"30. November" von Inka

Genre: Comedy, Alltag

 

Ich betrete die Wohnung und es trifft mich wie ein Schlag! Das kann doch nicht sein! Ist denn schon wieder ein ganzes Jahr vorbei? Ich kann es gar nicht glauben, doch das hämische Lächeln der kleinen Engel, die auf dem Rand des Garderobenspiegels balancieren belehrt mich eines Besseren.
Während ich langsam meine Schuhe ausziehe, lasse ich den Blick schweifen und entdecke immer mehr Unheilvolles: Grüne Ranken, behängt mit schimmernd violetten Kugeln, schlängeln sich über den Türrahmen entlang und auf dem Schränkchen an der Garderobe steht ein Rentier aus lilafarbenem glitzerndem Kunststoff. Da werde ich ihm nachher aber etwas zu erzählen, schließlich haben wir eine Abmachung darüber, welche Art weihnachtliche Kitsch für mich noch tragbar ist, dieser Kram fällt auf jeden Fall in eine andere Kategorie. Vielleicht kann ich es einfach „aus Versehen“ vom Schränkchen in den Abgrund springen lassen. Ich gebe dem Vieh probehalber einen kleinen Stups, rette es dann aber doch, als es gefährlich zu wanken beginnt. Wahrscheinlich ist es weniger auffällig, wenn ich ein paar Tage damit warte.

Als ich seinen kleinen Bruder entdecke, der halb versteckt hinter dem Telefon steht, nehme ich schnell meine Tasche und gehe weiter ins Schlafzimmer, um nicht doch in Versuchung zu geraten. Hier jedoch fällt mir natürlich gleich die rot-grün gemusterte Bettwäsche mit Mistelzweigen und Weihnachtsmännern ins Auge. Dabei hatte ich so gehofft, dass er den Kaffeefleck vom letzten Jahr nicht wieder herausbekommen würde.
Seufzend lege ich die Tasche auf den Schreibtisch am Fenster und ziehe die, farblich zur Bettwäsche passende, Gardine zur Seite, um das Fenster zu öffnen und etwas frische Luft hereinzulassen. Als ich die Schneeflocken, Schneemänner und kleinen Schneeblumen entdecke, die auf die Scheibe geklebt worden sind, bekomme ich fast zu viel. DIE waren im letzten Jahr garantiert nicht da, da bin ich mir sicher.
Es ist jedes Jahr das gleiche mit ihm, kaum endet der November, beginnt er damit die ganze Wohnung zu „verweihnachtlichen“. Es ist einfach unglaublich, wie er sich von dem vorweihnachtlichen Konsumgebahren der Industrie mitreißen lässt, und ich muss dann darunter leiden. Ich beschließe, dass ich unter dem starren Blick des rot bemützten Bären, der es sich oben auf meinem Computermonitor bequem gemacht hat, sowieso gerade nicht arbeiten kann und gehe in die Küche.
Hier sieht es eigentlich noch ganz normal aus, nur ein Adventskranz, natürlich mit violetten Kerzen, steht auf dem Küchentisch. Erleichtert öffne ich den Schrank und spüre ganz kurz den Drang meinen Kopf auf die Arbeitsplatte zu schlagen, als ich erkenne, dass nicht nur meine Lieblingskaffeetasse, sondern das komplette Geschirr verschwunden ist und durch eine Weihnachtsvariation mit kleinen lachenden Weihnachtsmännern ersetzt wurde. Ergeben nehme ich eine dieser Monstrositäten, um mir meinen wirklich notwendigen Kaffee zu machen. Wenigstens den kann man nicht weihnachtlich verkitschen, denke ich zufrieden als mir auf einmal ein milder Zimtduft in die Nase steigt. Ich probiere den Kaffee kurz und beschließe dann, dass ein Tee sowieso viel beruhigender wirkt und ich Beruhigung gerade dringend gebrauchen kann.
Schnell fülle ich den Wasserkocher und stelle ihn an, während ich den weihnachtlichen Kaffee dem Ausguss übergebe. Nur kurz werfe ich einen Blick in die Teebox und entscheide mich für einen klassischen Earl Grey, auch wenn der nur wenig beruhigend wirken wird. Doch Apfel-Zimt und Wintertraum sagen mir gerade nur wenig zu.
Mittlerweile ist mir die Lust auf den Unikram vollkommen vergangen, ich befürchte sogar der Bär könnte eines grausamen Todes sterben, wenn er mich weiterhin so anstarrt, also gehe ich weiter ins Wohnzimmer.
Bevor ich den Raum, mit den meisten weihnachtlichen Dekorationsmöglichkeiten betrete, stähle ich mich innerlich. Vorsichtig öffne ich die Tür, schalte das Licht an und erstarre. Gut, dass ich alleine zu Hause bin, würde jemand hinter mir hergehen, würde er heute dauernd in mich hineinlaufen.
Wenigstens steht noch kein Baum, ist der erste Gedanke, der mir durch den Kopf schießt, während ich langsam eintrete. Über den Bücherregalen hängen Girlanden in grün und violett, an der Lampe hängen silberne und violette Sterne und auch in diesem Raum sind die Fenster mit einer weiß glitzernden Schneelandschaft „verziert“ worden. Ich beschließe, die Fenster in Küche und Bad einfach nicht mehr anzuschauen, bis Weihnachten vorbei ist.
Meine Augen fangen an zu tränen und ich bekomme leichte Kopfschmerzen, doch ich schaue mich weiter um, um das ganze glitzernde Grauen in mich aufzunehmen. Schließlich brauche ich später gute Argumente, um wenigstens einen Teil des ganzen Grauens wieder loszuwerden. Während ich durch den Raum streife und alles betrachte, nippe ich immer wieder an meinem Tee. Als mir der Vergleich zu einem Gaffer, der eine Naturkatastrophe betrachtet in den Kopf kommt, kann ich ein kleines amüsiertes Schnauben nicht unterdrücken.
„Was schnaubst du?“, ertönt plötzlich eine tiefe Stimme hinter mir und ich erschrecke mich so, dass ich mir den ganzen heißen Tee über die Hand schütte. Fluchend stelle ich die Tasse ab, greife nach einer der violetten Servietten mit silbernen Schneeflocken, die bereit liegen, und tupfe mir, immer noch fluchend, die Hand ab.
„Bist du wahnsinnig, mich so zu erschrecken?!“, fahre ich Samuel an, der mich leicht besorgt betrachtet und nun entschuldigend die Hände hebt.
„Ich wollte dich nicht erschrecken, Jakob. Ich dachte, du hast mich gehört!“, erklärt er und greift dann nach meiner Hand. „Alles in Ordnung?“
„Mit meiner Hand schon!“, erwidere ich vielsagend und entziehe ihm diese grummelnd. Während er mich seufzend betrachtet, greife ich nach der Tasse und mache mich wieder auf Richtung Küche, um mir einen neuen Tee zu brühen.
„Ist es etwa wieder wegen der Dekoration?“, erkundigt sich der Bär von einem Mann, der mir in die Küche gefolgt ist und ich wiederhole nur mein Schnauben aus dem Wohnzimmer. „Jakob, wir haben das doch besprochen.“, wirft er leicht verärgert ein, „Mit diesen Dekorationen warst du einverstanden!“ Ich hebe meine Tasse an und halte sie ihm stumm unter die Nase.
Immerhin hat er den Anstand rot zu werden. „Das ist dir aufgefallen?“, fragt er kleinlaut und ich schnaube wieder, diesmal ungläubig.
„Wie hätte mir das NICHT auffallen können?! Mit den Girlanden kann ich leben, die Bettwäsche im Dunkeln ignorieren und an die Gardinen habe ich mich irgendwie gewöhnt.“ werfe ich ein und gieße das kochende Wasser über den Teebeutel. „Aber irgendwann wird es mir zu viel, Samuel!“ Vorsichtig stelle ich den Wasserkocher zurück. Einmal am Abend heißes Wasser über die Finger reicht. „Diese violetten Plastikviecher im Flur habe ich übrigens auch gesehen!“, informiere ich ihn dann und er zuckt bei dem verärgerten Klang meiner Stimme leicht zusammen. Sofort tut mit mein Ton leid, doch in mir kämpfen noch meine Abneigung gegen diesen Kitsch und meine Zuneigung für diesem Mann vor mir, der mit gerade einen so niedlich unsicheren Blick zuwirft, miteinander. Noch gibt es keinen eindeutigen Sieger, doch Samuel weiß genau wie er seiner Seite einen Vorteil verschaffen kann. Seine Schultern fallen herab, er verzieht ein wenig den Mund und blickt zu Boden bevor er die Hände in die Hosentaschen steckt und die Schultern wieder hochzieht. Jetzt fehlt nur noch, dass er mit der Fußspitze Kreise auf dem Linoleumboden zieht.
„Ich dachte ja nur, weil sie doch wirklich niedlich sind. Aber wenn du sie gar nicht magst, dann räume ich sie wieder weg.“, bietet er dann leise an. In mir herrscht Krieg, wie kann ich ihm denn sagen, dass er die Dinger wegräumen soll, wenn er so schaut? Die scheinen ihm wirklich wichtig zu sein! Aber dann muss ich vier Wochen lang jeden Tag diese violetten Glitzermonster anschauen und ob ich das ertragen ist fraglich.
Samuel beobachtet mich einen Moment und als ich nicht antworte, wendet er sich ab, um in den Flur zu gehen. Ich schaue ihm kurz nach und bin einen Moment dankbar, dass er einfach reagiert hat, ich meine, irgendwo muss ja auch eine Grenze gezogen werden und diese Viecher sind ja eine Qual für die Augen. Das muss doch selbst Samuel einsehen. Außerdem lebe ich ja schon mit genug Kitsch in diesen vier Wochen, denke ich bei mir und entsorge den Teebeutel. Als ich aufschaue, sehe ich meinen Freund durch die Küchentür, wie er mit traurigen Augen das große Rentier vom Schränkchen nimmt und ihm sanft über den Kopf streichelt. „Bleib stark, Jakob!“, feuere ich mich innerlich an, doch als er dann auch das kleine Rentier in die Hand nimmt und streichelt, gebe ich auf.
Mit einem letzten Seufzer stelle ich die lächelnde Weihnachtstasse wieder ab und gehe durch die girlandenbehängte Tür zu meinem Freund. Ohne ein Wort zu sagen, nehme ich die beiden violetten Rentiere und platziere sie wieder auf dem Schränkchen. Ich werfe Samuel einen kurzen Blick zu und gehe zurück in die Küche. Die Schlacht ist geschlagen, der Krieg verloren.
Obschon ich mich, als ich ihm einen kurzen Blick zuwerfe und sein glückliches Lächeln sehe, doch auch wie ein Sieger fühle, selbst wenn dieser Sieg bedeutet, dass mich vier Wochen lang violette glitzernde Plastikrentiere begrüßen werden, wenn ich von der Uni heimkomme. Dieses Lächeln ist das und noch so viel mehr wert.

 


 

Inka

 

Kontakt: blunder@web.de