zum Abend
hatte er noch wenige Stunden, es musste sich doch etwas finden lassen... aber
alles, woran er dachte, zerrann wie Eis in der Nähe des Feuers, wenn er sich
sein Geschenk in Silbersangs Händen vorstellte. Was, wenn sein Ta'nesha von
dem, was er ihm gab, enttäuscht sein würde? Er konnte den Gedanken nicht
ertragen, Silbersang enttäuscht zu sehen oder traurig. Als die Abenddämmerung
hereinbrach, war Sänger klar, dass er ohne ein Geschenk für seinen Ta'nesha
zum Mittwinterfest gehen würde. Er weinte beinahe bei dem Gedanken – aber
er wollte lieber gar nichts schenken als etwas, was sich für ihn nicht
richtig anfühlte. Noch lange vor den anderen stand er auf, wusch sich das
Gesicht und schlüpfte in seine besten Kleider. Wenn Silbersang und
Sternenglanz aufwachten, wollte er ihnen ein Lächeln zeigen.
Es
gelang ihm, und als sie gemeinsam durch den Schnee zu Mitternachts Baumpalast
stapften, konnte Sänger seine Traurigkeit sogar für eine Weile vergessen. Es
war, als sei der Wald über den Tag hinweg verzaubert worden. Überall in den
Bäumen hingen Lichter, es sah aus, als seien die Sterne vom Himmel gefallen
und in den Strickleitern und den Geländern der Brücken, die die einzelnen
Baumhäuser miteinander verbanden, hängen geblieben. Das ganze Dorf
leuchtete, funkelte und glitzerte. Mitternachts Baumpalast sah aus wie ein
schimmerndes Juwel. Musik schwebte durch die Nacht, der Duft von gebratenem
Fleisch, süßem Gebäck und Würzwein wehte ihnen entgegen, als sie den
Palast betraten. Sänger ließ sich forttragen von der Atmosphäre des Festes.
Für einen Moment konnte er vergessen. Mit den anderen zusammen sang er, aß
und trank und tanzte, verfolgte die verschiedenen Darbietungen und sang schließlich
selbst eines der Lieder seines alten Clans, während Silbersang dazu die Harfe
spielte. Als er für das Feuer sang und die Flammen zu der Melodie seines
Liedes tanzten, genoss er den Jubel und das Lachen des Clans.
Erst,
als es später wurde und sich ein Hauch gespannter Erwartung über alles und
jeden legte, kehrte das mulmige Gefühl in Sängers Magengrube zurück.
Sänger
zuckte zusammen, als Mitternacht einen Gong schlug, der das allgemeine
Gemurmel, Lachen und Scherzen zum Verstummen brachte.
„Die
Nacht hat ihren Höhepunkt überschritten und der Winter die Hälfte der ihm
zustehenden Zeit“, klang die Stimme der Königin durch den Saal. „Feiert,
mein Clan, feiert und zeigt eure Freude, indem ihr anderen eine Freude macht.
Jetzt ist es Zeit, die Geschenke zu überreichen!“
Sofort
bildeten sich überall kleine Grüppchen, in denen verpackte Kleinigkeiten den
Besitzer wechselten. Bänder wurden gelöst, die ersten Freudenschreie und
dankbaren Umarmungen wurden ausgetauscht. Sänger holte die eingepackte Tasche
hervor und reichte sie Sternenglanz mit gesenktem Blick.
„Für
dich, Sharass. Ich verdanke dir mein Leben. Ich danke dir, dass du mich
aufgenommen hast und mein Lehrer geworden bist. Ohne dich wäre ich nichts als
eine zerbrochene Klinge.“
Sternenglanz'
Augen leuchteten bei Sängers Worten. Silbersang stand ein wenig abseits und
beobachtete mit einem feinen Lächeln auf den Lippen Lehrer und Schüler,
Sharass und Sha'ir. Sternenglanz nahm das Paket aus Sängers Händen, wickelte
es aus und strahlte über das ganze Gesicht. Er umarmte Sänger und küsste
ihn auf die Wange.
„Danke,
Sha'ir. Ich werde sie stets in Ehren halten und sie wird mich immer an dich
erinnern. Für dich habe ich auch etwas...“ Er zog ein langes schmales Päckchen
aus seinem Gürtel. Sänger nahm es mit zitternden Händen. Es wog schwer in
der Hand.
„Öffne
es!“ Silbersang trat neugierig näher und spähte Sänger über die
Schulter, als dieser das Päckchen öffnete. Darin lag ein langer, schlanker
Dolch in einer Scheide, die man sich in den Stiefel stecken konnte. Sänger
betrachtete die im Kerzenlicht schimmernde Klinge, die aussah wie feinster
Seidenstoff.
„Sharass!
Oh... das ist wunderschön!“
Sternenglanz
lächelte. „Eine Klinge für eine Klinge“, sagte er sanft, „ich kenne
dich, Feuersänger, und ich weiß, was in dir schlummert.“
Sänger
spürte, dass er unter seiner Maske errötete. Er umarmte Sternenglanz.
„Danke, Sharass. Ich werde mich ihrer würdig erweisen.“
Sternenglanz
nickte. „Ich weiß. Und nun werde ich euch beide einen Augenblick allein
lassen.“ Er zwinkerte Silbersang zu, der sich mit einem Lächeln Sänger
zuwandte, dann nahm er von einem Tablett, das von einer von Mitternachts Zofen
herumgetragen wurde, einen Becher mit heißem Wein und trat zu der Königin.
Wenig später streiften sie Seite an Seite durch die Halle und unterhielten
sich leise miteinander. Sänger schluckte. Jetzt war er da, der Moment der
Wahrheit, jetzt musste er dem, den er am meisten von allen liebte, sagen, dass
er mit leeren Händen vor ihm stand. Silbersang trat auf ihn zu und zog ihn in
eine ruhige dunkle Ecke an einem der Fenster. Mitternachts Palast war das
einzige Gebäude mit größeren Fenstern, die mit kleinen, dünn geschliffenen
Kristallscheiben versehen waren. Der Blick nach draußen war wie verzaubert
– die Lichter auf der Balustrade vor dem Baumpalast brachen sich in den
Kristallfensterchen und die Bäume sahen aus wie durch ein Kaleidoskop
betrachtet. Silbersang sah Sänger an, lächelte und zog etwas aus seinem Gürtel,
eine schmale, dünne Lederrolle.
„Es
ist nur eine Kleinigkeit“, sagte er, „aber ich hoffe, du freust dich
trotzdem.“
Sänger
nahm die Rolle mit zitternden Händen.
„Na
los, mach schon auf!“
Sänger
löste die silberne Schnur, die das Leder zusammenhielt und entrollte es –
es war die Aufzeichnung eines Liedes. Sänger erkannte sofort wieder – es
war das erste Lied, das er bei seinem neuen Clan gesungen hatte, kurz nachdem
Sternenglanz ihn als Schüler angenommen hatte. Silbersang hatte Text und
Melodie aufgeschrieben und alles mit feinen Zeichnungen und wunderbar
illuminierten Anfangsbuchstaben ausgestattet. Sänger spürte, wie seine Augen
zu brennen begannen.
„Ta'nesha...
das ist wunderschön...“ Er zog Silbersang in seine Arme, küsste ihn
- und plötzlich hielt ihn nichts mehr. Er schluchzte auf und weinte in
Silbersangs seidiges Haar. Erschrocken schlang Silbersang die Arme um ihn.
„Ta'nesha...
Ta'nesha, Feuersänger, was ist denn los?“
Sänger
schluckte. „Ich... ich habe nichts für dich... ich habe kein Geschenk für
dich, es tut mir leid... ich habe so lange gesucht, es sollte doch etwas ganz
Besonderes sein, aber... ich habe nichts gefunden, was in meinen Augen etwas
besonderes für dich gewesen wäre! Ich schäme mich so...“
Silbersang
drückte ihn an sich. Ein erleichtertes Lächeln kroch über sein Gesicht. „Ta'nesha“,
flüsterte er sanft, „oh Ta'nesha... komm. Komm mit mir.“
Silbersang
fasste Sängers Hand und er folgte ihm durch dunkle, nur mit schimmernden
Leuchtkristallen spärlich erhellte Korridore. Sänger hatte keine Ahnung,
wohin Silbersang ihn brachte, halb tränenblind stolperte er hinter ihm her.
Silbersang blieb vor einer Tür stehen, horchte kurz, dann öffnete er die Tür
und schob Sänger in einen kleinen Raum. Auch hier glühten Leuchtkristalle, Sänger
sah in den Schatten Regale voll mit etwas, das wie zusammengefaltete
Kleidungsstücke aussah.
„Ta'nesha,
hör mir zu“, sagte Silbersang leise. „Komm her. Du hast mir doch schon
etwas geschenkt. Etwas ganz Besonderes, etwas, von dem ich nie zu hoffen
gewagt hatte, dass ich es jemals bekommen würde. Ich bekomme es jeden Tag
aufs neue und jeden Tag macht es mich glücklich.“ Er zog ein Tuch von einem
in der Mitte des Raumes aufgestellten großen Gegenstand und berührte einen
der Leuchtkristalle. Es wurde heller in dem kleinen Raum. Der große
Gegenstand entpuppte sich als beinahe mannshoher Spiegel.
„Ich
zeige es dir“, murmelte Silbersang und schob Sänger sacht vor den Spiegel.
„Hier ist es. Schau.“
Sänger
schluckte. „Aber das bin ja nur ich...“
„Nur...“
Silbersang schob sich neben ihn, strich ihm durchs Haar, nahm seine Hand und küsste
die Innenfläche.
„Du
bist es, Ta'nesha. Seit ich dich habe, seit wir einander gefunden haben, kann
es gar kein Geschenk geben, das für mich wertvoller sein könnte. Denn was
kann schon wertvoller sein als die andere Hälfte meiner Seele?“ Er lächelte
und strich Sänger die Tränen von den Augen. „Und jetzt lächle für mich,
mein Mittwinterbruder, und feiere mit mir! Es gibt nichts, wofür du dich
entschuldigen müsstet. Jede Nacht mit dir und jeder Tag, den ich an deiner
Seite schlafen kann, ist ein Geschenk – und das nicht nur zu Mittwinter.“
Ein
zögerndes Lächeln stahl sich auf Sängers Züge. „Du bist unglaublich,
Ta'nesha“, flüsterte er. „Ich schäme mich immer noch... aber ich danke
dir auch. Ich...“ Er kämpfte schon wieder mit den Tränen. Fest umarmte und
küsste er Silbersang, so, als wolle er ihn nie wieder loslassen.
Ich
liebe dich, flüsterten
seine Gedanken Silbersang zu, und... du bist für mich auch das allergrößte,
beste und schönste Geschenk.
Es
dauerte eine ganze Weile, bis sie sich wieder zu den anderen Gästen
gesellten. Sternenglanz schmunzelte in sich hinein, als ihm auffiel, dass die
beiden verschwunden waren. Und eine diensthabende Wache, die einen Routinegang
durch die Korridore machte, wunderte sich nur ein wenig darüber, dass das
Kleiderlager für Mitternachts Leibwache abgeschlossen war.
Ende
Tina
Alba:
Name:
Tina Alba
Nickname: Aryana
Geburtsjahr: 1971
Ort: Deutschland
E-Mail: tina.alba@web.de
Homepage: http://aryana-filk.de,
http://aryana-writer.livejournal.com
(Schreibblog)
Comment: An kreativen Dingen habe ich schon einiges ausprobiert und bin bei
der Schreiberei hängengeblieben. Am liebsten schreibe ich phantastische
Geschichten, in denen oft eine Prise Homoerotik vorkommt. Die Nithyara, um die
es in der vorliegenden Geschichte geht, sind in langer Kleinarbeit von meiner
besten Freundin und mir entstanden. Weltenbasteln ist nicht so meins, Völker
bastele ich umso lieber. Mit den Nithyara, die so sehr nach Elfen aussehen und
doch definitiv keine sind, ist uns ein facettenreiches, vielleicht abgedrehtes
und auf jeden Fall polarisierendes Völkchen gelungen.
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