"Die
Nacht in mir"
von Tanja Meurer
(Genre:
Drama)
Wann fing es an?
Oliver wusste es nicht mehr genau. Loderte das Feuer
schon in ihm, als sie sich das erste Mal begegneten?
Nein, unmöglich. Zu Anfang empfand er Daniel
lediglich als aufdringlich. Er nahm ihn nicht einmal wirklich wahr. Oliver
senkte die Lider.
Er erinnerte sich noch an jenen kühlen Herbsttag, an
dem er und seine Brüder übergangsweise in das Johannesstift gebracht wurden.
Nach dem Mord an ihrer Mutter und dem Zusammenbruch ihres Großvaters boten
sich ihnen keine weiteren Perspektiven mehr. Sie alle standen am Anfang eines
Kriminalspektakels, in dem Oliver eine besondere Rolle zugedacht war. Für ihn
begann eine Berg- und Talfahrt seiner Gefühle. Die Angst, seine beiden kleinen
Brüder zu verlieren, Gewissensbisse, Entsetzen über die Ergebnisse ihrer
Ermittlungen und die kleinen, berührenden Freuden zerrten bis heute an ihm.
Seine Seele nahm damals Schaden.
In dieser Zeit drängte sich
Daniel in sein Leben. Der Polizist kam Oliver falsch in seiner Rolle als
Kommissar vor. Ihm fehlte jene würdevolle Distanz, die seine älteren Kollegen
vermittelten. Zu seinen Fällen baute er immer eine Art persönlicher Nähe auf.
Überhaupt unterschied er sich in allem von jedem anderen Beamten.
Daniel platzte in die trübe Realität. Er war
herrlich lebendig. Seine Einstellung den Tag und nicht die Zukunft zu leben,
vereinnahmte Oliver für ihn fast genauso sehr, wie seine unverwüstliche
Frohnatur und seinen sträflichen Leichtsinn.
Während dieses komplexen
Falles nahm Daniel zuerst die Rolle des Beschützers ein. Nach kurzer Zeit
wurde er für Oliver Freund und Vertrauter. Vielleicht waren seine ersten,
zaghaften Gefühle das Resultat von Daniels bedingungsloser Fürsorge.
Oliver erinnerte sich, dass
er in seinem Freund sehr bald mehr sah. Daniel bedeutete ihm viel, vielleicht
alles. In der damaligen Situation und seiner schrecklichen Ungewissheit über
die Zukunft war er überfordert. Mit fünfzehn, fast sechzehn, erlag man schnell
seinen Gefühlen. Seine
Welt brach ein, als der Fall abgeschlossen war. Ihre Wege trennten sich.
Oliver verlor seine erste große Liebe.
So glaubte er wenigstens …
Lag dort der Anfang?
Er konnte sich diese Frage vorbehaltlos beantworten.
Seit damals liebte er Daniel.
Doch an welchem Zeitpunkt entschied sich sein Freund
für ihn? Darüber schwieg Daniel.
Olivers Blick schweifte
hinaus. Das schwache Abbild seines Gesichtes reflektierte in der
Fensterscheibe. Er ignorierte es. Eisnebel hing in der Luft. Die Dämmerung
trat langsam ein. In einer knappen Stunde würde es hell werden. Die
Trostlosigkeit der reifüberdeckten Hügel spiegelte die Leere in seinem Herz
wieder. Seit zehn Tagen, genaugenommen seit seinem neunzehnten Geburtstag,
hatte er diesen Raum nicht mehr verlassen. Die trockene Heizungsluft reizte
seine Augen. Sie tränten ständig. Der Geruch war unangenehm. Er versuchte ihn
zu ignorieren. Was gäbe er nur für eine Zigarette; eine jener furchtbaren
billigen, die Daniel immer rauchte. Er schob den Gedanken von sich.
Erneut stellte er sich die
Frage, wann es tatsächlich begann. Für Oliver mit Sicherheit in dem Moment, in
dem er Daniel nicht mehr als reinen Freund sah. Aber wann verliebte sich
Daniel in ihn? Wie schwer fiel es ihm, den großen Altersunterschied zu
ignorieren? Zehn Jahre waren viel. Meldete er sich deswegen bis zu jenem 14.
Dezember nicht? Seine Gedanken schweiften zurück in die Zeit vor drei Jahren.
*
„Hoffmann!“, Oliver zuckte zusammen. Er saß auf
seinem Bett, das Kissen im Nacken und die Decke im Rücken zusammengerollt. Im
Hintergrund lief Musik. Er hörte nicht wirklich zu. Seine Aufmerksamkeit galt
anderen Dingen. Um ihn
verteilt lagen seine Schulbücher. Nach fast einem Jahr Rekonvaleszenz musste
er den Stoff so schnell als möglich nachholen. Er wollte die Klasse nicht
wiederholen. Zum Wiedereinstieg wurde er zuerst noch einmal in die gleiche
Klassenstufe verlegt, aus der er durch seinen Ausfall heraus gerissen wurde.
Dank vieler Test und seiner guten Noten konnte er wieder in seinen Jahrgang
wechseln. Allerdings fiel es ihm nun wesentlich schwerer. Jetzt nutzte er jede
freie Minute zum Lernen.
Auf seinen Knien lag ein Collegeblock. Was ihm
wichtig erschien, schrieb er auf. Sein analytischer Verstand funktionierte
noch wie vor der Zeit in der Klinik. Er wollte sein Abitur verkürzen. Zeit
gönnte er sich nicht. Es stand außer Frage, dass er – elternlos wie er war –
nun nicht mehr studieren konnte. Oliver setzte sich ein neues Ziel. Er wollte
die Buchhandlung seines Großvaters übernehmen. An sich gab es nicht sonderlich
viel, was ihn an diesem Beruf reizte, allerdings war es die einzige
Möglichkeit, Geschäft und Haus in Familienbesitz zu behalten.
Obwohl er heute sechzehn
Jahre alt wurde, war dieser Tag so wenig besonders wie jeder andere. In der
kleinen Wohneinheit, in der er lebte, nahm darauf auch keiner der Pfleger
Rücksicht.
Kai stieß die Tür auf.
„Sag mal, du Penner, hast du nicht gehört?!“,
fauchte er. Oliver
knirschte zornig mit den Zähnen. Er hob den Blick und starrte den Jungen an.
Er kannte Kai aus dem Johannesstift. Obwohl sie einander nicht mochten,
verband Oliver etwas Positives mit ihm. Es war der Moment in dem er das erste
Mal auf Daniel traf. Kais Gegenwart erinnerte ihn täglich mit bittersüßen
Gefühlen daran. Trotzdem verging kein Tag, an dem sie sich nicht gegenseitig
bekriegten. „Was?!“,
zischte Oliver gereizt. Kais schlanke, kleine Gestalt wich bis auf den Flur
zurück. Seine Mimik änderte sich trotzdem nicht. Er war die wandelnde
Aggression. „Besuch,
Arschloch!“, gab er zurück. Seine Stimme sank auf ein Grollen herab, was
seinen unstillbaren Zorn nur verdeutlichte.
Oliver richtete sich auf. Er rechnete mit seinen
beiden kleinen Brüdern. Als Daniel an Kai vorüber trat und die Tür hinter sich
zu warf, elektrisierte Olivers Körper. Kai fluchte lauthals, trollte sich aber
rasch. Daniel brachte
die vorwinterliche Kälte mit sich. Der kleine Raum füllte sich mit Leben.
Olivers Herz schlug schneller. Grinsend zog Daniel seine graue Wollmütze ab.
An seinem Äußeren schien sich kaum etwas verändert zu haben. Sein rot-grünes
Haar hing strähnig um sein schmales, kantiges Gesicht. In den hellen Augen des
Polizisten schimmerte der Schalk. Er zog seine schwere Lederjacke aus und ließ
sie auf Olivers Bürostuhl fallen. Irgendwie kam er Oliver noch größer und
muskulöser vor.
Sprachlos starrte er Daniel an. Sein Herz schlug schmerzhaft hart. Oliver
wurde bewusst, dass er seinen Freund liebte.
Rasch legte er seinen Block zur Seite und sprang
auf. Stumm fiel er Daniel um den Hals. Stoff und Haut seines Freundes atmeten
noch die eisige Kälte, doch sein Körper verströmte rasch Wärme.
„Das ist die Begrüßung, die ich wollte“, lachte
Daniel. Er umschlang Oliver fest. Mit einer Hand wuschelte er durch Olivers
gelockten, herabhängenden Iro. „Du bist unterdessen ein richtiger Punk, mein
Kleiner.“ Er lachte. „Und du bist wieder gewachsen. Bald hast du mich
eingeholt!“ Wortlos
vergrub Oliver seinen Kopf an Daniels Schulter. Er wusste nicht, wie er
reagieren sollte. Sein Schädel war leergefegt. Daniel drückte ihn lang an
sich. Sein Atem streifte Olivers Hals. Wohlige Schauer durchrannen ihn.
Er fühlte sich unglaublich wohl.
„Hast du ein Karnickel in deiner Hose, oder ist das
die Wiedersehensfreude?“, fragte Daniel grinsend.
Tatsächlich regte sich Olivers Körper bei der
intensiven Nähe. Peinlich berührt wollte Oliver ihn loslassen, doch Daniel
hielt ihn fest. „Bleib hier, dummer Kerl“, flüsterte er, wobei er seinen Griff
etwas lockerte. Blut schoss in Olivers Wangen. Die Hitze, die binnen Sekunden
zwischen ihren Körpern entstand, blieb bestehen.
Er sah Daniel an. Alles in ihm schrie nach seiner
Nähe und dem Genuss, von ihm berührt zu werden. Er sah seinem Freund in die
Augen. Eine leise, warnende Stimme in den verborgenen Winkeln seines
Bewusstseins wisperte von der Gefahr ihre Freundschaft aufs Spiel zu setzen,
wenn er auf diesem Weg weiter ging. Oliver ignorierte sie.
Daniel erwiderte seinen Blick. Derselbe große Ernst,
den Oliver bereits an ihm kannte, breitete sich in seinen Zügen aus. Aller
Schalk verschwand. Daniel schien zu überlegen. In seinen Augen spiegelte sich
ein Hauch seiner inneren Unruhe wieder. Er löste eine Hand von Olivers Rücken.
Die behutsame Berührung von seinen Fingern auf Olivers Wange brannten eine
Spur aus Feuer über seine Haut. Wortlos neigte er sich zu ihm. Oliver wusste
was Daniel wollte. Instinktiv kam er ihm entgegen. Die Lippen seines Freundes
waren rau. Trotzdem nahmen sie diesem Kuss nichts von seiner Süße. Oliver
spürte, wie seine Gefühle explodierten. Lava floss durch seine Adern. Seine
Knie bebten. Mit flatternden Lidern erwiderte er Daniels Liebkosungen. Diese
Berührungen verzauberten ihn. Oliver schlang seine Arme um Daniels Nacken. So
schrecklich dieses Jahr auch sein mochte, es endete zauberhaft und schön.
Nach einer Weile löste Daniel sich von ihm.
„Alles Gute zum Geburtstag, mein Kleiner.“
*
Oliver senkte den Blick.
Damals, an jenem 14. Dezember, erwachte er zu neuem
Leben. Er konnte noch immer nicht sagen, wann Daniel anfing ihn so sehr zu
lieben. Die Antwort darauf blieb ihm sein Geliebter auf ewig schuldig. Sicher
war nur, dass er Oliver liebte. Ihre gemeinsame Zeit war so schön und
intensiv. Drei Jahre größten Glücks zerbrachen heute mit grausamer
Endgültigkeit. Oliver sehnte sich schmerzhaft nach Daniels Gegenwart und
Wärme.
Jemand klopfte. Die Bilder zerfaserten wie der Nebel
über den winterdürren Hügeln. Die Szenerie vor ihm verschwamm. Oliver wurde
klar, dass er weinte.
Kai trat ein. Oliver beobachtete seinen alten Freund in der Scheibe. Wortlos
schritt Kai zu ihm. Er trug das allgegenwärtige, widerliche Krankenhaus-Grün.
Behutsam legte er Oliver eine Hand auf den Rücken.
Automatisch versteifte er sich unter Kais Berührung. Sie fühlte sich so falsch
an. „Ich weiß, was in
dir vor sich geht“, flüsterte Kai. Oliver presste verzweifelt die Kiefer
aufeinander. Er schwieg.
In der Reflektion des
Fensters erkannte er einen weiteren Mann. In den letzten zehn Tagen waren sie
sich oft begegnet. Der Arzt hielt sich dezent im Hintergrund.
Oliver drehte sich brüsk um.
Kais Hand glitt von seiner Schulter herab. Mit langen Schritten ging er zu
Daniels Bett. Wie bleich er war. Seine Züge wirkten erschöpft und zugleich
glatt wie die eines Kindes. Strähnen seiner bunten Haare lagen auf dem weißen
Kissen. Auch sie wirkten farblos auf Oliver. Daniels schönes Gesicht …
Er neigte sich zu seinem
Geliebten herab und küsste ihn. Seine Lippen schmeckten nach Tod. Sie fühlten
sich kalt an. Diese furchtbare Krankheit! Er strich Daniel über die Wange.
Heute war der letzte Tag ihrer beider Leben, das damals zu einem verschmolz.
Welch ein Hohn. Was für eine furchtbare Weihnachtsüberraschung.
Der Arzt trat zu ihm. „Haben Sie die
Patientenverfügung gelesen und alles unterschrieben, Herr Hoffmann?“
Oliver nickte schwach. Diese letzten Worte fielen
ihm so unendlich schwer.
„Bitte, schalten sie die Maschinen ab.“
Tanja
Meurer:
Tanja Meurer, geboren 1973, in
Wiesbaden, ist gelernte Bauzeichnerin aus dem Hochbau und arbeitet seit 2001
in bauverwandten Berufen und ist seit 2004 bei einem französischen Großkonzern
als Dokumentationsassistenz beschäftigt. Nebenberuflich arbeitet sie als
Illustrator für verschiedene Verlage.
Tanja
Meurer über sich selbst:
Als Tochter einer Graphikerin und
Malerin blieb es nicht aus, dass ich schon sehr früh mit Kunst in Berührung
kam, weshalb ich auch seit 1997 nebenberuflich als Illustratorin arbeite.
Seit meiner Kinderzeit schreibe ich auch. Mit 8 Jahren kamen die ersten –
zugegeben sehr lächerlichen – Krimis zustande. Während der Schulzeit habe ich
das erste Mal eine Geschichte für den Verkauf in der Schule auf PC
geschrieben. 1997 kam die erste Kurzgeschichte in einem Fantasy-Magazin
heraus und vier Jahre später weitere. 2007, 2009, 2010 und 2011 gewann ich
sechs Ausschreibungen, wobei die Kurzgeschichten und –Romane bei Kleinverlagen
erschienen.
Die stärksten Einflüsse kommen bei mir durch Autoren wie
E.T.A. Hoffmann, Oscar Wilde, Hermann Hesse und Neil Gaiman.
Mehr über
mich findet ihr unter:
www.tanja-meurer.de
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