"Mut"
von Daniel Kaufmann
(Genre:
Alltag, Romance)
Mit
Einbruch der Dunkelheit hat es angefangen zu schneien. Kleine Schneekristalle,
die die Bezeichnung Flocken eigentlich nicht verdienen, tanzen im mattgelben
Licht des Weihnachtsmarkts. Nike zieht den Reißverschluss ihres dunkelbraunen
Parkas zu und steckt den Kopf zwischen die Schultern als sie den Bus verlässt.
Mit großen Schritten überquert sie die Straße. Auf der geräumten Fahrbahn
klappern die harten Sohlen ihrer Stiefel. Sie sind schwarz und mit dem hohen
Schaft erinnern sie an Reitstiefel, doch mit dem Absatz käme man in keinen
Steigbügel, vermutet Nike. Und überhaupt sollte ein Mädchen - eine junge
Frau, verbessert sie sich sofort - von einsachtundsiebzig einfach keine Absätze
tragen. Aber Eva hat sie ihr aufgeschwatzt, also trägt sie sie.
Nike ist sicher nicht hässlich, aber ihre schlaksige Körperhaltung und ihre
Größe lassen sie trotz ihrer schlanken Figur unbeholfen und unscheinbar
erscheinen. Ihr schulterlanges mausbraunes Haar, das mal wieder einen
Haarschnitt vertragen könnte, und die blauen Augen, die selten aufblicken,
vervollständigen das Bild eines stillen, unsicheren Mädchens Anfang zwanzig.
Erst als sie an dem verschneiten Brunnen ankommt, an dem sie sich mit ihrer
Freundin Eva treffen wollte, hebt sie den Kopf. Sie ist noch nicht da,
typisch.
Seit Nike hergezogen ist sind Eva und sie beste Freundinnen, obwohl sie
verschieden sind wie Tag und Nacht. Eva ist zwei Köpfe kleiner als Nike,
offen, mutig und immer zu Scherzen aufgelegt. Kurz, alle jene Eigenschaften
die Nike an sich selbst vermisst. Trotzdem verstehen sie sich prächtig. Warum
nur ist sie in letzter Zeit immer...
„Nike!“ - Ein plötzlicher Ruck an ihrem Ärmel lässt die Angesprochene
fast die Balance verlieren. Erschrocken sieht sie ihren Arm herunter. Eva hält
ihn umschlungen und ihr rundes Gesicht grinst breit unter den wilden schwarzen
Locken hervor. „Du dachtest wohl, ich sei zu spät! Aber ich hab dort hinten
auf dich gewartet. Ich war diesmal nämlich ausnahmsweise vor dir dran.“ Als
Antwort auf den Redeschwall lächelt Nike leicht, legt den Kopf zur Seite und
murmelt ihrerseits eine Begrüßung. Während Eva munter weiterplappert, wird
ihrer Freundin mit einem Mal die Wärme bewusst, die vom nahen Körper ausgeht
und sie zu umfangen beginnt. Nikes Herz schlägt plötzlich schneller und ihre
Hand verkrampft sich unwillkürlich. Schnell wendet sie ihren Blick ab, um
ihre Verunsicherung zu verbergen. Leise, unbekannte Gefühle lassen sie
erzittern und doch, als Eva ihren Arm plötzlich loslässt und sie in Richtung
der glitzernden Stände des Weihnachtsmarktes zieht, ist Nike überrascht über
ihre eigene Enttäuschung.
Während das ungleiche Paar über den Weihnachtsmarkt schlendert gehen Nike
die Gefühlsausbrüche nicht aus dem Kopf. Jedes Mal, wenn sie sich treffen
wollen ist sie schon Stunden vorher nervös. Wenn sie sich dann endlich sehen
weicht die Nervosität einer selbst für sie ungewöhnlichen Unsicherheit, die
Nike am Anfang nur mit Mühe verbergen kann, bis sie sich endlich fängt. Als
sie Evas Profil betrachtet, während diese mit einem Funkeln in ihren grünen
Augen einen kitschigen Weihnachtsengel in den Händen hält erinnert sich
Nike, dass das nicht immer so war. Sie freute sich natürlich immer, wenn der
einzige Mensch, mit dem sie etwas anfangen konnte Zeit für sie hatte, doch
ihr Verhältnis war stets freundschaftlich. Nike kann es sich auch gar nicht
anders vorstellen. Es ist ja nicht so, dass sie sich plötzlich in sie
verliebt hätte. Oder?
„Hörst du mir überhaupt zu?“ Der Tonfall lässt Nike zusammenzucken. Eva
steht halb belustigt vor ihr und hält eine Kerze in Drachenform in der Hand,
eines dieser Dinger, die möglichst realistisch aussehen sollen, wobei nicht
klar ist, woher die Leute ihre Vorlagen bekommen. „Entschuldige“, erwidert
Nike. Sie kommt sich ertappt vor. Eva scheint sie etwas gefragt zu haben, doch
sie kann sich beim besten Willen nicht daran erinnern, was es war. „Also?
Soll ich das für meinen Cousin nehmen oder doch einfach einen Gutschein vom
Elektrofachmarkt?“ Welcher Cousin? Nike hat den Eindruck, völlig im Wald zu
stehen. Aber sie darf sich jetzt nichts anmerken lassen, sonst würde Eva plötzlich
auf ihre direkte Art nachfragen und dann wird es schwer, sich Ausreden
einfallen zu lassen. „Den Drachen finde ich ganz nett“, log sie. „Ja,
der dürfte dem kleinen Giftzwerg gefallen“ lacht Eva und wendet sich ab um
zu zahlen.
Nike betrachtet Eva, als diese nach ihrem Geldbeutel kramt. Widerstrebend
gesteht sie sich ein, dass sie sehr viel für ihre Freundin empfindet. Aber
das ist doch nur natürlich, oder? Jeder Mensch sehnt sich nach Nähe und außer
Eva kennt sie ja niemanden. Doch als sich die kleinere Frau umdreht und sie
mit einem frechen Lächeln ansieht, bleibt Nikes Herz kurz stehen. Und während
sie ein weiteres Mal versucht, sich nichts anmerken zu lassen schleppt Eva sie
weiter über den Weihnachtsmarkt. Doch all die verschiedenen Düfte, die
glitzernden Dinge in den Läden und selbst eine Tüte Maroni ändern nichts an
dem immer stärker werdenden Wunsch Nikes, das Chaos der Gefühle hinter sich
zu lassen und nach Hause zu kommen. Doch als die beiden sich verabschieden
gibt es doch einen Stich in ihrem Herzen und als Eva wegläuft, um ihren Bus
zu erwischen ruft Nike ihren Namen. Die kleinere Frau dreht sich um und lacht
sie an. „Ja?“
„Ich... fand den Abend toll.“
„Ich auch. Ciao!“
„Tschüß.“
Nike sieht zu, wie Evas kleine Gestalt im Schneegestöber verschwindet und
redet sich ein, das Kribbeln ihrer Hände komme nur von der Kälte.
Daniel
Kaufmann:
Daniel
Kaufmann schreibt die Texte für den
Manga Töchter
der Himmel.
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