"Raben" von Tanja Meurer
Genre: Steampunk, Mystery
Das raue Krächzen eines Raben zerriss die nächtliche
Stille. Einen Herzschlag später schlugen seine schwarzen Flügel gegen das
Fensterglas.
Victoria fuhr aus ihren Laken auf. Schweiß perlte
über ihre Stirn. War es Teil ihres Traums? Die Bilder dessen – Feuer und
Blut – hielten sich hartnäckig am Rande ihres Bewusstseins. Sie
fortzublinzeln schien vollkommen Sinnlos. Dieser Traum … dieser
verstörende Traum! Schwarze Rabenfedern wirbelten noch immer durch
ihren Geist. Immer wieder sengten glühende Partikel durch das schwarz
schillernde Gespinst. Der Anblick war so grauenhaft! So lang sie
zurückdenken konnte, hatte sie nichts schlimmeres gesehen! Im ersten
Moment wusste sie nicht einmal, welche Stadt unter dieser Flammenwalze
verging … bis sie die Türme der Westminster Abbey und den gewaltigen,
alten Tower zu erkennen glaubte. Das dunkle Band der Themse war kaum noch
zu erkennen. London brannte! Victoria schüttelte sich. Londons
Sicherheit stand gerade jetzt, während der europäischen Revolution, auf
dem Spiel. Trotz dem sah sie bisher keine solche Gefahr für ihr geliebtes
Reich. Scharfe Krallen fuhren über das Glas. Sie hörte, wie sich klauen
in das Holz gruben. Sie wollte auffahren. Bleischwer und regungslos
lagen ihre Hände auf der Decke in ihrem Schoß. Es kostete sie alle Kraft,
nur ihre Finger zu bewegen. Panik erreichte ihr Herz. Angst und
Hilflosigkeit zogen sich wie Fesseln um sie zusammen. Sie war machtlos
gegen ihre eigenen Gefühle! War das die Wirklichkeit? Eine leise Stimme
wisperte hinter ihrer Stirn, dass sie diese Situation unmöglich durchleben
konnte. Dieser Moment zählte zu den Mythen in das Reich der Märchen! Diese
Vorstellung half Victoria, ihre bleierne Angst abzustreifen. Trotzdem
blieb ein Hauch des unheimlichen Gefühls in ihrer Seele hängen. Nervös
irrte ihr Blick durch den dunklen Raum zu den verhängten Fenstern. In
ihrem Herz tobte noch immer unbestreitbare Furcht um ihr Reich … Am
Rande ihrer Wahrnehmung wisperten Stimmen, flüsterten von unabwendbarer
Gefahr und unaussprechlichem Grauen, das ihr geliebtes England zu
überfallen drohte. Entschlossen ballte Victoria die Fäuste. Mit einer
raschen Bewegung schlug sie ihre Decken zurück und schwang die Beine aus
dem Bett. Sie musste sofort mit ihrem Gemahl darüber sprechen. Selbst wenn
er sie ein dummes Kind schalt, diese Angst, tief in ihrer Seele kam nicht
von ungefähr! In der gleichen Sekunde nahm sie aus dem Augenwinkel eine
zuckende Bewegungen in den Schatten wahr! Atemlos hielt sie inne. Mit
aller Willenskraft versuchte sie, die Dunkelheit zu durchdringen. Es
gelang ihr nicht, mehr als wage Umrisse der Möbel wahr zu nehmen. Dennoch!
Täuschen konnte sie sich nicht! In ihrem Nacken stellten sich feine
Härchen auf. Jemand beobachtete sie! „Wer ist da?“ Es klang jämmerlich.
So sehr sie sich mühte, ihrer Stimme fehlte die Stärke, um einen
Eindringling einzuschüchtern. Niemand antwortete ihr. Die Stille begann
in ihrer Ohren mit ihrem erhitzten Blut zu rauschen. Es steigerte sich zu
einem Tosen und Knistern … dem Feuersturm! Erneut erwachten die Bilder
ihres Traumes zu furchtbarem Leben. Die Flammenwalzen verzehrten London …
Es kostete sie alle Kraft die Starre, die sie zu befallen drohte, zu
überwinden. Aber mit dem Absinken ihrer Furcht, nahm auch der Lärm der
Stille ab. Zögernd erhob sie sich. Sie lauschte. Weder von ihren Kindern
noch dem Personal vernahm sie auch nur den geringsten Laut. Auch der Vogel
schien seine Bemühungen aufgegeben zu haben. Nur das unheimliche Gefühl
nicht allein zu sein, hielt sich vehement. Wie spät musste es jetzt
sein? Sie vermisste London, ihren Palast, das Leben … Osburn House lag
weit ab. Ihr Blick glitt durch den Raum. Dunstige Finsternis ballte sich
in den Ecken. Unsicher tastete sie nach ihrem Morgenrock, der am Ende
ihres Bettes lag und streifte ihn über ihr Nachthemd. Auf dem hochflorigen
Teppich verursachten ihre Schritte keinen Laut. Eilig huschte sie zu einem
der hohen Fenster und schob die schweren Vorhänge auf. Wolken, gerade noch
als Schatten zu erkennen, zogen über den mondlosen Himmel und verschlangen
das funkelnde Sternenlicht. Bäume und Gartenanlagen des Landsitzes
konnte sie kaum erkennen. Nervös gruben sich Victorias Fingernägel in das
Holz des Fensterbrettes. War sie allein? Fast schien es ihr, als habe
alles Leben sie verlassen. Eine eisige Hand schloss sich um ihr Herz. Die
plötzliche Angst raubte ihr den Atem. Mit aller Kraft versuchte sie
sich zu sammeln und die aufkeimende Panik zu verdrängen. Sie senkte die
Lider. Konzentriert atmete sie einige Male ein und aus, bevor sie die
Augen wieder zu öffnen wagte. Sie WAR nicht allein. Nebenan schlummerte
Louise, ihr jüngstes Töchterchen. Trotz allem beruhigte sie das wissen
nicht. Noch immer fehlte ihr jedwede Ruhe. Mit zusammengekniffenen Lidern
starrte sie hinaus in die Neumondnacht. Victoria suchte den Raben, den sie
gehört hatte. Stimmte die Legende der Towerraben doch? Sie fand keine
Zeit, diesen Gedanken weiter zu verfolgen. Ein eisiger Windhauch strich um
ihre nackten Füße. Kalte Spinnenfinger krochen über ihre Wirbelsäule
hinab. Etwas regte sich in ihrem Schlafgemach. Sie war nicht allein!
Ihr Blick huschte durch das schwach erhellte Zimmer, suchte jeden Winkel
nach einem Eindringling ab, versuchte alles unnatürliche zu erfassen, als
sie erneut durch das kehlige Krächzen eines Raben erschreckt wurde. Sie
fuhr herum und starrte nach draußen. Ihre Augen reichten beileibe nicht
aus. Trotzdem spürte sie, dass auch dort draußen etwas lauerte … Die
schwache, feuchte Berührung ihres Rückens ließ sie erstarren. Fast schien
es ihr, als wären all die Lagen Stoff und das dichte, lange Haar nicht
über ihrer Haut, um sie zu schützen. Klamme Finger krochen über ihren
Nacken und die Schulterblätter. Victoria fühlte, wie alles Blut aus ihren
Wangen wich und die kalte Angst sie erneut lähmte. Sie wollte schreien.
Gleichzeitig berührten die unsichtbaren Leichenfinger ihre Kehle und
erstickten jeden Laut. Sie wagte nicht zu Atmen. Deutlich spürte sie fünf
Finger, die ihren Hals betasteten. All ihre Aufmerksamkeit richtete sich
nun nach innen. Die Berührungen strichen weiter hinab, über ihre Schulter
und die Brust, bis sie über ihrem Herz zur Ruhe kamen. Ein Nagel ritzte
ihre Haut, drang tiefer … Sie wusste, dass ihr Gewebe nachgab, spürte das
dünne Tröpfchen Blut, was aus der winzigen Wunde drang … In dieser
Sekunde schlugen erneut die Rabenflügel gegen das Glas. Der scharfe, harte
Schnabel pickte gegen Glas und Holz. Sie schrie auf. Die Geisterfinger
ließen von ihr ab. Gleichzeitig drängte Victoria sich in die Ecke des
Fensters, um sich gegen den Angreifer zu schützen. Schatten ballten sich
in ihrem Zimmer zu gestaltlosen Monstern. Dünne Fäden der geronnenen Nacht
schossen in ihre Richtung, ohne sie jedoch zu erreichen. Kurz vor ihr
fielen sie kraftlos zu Boden. Ihr panischer Blick glitt zu dem Raben, der
immer wieder mit aller Kraft gegen das Fenster anflog. Seine Schwingen
schlugen gegen die Scheibe. Federn knickten ab. Der Kopf prallte zurück.
Blut verschmierte das Glas. Erneut nahm er Anlauf und prallte gegen das
Hindernis. Sein Schnabel hackte wie wahnsinnig auf den Rahmen ein. In den
schwarzen Augen stand Angst. Victoria glaubte, in einen Spiegel zu sehen.
Das Tier empfand die gleiche Panik. Intelligenz sprach aus dem Blick, aber
auch kopflose Furcht. Der Rabe wollte ihr nichts Böses! Sie raffte all
ihren Mut zusammen und tastete nach dem Fenstergriff. Erneut nahm das Tier
Anlauf. In letzter Sekunde riss sie den Fensterflügel auf. Kalte, salzige
Luft wehte herein. Das erschöpfte Tier schleuderte mit viel zu viel
Schwung in das Zimmer. Unsanft schlug der Rabe auf den Boden. Schwarze
Federn wirbelten durch die Luft. Zugleich erklang ein widerliches Knacken
aus dem kleinen Körper. Die Schatten fielen voller Gier über den Vogel
her. Victoria wagte einen raschen Schritt in seine Richtung. Doch das, was
sie sah, ließ sie würgen. Der fast ausgeweidete Rabe lag in seinem
Blut. Entsetzt fuhr sie herum. Gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie der
Neumondhimmel aufriss, um Feuer und Vernichtung zu speien.
Zaida saß reglos in ihrem Sessel vor dem Kamin. Ihr Kopf lag in
ungesundem Winkel auf der Brust. Sie regte sich nicht. Fast schien es, als
habe sie aufgehört zu atmen. Anais schauderte. Sie kannte den Zustand bei
ihrer Freundin. Obwohl sie schon Jahre bei der schwarzen Hexe lebte, löste
diese Starre bei ihr noch immer schwache Panik aus. Zaidas Seele befand
sich nicht in dem schönen, stolzen, schwarzen Körper. Sie reiste in der
Welt zwischen den Zeiten, hinter den Spiegeln. Jedes Mal fürchtete Anais
um ihre Freundin. Diese Art der Reise empfand sie als vollkommen
widernatürlich, zumal Ausspähung und Seelenwanderung Zaida Kräfte raubten,
die sie anderweitig dringender brauchte. Vorsichtig trat Anais zu ihrer
Freundin. Sie kniete neben Zaida nieder. In dieser Phase eines Zaubers
wagte sie nicht, die Hexe auch nur zu berühren. Aus dem Augenwinkel
bemerkte sie die schnelle Kopfbewegung von einem der beiden Raben, die
Zaida gehörten. Das Tier hockte auf dem Kaminsims, während der andere
aufmerksam aus dem Fenster der gedrungenen Stadtvilla in den Hyde-Park
sah. Beide bewachten ihre Herrin. Sie wussten, dass Anais für Zaida
keinerlei Gefahr bedeutete, zugleich maßen sie die Wissenschaftlerin immer
noch mit unverhohlener Abneigung. „Ich tue ihr nichts!“, zischte Anais
verärgert. Sie strich sich mit den Fingerspitzen durch ihre aufgelösten,
hellen Locken. Der größere der beiden Vögel sprang vom Kaminsims und
flatterte dicht an Anais’ Gesicht vorbei, um sich auf der Lehne des
Sessels das Gefieder zu putzen. „Manikongo!“, knurrte Anais drohend.
Der Rabe hielt in seiner Federpflege inne und betrachtete sie mit
spöttischem Blick. Er war Zaidas Wächter und ihr Schutzgeist. Offenbar
gefiel es ihm, Anais bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu reizen.
Dennoch übertrieb er seine Spiele nicht, wahrscheinlich um seine Herrin
nicht zu verärgern. „Irgendwann endest du noch im Topf“, erklärte
Anais. „Nimm dir an Songa ein Beispiel. Dein Bruder nimmt seine Arbeit
wesentlich ernster!“ In den schwarzen Rabenaugen blitzet menschliche
Wut auf. Manikongo klapperte leise mit dem Schnabel. Wenig beeindruckt hob
Anais eine Braue und sah wieder zu ihrer Freundin. Zaidas schwarze Haut
sah alt und verfallen aus. Dieser Zustand zeigte die wahrhaftige Last
aller Jahre, die auf ihren Schultern lastete. „Wo bist du nur?“, fragte
Anais besorgt. Ihre Hand strich nahe Zaidas über die gepolsterte Lehne des
Sessels. Plötzlich hob sich die Brust der Hexe. Ihr Kopf fiel abrupt in
den Nacken und sie rang nach Atem. Sofort glättete sich Gesicht und
Körper. Ihre Gestalt füllte sich mit neuem Leben. Anais glaubte fast, dass
ihr Gesicht bei jedem Atemzug jünger und schöner aussah. „Zaida …“,
begann Anais erleichtert. „Wir erhalten gleich hohen Besuch“,
unterbrach Zaida sie mit belegter, unnatürlich rauer Stimme, während sie
sich mit einer Hand über die Augen fuhr. Anais sah durch die halb
offene Salontüre in den Flur hinaus zu der Pendeluhr. Es ging bereits auf
Mitternacht zu. Aber sollte sie sich darüber noch wundern? Einzig die
Tatsache, dass Zaida ihr nicht mehr erzählte, gefiel Anais nicht. Sie
stand auf und strich sich den Rock glatt. „Wen erwarten wir, Zaida?“,
fragte sie. Songa krächzte. Sein Kopf ruckte zu Zaida herum. Anais
schenkte dem kleinen Raben einen kurzen, wissenden Blick. Sie ahnte
bereits, dass diese Person bereits an der Tür stand. Das Geräusch der
Glocke bestätigte sie nur. Während Zaida sich erhob, trat Anais auf den
Flur. Dielen knarrten unter ihrem Gewicht. So zierlich sie erschien, so
schwer war ihr Maschinenleib. Obwohl sie nicht viel mehr war als
Schrauben, Metall, Holz und Kautschuk, zog sich ihre Seele ärgerlich
zusammen. „Ich lasse mich überraschen“, knurrte sie missmutig.
Die schlanke, hochgewachsene Gestalt des Prinzen Albert von Sachsen-Coburg
und Gotha verschreckte Anais in der ersten Sekunde vollständig. Sie kannte
den Gatten der Königin von Bildern in den Zeitungen und von Paraden, nicht
aber so nah. Weder sie, noch Zaida waren auf solch hohen Besuch
eingerichtet und vorbereitet! Umso mehr zögerte sie, ihn eintreten zu
lassen. Auch ihm schien die Situation eher unangenehm zu sein. Er hielt
seinen Blick gesenkt, während seine Hände nervös mit seinen weißen
Handschuhen spielten. „Sie müssen Anais de Trouveille sein“, brach er
das unangenehme Schweigen. Seine Stimme klang leise und gehetzt.
Unverwandt starrte Anais den Prinz an. Sie war sich durchaus bewusst, dass
es weit mehr als unhöflich war, nicht zu antworten und sie alle
Anstandsregeln vergaß; zugleich verstand sie nicht, warum kein einfacher
Bote, oder zumindest ein Offizier entsendet wurde. „Darf ich
eintreten?“, fragte er mit einem charmanten Lächeln auf den Lippen. Sein
Oberlippenbart zuckte dennoch nervös. Etwas in seiner Stimme,
vielleicht die unterschwellige Angst, brach den Bann Anais’. „Verzeihen
Sie, euer Hoheit“, flüsterte sie und trat einen Schritt zurück, sodass er
an ihr vorüber in den warmen Flur treten konnte. Bevor sie die Tür
schloss, strich ihr Blick über die verlassene Straße. Nirgends konnte sie
eine Kutsche entdecken. Offensichtlich befand sich der Prinz inkognito.
Anais zog nachdenklich die Brauen zusammen, während sie sich Prinz Albert
zuwendete. Er legte seinen Mantel ab und blieb unschlüssig stehen.
Anais deutete nach rechts, zu dem beheizten Salon. „Nach Ihnen“,
forderte sie ihn auf. * „Die Legende der Raben im Tower besagt“,
führte der Prinz leise aus, „dass die Monarchie und ganz Britannien
untergeht, wenn die Raben den Tower verlassen. Deshalb halten wir seit
Jahrhunderten Kolkraben in den Mauern.“ „Ist das nicht nur ein
Mythos?“, vergewisserte sich Anais ungläubig. Sie hielt ihre Hände im
Schoß gefaltet und betrachtete aufmerksam die Mimik Alberts. Der Prinz sah
gequält zwischen ihr und Zaida hin und her. Zaida saß vor Anais in ihrem
Sessel. Nachdenklich stützte sie ihre Schläfe mit den schlanken Fingern
ab. Auch sie wartete offensichtlich auf seine Antwort. „Bisher glaubte
ich, es sei ein Märchen, aber nachdem, was meiner Gemahlin gestern Nacht
geschehen ist, musste ich selbst nachprüfen, wie viel Wahrheitsgehalt sich
in der Geschichte verbirgt.“ Er legte eine Kunstpause ein. Nervös, leicht
gereizt beobachtete Anais ihn. Es schien ihr fast, als wolle er die
Spannung erhöhen, oder die düsteren Vorahnungen schüren. Als er weiter
sprach, zitterte allerdings seine Stimme. Betroffen begriff sie, wie
schwer es ihm fiel, eine solch unglaubliche Wahrheit darzulegen. „Im Tower
fehlte einer der Kolkraben“, erklärte er tonlos. „Es war ein ausgesprochen
großes, starkes Exemplar, wie mir der Rabenmeister versicherte.“ Sein
Blick glitt zu den beiden Raben Zaidas. Er deutete auf Manikongo. „Etwa so
wie dieser hier.“ Zaida nickte nachdenklich. „Sind nun nicht mehr
ausreichend Raben im Tower?“, fragte sie. „Doch“, entgegnete Albert
leise. „Allerdings flog jener Rabe bis zur Isle of Wrigth, nach Osburn
House. Er wollte Victoria … die Königin, warnen. Genau genommen rettete er
ihr Leben und gab seines dafür.“ Mit jedem Wort verlor seine Stimme an
Kraft. Zaida wendete sich Anais zu. In ihren Augen stand düsteres Wissen,
die Ahnung von unaussprechlicher Gefahr und die stumme Bitte um Hilfe.
Still legte Anais ihre bleiche Hand auf Zaidas Schulter und drückte
vorsichtig. „Wenn Sie mir keinen Glauben schenken, könnte ich es Ihnen
nicht verdenken“, flüsterte Albert mit gesenktem Haupt. „Es ist
unglaublich.“ „Was genau ist eurer Gemahlin widerfahren?“, erkundigte
sich Zaida leise. „Ich kann nur wider geben, was sie mir erzählte“,
sagte er vorsichtig. „Sprecht ruhig. Ihr befindet euch in Gesellschaft
von zwei Frauen, denen das Übersinnliche durchaus nicht fremd ist“,
beruhigte Anais ihn. Im Gegensatz zu ihren Worten fühlte sie sich
überhaupt nicht von den unerklärlichen Mysterien der Welt angezogen; viel
mehr sah sie den Reiz in technischen Problemen. Dankbar sah Albert sie
an. „Meine Gemahlin wurde von unsichtbaren Geschöpfen angegriffen, wie sie
sich Ausdrückte: Schatten. Sie wurde von ihnen bedroht und …“ Er brach ab.
„Auch wenn wir uns nie persönlich vorstellig wurden, so stehen Sie beide
unter ausnehmend gutem Ruf bei Hofe. Ihre Ermittlungsarbeiten, sowie Ihre
Integrität und Ihre außergewöhnlichen Befähigungen sind beispiellos in
London. Das ist der Grund, weshalb ich mich mit einem solch … bizarren
Problem an Sie wende.“ Er verstummte. Der Blick seiner hellen Augen nahm
einen seltsamen Zug an. Er wirkte verklärt und entsetzt zugleich.
„Können Sie uns helfen?“, fragte er mit belegter Stimme. Anais
überlegte nicht lang. Ihr fiel sofort eine Lösung ein. Mechanische Raben,
die kaum von einem echten zu unterscheiden waren sollten für eine
Konstrukteurin ihrer Art das kleinste Problem darstellen. Diese Geschöpfe
brauchten lediglich eines: eine kleine Kammer für die Antriebskraft. Um
die Magie des Angreifers sollte sich Zaida kummern. „Das sollte kein
Problem darstellen“, erklärte Anais. „Wir brauchen lediglich jenen Vogel,
der das Leben unserer Königin rettete.“
Auf Zaidas Stirn perlten
Schweißtropfen. Die Hitze in der Werkstatt und die Kraft, die der Zauber
abverlangte, schwächten sie. Dennoch ließ ihre Konzentration nicht nach.
Unter ihren Fingern lag der zerschmetterte Kopf des mutigen Kolkraben. Das
geringe Bisschen, was die unsichtbaren Angreifer von ihm übrig gelassen
hatten, reichte kaum noch, um seine Seele zurück zu rufen. Manikongo saß
auf dem Tisch neben seinem toten Artgenossen. In den schwarzen Rabenaugen
fand Anais tiefes Mitleid. Wenn sie auch sonst kaum mit dem Zaubergeschöpf
aus kam, so konnte sie seine Trauer verstehen und fühlte mit ihm. Stumm
arbeitet sie an dem Korpus des metallenen Raben, feilte seine Füßchen
zurecht und verfeinerte die schlanke, gebogene Form seines Schnabels.
Songa saß ihr bereitwillig Modell. Auch in seinen Augen las sie Schmerz
über den Verlust eines solch mutigen Tieres. Aus dem Augenwinkel nahm
sie Zaidas Bemühungen wahr, rief sich aber sofort wieder zur Ordnung, um
den Rohbau ihres Raben nicht zu gefährden. „Macht euch keine Sorgen“,
sagte sie leise zu Songa und Manikongo. „Zaida wird seine Seele erreichen.
Ein Held wie er ist für größere Aufgaben bestimmt.“ Songa hob den
Blick. Auf seine stumme Art pflichtete er ihr bei. Der plötzliche,
heisere Schrei Manikongos ließ Anais zusammenfahren. Sie sah sich nach
ihrer Freundin um. Zaidas Mimik war eine Maske der Anstrengung, vielleicht
auch des Schmerzes. Anais strich mit den Fingerspitzen Rasch den
Metallstaub von dem Schnabel des Metallraben und spannte den großen Korpus
aus der Drehbank. Es war so weit. Zaida brauchte das Gefäß, um die Seele
umzufüllen. Songa flatterte auf und setzte sich nah seiner Herrin auf
den Rahmen einer riesigen Metallsäge. Behutsam legte Anais den
Kupferraben vor Zaida ab. Die Hexe stand mit einer zur Schale geformten
Hand da und wartete ab. Zwischen ihren Fingern glühte schwach blaues
Licht. Anais entriegelte den Schädel und Brustbehälter. Sie stellte sich
auf die andere Seite des Tisches, um die Fächer schnell genug zu schließen
und anschließend zu verschweißen. Aus Zaidas Faust troff das blaue
Licht wie zäher Honig in die beiden Kammern. Angespannt wartete Anais auf
ein Zeichen ihrer Freundin, um den Vogel zu verschließen. Zaidas Kiefer
mahlten. Die Anspannung verlieh ihrer Haut einen ungesund fahlen Schimmer.
Wie sehr musste sie sich auf ihre Arbeit konzentrieren, fragte sich Anais
stumm. Sie hielt eine flüchtige Seele komprimiert auf die wenigen Tropfen
Lichts … „Jetzt“, keuchte Zaida. Anais schlug beide Kammerdeckel zu
und begann die Klappen zu versiegeln. Eine geringe Menge des blauen
Lichtes verlor sich vor ihren Augen. Der Hauptteil allerdings befand sich
in dem Korpus. Eilig vollendete sie ihre Arbeit, sodass Zaida ihre
Schutzsymbole in das Metall ätzen und dem Vogel neues Leben verleihen
konnte. Wie so oft arbeitete Anais nebenbei an weiteren Details für das
natürliche Aussehen des Tieres, fand aber immer Zeit, Zaidas Handgriffe zu
beobachten. Einige der winzigen Symbole, die die Hexe eingravierte, waren
ihr Fremd. „Was gibst du ihm an unterschiedlichen Fähigkeiten?“, fragte
sie interessiert. Zaida lachte leise. Ihre dunkle Stimme strich durch
den Raum, wie die Seelennebel zuvor. „Er wird bei einem ähnlichen Angriff
zurückverfolgen können, wer das Reich stürzen will und ihm diese Ideen
gründlich austreiben.“ Anerkennend hob Anais die Brauen. „Damit wäre
die Gefahr eines weiteren magischen Angriffs gebannt.“ Zaida nickte,
während sie dem Vogel über den nackten Metallschädel strich. „Er wird
Victoria nun ihr gesamtes Leben hindurch dienen können.“ Sie wendete sich
Anais zu. „Wir werden in jedem Fall von unserem Freund hier noch sehr viel
lesen und hören“, sagte sie triumphierend. * Wenige Tage später saß
Anais über Konstruktionszeichnungen, als Zaida mit der Morgenausgabe der
Times die Werkstatt betrat. Ein seltsam erleichterter Zug lag um ihre
vollen Lippen. Sie lächelte. Songa flatterte ihr voraus. Er ließ sich auf
Anais’ Schulter nieder und begann sein Gefieder zu putzen. Auch Manikongo
folgte seiner Herrin. In seiner Haltung und den klugen Augen las Anais
Stolz und Freude. „Ihr drei seid ja bestens gelaunt“, lächelte sie.
Wortlos legte Zaida eine bereits zurechtgefaltete Seite auf dem Tisch ab.
Anais schob sich den Bleistift hinter ein Ohr und rückte ihre
Arbeitsbrille zurecht. Mit einer Hand angelte sie nach der Zeitung,
während sie mit der anderen Songa kraulte. Der Artikel, auf den Zaida
anspielte, war nicht lang und auch nicht sonderlich aufschlussreich. Er
befasste sich mit dem Unfall eines Ministers. Laut Angaben seiner
Jagdaufseher solle er während er auf Vögel schoss, von einem
außergewöhnlich großen Kolkraben angegriffen worden sein, der – trotz
mehrerer Ladungen Schrot – keine Schramme davon getragen habe. Der
Minister jedoch sei von jenem Vogel geblendet worden. Anais legte die
Zeitung nieder. „Unser Rabe?“, fragte sie Zaida. Diese nickte. „Damit
ist die Königin vorerst wieder sicher“, lächelte sie zufrieden.
Tanja
Meurer:
Tanja Meurer, geboren 1973, in Wiesbaden, ist gelernte Bauzeichnerin aus dem
Hochbau und arbeitet seit 2001 in bauverwandten Berufen und ist seit 2004 bei
einem französischen Großkonzern als Dokumentationsassistenz beschäftigt.
Nebenberuflich arbeitet sie als Illustrator für verschiedene Verlage.
Tanja Meurer über sich selbst:
Als
Tochter einer Graphikerin und Malerin blieb es nicht aus, dass ich schon sehr
früh mit Kunst in Berührung kam, weshalb ich auch seit 1997 nebenberuflich als
Illustratorin arbeite. Seit meiner Kinderzeit schreibe ich auch. Mit 8
Jahren kamen die ersten – zugegeben sehr lächerlichen – Krimis zustande.
Während der Schulzeit habe ich das erste Mal eine Geschichte für den Verkauf
in der Schule auf PC geschrieben. 1997 kam die erste Kurzgeschichte in
einem Fantasy-Magazin heraus und vier Jahre später weitere. 2007, 2009,
2010 und 2011 gewann ich sechs Ausschreibungen, wobei die Kurzgeschichten und
–Romane bei Kleinverlagen erschienen.
Die stärksten Einflüsse kommen
bei mir durch Autoren wie E.T.A. Hoffmann, Oscar Wilde, Hermann Hesse und Neil
Gaiman.
Mehr über mich findet ihr unter:
www.tanja-meurer.de
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