"Mittwinterwunder" von Tina Alba

(Genre: Fantasy, Romane)

  
IIaro zügelte sein Pferd auf der Hügelkuppe und schaute hinunter auf die Stadt, deren verschneite Dächer im Sonnenuntergang wie mit Kupfer und Gold überzogen schimmerten. So lange er denken konnte, hatte er hier auf dem Hügel innegehalten, bevor er nach Padana hinunterritt, und hatte die Stadt betrachtet. Jetzt, im Winter und in den frühen Abendstunden, wirkte sie so friedlich. Die wenigen Schiffe, die jetzt noch im Hafen lagen, würden ihn vermutlich den ganzen Winter über nicht mehr verlassen. Ihre Masten warfen dunkle Silhouetten an den Himmel, hier und da wehte noch ein Segel im Wind, der die Rufe der Seeleute und den Geruch nach Fisch und Meer aus dem Hafen herübertrug. Auf dem Marktplatz flackerten Lichter. Ilaro lächelte. Dort war der Wintersonnenwende-Markt aufgebaut. Gewürzhändler verkauften Nelken, Zimt, Koriander, Ingwer, Anis und all die anderen Wintergewürze, Stände boten heißen Punsch und gewürzten Wein an, bei den Stoff-und Wollhändlern gab es die dicken, warmen Winterstoffe und gestrickte Socken, Mützen, Handschuhe und Schals, und sicher drängten sich die Kinder bei den Bonbonverkäufern und Zuckerbäckern. Ihm war, als könne er den Markt jetzt schon riechen, auch wenn er noch ein gutes Stück von den Stadttoren entfernt war. Er drückte seinem Pferd die Fersen in die Weichen und ritt voran. Er musste unten sein, bevor die Stadtwachen das Tor schlossen, auch wenn sie bei ihm vermutlich eine Ausnahme machen würden. Immerhin gehörte ihm seit einem Jahr eines der meistbesuchten Häuser im Vergnügungsviertel. Für die meisten wohlhabenden Padaner gehörte es zum guten Ton, im „Flammenflügel“ einzukehren und dort die gute Küche zu genießen, sich durch den gut sortierten Weinkeller zu trinken, an den Tischen zu spielen und all die Dinge in Anspruch zu nehmen, über deren Vorzüge man nur hinter vorgehaltener Hand sprach: das Badehaus, die geschickten Hände junger Frauen und Männer, die einem den Rücken walkten, und die Dienste ausgesucht schöner und einfallsreicher Liebesdienerinnen und –diener. Ilaro schaute zur Stadt hinüber. Die Vergnügungsstraßen waren deutlich zu sehen mit ihren bunten, schillernden Lichtern. Auch der Mittsommermarkt dehnte sich bis in die Straßen der Spiel-und Freudenhäuser aus. Mit gemischten Gefühlen dachte Ilaro an seinen „Flammenflügel“. Er liebte das Haus, und es machte ihn traurig, jedes Mal, wenn er es betrat. Er hatte es umbauen lassen, eine ganz neue Einrichtung gekauft, alles, was darin war und ihn an das erinnerte, was dort geschehen war, hatte er herausreißen und verbrennen lassen, und doch erinnerte es ihn immer wieder daran, dass die Liebesdiener, die er dort bei seinem ersten Besuch kennengelernt hatte, Sklaven gewesen waren. Und dass Nadim, einer seiner treusten Freunde aus dieser dunklen Zeit, ein Tortänzer war, den man gezwungen hatte, Dämonen herbeizutanzen und diese exotischen Geschöpfe zum Dienst in dem Haus zu zwingen, das damals noch den Namen „Flammende Rose“ getragen hatte. Nur zufällig war Ilaro dem Besitzer auf die Schliche gekommen und ihm das Handwerk zu legen hatte einiges an Überlegung gekostet und ihn selbst in größere Gefahr gebracht, als er es sich jemals vorgestellt hatte. Nicht nur, dass er selbst für einige Zeit ein Gefangener in den Mauern der Rose gewesen war, nein – auch sein Herz, sein so gut gehütetes Herz, das er niemals von so etwas wie wahrer Liebe berühren lassen wollte, war in einer schicksalhaften Nacht in der Rose zu einem Sklaven geworden. Zum Sklaven eines wunderschönen Dämonen namens Yashar. Ilaro schloss für einen Moment die Augen, als die Erinnerung an Yashar ihn zu überwältigen drohte. Er sah ihn vor sich wie beim ersten Mal. Schneeweiße Haut, die wie mit Diamantstaub überzogen schimmerte, Augen, so blau wie das Meer, Haare wie lodernde Flammen. Und dann diese Flügel. Diese herrlichen Fledermausflügel mit Flughäuten, die so zart waren, dass man die feinen blauen Äderchen darin sehen konnte, und doch so stark, dass sie Yashar trugen, wenn er flog. Ilaro erschauerte, als er sich daran erinnerte, wie es war, diese Flügel zu berühren, diese samtweiche Haut, die sich so angenehm warm anfühlte. Er hatte die feinen Äderchen nachgezogen, stundenlang, und sich daran geweidet, wie Yashar wohlig geseufzt und sich den Berührungen entgegengedrängt hatte. Sein wunderschöner Dämon, dieses herrliche Geschöpf. Ilaro hatte sich mit Händen und Füßen gewehrt, hatte seine Gefühle abgetan, hatte versucht, es zu ignorieren, aber so sehr er es auch versuchte, gegen das, was er fühlte, half auch kein Bad im Eiswasserbecken des Dampfbades mehr.
Er hatte sein Herz verloren.
Er hatte sich verliebt.
Und wie er sich verliebt hatte.
Verdammt.
Ilaro trieb sein Pferd weiter, auch wenn er in diesem Augenblick am liebsten umgekehrt wäre, statt nach Padana zu reiten. Er musste in die Stadt, er musste mit Nadim reden und den Jahresabschluss mit ihm durchgehen. Zahlen. Ilaro schauderte. Er hasste nichts so leidenschaftlich wie diese entsetzliche Buchführung, aber sie musste gemacht werden. Wenn er nicht da war, führte Nadim das Haus, aber den Rechenschaftsbericht musste Ilaro selbst einsehen, daran führte kein Weg vorbei. Immerhin warf das Haus einiges ab. Ilaro war froh, dass sein Cousin darauf bestanden hatte, ihm das nach Klärung der finsteren Machenschaften des Vorbesitzers leerstehende und halb abgebrannte Haus zu überschreiben. Er grinste.
Manchmal ist es schon praktisch, mit dem Landesfürsten verwandt zu sein.
Sein Cousin war es auch gewesen, der Yashar und all die anderen gefangenen Dämonen wieder in ihre Heimatwelten zurückgeschickt hatte. Ilaro erinnerte sich noch genau daran, wie Yashar ihn angesehen hatte.
Ich bleibe bei dir, hatte er gesagt und Ilaro in seine Arme gezogen und ihn mit seinen Flügeln umschlungen. Ich bleibe hier, für immer. Ich liebe dich.
Ilaro hatte seinen Blick erwidert, sich an ihn geschmiegt und ihm ins Ohr geflüstert. Ich weiß, dass du mich liebst. So wie ich dich. Und deshalb lasse ich dich gehen, denn hier kannst du nicht fliegen. Sie würden dich jagen, sie würden dich töten. Ich kann nicht auf dich achtgeben, ich kann dich nicht schützen. Menschen sind so, Yashar, sie fürchten, was anders ist und sie werden es nicht zulassen, dass ein Mensch sich entscheidet, einen Dämonen zu lieben.
Geh, Yashar. Geh, bevor ich es mir anders überlege. Ich will nicht eines Tages neben deinem toten Körper sitzen oder zusehen müssen, wie man dich auf einem Scheiterhaufen verbrennt. Du hast mir mein Herz gestohlen, du wirst ein Stück von mir mitnehmen.
Und du behältst ein Stück von mir, hatte Yashar geflüstert und sich eine dicke Strähne seines Flammenhaars ausgerissen und Ilaro in die Hände gelegt. Dann hatten sie einander ein letztes Mal geküsst und das Weltentor hatte sich hinter Yashar geschlossen. Für immer.
Ilaro spürte das Echo des Schmerzes jede Nacht, wenn er versuchte, zu schlafen und seine Gedanken zuvor nicht mit Wein betäubt hatte oder in den Armen eines Mannes Vergessen suchte. Es war Ablenkung, es war Vergnügen. Mehr empfand er nicht, wenn er mit jemandem schlief. Sie waren austauschbar. Sie waren nicht Yashar.
Er hatte das Stadttor erreicht und stieg vom Pferd, zahlte den Stadtwachen den Wegzoll und führte das Tier in die erleuchteten Straßen von Padana. Im Flammenflügel gab es nur einen kleinen Stall für die Reittiere der Kunden, also ließ Ilaro den Schimmel in einem Mietstall am Stadttor und stürzte sich in das Mittwintermarktgetümmel. Ein Glühwein und etwas Würzgebäck würde seine Stimmung sicher heben, und wer weiß, vielleicht stieß er an einer der Buden auf einen Mann, der genau so einsam war wie er und nichts dagegen hatte, sich ein wenig ablenken zu lassen. Er zog seinen Mantel enger um die Schultern und schlenderte durch die belebten Gassen, betrachtete die Buden und atmete den Duft nach Mittwinter ein. Die Stadt war wie verzaubert, überall der leichte, pudrige Schnee, Kerzen in den Fenstern, Kränze aus Stechpalme und Tannengrün waren mit roten Bändern an den Türen vieler Häuser aufgehängt. Ilaro sah sich nach einem Würzweinhändler um. Zuerst bemerkte er die schmale, zittrige Hand gar nicht, die ihn berührte, doch dann hörte er, wie ich jemand ansprach.
„Junger Herr, Ihr seht mir auch wie jemand, der ein Mittwinterwunder brauchen kann. Kommt. Kommt in mein Zelt und last mich Euch etwas zeigen.“
Ein altes Weib stand neben ihm, sie war in mehrere Schichten Wollkleider gehüllt und ihr Gesicht war beinahe ganz unter einem gestrickten Schal verborgen. Ilaro schob ihre Hand sanft weg.
„Ich glaube nicht mehr an Wunder, Mütterchen, und schon gar nicht an Mittwinterwunder. Mir ist noch nie eines geschehen und dabei wird es auch bleiben. Sagt mir lieber, wo ich hier den besten Würzwein bekomme.“
„Auch den könnt Ihr bei mir haben, junger Herr. Kommt und wärmt Euch ein wenig auf in meinem Zelt. Ihr seht aus, als hättet Ihr einen weiten Weg hinter Euch, und Eure Augen sind voller Schmerz. Lasst mich Euch ein wenig Zerstreuung bieten. Ein kleiner Zauber, ein wenig Illusion. Kommt.“ Die Alte nahm Ilaros Hand und zog ihn zu einem bunten Zelt, das aussah, als sei es aus Tausenden von Flicken zusammengenäht. Würzweinduft stieg Ilaro in die Nase. Es roch gut und einladend. Im Zelt erspähte Ilaro hinter der aufgeschlagenen Eingangsklappe einige niedrige Tischchen und fellbedeckte Hocker, eine Feuerschale verbreitete mildes Licht und vor dem Zelteingang tanzten Flammen auf dem Holz in einem Feuerkorb. Darüber hing an einem Dreibein ein Kessel, aus dem der verführerische Würzweinduft aufstieg. Ilaro zuckte die Schultern. Dieser Wein war sicher nicht besser oder schlechter als der der anderen Händler, die Alte sah aus, als könne sie ein wenig Geld gebrauchen und das Zelt wirkte einladend und gemütlich mit seinen Tischen, Kissen und Fellen.
„Also gut, Mütterchen, gib mir einen Becher von deinem heißen Wein, aber einen großen, und mach ihn schön süß.“
Die Alte nickte und wieselte geschäftig zu ihrem Kessel.
„Geht schon einmal ins Warme, junger Herr, macht es Euch gemütlich.“
Ilaro kroch ins Zelt und ließ sich an einem der Tischchen nieder. Auf dem Tischchen standen eine brennende Kerze in einer von oben bis unten mit Wachs bekleckerten Flasche und eine Schale mit kandierten Früchten und Honigkuchen. Ilaro streckte die Beine von sich. Auf einmal fühlte er sich unglaublich müde. Er gähnte, streckte sich und fischte sich eine Handvoll kandierte Kirschen aus der Schale. Es dauerte nicht lange und die alte Frau kam zurück und stellte einen dampfenden Becher vor ihn.
„Ich lasse Euch jetzt allein. Ruht Euch ein wenig aus. Wenn Ihr mehr wollt, dann ruft.“
Ilaro nickte, und die Alte verschwand. Hinter ihr fiel die Zeltklappe zu. Ilaro seufzte. Er nahm den Becher, wärmte sich die Hände daran und nahm einen Schluck. Überrascht hob er eine Augenbraue, schnupperte an dem Wein und trank noch mehr. Es schmeckte wunderbar. Vielleicht hatte die Alte doch nicht übertrieben und das hier war der beste Würzwein vom ganzen Mittwintermarkt. Er schmeckte nach Trauben und dem letzten Sommer, nach Muskat, Zimt, Nelken und Honig, ein wenig nach Mandeln und Nüssen, er war süß und hatte doch einen leisen Hauch von Bitterkeit. Ilaro atmete den würzigen Duft und trank in kleinen Schlucken. Erst, als er den leeren Becher wieder auf den Tisch stellte, fiel ihm auf, dass es still war im Zelt. Er lauschte, aber die Geräusche des Marktes wurden anscheinend vollkommen von der dicken Flickenplane des Zeltes verschluckt. Einen Moment lang überlegte er, ob er die Alte rufen und mehr Wein ordern sollte, als ihm in einer Nische des Zeltes ein Schatten auffiel. Stoff bewegte sich, dann fühlte Ilaro den leisen Hauch eines warmen Windes. Neugierig stand er auf, griff nach der Kerze und trat in die Nische. War dahinter ein weiterer Raum, durch Stoffbahnen abgetrennt, ein Raum mit einem Feuer? Ilaro streckte die Hand aus und fühlte tatsächlich Stoff. Er zog ihn beiseite und schaute in das lächelnde, von Runzeln und Lachfältchen durchzogene Gesicht einer Frau.
Er ließ die Kerze fallen.
Das konnte nicht sein!
Die Kerze erlosch zu seinen Füßen in einer Lache aus geschmolzenem Wachs.
Hinter der Frau schimmerte ein Sonnenuntergang und es wehte warmer Wind. Der Himmel… Ilaro schluckte. Warum konnte er sie sehen? Warum war da ein Himmel und wo… wo war das Zelt geblieben? Er kniff die Augen zusammen.
„Das ist nicht wirklich“, stieß er hervor und öffnete die Augen wieder. Die Frau war immer noch da, und mit ihr die weite Ebene, das rauschende grüne Gras, der Himmel, blau, rot und golden. Große Vögel warfen ihre Schatten in den Sonnenuntergang.
„Irinaé? Wie kann es sein, dass ich dich sehe? Du… du bist tot.“
Seine alte Freundin, Irinaé, die Alchimistin. Umgebracht von den Schergen des Sklavenhändlers, weil sie Ilaro geholfen hatte.
Irinaé lächelte. „Mittwinter, Ilaro. Es ist die Zeit, in der die Schleier zwischen den Welten dünn werden. Ich bin nur eine Botin. Komm.“
Sie griff nach seiner Hand und zog ihn mit sich zu einem Lagerfeuer unter weit ausladenden Bäumen. Am Feuer saß auf einem Baumstamm eine Gestalt und stocherte in den Flammen. Schmal und schlank, langes Haar wehte leicht im Wind, und auf dem Rücken…
Ilaro zuckte zusammen.
„Nein… nein, das kann nicht sein, ich träume doch!“
Irinaé lächelte noch immer. Ihre Hand fuhr sanft über Ilaros Wange.
„Wenn ein Mittwinterwunder geschieht, dann ist es ganz gleich, ob du träumst oder wach bist, lebst oder bei den Toten schläfst. Mit einem Mittwinterwunder musst du nur eines tun, Ilaro. Nimm es an und erfreue dich daran.“ Sie beugte sich zu ihm und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn, dann löste sich ihre Gestalt in Hunderte tanzender Funken auf, die zwischen den Bäumen davonstoben.
„Irinaé!“ Ilaro streckte die Hand aus, aber seine alte Freundin war verschwunden.
Am Feuer hatte der Schatten sich erhoben und war hinter die Flammen getreten. Ilaro wollte nicht hinsehen, er weigerte sich, zu glauben, was er da sah. Doch dann streckte die Gestalt eine Hand aus, eine schneeweiße, schmale Hand mit kräftigen Fingernägeln, wie Klauen. Das Feuer ließ die helle Haut schimmern und lodernde Reflexe in rotem Haar aufleuchten. Flügel waren leicht gespreizt und durchscheinend im flackernden Flammenschein. Ilaro zitterte. Dann sank er in die Knie, zu heftig war der Schmerz, der durch sein Herz raste, der in seiner Seele brannte, als er erkannte, wen er da vor sich hatte.
„Yashar“, flüsterte er und streckte eine Hand aus, „Wie kann das sein?“
Nur wenige Schritte und er war bei ihm, Ilaro fühlte, wie die schlanken, zerbrechlichen und doch so kräftigen Hände seine eigenen umschlossen, er fühlte sich in eine warme Umarmung gezogen, von den seidigen Flügeln umhüllt wie von einem wärmenden Mantel.
„Ilaro“, murmelte Yashar. „Silberfuchs.“ Er beugte sich zu ihm und hauchte einen Kuss auf seine Lippen.
„Yashar…“ Ilaro wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte, er fühlte, wie ihm die Tränen über die Wangen rannen und zugleich spürte er diesen unglaublichen Drang zu lachen in sich, der sich anfühlte wie ein brodelnder, überschäumender Vulkan.
„Wie kann das sein? Wie… wie bin ich… oder wie bist du…“
Yashar legte sanft einen Finger auf Ilaros Lippen. „Stell niemals die Frage nach dem Warum in einer Mittwinternacht“, flüsterte er und küsste Ilaro noch einmal. „Komm an mein Feuer, sei bei mir, sei einfach nur bei mir! Ich habe mich nach dir gesehnt!“
„So wie ich mich nach dir!“ Ilaro zog Yashar in seine Arme, vergrub die Hände in seinem roten Haar und küsste ihn noch einmal, wieder und wieder küsste er ihn, wollte er ihn schmecken, wollte ihn spüren.
„Du hast recht“, murmelte er, „reden können wir später… es gibt so viele Dinge, die jetzt wichtiger sind…“
Yashar lachte. „Das denke ich auch“, flüsterte er rau. Seine rechte Hand löste sich von Ilaro und ein ausgestreckter Finger fuhr mit dem Nagel über Ilaros Kleider, seine Mantelschließe, die Schnürung von Wams und Hemd, bis Ilaro den warmen Wind dieser fremden Welt auf seiner Haut spürte. Yashar zog ihm zum Feuer und schmiegte sich an ihn. Und dann gab es für eine Weile für Ilaro nichts anderes mehr als seinen Dämon und seine Liebe, diese aufregende Liebe, die sich genauso anfühlte wie damals, als sie das allererste Mal miteinander das Lager geteilt hatten. Ilaros Welt versank hinter roten Feuerschleiern der Lust. Ganz langsam begann er, doch an ein Mittwinterwunder zu glauben. Und dann vergingen auch die Gedanken an ein Mittwinterwunder in den Flammen der Lust.
Sie konnten nicht voneinander lassen. Immer wieder schliefen sie nebeneinander am Feuer ein, dicht aneinandergeschmiegt, jeder in den Armen des Anderen, nur um gleich nach dem Aufwachen wieder übereinander herzufallen, bis schließlich die Erschöpfung siegte und sie beide in einen tiefen, traumlosen Schlaf fielen.

Sonnenstrahlen berührten Ilaro und kitzelten ihn wach. Er seufzte und hielt die Augen geschlossen. Zu schön waren die Erinnerungen an den Traum, den Traum von Yashar und einer Nacht voller Liebe und Küsse.
„Ilaro.“
Er seufzte noch einmal, als die geliebte Stimme seines Dämons seinen Namen flüsterte.
„Ich will nicht aufwachen“, murmelte er, „lass mich weiterschlafen, ich will noch ein wenig weiter träumen…“
„Du träumst nicht. Ich bin hier.“
Ilaro öffnete die Augen. Yashar lag neben ihm und schaute ihn an, ihre Gesichter berührten sich beinahe.
Ilaro lächelte.
Yashar hauchte einen Kuss auf seine Nase.
„Wünsch dir etwas“, flüsterte er.
„Ich will mit dir fliegen“, sagte Ilaro leise. „Kannst du mich tragen?“
„Wohin du willst.“
„Das ist mir gleich… aber ich will dich fliegen sehen und ich will mit dir fliegen.“
Yashar küsste ihn noch einmal, dann war er auf den Beinen, erklomm geschickt den Baum, unter dem sie geschlafen hatten, breitete oben die Schwingen aus und stürzte sich aus der Baumkrone hinunter. Der Wind fasste unter seine Schwingen und trug ihn, hoch, immer höher in den Himmel, bis er nur noch ein kleiner schwarzer Punkt vor dem satten Blau war. Ilaro nickte.
So muss er leben. Ich hätte ihn wirklich nicht halten dürfen.
Yashar stürzte sich herab und sauste im Sturzflug über ihn hinweg.
„Steig auf den Baum und hebe die Arme, damit ich dich fassen kann!“
Ilaro sah hoch. Hatte er das eben wirklich gesagt? Fliegen? Er schluckte und kletterte auf den Baum, schaffte es bis in die ausladende Krone. Er setzte sich rittlings auf einen dicken Ast und streckte die Arme aus – und dann packte ihn auch schon eine Urgewalt, schlang ihm die Arme um die Mitte und hob ihn hoch. Instinktiv legte Ilaro seine Arme um Yashars Nacken. Wind packte ihn, zerrte an seinen Haaren. Es war kalt. Aber es fühlte sich gut an.
„Schau!“ rief Yashar ihm ins Ohr, „schau hin, öffne die Augen!“
Ilaro öffnete die Augen, und er sah. Unter ihm flog die Landschaft dahin, üppige grüne Wiesen, hin und wieder einer von den ausladenden Bäumen, ein Fluss wand sich über die grüne Ebene, Schwärme von Vögeln rasteten auf dem Wasser und stoben auf, als Yashar dicht über ihnen hinwegsauste. Sie flogen. Ilaro konnte sich nicht erinnern, sich jemals so lebendig gefühlt zu haben. Er stieß einen lauten Jubelschrei aus und Yashar stimmte mit ein. Sie flogen, aneinandergeschmiegt, wie eins, Yashars Flügel, so zart und doch so stark, trugen sie beide.
Als sie wieder landeten, spürte Ilaro Tränen auf dem Gesicht. Er lehnte sich an Yashar und fühlte seine Arme um sich.
„Wie kannst du jemals wieder landen, wenn du fliegst?“
Yashar lächelte.
„Weil auch ein Vogel irgendwann einmal rasten muss. Ilaro… ich liebe dich, jetzt noch mehr als jemals zuvor. Ich danke dir. Ich will bleiben und ich will dich hier halten, aber wir wissen beide, dass es nicht sein kann. Aber ich weiß jetzt, dass wir uns wiedersehen werden. Immer dann, wenn in deiner Welt die Tage anbrechen, an denen die Schleier zwischen den Welten dünner werden, dann erinnere dich an mich und versuche, an ein Wunder zu glauben.“
Ilaro fühlte, wie im Licht der langsam wieder sinkenden Sonne Yashars wundervoller Körper langsam an Substanz verlor.
„Nein“, flüsterte er, „Geh nicht. Geh noch nicht!“
„Wir sehen uns wieder“, flüsterte Yashar. „Und bis wir uns wiedersehen, vergiss mich nicht, aber vergiss auch dich selbst nicht. Kein Herz ist so klein, dass es nur eine Liebe zulassen kann.“ Yashar küsste ihn, noch einmal, dann löste er sich auf wie ein Nebelstreif im Sonnenlicht.
„Yashar“, flüsterte Ilaro. Der Kuss seines Dämons brannte auf seinen Lippen, süß wie Wein, wie der Geschmack nach Zimt und Nelken, Honig und Kardamom. Ilaro berührte seine Lippen.
„Ich liebe dich“, flüsterte er.
Es wurde dunkel um ihn.
Dann, ganz weit in der Ferne, sah er das Flackern einer Kerze. Ilaro trat darauf zu wie ein Schlafwandler, der plötzlich ein Licht sieht. Auf einem kleinen, niedrigen Tischchen in einem Raum mit bunten Wänden stand die Kerze auf einer über und über mit Wachs bekleckerten Flasche. Eine alte Frau stand bei dem Tischchen, in der Hand hielt sie einen Becher, aus dem es dampfte. Sie lächelte.
„Noch einen Wein, junger Herr?“
Ilaro starrte sie an. „Was… ist passiert?“
„Passiert?“ Ihr Lächeln wurde tiefer.
„Vielleicht ein Mittwinterwunder. Aber daran glaubt Ihr ja nicht.“
Ilaro nahm den Becher aus ihrer Hand.
„Vielleicht doch, Mütterchen. Vielleicht doch. Sagt, was bin ich Euch schuldig?“
„Das, was Ihr denkt, dass es wert war, was Ihr hier bekommen habt.“
Ilaro lächelte, ein wenig schief fühlte es sich an.
„Dann bin ich nicht in der Lage, Euch zu bezahlen“, sagte er leise, „denn was ich gesehen habe…“
Sie legte einen Finger auf seine Lippen. „Was Ihr gesehen habt, junger Herr, das gehört allein Euch. Ich bin glücklich, wenn es etwas war, das Euch glücklich gemacht hat. Und wenn es so ist, dann ist mir das Lohn genug.“
Ilaro nickte ihr zu. Er trank den Wein, aß noch einige kandierte Früchte und trat wenig später aus dem Zelt heraus. In die Schale neben dem Zugang legte er mehrere schwere Goldmünzen und ein Band aus feuerrotem Haar.
Jetzt, da er wusste, wie dünn die Schleier zwischen den Welten zuweilen werden konnten, brauchte er es nicht mehr.
Schließlich gab es Mittwinterwunder.
 

Ende

 


 

Tina Alba:

 

Tina Alba, geboren 1971 in Hannover, ist hauptberuflich Biologin. Seit ihrer Studienzeit schreibt sie fantastische Geschichten, Gedichte und Lieder. Tina Albas Geschichten sind geprägt von düsterer Phantastik, Mystik, Magie, Romantik und einer Prise Erotik. Ihr Debütroman "Feuersänger" erschien 2011 im Blitz-Verlag. Die Charaktere der vorliegenden Adventskalendergeschichte sind ihrer Novelle "Im Fischernetz" entnommen, die 2010 im Banzini-Verlag erschien.

 

Tina Alba lebt mit ihrem Ehemann, drei Katzen und 100 afrikanischen Buntbarschen in Emden.

 

Webseite und Blog: http://tina-alba.de/wordpress/

Mail: tina@tina-alba.de