"Weiß
wie Schnee" von Monika De Giorgi
(Genre:
Drama, Romance)
Man fand ihn im Schnee liegend, ganz in Weiß gekleidet, sein langes
schwarzes Haar um ihn ausgebreitet, wie ein Schleier. Sein Herz durchbohrt von
seiner eigenen, exotischen Klinge. Das rote Blut färbte den Schnee und die
Brust seines fremdländischen Gewandes.
Und seitdem wandert er – „Der Mann in Weiß“.
Der ruhelose Geist des Samurai.
Er ist ein so traurig-schönes Gespenst, dass manche, die ihn das erste Mal
erblickten, plötzlich an Engel glaubten. Und sein Geheimnis zu ergründen,
habe ich mir vorgenommen.
Meine Großmutter erzählte mir gerne über ihn, auch wenn meine Eltern die
grausigen Geschichten lieber von mir fern halten wollten. Meine Mutter war,
nachdem sie meinen Vater heiratete, ausgezogen „aus diesem abscheulichen
Steinhaufen“ und seitdem verbrachte sie so wenig Zeit wie möglich unter
diesem Dach, im Grunde gar keine. Sie hatte sich mit ihren Eltern überworfen.
Doch sobald ich alt genug war, selbst eine Zugfahrkarte zu erstehen, hatte ich
meine Großeltern besucht und war dort herzlich aufgenommen worden. Mich
faszinierten die Vergangenheit meiner Familie und „mein Erbe“, wie meine
Großeltern sich immer wieder ausdrückten.
Und seitdem mir „Der Mann in Weiß“ schon in der ersten Nacht im Haus
meiner Vorfahren einen gehörigen Schrecken eingejagt hatte, bestrickte mich
dieses Gespenst und schon sein wunderschöner, exotischer Anblick ließ mich
eine traurig-romantische Geschichte vermuten.
Er wirkte sehr viel stofflicher, als ich mir Gespenster immer vorgestellt
hatte und zuerst dachte ich, er wäre ebenfalls ein Gast meiner Großeltern,
doch nur auf den ersten Blick, dann erkannte ich … fühlte ich ... seine …
fremdartige Wesenheit und zugleich seine Traurigkeit. Dann verschwand er.
Einfach so. Ich wusste, ich hatte einen Geist erblickt.
Doch, wie kam ein asiatisches Gespenst in ein englisches Herrenhaus?
Sakuya war sein Name, erzählte meine Großmutter mir, verwundert darüber,
dass ich zwar zuerst erschreckt, doch dann nur noch von aufgeregter Neugierde
erfüllt schien.
Innerlich erfüllte mich auch Mitleid. Er wirkte so traurig.
Ihr eigener Urgroßvater, fuhr sie fort, hatte den Samurai von einer
Japanreise mitgebracht.
Der ausländische Fremde wich nie von der Seite meines Ahnen und erweckte natürlich
die Neugier, aber auch die Missgunst vieler, die ihren Urgroßvater, einen
reichen und einflussreichen Mann der Oberschicht, umgaben, erzählte sie mir.
Sie verstanden nicht, was die beiden verband und sie waren erschreckt von
Sakuyas bannender Schönheit, welche die Anmut ihrer eigenen Frauen oftmals übertraf.
Er musste wirklich strahlend schön gewesen sein, sogar in den kurzen
Momenten, in denen ich ihn erblickte, hatte ich erkannt, dass die Erzählungen
hier nicht übertrieben. Sein Gesicht war fein geschnitten und perfekt
modelliert, sein Haar lang, seidig-glänzend und tiefschwarz. Seine Gestalt
schlank und von tänzerischer Anmut.
Doch, so wandte meine Großmutter ein, er war auch gefährlich gewesen. Aber
gerade das hatte seine bannende Aura noch verstärkt, aber auch seine
Unnahbarkeit.
Nicht sein verlockendes, wenngleich ach so seltenes Lächeln hatte ihn so gefährlich
gemacht – in seinen fremdartigen, seidigen Gewändern barg Sakuya eine
Klinge – schlank und anmutig, wie er selbst. Doch präzise und tödlich.
Dass Sakuya es verstand, das Katana, wie es genannt wurde, zu führen, daran
gab es keinen Zweifel.
Man erzählte sich, so meine Großmutter, er habe täglich in einem
abgeschiedenen Winkel des Parks damit geübt. Ihr Urgroßvater soll ihm oft
zugesehen haben und mancher war ihnen aus Neugierde heimlich gefolgt – ein
berückender Todestanz, soll es gewesen sein, wenn Sakuya gegen seine
unsichtbaren Gegner kämpfte.
An seinem Übungsplatz war es auch, wo man ihn fand – durchbohrt von seiner
eigenen Klinge, die kalte Haut weiß wie der Schnee, auf dem er sein letztes
Ruhelager fand.
Und seitdem wandert er – „Der Mann in Weiß“.
Doch welcher Grund hatte ihn nun auf diesen Herrensitz geführt, den er nun für
immer auf den ewig gleichen Pfaden durchstreifte?
Das wusste niemand wirklich oder der Grund war nicht mehr bekannt.
Man erzählte sich aber, ihn und meinen Vorfahren habe eine tiefe Freundschaft
verbunden, zwischen ihnen habe eine Vertrautheit geherrscht, wie man sie
selten fand – eine Art Seelenverwandtschaft, nannte es mein Ahne sogar
selbst, wie man sich erzählte.
Wenn man sie zusammen sah, so erlauschte meine Großmutter, schien wirklich
eine tiefe Verbundenheit zwischen den beiden zu herrschen. Sie schienen
keinerlei Worte zu bedürfen, um sich zu verständigen. Ein Blick, eine Geste,
ein bestimmter Ausdruck, war alles, was sie benötigten, um zu wissen, was den
Anderen bewegte, so erzählten sich Jene, welche die beiden zusammen erlebten.
Und ein Bannkreis schien die beiden wirklich zu umgeben und vor allem Sakuya
wirkte stetig wie ein exotisches, magisches Wesen.
So wäre er wohl auch so zu einer Familienlegende geworden, doch er erlangte
eine noch größere Berühmtheit als unser wandernder, trauriger „Mann in
Weiß“.
Aber warum starb er und wurde zum Geist, wenn die Freundschaft der beiden doch
so eng und glücklich schien?
Fest steht, dass sie unzertrennlich waren. Sakuya wich nie von der Seite des
Freundes. Man wusste ebenfalls nicht, auch meine Großmutter fand es nie
heraus, wie die beiden zusammen fanden, nur dass Sakuya augenscheinlich sein
Leben für den damaligen Hausherren gegeben hätte und es sich zur höchsten
Pflicht gemacht hatte, dessen Leben mehr Bedeutung zuzumessen, als seinem
eigenen.
Fand sich der Grund für Sakuyas Tod auf gewisse Weise in dieser Aufgabe
verborgen? Trieb sie ihn gar in den Freitod, weil er sich nicht mehr fähig
sah, diese Pflicht zu erfüllen? Hat Sakuya sich wirklich selbst ermordet,
oder war es vielleicht doch Mord?
Die weiße Kleidung sprach für Selbstmord, diesen Brauch der Samurai kannte
ich, doch konnte man Mord nicht ausschließen.
Damals hatte man allerdings sofort den Freitod vermutet, dass Sakuyas Geist
umging, schien ihnen ein weiteres Indiz dafür. Doch vielleicht fand er auch
keinen Frieden, weil der Mord nie vergolten wurde.
Das faszinierendste an Sakuya, fuhr meine Großmutter scheinbar
zusammenhanglos fort, während ich noch nach einem Mordmotiv suchte, war
allerdings sein Lächeln. Es war strahlend, bewegend und unglaublich rein –
wer es erblickte, konnte nicht anders als ebenfalls zu lächeln und verspürte
eine bittersüße Sehnsucht in seinem Herzen, so erzählte man sich noch Jahre
später. Es wurde zu einer Legende, wie der Geistermann selbst.
Doch eines Tages, ich merkte auf, erstarb dieses Lächeln. Und eigentlich, so
sagte man, begann die ewige Wanderung des „Mannes in Weiß“ an diesem Tag.
Einsam und in einen Schleier der Traurigkeit gehüllt, schritt er von da an
durch das weitläufige Gebäude und seine Parkanlagen, immer auf denselben
Pfaden. Und wer ihm begegnete, spürte sich von dieser Traurigkeit berührt
und fühlte sich für eine Weile davon erfüllt. Vielleicht weil ihn auch
seine Trauer nicht entstellte, sondern ihn auf gewisse Weise ebenso schmückte,
wie sein Lächeln.
Er war, so sagte einer der Gäste des Herrenhauses, ätherisch schön, wie ein
trauernder Engel.
Man spürt diese Trauer ja auch heute noch, wenn man ihm begegnet, dem „Mann
in Weiß“ mit dem blutenden Herzen. Herzbluttränen färben die Brust seines
Gewandes, wie damals auch den Schnee. Zeichen seiner nie endenden Trauer.
Doch was ist die Ursache für diesen ewigen Schmerz?
Manche wollten beobachtet haben, so erzählte mir Großmutter auf meine Frage
hin, dass die einsamen Wanderungen mit der Bekanntgabe der Verlobung ihres
Urgroßvaters ihren Anfang nahmen. Andererseits war es doch auch nur natürlich,
dass er das junge Paar alleine ließ, selbst wenn es sich, wie damals üblich,
um eine arrangierte Ehe handelte und die Verbindung für alle sehr überraschend
zu Stande kam, da ihr Urgroßvater, erklärte mir eine Großmutter, nie zuvor
besonderes Interesse an seiner Verlobten bekundet hatte.
Sakuyas Traurigkeit, so erklärte man sich, begründete sich in der
Einsamkeit, die er nun empfinden musste, denn Sakuya hatte ja stets nur die Nähe
meines Ahnen gesucht und sich alleinig diesem zugewandt. Hinzu kam, dass der
Samurai sicherlich auch Heimweh empfinden musste – England musste ihm so
fremd erscheinen, wie er selbst den Bewohnern des Herrenhauses.
Manche aber meinten, diese Traurigkeit die Sakuya ausstrahlte, habe eine
andere Ursache, vertraute mir meine Großmutter flüsternd an.
Ich wusste sofort, was sie meinte, und auch die Klatschbasen damals
vermuteten: Liebeskummer.
Doch sie hatten zu große Angst vor ihrem Urgroßvater, als dass sie diese Gerüchte
wirklich genährt hätten, berichtete sie. Doch sie waren vorhanden und ließen
sich nicht mehr ausmerzen.
Vor allem da es augenscheinlich wahrhaftig zum Bruch der intensiven Beziehung
zwischen Sakuya und meinem Vorfahren gekommen war, da man sie nicht mehr
zusammen erblickte und auch der Hausherr schien auf gewisse Weise unglücklich
und schweigsamer als sonst.
Aber Sakuya, der immer makellos wie eine Elfenbeinstatue gewirkt hatte, schien
es besonders schlimm getroffen zu haben. Er wirkte täglich bleicher, seine
Augen waren nun von tiefen Schatten umgeben und wurden stetig dunkler und
schmerzlicher.
Trotzdem kehrte Sakuya nicht in seine Heimat zurück, was manche sehr
verwunderte.
Dann, eines Abends, berichtete man meiner Großmutter, suchte der Hausherr
Sakuya in dessen Gemächern auf. Ein Dienstmädchen, das ihm auf seinem Weg zu
Sakuya begegnete, erzählte später, er habe gedankenverloren … und ein
wenig ängstlich oder besorgt gewirkt.
Was während des Gespräches und danach geschah, wusste niemand zu berichten,
so dass mir dieses Teilstück von Sakuyas Geschichte wohl nie eröffnet werden
wird. Aber es erschließt sich doch, aus dem, was mir meine Großmutter als nächstes
zu berichten wusste.
Am folgenden Nachmittag fanden sie Sakuya.
Man fand ihn im Schnee liegend, ganz in weiß gekleidet, sein langes schwarzes
Haar um ihn ausgebreitet, wie ein Schleier. Sein Herz durchbohrt von seiner
eigenen, exotischen Klinge. Das rote Blut färbte den Schnee und die Brust
seines fremdländischen Gewandes.
Sein Haar, es war so schön. Es bewegte sich leicht im Winterwind, der ihm
Leben einhauchte, wo keines mehr war. Es war verronnen und erstarrt im Schnee.
Eine rote Rose des Leides, erblühte auf seiner Brust. Seine Augen starrten
anklagend zum Himmel – so voller Leid, noch im Tod, seine schönen bleichen
Lippen färbte ein Rinnsal Blut – rot so rot … Seine Haut war weiß wie
der Schnee in dem er lag – bleich und rein. Der Tote war kalt und weiß wie
der Winter selbst und unwiederbringlich dahin, wie eine im Winterwind verwehte
Schneeflocke, hatte ein Dienstbote niedergeschrieben, an dem wohl ein Poet
verloren gegangen war. So würden sich all jene an das schöne Märchenwesen
Sakuya erinnern, die ihn an jenem Tag erblickten.
Ihr Urgroßvater soll geweint haben, als er Sakuya so im Schnee liegen sah.
Weinte er um eine verlorene Freundschaft, eine verlorene Liebe oder aus
Schuld, weil er eines oder beides mit Füßen trat? Vielleicht wegen allem und
noch mehr ….
Am Vorabend, vermutete ich, hatte er Sakuya gebeten, zurück zu kehren in
seine Heimat.
Ihn und seine Verlobte alleine zu lassen. Hatte er Sakuya eventuell auch noch
etwas anderes mitgeteilt, ihre Freundschaft – ihre Liebe endgültig in die
Vergangenheit verbannend?
Hatte Sakuya deshalb Selbstmord begangen?
In jeder Nacht erblickte man ihn zum ersten Mal – den Geist Sakuyas – den
„Mann in Weiß“.
Ausgerechnet die Verlobte meines Ahnen, die mit ihren Eltern als Gast im Hause
meines Vorfahren weilte, erblickte ihn zum ersten Mal. An dieser Stelle
kicherte meine Großmutter undamenhaft.
Ihr Schrei weckte das ganze Haus, erzählte sie mir.
In dieser Nacht fand niemand mehr Ruhe, der unter diesem Dach weilte.
Am folgenden Abend, verbot der Hausherr allen, ihre Zimmer nach dem Dinner zu
verlassen. Er ahnte, dass sonst eine Geisterjagd stattfinden würde. Er selbst
allerdings, wollte sich in dem Flur verbergen, in dem seine Verlobte Sakuya
begegnet war.
Was der Urgroßvater meiner Großmutter in jener Nacht erlebte, blieb für
immer sein Geheimnis. Sicher ist, denn soviel berichtete er, dass er Sakuya
erblickte, wie noch viele nach ihm.
Sicher ist auch, dass in jener Nacht etwas in ihm zerbrach. Denn von diesem
Tag an, aß und redete er kaum mehr, dafür sprach er sehr oft dem Scotch zu.
Zwei Monate später heiratete er, obwohl manche davor schon munkelten, er würde
die Verlobung lösen, da man das Paar kaum mehr zusammen erblickte und es sich
selbst dann kaum mehr als höfliche Aufmerksamkeit schenkte. Zudem sah mein
Ahne wohl sehr krank und blass aus und erweckte die Sorge jener, die ihm
wirklich nahe standen.
Zum Zeitpunkt der Hochzeit, war mein Urgroßvater also kaum mehr ein Schatten
seiner selbst, doch nur wenige Monate später verkündete die neue Hausherrin,
sie erwarte den Erben meines Ahnen.
Neun Monate später, wurde ihm auch wirklich ein Sohn geboren.
In derselben Nacht stürzte sich Großmutters Urgroßvater vom Balkon seines
Schlafgemaches. Manche sagen, er sei betrunken gewesen, da er die Geburt
seines Sohnes feierte und unglücklich gestürzt.
Ich sage, nun da ich die ganze Geschichte kenne, mit der Geburt seines Sohnes,
sah mein Vorfahr‘ seine Pflicht als erfüllt an und nun wollte er zu Sakuya,
seinem Freund und Geliebten, an dessen Tod er sich die Schuld gab. Er wünschte
sich diese Schuld zu sühnen, vielleicht im Tode mit Sakuya vereint, dessen
Vergebung suchen.
Doch das Schicksal und der Tod sind ungerecht, so wurden die beiden nie
vereint – denn noch immer wandert er, traurig und einsam, der „Mann in Weiß“,
während mein Ahne wohl ins Totenreich einkehrte, denn ihn erblickte man nie
in diesen Mauern.
© Monika De Giorgi
Monika
De Giorgi:
Die
Rosenheimer Autorin Monika De Giorgi, geb. am 26.02.1981 in Prien am Chiemsee,
schreibt seit ihrem
12. Lebensjahr. Zu Anfang begeisterte sie vorwiegend das Fantasygenre, schon
bald entdeckte sie jedoch die paranormale Welt der Vampire und blieb ihr bis
heute treu. Aber auch andere „Geschöpfe der Nacht“ finden Erwähnung in
ihren Erzählungen. Ihr erster Roman „Edens Asche“, ein düster-romantischer
Vampirroman, wurde im Mai 2007 veröffentlicht und seit 2009 führt ihn der
Verlag READ A BOOK in einer neuen, überarbeiteten Auflage.
Außerdem gibt es bei READ A BOOK die Fortsetzung von „Edens Asche“ mit
dem Titel „Edens Asche – Engel der Rosen“. Weitere Werke der Autorin
sind die Kurzgeschichte „L’angelo Custode“,
sowie die Kurzgeschichten „Namenlos“, die 2008 den
Jalicano-Gruselgeschichtenwettbewerb gewann und „Weiß wie Schnee“.
Weitere Informationen zu Monika De Giorgi und ihren Werken finden sich auf
ihrer Autorenpage www.midnight-fairytales.de
oder in ihrem Blog: http://favolademezzanotte.wordpress.com
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