"Spuren
im Schnee" von Tanja Meurer
(Genre:
Mystery, Dark Fantasy, Horror)
Die
eisige Nachtluft trug den dumpfen Lärm des Weihnachtsmarktes heran, noch
bevor sie durch das Tor in die engen Gassen der Marktstände traten. Schrilles
Lachen und Gesprächsfetzen rissen in dem immer wieder aufkommenden, scharfen
Wind von den Lippen der Menschen.
Hunderte
drängten sich durch die Straßen der Innenstadt zum Marktplatz hinab. Einige
gemeinsam mit ihren Familien, andere allein. Schwere Parfumwolken hingen wie
feuchtwarmer Atem zwischen den Wänden der Häuser. Ein schwach sauerer Geruch
nach Glühwein mischte sich in den Duft von Süßigkeiten und Bratwurst. Über
ihren Köpfen schwebten Schneeflocken herab und setzten sich in Haare und
Stoff, um als kleine Kristalle zu unansehnlichen Tropfen zu schmelzen.
Modriger
Geruch stieg aus alten Wollstoffen auf.
Philippe
gefielen die strengen Gerüche nicht besonders. Er empfand besonders das Eau
de Toilette einzelner Frauen als unerträglich, wenn es sich langsam mit
Schweiß, Alkohol und dem schmelzenden Schnee mischte und zu etwas widerlich
Klebrigen in der Nachtluft wurde.
Die
gesamte Situation hier und jetzt kam ihm eher vor wie ein Alptraum. Dieses künstlich
fröhliche Weihnachtsfest stand in keinem Vergleich mehr zu dem, was er aus
seiner Kindheit kannte.
Umso
mehr schien es Krümel zuzusagen. Der junge Mann ging dicht an seiner Seite,
sodass sich ihre Arme immer wieder berührten.
Philippe
sah in dem friedvollen Gesicht seines Partners unbeschreibliches Glück über
die momentane Situation. Er genoss das Gedränge der Vorweihnachtstage, die
dumpfe Hitze in all der winterlichen Kälte und die wilde, erregende Hektik
der Menschen.
Das
Leben des jungen Mannes bot ihm in den Jahren zuvor wenig Gutes; schon gar
keine solchen Freuden, wie diese. Krümel sah die Welt deswegen eher aus den
Augen eines Kindes. Er filterte ganz selbstverständlich alles Künstliche und
Aufgesetzte aus. So blieben von Plastikfiguren mit LED-Beleuchtung,
Weihnachtsbäumen, geschmückt mit flirrendem Unsinn und bedrängender Enge
zwischen hektischen Menschen nur die warmen Gefühle und der Duft nach den
kommenden Festtagen übrig.
Das
elektrische Weihnachten bemerkte Krümel nicht.
Vermutlich
nahm er auch nichts von der unheimlichen Kälte zwischen den Ständen des
Weihnachtsmarktes wahr, und den tiefen Schatten, in denen sich Dinge
verbargen, die alle Besucher in diesen Tagen verdrängten. Sorglosigkeit nach
Kalendarium, dachte Philippe bitter.
Trotzdem
erinnerte er sich seiner eigenen Kindheit und ihrer Sorglosigkeit.
Krümel
vergrub seine Hände in den Taschen seiner Jacke und barg sein Gesicht bis zur
Nase in dem grellgrünen Pali, während er sich versonnen an Philippe lehnte.
Scheinbar fror er. Philippe konnte es nachvollziehen. Die bittere Kälte grub
sich auch unter seinen dichten, schwarzen Wollmantel. Er suchte selbst die Wärme
seines Freundes. Mit einem Arm umschlang er die Schultern Krümels und zog ihn
eng an sich. Der junge Punk hob lächelnd den Kopf und blinzelte Philippe zu.
Er ging sehr frei mit seinen Gefühlen und seiner Homosexualität um. Philippe
sah seinerseits auch keinen Hinderungsgrund, nicht ebenso offen zu reagieren.
Ihm war es nicht unangenehm. Jeder konnte sehen, dass sich zwei Männer
ineinander verliebt hatten. Gerade diese Wärme war es, die für ihn in diesem
Jahr die Weihnachtszeit zu etwas besonderem erhob; Krümels liebevolle
Dankbarkeit.
Deshalb
gab Philippe sich alle Mühe, Krümels kindliche Träume zu erfüllen und ihm
die Art Weihnachten zu gewähren, die er aus seiner eigenen weit entfernten
Kindheit kannte.
Der
junge Mann ging mit geschlossenen Augen dicht an ihn gedrängt. Krümel genoss
ganz offen den Moment mit der gleichen Lust nach Leben, wie er wenige Stunden
zuvor Philippes Gegenwart und seine heiße Haut genossen hatte. Mit
unwiderstehlicher Gier trank er das brodelnde Leben um sich, atmete sehnsüchtig
die verschiedenen Gerüche ein und verschmolz sie hinter seinen geschlossenen
Lidern zu etwas eigenem, was er unauslöschlich für immer in sich tragen würde.
Philippe
verstand die Sehnsucht nach Leben und Glück nur zu gut, konnte sie
nachempfinden, aber sie berührte schon lange nicht mehr sein Herz. Dazu
brauchte er Krümel, der für ihn diese kindliche Erregung ausleben konnte. Er
beobachtete Krümels blasses, hübsches Knabengesicht, die nervös flatternden
Lider, die ihn an ihren ersten Kuss erinnerte, seine rot gefrorene Nasenspitze
und das Lächeln auf seinen vollen Lippen. Vorsichtig strich Philippe ihm mit
den Fingern über die Wange bis zu seiner Schläfe und den stacheligen, bunten
Haaren, die Krümel in Spikes abstanden.
Ein
tiefes, zärtliches Gefühl ergriff Philipps Seele und wärmte ihn. Der
schwache Hauch dessen, was Krümel wohl empfand, streifte sein Herz. Er vergaß
kurzzeitig, dass ihn all die Menschen störten und er den Weihnachtsgedanken
schon lange verloren hatte. In dem friedlichen Gesicht fand er all das, was
ihn in der Kälte zu wärmen vermochte. Glück und Liebe.
Langsam
hob Krümel die Lider. Er strahlte Philippe an, bevor dieser seinen
Aufmerksamkeit von ihm abwendete. Neugierig ließ er seine Blicke schweifen.
Er wies über die Dächer der Stände und die Dampfwolken
hinweg zu dem mächtigen Tannenbaum, der jenseits des Marktes vor dem
Rathaus stand.
„Wie
hoch der wohl ist?“, fragte er leise.
Philippe
hob eine Braue. Er schätzte die Tanne ungefähr an der Höhe des Gebäudes.
„Sieben
bis acht Meter denke ich“, antwortete er ruhig.
„Für
mich geht er direkt bis zu den Sternen“, lachte Krümel. Philippe grinste.
Vermutlich ereichte der Baum in Krümels
lebhafter Fantasie wirklich in den Himmel hinauf.
Wie
so oft reichte seine Aufmerksamkeit kaum lange genug aus, um sich an der
Vorstellung länger aufzuhalten. Er deutete zu den goldenen Gebilden, die
zwischen den Verkaufsständen aufragten und in die Nacht hinauf glühten.
Vermutlich sollten sie die Wiesbadener Lilien darstellen, oder tatsächlich
Sternschnuppen. In Philippes Augen nahmen sie eher die Form verdrehter,
vollbeleuchteter Sonnenschirme an. Krümel maß sie mit verträumten Blicken.
„Goldene
Blüten“, murmelte er versonnen. „Sie sehen aus, als wären sie vom Himmel
gefallen und hier erstarrt.“
Philippe
versuchte sich seine Worte bildlich vorzustellen. Allerdings deckte sich Krümels
Vorstellung in keinem Fall mit der Realität, zumal unter dem festgetretenen
Schnee und den Kabelschienen die Lebensadern der Blüten schlummerten und die
Stadt sicher ein Vermögen kosteten. Dennoch tauchten die Sternschnuppen den
gesamten Platz in weiches, vorweihnachtlich-heiliges Licht. Die Gefühle
erhoben sich angesichts der Szenerie.
Krümel
löste sich von ihm. Dort, wo er sich eben noch angelehnt hatte, blieb eine
kalte Stelle zurück. Der junge Mann schob sich an ein paar anderen
Jugendlichen in seinem Alter vorüber, um vor dem Marktkeller des alten
Rathauses an einem Maronenstand stehen zu bleiben. Einige Mädchen und ein
paar ältere Herrschaften warteten bereits in einer Schlange, die ständig
wieder von anderen Marktbesuchern zerrissen wurde. Der Verkäufer stand in Schürze,
Mütze und dicker Jacke über den Rost geneigt, das breite Mondgesicht
unrasiert und rot von dem Wechsel zwischen Hitze und Kälte. Er füllte gerade
neue Papiertüten, um sie in einem Gitter aufzustellen. Nachdem er einigen Mädchen
für eine große Tüte fünf Euro abgenommen hatte, neigte sich hinunter und
hob einen Sack mit ungerösteten Maronen an. Die kleinen, dunkelbraunen Früchte
rollten aus dem Jutebeutel und sprangen über die Metallstreben des Rostes.
Flammen knackten. Funken stiegen auf und legten sich still nieder.
Philippe
betrachtete stumm das Bild seiner eigenen Kindheit. Für einen Moment sah er
sich selbst als Jungen in der Schlange stehen, die Augen groß, die Wangen
kalt und das Herz von Vorfreude bis zum Platzen gefüllt. Er roch den
intensiven Duft der Maronen und den Schweiß des Mannes am Stand. Obwohl er
keine Handschuhe trug, fühlte er die grobe, raue Wolle farblos grauer Fäustlinge
und den dicken Wollschal, den ihm seine Stiefmutter umgelegt und unter dem
Kinn verknotet hatte. Er konnte sich kaum vernünftig in den dicken Sachen
bewegen, schwitzte sogar ein wenig, obwohl seine Haut eisig war und seine Füße
in den Stiefeln schön längst erfroren waren. Seine Zehen nahm er wie etwas
fremdes, hölzernes wahr, was nicht zu ihm gehörte. Verwirrt sah er auf und
über die Schulter. Automatisch erwartete er, seinen Vater und seine
Stiefmutter zu sehen. Aber hinter ihm strömten nur weitere Marktbesucher
heran und blieben an den ersten Gebäck- und Weinständen hängen.
Als
sein Blick zurück schwang, streifte er das große, altertümliche Karussell,
aus dem neunzehnten Jahrhundert; seiner Kinderzeit. Mit den bunt bemalten
Figuren und Wagen und den zwei Etagen verblassender Erinnerungen regte sich
das Gefühl von etwas lauerndem, bösem, dem er vor so langen Jahren den Rücken
gekehrt hatte.
Rasch
drehte er sich ab.
„Magst
du eine?“, fragte Krümel.
Philippe
–jäh aus seinen Erinnerungen gerissen - erschrak. Aus einem Reflex heraus
schüttelte er den Kopf.
Enttäuscht
betrachtete Krümel ihn. Der Blick löste Schuldgefühle in Philippe aus.
„Sorry,
später, mein Kleiner“, entschuldigte er sich.
Krümel
hob misstrauisch eine Braue. Seine Piercings zuckten zwischen den feinen
blonden Härchen.
„Dann
bekommst du die kleinen Handgranaten doch gar nicht mehr auf“, entgegnete
er, während er sich eine dampfende Marone zwischen die Lippen schob und sie
mit halb offenem Mund, nach kalter Luft ringend, kaute.
Scheinbar
hatte er sich mit der Hitze seiner kleinen Spezereien verschätzte. Mit einer
Hand fächelte er sich Luft zu.
„Heiß,
verdammt!“, keuchte er.
Philippe
grinste. „So ging es mir auch oft, als ich klein war.“
Krümel
verzog fröhlich die Lippen. „Dann hast
du dir sicher mal so den Mund verbrannt, dass du die Dinger jetzt nicht mehr
magst, oder?“, fragte er.
„Nicht
ganz“, lächelte Philippe. „Damals habe ich mich schlicht an den Dingern
übergessen.“
Krümel
stopfte sich die Tüte in die Tasche seiner gefütterten Lederjacke und
fischte eine Marone heraus, die er erst ein wenig in den Fingern knetete,
bevor er die Schale aufbrach.
„Vermutlich
haben die Verkäufer dir immer mehr gegeben“, mutmaßte er.
„Richtig“,
entgegnete Philippe überrascht. „Woher …“
„Du
siehst aus wie ein Engel, mit deinem ebenmäßig schönen Gesicht und den
langen goldblonden Locken“, unterbrach Krümel ihn. „Damals als du noch
ein Kind warst, wann immer das auch war, musst du ausgesehen haben, wie ein
Weihnachtsengel.“
Spöttisch
hob Philippe die Brauen. Weihnachtsengel …! Krümel war der einzige Punk mit
Hang zu romantischem Kitsch.
„Deine
Logik will ich auch mal haben“, grinste Philippe.
Krümel
zuckte beleidigt mit den Schultern, bevor er sich die nächste Marone in den
Mund schob und wesentlich vorsichtiger darauf herum kaute.
Nach
einigen Sekunden antwortete er: „Wann war das eigentlich?“
„Was?“,
fragte Philippe.
„Deine
Kinderzeit“, erklärte Krümel neugierig, während er sich wieder bei
Philippe einhakte und ihm in die Masse zurück drängte, die sich langsam zu
dem Hauptportal des Rathauses schob.
Vor
den Treppen stand eine Bühne. Zurzeit wechselte die Band. Ein Chor richtete
sich gerade mit Notenständern ein und die begleitenden Orchestermusiker
stimmten bereits ihre Instrumente, die durch die bittere Kälte ein wenig
atonal klangen.
Philippe
erinnerte es an den Tag vor einhundertzwölf Jahren. Er schauerte ein wenig.
Damals spielte ebenfalls ein Orchester am Vorweihnachtsabend. Das selbe
Karussell drehte sich. Es roch nach Maronen und nasser Wolle; und in dieser
Nacht entkam er seinem sicheren Ende nur mit knapper Not.
Seine
Lippen zitterten. Er konnte Krümel auf seine Frage nicht antworten; nicht im
Moment.
Die
Kälte, die ihn ergriff, war das Entsetzen eines Knaben, der in einer damals
fremden Stadt ein ungenanntes Opfer werden sollte und den Gedanken über mehr
als hundert Jahre unter anderen schrecklichen Erlebnissen verdrängt hatte.
Nun
kam das Grauen jener Nacht mit unglaublicher Gewalt zurück.
Jemand
stieß unsanft gegen ihn und fluchte.
„Kannst
du nicht weiter gehen, Wichser?!“, zischte ein junger Mann und trat Philippe
mit Absicht massiv in die Fersen.
Er
bemerkte es zwar, ignorierte das Gefühl dennoch. Körperlicher Schmerz konnte
ihm wenig bis gar nichts anhaben.
Krümel
zog ihn von dem Weg fort, in die Ruhe zwischen der Krippe und einen Schmuck-
und Perlenstand, am Fuß der Rathaustreppe.
„Was
hast du, Philippe?“, fragte er besorgt und tastete mit seinen krümeligen
Maronenfingern über Philippes Wange.
„Ich
war 1898 das erste Mal hier, heute vor einhundertzwölf Jahren“, antwortete
er leise. Seine Kräfte schienen mit jedem Wort aus ihm heraus zu fließen.
„Ich
weiß, dass du im neuzehnten Jahrhundert geboren wurdest“, antwortete Krümel.
„Aber dass du schon einmal vor dem Jahr 1911 hier warst, wusste ich
nicht.“
Seine
Stimme zitterte vor neugieriger Erregung. Er liebte es, Geheimnisse und
Erinnerungen seines unheimlichen Geliebten Stück um Stück aufzudecken.
Normalerweise ließ Philippe das auch durchaus zu, weil er auf diesem Weg
einige schöne Momente noch einmal erleben und genießen konnte. Doch diese
Fetzen anderer Tage hielt er nicht vollkommen ohne Grund so tief in sich
verborgen, dass er sich selbst nicht mehr zufällig daran erinnern konnte.
„Das
ist nicht gut, Krümel. Die Erinnerungen daran sollte nie wieder geweckt
werden.“
Die
hellen Augen des Punks fixierte Philippes. „Wenn es etwas Schlimmes ist,
sollte es umso mehr ausgesprochen werden, damit es dich los lässt“, sagte
er mit Nachdruck.
Die
Weißheit in den Worten des jungen Mannes konnte Philippe nicht von sich
schieben.
Nachdenklich
rieb er sich die Nasenwurzel …
Eine
Bewegung in seinem Augenwinkel erregte seine Aufmerksamkeit. Unwillkürlich
wendete er seinen Blick zu einem Kind, das zwischen Tannenbaum und der Rückwand
der Krippe auf den Stufen stand und zu Philippe hinauf sah.
Es
war ein kleines Mädchen in einem leuchtend roten Wollmantel. Ihre blonden
Haare hingen in gelockten Strähnen auf ihren schmalen Schultern. Eine breite,
weiße Schleife erschlug das zierliche Gesichtchen. Das Kind trug Kleidung,
wie er sie aus der Zeit zwischen 1910 und 1940 von Kindern kannte. Ihre Füßchen
steckten in klobigen Lederstiefeln und unter dem Mantel und dem Rüschensaum
eines Kleides verschwanden dicke, hässlich graue Wollstrümpfchen. Aber nicht
das allein zeichnete sie als Spuk der Vergangenheit aus. Ihre Augen lagen tief
in den Höhlen und glühten wie Kohlestücke.
In
der Sekunde drangen die Laute des Orchesters durch die dünnen Stoffplanen der
Bühnenbespannung und erfüllte die Luft mit den Anfangsakkorden von Franz
Xaver Gruber und Joseph Mohrs „Stille Nacht“ die Luft.
Etwas
in der Musik klang falsch. In den Tönen lag ein fremder, metallener Laut, als
würde die Melodie aus einer anderen Zeit herüber wehen.
Mit
dem Einsetzen des Chors kehrte auch die Verbildlichung der Vergangenheit zurück.
Philippe
kniff fest die Lider zusammen. Er biss die Zähne fest aufeinander und wehrte
die Attacke seiner eigenen Erinnerungen ab, die die Grenzen seiner Realität
zu verwischen drohten.
Krümel
fuhr plötzlich zusammen. Erschrocken öffnete Philippe die Augen. An der
angespannten, entsetzten Mimik seines Freundes erkannte er, dass Krümel das Mädchen
auch als Geschöpf des Totenreiches sah. Philippe ergriff ihn am Arm und
wollte wieder mit Krümel in den Strom der lebendigen Menschenmassen
eintauchen. Das Kind allerdings hüpfte die Treppenstufen hinab und rannten
los; mitten durch Krümel und Philippe hindurch!
Für
einen Moment fühlte es sich an, als erstarre seine Seele und gefröre in der
Zeitlosigkeit der Toten! Philippe bemerkte, dass zwischen seinen Herzschlägen
eine lange Zeit des Ausharrens lag. Am Rande dieser Erkenntnis bemerkte er das
unheimliche, eisige Gefühl, belauert zu werden.
Während
der Eishauch des Geisterkindes langsam verflog, blieb in Philippe schwärze
zurück, die böse Vorahnung sich dem zu stellen, das ihn schon einmal hetzte.
In
dem Moment löste sich Krümel von ihm.
„Was
ist?“, fragte Philippe alarmiert.
„Ich
habe eben einen Jungen gesehen!“, rief Krümel aufgeregt. Während er sich
weiter hinaus schob, deutete er zu einer Person, die ihnen den Rücken
zugewandt hielt.
Philippe
folgte ihm. Er konnte selbst noch für einen Herzschlag das hellblonde
Lockenhaar und den altmodischen Mantel eines Jungen erkennen, der mit der
Menge davon getragen wurde. Erst jetzt realisierte er, dass die Masse Mensch
sich ein wenig ausgedünnt hatte. Sie schoben sich nicht mehr wie eine träge
Schlange durch die Gassen. Ebenso veränderten sich die Leuchtreklamen der Stände,
das aufdringlich lackierte Metall der Händlerwagen und die penetranten Gerüche
wichen klarer Kälte und kleinen, gedrungener Buden aus Holz und Glas.
Der
Schneefall verdichtete sich. Die Laute der Menschen verklangen in dumpfem
Vergessen. Nur die Musik und der schleichende Wandel der Zeiten rückte in den
Fokus Philippes. Er konnte sich nicht gegen den Sog der Vergangenheit wehren.
Einzig Krümels Hand, die die seine umklammerte, sagte ihm, dass er nicht in
das neunzehnte Jahrhundert fortgerissen wurde.
Die
Wirklichkeit festigte sich erst wieder, als der Schneefall ein wenig nachließ.
Philippe bemerkte sofort die Veränderungen. Die Sternschnuppen aus Draht und
LED-Leuchten gab es nicht mehr. Zwischen den Laternen und Ständen spannten
sich Bänder mit Tannenzweigen. Hinter den Scheiben den Buden brannten kleine
Petroleum- oder Gaslämpchen und in den Auslagen fanden sich Holz- und
Blechspielzeuge, Wollwaren, Tuche, Pelze, Geschirr und Glas.
Der
Duft nach Tee und Wein lag würzig in der Luft und ein Händler mit Bauchladen
bot Karamellen und Kräuterbonbons an.
Kinder
umringten ihn. Er gab ihnen in kleinen Papiertüten abgepackte Süßigkeiten
aus und sammelte dafür Münzen ein.
Es
dauerte einige Sekunden, bis die Mädchen und Jungen zufrieden davon liefen.
Philippe
folgte ihnen mit seinen Blicken. Sie waren so real und stofflich, während sie
an den Händen von Erwachsenen gingen, die nichts als der Schatten einer lang
vergangen Zeit waren. Philippe erkannte von einigen nur vage Umrisse, von
anderen, die sich vielleicht etwas von ihrer kindhaften Natur bewahrt hatten,
grobe, unscharfe Gesichtszüge. Sie alle trugen die Mode der wilhelminischen
Epoche. Sein Herz zog sich zusammen, als er ein Paar an sich vorüberschreiten
sah, dass nach französischer Mode gekleidet war. Er glaubte sogar das zimtene
Parfum seiner Stiefmutter wahr zu nehmen und den herben Duft nach
marokkanischem Tabak, den sein Vater einst so gerne rauchte, bis er starb.
„Was
…“, begann Krümel und wendete sich Philippe zu. „Wir sind in der
Vergangenheit!“
Philippe
senkte die Lider und nickte.
Er
musste nicht zu den viel lebendigeren Kindern sehen, um zu wissen, dass auch
sie nur ein Hauch einer anderen Welt waren – dem Reich der Toten – die
diesen Ort nie verlassen konnten.
„Das
ist doch vollkommen unmöglich!“, flüsterte Krümel. In seiner Stimme
schwang leise Panik mit.
„Ebenso
unmöglich wie ich es bin; ein einhundertviertunzwanzig Jahre alter Mann“,
erwiderte Philippe.
Krümel
schwieg betroffen.
Behutsam
legte Philippe seinen Arm um den jungen Mann und zog ihn an sich.
„Beruhige
dich. Wir finden einen Weg zurück.“
Gemeinsam
traten sie in den Strom der Schattenwesen hinaus. Die Laute des Marktes und
der Gesang mischten sich wieder in ihre Welt. Selbst die Personen um sie herum
nahmen an Stofflichkeit zu, ohne jedoch zu einem Teil der Realität zu werden,
in der sich Philippe und Krümel befanden. Für andere waren sie unsichtbar.
Die Leute umgingen sie, ohne sie wahr zu nehmen.
Dieser
Winkel der Wirklichkeit schien - so definierte Philippe es zumindest für sich
– zwischen den Zeiten zu schweben, zwischen einer und der anderen Sekunde.
Vielleicht sahen die Menschen sie doch, aber nur als geisterhafte Schatten?
Er
wagte es nicht, diesen Gedanken auszusprechen. Im Gegensatz zu seinen Worten
wusste er nicht, wie er mit Krümel wieder zurück kehren konnte. Vielleicht
kam ihm eine Idee, wenn er mit seinem jungen Freund eine Weile über den Markt
ging, oder es ergab sich eine Lösung dergestalt, dass sich ihm sein damaliger
Jäger offenbarte. Philippe erinnerte sich allerdings auch nicht mehr vollständig
an alles. Bilder von Blut und Eisen mischten sich in die Musik, die ihren Weg
an diesen Ort begleitete.
Wortlos
schritt er mit Krümel im Arm voran. Der Punk zitterte und drängte sich enger
an Philippe.
„Es
ist unmenschlich kalt hier!“, flüsterte er. Seine Zähne klapperten bei den
Worten aufeinander.
Philippe
entging es nicht. Er glaubte fast, dass es an diesem Ort lag.
Schützend
schlang er seinen Arm fester um Krümel und presste ihn fest an sich, was das
Laufen erschwerte. Es erschien ihm auch als klüger. Krümel musste unter all
den Erinnerungen an menschliches Leben wie ein gleißendes Leuchtfeuer
strahlen. Vielleicht konnte er ihn mit seinem eigentümlichen Nichtleben überdecken
und beschützen.
An
dem seelenvollen jungen Mann lag ihm so unendlich viel. Er wollte ihn für
immer bei sich behalten und ihn behüten. Krümel besaß die gleißend helle,
unzerstörbare Fröhlichkeit eines Kindes, die Philippe vor so unendlich
langen Jahren abhanden gekommen war. Allein dafür liebte er den jungen Mann
mehr als er es ertragen konnte. Er musste dieses Geschöpf einfach bewahren
und ihn für immer glücklich wissen!
Während
sich Philippe in den Labyrinthen seiner Gefühle und Gedanken verirrte,
schlich unaufhaltsam etwas Lauerndes am Rande sein Bewusstseins entlang. Er
konnte es bislang ausblenden, doch langsam erwachte in seinem Nacken die
Nervosität des Gehetzten. Schauer rannen über seine Wirbel. Er sah nervös
über die Schulter, erkannte aber nur ein paar der Geisterkinder, unter denen
sich auch das Mädchen mit dem roten Mantel aufhielt.
Krümel
versteifte sich plötzlich in seinem Arm.
„Wir
werden beobachtet!“, hauchte er.
„Ja“,
entgegnete Philippe leise, während er zu Krümel blickte.
Er
spannte sich und sah sich erneut um. Noch mehr Kinder huschten am Rande der
Schatten zwischen den Marktbuden umher. Ihre Gesichter waren bleich und die
tiefliegenden Augen glommen wie Höllenfeuer.
„Sie
umzingeln uns“, flüsterte Krümel.
Philippe
schluckte hart. Er erinnerte sich, dass es ihm damals auch nicht anders ging.
Er spürte ihre Blicke in seinem Nacken und fühlte die eisige Luft, die wie
Lava in seinen Lungen brannte, als er losstürmte, um ihnen zwischen den Ständen
zu entkommen!
Bevor
er die Fetzen seiner Erinnerung gänzlich abstreifen konnte, löste sich Krümel
aus seinem Arm. Der Junge ergriff seine Hand und stürzte mit ihm los.
Philippe
ließ sich einige Sekunden lang mit ziehen. Er erkannte viele der Ecken und
Winkel wieder.
Ihm
entging nicht, dass sich die Schatten vertiefen und dunkle Nebel aufstiegen,
um sich an einigen Stellen zu etwas bizarr stofflichen zusammenzuballen.
Er
war da! Philippe spürte die grausame Aura!
Plötzlich
wuchs aus einer Nische zwischen den Buden ein Mann aus der Dunkelheit! Er war
bis zu den Augen geschützt durch seinen schneenassen, schweren Kutschermantel
und einen Schal, in dem Eiskristalle glitzerten. Weiße Haare wehten nebulös
in dem kalten Wind, der durch die Gasse pfiff und Philippe kurz die Sicht
nahm, als seine langen, offenen Locken in seine Augen trieben.
Einen
Herzschlag später brach sich das fahle Licht einer Straßenlampe auf der
geschliffenen Klinge eines Fleischermessers! Schwärze ging von der rostigen
Klinge aus. Philippe konnte es nicht anders beschrieben. Diese Waffe sog das
Licht und das Leben in sich auf.
Krümel
gab einen krächzenden Schrei von sich, als er auf dem Schnee versuchte
rechtzeitig zum stehen zu kommen.
Philippe
schlug einen Haken und riss Krümel unsanft hinter sich her.
Am
anderen Ende der Gasse versperrte der Karamellenhändler ihnen den Weg. Ihn
umringten einige der Kinder. Ihre furchtbaren Höllenaugen bohrten sich in
Philippes.
Er
wich nicht aus oder blieb stehen. Krümel stieß einen hellen, fast
unmenschlichen Schrei aus. Es klang wie ein Laut äußerster Angst.
Philippe
dachte daran, wie das Geistermädchen durch sie hindurch geglitten war.
Umso
mehr erstaunte es ihn, dass die Kinder plötzlich wie ein Wesen herum fuhren
und davon stoben. Einzig der Händler blieb zurück. Aber auch er sprang zur
Seite, als Philippe mit Krümel an ihm vorüber stürmte. Der Schwung trug sie
auf den freien Platz vor dem Karussell, das im Schatten des Lyzeums und der
Marktkirche stand. Nebulöse Gestalten wichen zurück und verwehten in der
Nacht, nur um sich wenige Meter versetzt wieder zu geisterhafter Substanz
zusammenzusetzen.
Aus
dem Augenwinkel sah er einen blonden Jungen, der von den Kindern, die ihnen
eben noch den Weg vertraten gehetzt wurde.
Mit
einigem Schrecken wurde Philippe klar, dass die Kinder ihnen nicht auswichen,
sondern ein leichteres Opfer gefunden hatten!
Der
Knabe verschwand aus seiner Sicht in den Schatten der majestätischen
Marktkirche, verfolgt von winzigen, untoten Monstern.
Die
Erinnerung traf Philippe mit unsagbarer Gewalt. Er strauchelte und fing sich
gerade noch, bevor er stürzte.
Krümel
prallte keuchend gegen ihn und klammerte sich an seiner Taille fest.
„Das
war doch wieder …“, er rang nach
Atem, „der Junge, den ich … gesehen habe!“
Philippe
sah über die Schulter in die Gasse zurück.
Er
erwartete fast den Mann in seinem Kutschermantel zu sehen! Wie auch der
Bonbon-Händler hatte sich dieses Wesen zurück gezogen und lauerte.
Vielleicht war er sogar schon wieder dort, wo er die Kinder hinlockte, um sie
zu töten!
Er
sah zu Krümel, der ihn irritiert beobachtete.
„Siehst
du den Jungen denn nicht?“, fragte er gereizt.
„Doch“,
entgegnete Philippe nervös. „Begegnen sollte ich ihm nur nicht.“
„Warum?“,
fragte Krümel, während er sich sichernd umsah.
„Der
Junge bin ich.“
Philippe
schloss kurz die Augen. Der Chor sang gerade: Macht
die Tore weit. Er entsinnte sich, dass die Kinder ihn damals um die Kirche
hetzten und ihn an dem Karussell in die Enge trieben.
‚Das
Karussell! Der innere Korpus ließ sich öffnen!’, erinnerte er sich.
‚Darin schlachtete er die Kinder ab!’
Ohne
länger darüber nachzudenken ergriff er die Hand des verwirrten Punks und zog
ihn mit sich.
Zu
vollkommen anderer Musik drehten sich die verwaisten Figuren, Schlitten und
Wagen.
Das
Kettenwerk klapperte atonal im Inneren des Karussells, während eine
Dampforgel die stampfende Melodie einer Walze abspielte. Philippe schauderte
bei den Lauten. Er sah sich genauer um.
Der
Lack er Figuren blätterte langsam ab. Pockennarbig starrten die Köpfe der
Pferde und Rehe zu ihnen. Im Licht- und Schattenspiel der Gaslampen gewann die
Szenerie an dunklem, boshaftem Leben. Obwohl die Puppen nur aus bemaltem Holz
bestanden, glaubte Philippe, leichte Bewegungen in den starren Körpern wahr
zu nehmen. Er schauderte unter dem Anblick.
Krümel
ergriff ihn am Arm.
„Ich
bin mir nicht sicher, aber ich glaube, ich höre die Kinder heranstürmen.“
Philippe
verstand seine Warnung.
Er
sprang die drei Stufen zu der unteren Ebene der Drehscheibe hinauf und hielt
sich an einer Stütze des Baldachins fest. Das rotweiß lackierte Holz und das
goldene Messing strahlten unmenschliche Kälte aus. Rasch griff er nach dem nächst
stehenden Pferdekopf, nur um sich in die zweite Reihe aufgespießter
Karusselltiere zu bewegen. Die Figuren hoben und senkten sich in fast lasziven
Bewegungen. Eine gewisse Perversität ging davon aus. Aus dem knarren und Ächzen
des Holzes hörte Philippe das Stöhnen eines Lebewesens heraus. Eisige Kälte
rann über seinen Rücken. Er betrat vorsichtig die innere Drehscheibe. Plötzlich
begann sich das Karussell schneller zu drehen! Philippe zuckte zusammen und
sah sich um. Die Geschwindigkeit nahm rasend zu. Ihm fiel es immer schwerer,
sein Gleichgewicht zu halten.
Die
Zentrifugalkraft trieb ihn im ersten Moment gegen eines der Pferde. Ihm wurde
schwindelig, wie auch damals. Er musste sich fest halten. Für einen Moment
schloss er die Lider und konzentrierte sich, bevor er sich erneut umsah. Die
Welt außerhalb des Karussells drehte sich in rasender Geschwindigkeit.
Bildfetzen schwammen vorbei, ohne dass er sie optisch ergreifen konnte. Vage
entfernt glaubte er immer wieder Menschen in unterschiedlichen Trachten und
Gewändern aus verschiedenen Epochen wahrzunehmen, konnte sich aber nicht
sicher sein. In ihm sträubte sich alles gegen diesen unerträglichen Anblick.
Er spürte, wie ihm schlecht wurde. Schließlich riss sich davon los und sah
sich nach Krümel um. Ihm war vollkommen entgangen, ob sein junger Geliebter
ebenfalls den Sprung hier her wagte.
„Krümel?“,
rief er.
Seine
Antwort blieb aus.
„Krümel!
DAVID!“
Philippes
sonst ruhige Stimme steigerte sich. Er bemerkte den schrillen Unterton der
Panik darin, konnte ihn aber nicht unterdrücken. Vielleicht stand er noch
dort unten?! Philippe sammelte sich und unterdrückte die Angst, die in ihm zu
einem erstickenden Monstrum anwuchs.
Er
schritt unsicher zwischen den sich rasch auf und ab bewegenden Holztieren über
die Plattform. Noch gab es die Möglichkeit, dass er an anderer Stelle
aufgesprungen war. Trotz des rasenden Tempos der Drehscheibe gewann Philippe
nach einigen Sekunden eine gewisse Sicherheit zwischen den Figuren. Sie
bewegten sich in einem für ihn berechenbaren Takt. Mit dieser Sicherheit
gelang es ihm, ein bisschen schneller auszuschreiten, ohne das Gleichgewicht
zu verlieren.
Er
umrundete die Ebene bis zu der Stiege, ohne jedoch auf Krümel zu treffen.
Erneute Angst ergriff ihn.
Sein
Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Unstet irrte sein Blick über die Ebene,
bis er an dem Kernstück, dem Maschinenraum der Karussells, hängen blieb.
Philippe
erkannte in den bemalten Holzplatten deutlich die Fugen der Türe, die unter
der Treppe zu der zweiten Etage verborgen lag. Konnte es sein, dass dieses
Geschöpf, was hier lebte, Krümel in seinen Fängen hielt?
Der
Gedanke erschütterte Philippe. Mit beiden Händen klammerte er sich an das
Geländer der verzierten Leiterstiege. Sein Herz raste plötzlich vor
unbezwingbarer Angst um seinen Freund! In seinem Hals ballte sich ein harter
Klumpen zusammen, der ihn zu ersticken drohte.
Er
spürte, wie aus seiner Angst Zorn erwuchs. Seine Fäuste ballten sich um das
eisige Metall, dass sich unter seinen Fingern zu deformieren begann, bis die
Knöchel fahl hervor stachen. Seine Zähne mahlten aufeinander. Aus seinen
schmalen Fingern wuchsen Klauen. Kraft kehrte in seinen Körper zurück.
Das
rasende Tempo des Karussells konnte ihm nichts mehr anhaben. Im Gegenteil
schien es ihm eher Schwung zu verleihen. Alles in seinem Leib spannte sich, um
an dem Geländer vorbei durch die Türe zu brechen.
Stimmenfetzen
hielten ihn zurück. Philippe fuhr herum und erkannte, dass die Plattform an
Geschwindigkeit verlor. Die Welt zwischen den Sekunden wurde wieder klarer. Im
Schnee erkannte er einen blonden Jungen, der sich nah an Krümel drängte. Das
Bild verschwand so rasch, wie es kam. In der nächsten Umdrehung lag in Krümels
Hand der schwere Kettengürtel, den er bislang um die Hüften trug. Er schwang
ihn gegen die Kinder, die die beiden jungen Männer umringten.
Philippes
kindliches Alterego wich zurück. Es schien ihm fast, als wisse der Junge
nicht, wen er mehr fürchten solle; Krümel oder die Leichenkinder.
Die
Drehung der Plattform riss das Bild von Philippe fort, bevor die Szene erneut
in sein Sichtfeld rückte. Er bemerkte, dass sein jüngeres Selbst nach einer
der rotweiß ziselierten Holzstützen auf der Etage griff und sich daran hoch
zog. Krümel schlug im gleichen Augenblick einem der Kinder –dem Mädchen
mit dem roten Mantel - die Ketten in das verzerrte Dämonengesicht. Philippe
dachte nicht mehr daran, sich vor einer Begegnung mit dem Jungen, der er einst
war, zu schützen. Viel mehr fuhr er nach vorne. Er umklammerte eine der Stützen
und ergriff nach der nächsten Drehung Krümels Arm, um ihn zu sich zu ziehen.
Keine Sekunde zu spät, wie er feststellen musste. Die Szenerie änderte sich.
Im Schnee lag das blutende Kind, von Krümel niedergeschlagen, während seine
Gefährten auf den jungen Mann eindrangen, vollkommen ungeachtet was er gerade
mit einem der ihren getan hatte.
Krümel
stieß einen spitzen Schrei aus, als er den Boden unter den Füßen verlor. Er
wehrte sich blind gegen Philippe. Offenbar erkannte der Punk ihn im ersten
Moment nicht.
„Ich
bin es!“, rief Philippe.
Erst
die Worte, vielleicht auch nur der Klang seiner Stimme, beruhigten den jungen
Mann. Seine Gegenwehr ebbte ab und verschwand vollkommen, nachdem ihn Philippe
in die Sicherheit der Plattform brachte.
Krümel
fuhr in den Armen seines Geliebten herum und umschlang Philippe fest. Seine
Wangen glühten vor Anstrengung. Schweiß perlte auf seiner Stirn. Philippe hörte
den rasenden Herzschlag des jungen Mannes. Krümels Atem ging stoßweise und
kondensierte in weißen Dampfwolken vor seinen Lippen.
„Philippe!“,
keuchte er. Der Laut erstickte sich in der festen, ängstlichen Umarmung, die
Philippe erwiderte.
Viel
Zeit blieb ihm nicht. Viel mehr drang ein mahlendes Geräusch aus dem Inneren
des Karussells. Die Ketten klirrten innen gegeneinander und irgendetwas in der
Mechanik setzte sich scheppernd wieder in Bewegung, während die Zentrifuge
sich kreischend in Bewegung setzte.
Krümel
krallte sich an Philippe fest.
„Wo
ist der Junge?!“, hauchte er. Eisige Starre erfüllte seine Stimme.
Philippe
wusste die Antwort, konnte es allerdings nicht aussprechen. Hinter ihm hörte
er, wie sich die Türe des Maschinenraums öffnete.
Eilig
drängte er Krümel die Stiege hinauf, um wenigstens ihn vor dem Kinderjäger
zu bewahren, während er ihm rasch folgte.
Noch
bevor er die obere Eben des Karussells erreichte, trat der weißhaarige Mann
in seinem alten, zerschlissenen Kutschermantel aus dem Inneren des Karussells.
Er hob kurz den Blick. Tief in den höhlen liegende Augen, deren Iris fahl
blau war, bohrten sich in die Philippes.
Der
Schal, den er vor Mund und Nase gezogen hielt, glitt herab und gab das beinah
gütige Antlitz eines hageren, alten Mannes frei. Er sah bedauernd zu
Philippe. Sachte schüttelte er den Kopf. Sein Bart zuckte leicht, als sich
seine Lippen bewegten. Durch den rasenden Fahrtwind rissen die Worte von
seinen Lippen. Schließlich senkte er den Blick wieder und schleppte sich
gebeugt aus der Türe. Mit vollkommener Sicherheit, die seine schwerfälligen
Bewegungen Lügen straften, schlich er aus den Schatten hinaus auf die
drehende Plattform. Philippe beobachtete ihn, bis er aus seinem Sichtfeld
verschwand.
„Ich
sehe ihn!“, rief Krümel, der sich an einer der Gondeln vorbei zur
Balustrade geschoben hatte.
Philippe
fuhr herum.
„Wen?!“,
fragte er verwirrt.
„Den
Jungen!“, entgegnete Krümel mit einem Blick über die Schulter.
Vor
Philippes innerem Auge erschien die kleine Kutsche, in deren Ecke sich sein jüngeres
Selbst kauerte. Er spürte sogar noch das brüchige, grüne Leder unter seinen
Fingern.
„Warne
ihn!“, entgegnete Philippe aus einem Impuls heraus.
Er
wendete sich wieder ab. Sein jüngeres Selbst dürfte ihn nicht sehen. Jetzt
musste er seinem Geliebten vertrauen.
„Hey,
Kleiner!“, brüllte Krümel, während er sich über die Balustrade der
ersten Etage neigte.
Philippe
wusste, dass der Junge in dem Augenblick hinauf sah, direkt ich das von der
Anstrengung gerötete Gesicht Krümels. Er erinnerte sich daran!
„Lauf
weg! Der Kerl mit dem Messer hat dich gleich!“
Er
spürte den eisigen Schrecken und die aufwallende Panik, die die Glieder des
Jungen kurzzeitig lähmten. Zugleich sah er durch seine Augen den freundlichen
alten Mann, der den Preis für die Fahrt einforderte …
„Tritt
ihm gegen den Arm!“, zischte Philippe. Er klammerte sich mit beiden Händen
an dem Geländer fest.
„Tritt
ihn!“, gab Krümel die Anweisung ungefiltert weiter.
Philippe
musste dem Jungen helfen. Er spannte sich zum Sprung.
In
dem Moment fühlte er den Impuls des Jungen, während er seine Beine an den
Leib zog. Ein Gemisch aus Schrecken und Verwirrung durchflutete ihn. Es waren
die Gefühle des Knaben aus der Vergangenheit. Während der Junge seine Füße
nach vorne stieß, dem Mann entgegen, glaubte Philippe morsche Knochen zu hören,
die unter seinem Stiefel nachgaben. Aus den Augen seines kindlichen Selbst sah
er, wie der Alte gegen den Kern des Karussells taumelt. Im gleichen Augenblick
federte er hoch. Im Gegensatz zu seinem Alterego krallte Philippe sich in das
Geländer und wartete. Der Junge stürzte Kopflos über die untere Plattform.
Immer wieder wagte er sich an den Rand, die Stufen in die Wirklichkeit. Aber
das irrsinnige Bildergewirr um ihn raubte ihm den Mut zu dem Sprung durch die
Zeit. Vielleicht endete er unter den Leichenkindern, aber niemand konnte
schlimmer sein, als dieses Geschöpf, das das schwarze Herz dieses Ortes war!
„Spring“,
flüsterte Philipp. „Hab den Mut!“
Tatsächlich
spürte er das aufmerksame Lauschen. Der Knabe nahm ihn wahr, wusste, dass ihn
jemand führte und ihm Mut und Kraft gab. Erneut umklammerte er die Stütze
des Baldachins, um nach unten zu spähen. Philippe spürte sein rasendes Herz.
Alles in ihm verkrampfte sich durch die Angst des Jungen.
Er
fühlte sich selbst gehetzt, erwartete in jeder Bewegung das Geschöpf zu
sehen, was auf seine Seele lauerte. Starb der Knabe, würde auch er sich
unweigerlich auflösen. Diese Gewissheit versuchte er seinem Alterego zu übermitteln.
Krümel
blieb neben Philippe stehen. Er verfolgte genau den Weg des Jungen.
„Spring
endlich ab, du Spinner!“, brüllte er panisch.
Der
Knabe fuhr herum und sah einen Herzschlag lang hinauf.
Philippe
wich zurück, bis sein Gesicht vollständig in den Schatten des farbigen
Baldachins verschwand.
Dennoch
spürte er das Entsetzen des Jungen, der für einen Herzschlag seine
erwachsene Erscheinung erkannte!
Entsetzt
schloss Philippe die Augen. Er wusste nicht, was passieren konnte, wenn er
innerhalb eines Zeitparadoxons auf sich selbst traf. Grundsätzlich konnte es
allerdings nur in einer Katastrophe enden. Das tiefe, erschütternde Mahlen
aus dem Inneren des Karussells bestätigte seine Befürchtungen. Die gesamte
Konstruktion bebte und bäumte sich auf, nur um zurückzusacken. Gondeln und
Wagen brachen aus ihren Verankerungen. Die Stangen der Pferde und Rehe lösten
sich. Einige brachen in sich zusammen, andere verkanteten sich zwischen erster
Ebene und Baldachin. Funken stoben auf, als scharfkantiges Metall über den
Innenrost kratzten.
Philippes
jüngeres Selbst hatte sich zusammengekauert und krallte sich entsetzt in die
Holzdielen der unteren Etage.
Plötzlich
schob sich Krümel an Philippe vorüber und sprang die Stufen der Leitertreppe
hinab.
Im
gleichen Moment bäumte sich der Boden unter Philippe. Er konnte sich
festklammern. Das Beben wollte nicht aufhören. Entsetzt spähte er hinab.
Sein
Freund fing sich gerade rechtzeitig und klammerte sich an einer der Figuren
fest. Ein weiterer Stoß riss ihn fast von den Füßen. In letzter Sekunde
fing er sich wieder.
Der
Schatten des Alten erhob sich drohend über dem jungen Punk, ohne dass er den
Mann bemerkte. Der junge Philippe schrie eine Warnung, die Krümel nicht recht
verstand. Schließlich federte der Junge nach vorne und riss Krümel mit sich.
Heftige
Stöße durchfuhren das Konstrukt aus Holz und Eisen. Philippe hörte, wie
einer der Träger splitterte und Metall riss.
Er
konnte nicht länger warten. Was immer innerhalb dieses Zeitparadoxons
passieren würde, er musste eingreifen!
Sein
junges Selbst klammerte sich mit Krümel an das Geländer der Stiege, während
das Karussell noch stärker unter ihren Füßen bebte. Der Schatten des Alten
gewann an Stofflichkeit. Aus diffuser Substanzlosigkeit gerann ein vage
menschliches Geschöpf, dessen Mantel und Schal in Nebelschwaden und Rauchfäden
endeten. Er erhob seine Hände. In einer davon zuckte das Messer auf.
In
der Sekunde sprang Philippe von oben herab. Er strauchelte und fing sich
gerade noch rechtzeitig. Der Stich sollte sein jüngeres Selbst treffen,
streifte aber ihn. Wolle zerriss über seinem Arm. Die Klinge fuhr über seine
Haut und hinterließ einen dünnen, brennenden Schnitt.
Fast
erwartete Philippe, die Wunde würde sich gleich wieder schließen, wie es ihm
bei allen normalen Waffen erging. Allerdings trat das Gegenteil ein! Brüllender
Schmerz ballte sich in seinen Muskeln und explodierte. Blut spritzte über
Wand und Leiter.
Philippe
blieb keine Zeit, sich darauf zu konzentrieren. Er schob die körperlichen
Empfindungen weg.
Dicht
hinter sich spürte er Krümel, der sich mit einer Hand an ihn klammerte.
„Lauft!“
schrie Philippe, während er sich nach der Waffenhand seines Gegners griff.
Krümel
ließ ihn los. Gleichzeitig fuhr Philippes Hand durch den Alten hindurch, ohne
auf Substanz zu stoßen. Doch die Waffe nahm sofort wieder Stofflichkeit an.
Philippe sprang zurück, dennoch streifte ihn die Waffe über Brust und Bauch.
Die rostige Klinge fuhr durch seine Kleider, als seien sie nicht da.
Gleißend
explodierte der Schmerz auf seiner Haut.
Philippe
wurde durch eine weitere Erschütterung nach hinten geschleudert, aus der
Reichweite seines Gegners. Unsanft prallte er in eines der umgestürzten
Karusselltiere. Angespitztes Holz stach in seinen Rücken. Zeit blieb ihm
nicht, sich darüber Gedanken zu machen. Mit einem unmenschlich schnellen Satz
folgte ihm sein Gegner nach.
Philippe
federte auf die Füße und machte einen Satz zurück. Er umklammerte die
Metallstange eines anderen Holztieres, das noch in seiner Position saß, mit
der Linken. Das Rohr drehte sich leicht in der Aufhängung. Philippe nutzte
es, um Schwung zu holen und seinem Gegner mit aller Gewalt den Fuß vor die
Brust zu stoßen.
Als
sein Stiefel den Alten traf, fand er Substanz. Das Geschöpf wurde hart zurückgetrieben
und schlug in die Treppe zur oberen Etage ein. Mit unsäglicher Gewalt riss es
die unteren Sprossen herab und begrub sie unter sich.
Philippe
setzte ihm nach. Er spürte, wie ihn der Kampfrausch ergriff und mit Euphorie
erfüllte. Wenn bislang die Karten ungerecht verteilt schienen, so konnte er
sich sein eigenes monströses, unsterbliches Dasein zu Nutzen machen.
Fänge
und Zähne verstärkten sich. Mit kaum menschlicher Geschwindigkeit stürzte
er sich auf seinen Gegner. Die fahl blauen Augen des Alten weiteten sich
erschrocken, als Phillippe ihm die Klauen in den Körper stieß. Plötzlich
zog sich das Geschöpf zu einer nebulösen Erscheinung zusammen und verwehte.
Philippe
schrie zornig auf.
Schwarzes
Blut troff von seinen Händen auf das lackierte, bunte Holz. Sofort fuhr er
hoch und sah sich um. Sein Gegner war verschwunden. Auch Krümel und sein jüngeres
Selbst entdeckte er nicht mehr.
Am
Rande nahm er wahr, wie das Beben unter seinen Füßen langsam nachließ und
schließlich ganz aufhörte.
Waren
Krümel und sein Alterego demnach fort und in Sicherheit? Die Verbindung zu
dem Knaben konnte er nicht mehr aufbauen.
Langsam
ließ er seinen Blick über die sich bewegenden Figuren gleiten. Das Paradoxon
hatte ihnen übel zugesetzt. Zudem entdeckte er in Boden und Kernwand Risse,
die zuvor nicht dagewesen waren.
Philippe
sah nach draußen. Um ihn flirrte immer noch der Zeitstrudel. Das Knarren der
Türe zu dem Inneren des Karussells erregte seine Aufmerksamkeit. Dunkle
Spuren Blutes und herab gebrochene Stücke nebulös schleimiger Substanz führten
unter den Ruinen der Treppe durch die Türe in das dunkle Innere.
Zu
Philippe wehte plötzlich unerträglich süßer Gestank herüber, in den sich
verschiedene andere Aromen mischten. Es war eine Mischung aus Blut, Verwesung,
Säure, Öl und Metall. Krümels Duft mischte sich darunter, genau so wie der
Hauch des Parfums, was sein Alterego trug.
Er
schloss die Lider und witterte.
Die
Quelle der Gerüche kamen aus dem Inneren des Karussells!
Philippe
riss entsetzt die Augen auf.
Mit
einem Sprung erreichte er die Türe und schob sich durch den niedrigen
Eingang. Dunkelheit und klamme Hitze umfing ihn. Es fühlte sich an, als würde
ihn etwas widerlich Lebendiges aufnehmen.
Trotz
seiner guten Raubtieraugen blieb es ihm verwehrt mehr zu sehen, als ein
normaler Mensch. Das Licht von Außen drang nicht besonders weit in den
Maschinenkern. Vage konnte er erkennen, dass sich vor ihm ein gewaltiges Räder-
und Kettenwerk um eine genarbte Kernstange bewegte. Die Hitze stieg von dem
Metall aus. Der Geruch nach Öl stammte von der gefetteten Mechanik. Zähflüssig
rann etwas an der Nabe herab. Philippe erkannte den Geruch sofort. Blut!
Übelkeit
stieg in ihm auf. Er würgte kurz, presste dann aber die Hand gegen die
Lippen. Schwächen konnte er sich nicht erlauben! Sein Blick glitt durch die
Kammer. Eine schmale Wendeltreppe führte um den Kern hinab. Wie damals fragte
sich Philippe, wohin dieser Schacht führte. Dieses Mal musste er ihn gehen,
gleich was passieren würde. Die Angst um Krümel zog sein Herz zusammen.
Er
trat den Weg nach unten an.
Das
Maschinenwerk reichte schier unendlich in die Tiefe. Das Rasseln der Ketten,
die sich unablässig wie ein Zahnriemen bewegten, begleitete ihn, bis er das
Geräusch ausblendete. Die Stufen unter seinen Stiefeln bestanden aus Holz. Er
wollte zu dem dick verkrusteten Belag darauf lieber keine Rückschlüsse
ziehen. Dennoch musste er einige Male aufpassen, wohin er trat. Öfter glitt
sein Fuß weg. Es gelang ihm immer nur im buchstäblich letzten Moment, sich
an der Wand festzuhalten. Zur Mitte hin war die Konstruktion nicht gesichert.
Ein Sturz in die Maschine, wäre auch Philippes sicherer Tod. Trotzdem eilte
er weiter hinab.
Nach
einer unmessbaren Zeitspanne verlangsamte Philippe seine Schritte ein wenig.
Ein Anflug von Hoffnungslosigkeit ergriff ihn. Aber allein der Gedanke, dass
Krümel etwas zustoßen konnte, vertrieb das Gefühl so schnell, wie es kam.
Noch
immer nahm er den Duft seines Geliebten wahr, in den sich das Parfum mischte.
Rot
flackernder Schatten zuckte über die Wände und erregte Philippes
Aufmerksamkeit. Er versuchte seinen Schritt zu verlangsamen und stolperte die
letzten Stufen hinab, bevor er sich wieder an der Wand abfangen konnte. Für
einen Moment verharrte er, um das Licht einordnen zu können. Die Quelle lag
irgendwo unter ihm, im Zentrum dieses verfluchten Ortes. Der Gestank nach
Verwesung nahm stetig zu.
Ohne
weiter zu zögern, setzte er mit weiten Sprüngen die Stufen hinab.
Von
einem Moment zum Anderen endete die Treppe auf einer Plattform, die von
dicken, rostigen Ketten getragen wurde. Sein eigener Schwung trug ihn um ein
Haar über die Begrenzung hinaus. Verzweifelt klammerte er sich an die Trägerkonstruktion
und zog sich zurück. Sein langes Haar fiel über Schultern und Oberkörper.
Schmerzen schossen durch die verletzten Stellen an Arm und Brust. Zitternd und
erschöpft strich er sein Haar zurück und orientierte sich flüchtig.
Diese
Plattform war Teil einer Hängebrücken- und Leiterkonstruktion. Nirgendwo gab
es ein Geländer. Lediglich hauchfeine Vorhänge, die an ausgedünnte
Hautfetzen erinnerten, bewegten sich zwischen den einzelnen Ebenen.
Sein
Auftritt konnte nicht unbemerkt geblieben sein. Die gesamte Konstruktion
schwang unter ihm nach.
Philippes
Blick richtete sich nach unten. In der Tiefe, gute fünf Meter unter ihm,
flackerten Feuer aus dem Boden heraus. Hitze, die aus der Hölle zu kommen
schien, versengte seine Haut. Der Boden erinnerte an Kopfsteinpflaster, dass
in Schieferplatten über ging. Offenbar diente der Belag als Sickerbecken. An
vielen Stellen hatte sich schwarz geronnenes Blut abgesetzt.
Erneut
würgte er. Mit zusammengebissenen Zähnen verdrängte er die Vorstellung und
spähte hinab. Philippe überlegte einen Moment, ob er den Sprung hinab überstehen
konnte. Die Entscheidung wurde ihm abgenommen. Unter seinen Füßen bewegte
sich die Plattform sachte. Er fuhr herum. Aus den Schatten und Nebeln
materialisierte das Monstrum. Sein Messer schimmerte in dem diffusen
Vulkanlicht.
„Engelsgesicht“,
flüsterte eine Stimme, deren Klang wie Glas und rostiger Stahl war.
Philippe
biss die Zähne zusammen und ließ sich nach hinten fallen.
Der
Aufprall zerschmetterte die Knochen seiner Füße und Unterschenkel. Dennoch
setzte sich sein Körper umgehend wieder zusammen. Philippe ignorierte den
Schmerz, so weit er konnte. Er richtete sich langsam auf und sah sich um. Sein
Blick huschte herum und verfing sich an bizarren Skulpturen, die im ersten
Moment wie skelettierte Engel und gehörnte Geschöpfe aussahen. Von ihnen
ging der Säuregestank aus.
Viel
Zeit blieb ihm nicht, sich umzusehen. Schwarzer Nebel sank von oben herab und
hüllte ihn ein. Mit einem Sprung setzte er zurück. Einen Herzschlag später
fuhr die Klinge an ihm vorüber.
„Du
bist besser geworden, Engelsgesicht!“, brüllte der Alte mit überschnappender
Stimme.
Philippe
ließ sich zurückfallen und rollte über die Schulter ab, um sofort wieder
auf die Füße zu Federn. Erneut riss der Schmerz an ihm. Der Geruch nach Krümel
war hier so präsent! Allerdings konnte er seinen Gegner nicht aus den Augen
lassen.
Der
alte Mann materialisierte sich nur immer partiell. Philippe blieb nichts
anderes übrig, als ihm auszuweichen, bis er eine Schwachstelle in seiner
Deckung fand.
Immer
wieder fuhr das Messer gegen ihn nieder. Jedes Mal wartete er bis zur letzten
Sekunde, um zurückzufedern. Seine Fähigkeiten halfen ihm ungemein dabei.
Tatsächlich erkannte er sogar ein Schema in den Hieben und Stichen.
Vielleicht konnte er das gegen den Alten verwenden!
Jedes
Mal, wenn er nach Links auswich, nahm das Monster mehr Stofflichkeit an! Schon
einmal war es ihm gelungen, seine Deckung zu durchbrechen und ihn zu
verletzen!
Dieses
Mal visierte er das Herz seines Gegners an.
Er
ließ den nächsten Stich durch. Die Klinge drang tief in seinen Bauch ein.
Der Schmerz explodierte so heftig, dass ihm fast die Sinne schwanden. Aber die
Angst verlieh ihm zusätzliche Kräfte. Mit einer Hand umklammerte der den Arm
des Geschöpfes, zog ihn sogar noch näher an sich heran, während er mit der
Anderen in seine Brust stieß. Er war wie von Sinnen vor Schmerzen. Seine
Instinkte begannen seinen Verstand zu überrennen. Er spürte eine unerträgliche
Gier nach Blut!
Ohne
noch recht zu wissen, was er tat, schloss sich seine Hand um das Herz des
Monsters. Er riss es mit der Leichtigkeit eines Vampirs aus dem Körper.
Schwindel
überflutete seine Sinne. Taumelnd stolperte er zurück und hielt das noch
immer schlagende Herz hoch. Blut rann über sein Handgelenk in den Ärmel
seines Mantels. In seinem Mund sammelte sich Speichel. Die Lust nach der
schwarzen Flüssigkeit wurde zu brennender Gier, die in seinen Eingeweiden
tobte und seine Sinne umnebelte. Er wollte es trinken, das vergammelte alte
Fleisch verschlingen …
„Philippe!“
Krümels
panische Stimme zerriss den roten Schleier, der sich über seinen Geist gelegt
hatte.
Er
fuhr herum und wich zurück. Das Wesen lebte noch! Es materialisierte,
flackerte und stürzte auf ihn mit erhobenem Messer zu. Philippe wich ihm aus.
Der Alte stolperte und stürzte schwer zu Boden. Sein schwarzes Blut sickerte
in die Ritzen der Steine.
Die
Waffe fiel ihm aus den Fingern. Mühsam versuchte er, sich wieder
aufzurichten, brach aber sofort in die Knie. Er starb, realisierte Philippe.
Dennoch bäumte der Alte sich auf. Dieses Wesen konnte und wollte nicht
aufgeben!
„Ich
brauche dein Leben!“, keuchte er. „Gib mir dein unsterbliches Leben für
meine Klinge! Sie muss mächtiger werden …“
Philippe
betrachtete ihn. Alle Monstrosität wich aus dem alten, dürren Mann, dessen
Leben schon viel zu lang andauerte.
Langsam
trat er zu einem der Flammenlöcher.
„Nein“,
entgegnete er erzwungen ruhig, während er das Herz los ließ. Der pochende
Fleischklumpen fiel in das Feuer. Philippe sah zu, wie es langsam verschmorte.
Noch immer schlug es. Was gab ihm diese Kraft? Waren es die Leben der Kinder,
die alle keine Menschen waren, oder die Macht der Klinge, die erschaffen
wurde, um unmenschliche Wesen zu vernichten?
Eine
zischende grüne Stichflamme ließ ihn zurück fahren. Gleichzeitig wirbelte
er herum und starrte das Wesen an. Es brannte von innen heraus in demselben
giftig Licht. Kein Laut kam über seine Lippen, obgleich der Schmerz unerträglich
sein musste.
Der
alte Mann starb, daran gab es keinen Zweifel mehr.
Philippe
sah sich um. Er suchte nach Krümel … und seinem Alterego. Nah der
Skulpturen regte sich etwas. Der Punk straffte sich und nahm den Mantel des
jungen Philippe von den Schultern.
„Wo
ist …“, begann Philippe verwirrt.
„Ich
habe mir seinen Mantel geschnappt, bevor ich ihn vorhin vom Karussell
geschubst habe, um den Alten von dir wegzulocken“, erklärte Krümel. Er
klang zwar zuversichtlich, aber seine Stimme brach. Philippe sah, wie sehr
seine Knie bebten. Er konnte sich kaum aufrecht halten.
Mit
wenigen Schritten eilte er zu dem jungen Mann hinüber und umarmte ihn fest.
In dem Moment begannen all seine Wunden wieder höllisch zu brennen. Er
ignorierte den Schmerz. Krümel war die einzige, wichtige Person für ihn. Er
spürte, wie sich der Junge an ihn klammerte und plötzlich anfing zu
schluchzen.
„Philippe,
er sammelt die Leben und Seelen von solchen, die nicht menschlich sind!“,
keuchte er erstickt.
„Hier
sind so viele von ihnen … Hunderte … alle tot! Er hat sie ausgestellt! Er
…“
Krümel
brach ab und vergrub seinen Kopf an Philippes Brust. Das letzte bisschen
Fassung bröckelte und hinterließ nichts als einen verzweifelten, zutiefst
schockierten jungen Mann.
Behutsam
nahm Philippe Krümels Gesicht in seine Hände und zwang den Jungen, ihn
anzusehen. Die großen, hellen Augen sprachen von dem Grauen, was er gesehen
haben musste. Seine Lider waren rot von den Tränen.
Wortlos
neigte sich Philippe zu seinem Geliebten und küsste ihn. Er wollte wenigstens
für einige wenige Sekunden vergessen, was um sie herum existierte.
Krümel
keuchte in Philippes Kuss hinein. Erschrocken fuhr er auf und sah sich nach
dem Monster um. Um sie herum begann sich diese Höhle aufzulösen, wurde
fadenscheinig und kälter.
Ein
eisiger Windstoß vertrieb das Bild vollständig. Sie standen auf dem leeren,
stillen Weihnachtsmarkt, der wohl schon vor Stunden seine Tore geschlossen
haben musste. Viele Buden waren bereits abgebaut worden und lagen auf
Tiefladern aufgeschichtet, die über den Platz verteilt standen.. Vor Hängern
parkten Zugmaschinen und Transporter.
In
die Stille drang das Getrampel und Geschrei kleiner Kinder. Lachen und
Wortfetzen streiften ihn, bevor sie mit dem Neuschnee von kalten Windböen
fortgetragen wurden.
Philippe
sah zu Boden. Dort, wo das Nostalgie-Karussell stand, hatten unzählige kleine
Füßchen, wie die von Kindern, den frischen Schnee aufgewühlt. Sie verloren
sich bereits nach wenigen Schritten. Er schauderte. Nirgendwo brannte Licht
hinter den Fenstern, keine Menschenseele schien unterwegs oder wach zu sein.
Lediglich die Kirchturmuhr rückte auf die frühe, dritte Stunde vor.
Die
heutige Nacht war bereits der frühe Morgen des 24.Dezember. Heilig Abend!
Philippe
keuchte. Eine seltsame hoffnungsvolle Euphorie ergriff ihn. Er lachte auf. Krümel
klammerte sich enger an ihn.
„Was
ist?“ fragte er.
„Nichts,
Krümel“, entgegnete er, nachdem er sich ein wenig gefangen hatte.
Verstört
sah der Punk ihn an.
„Nichts“,
erklärte er sanft, während er Krümel den Arm um die Schulter legte und ihn
an sich zog. Mit einer Hand tastete er über den Stich in seinem Bauch. Es tat
weh, begann aber zu heilen.
„Nur
dass es das erste befreite Weihnachtsfest ist, was diese Stadt erleben
wird.“
Tanja
Meurer:
Tanja
Meurer, geboren 1973, in Wiesbaden, ist gelernte Bauzeichnerin aus dem
Hochbau und arbeitet seit 2001 in bauverwandten Berufen und ist seit
2004 bei einem französischen Großkonzern als Dokumentationsassistenz
beschäftigt. Nebenberuflich arbeitet sie als Illustrator für
verschiedene Verlage.
Tanja Meurer über sich selbst:
Als Tochter einer Graphikerin und Malerin blieb es nicht aus, dass ich
schon sehr früh mit Kunst in Berührung kam, weshalb ich auch seit
1997 nebenberuflich als Illustratorin arbeite.
Seit meiner Kinderzeit schreibe ich auch. Mit 8 Jahren kamen die
ersten – zugegeben sehr lächerlichen – Krimis zustande. Während
der Schulzeit habe ich das erste Mal eine Geschichte für den Verkauf
in der Schule auf PC geschrieben.
1997 kam die erste Kurzgeschichte in einem Fantasy-Magazin heraus und
vier Jahre später weitere.
2007, 2009 und 2010 gewann ich drei Ausschreibungen, wobei die
Kurzgeschichten und –Romane bei Kleinverlagen erschienen.
Die stärksten Einflüsse kommen bei mir durch Autoren wie E.T.A.
Hoffmann, Oscar Wilde, Hermann Hesse und Neil Gaiman.
Mehr über mich findet ihr unter:
www.tanja-meurer.de
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