"Zwielicht" von Tanja Meurer

(Genre: Krimi, Drama)

 

Gedämpftes Licht drang durch die Vorhänge auf die Straße. Um diese Uhrzeit und in dieser ruhigen, konservativen Gegend die einzige Form der Helligkeit überhaupt. Jeder andere, der in diesem Bauerndorf lebte, entsprach dem Bild des braven Bürgers, der früh aufstand, hart arbeitete und nicht allzu spät das heimische Bett aufsuchte. Nicht einmal der Jahreszeit typische bunte Weihnachtsterror tastete das Dorf an. Vereinzelt hing eine jener rot gekleideten, affigen Figuren an einer Hauswand. Aber das war auch schon das Höchste der Gefühle.
Marc hasste Birlenbach. Er verabscheute den Gedanken an all diese langweiligen, konservativen Menschen und die kleinen, alten, muffig riechenden Häuser.
Wenn er nur schon diese verbissenen, bereits in jungen Jahren alten Gesichter sah, erschrak er. Marc war nicht der Mensch, der seine Ängste zeigte. Im Gegenteil revoltierte er mit seiner ganzen Seele, seinem Auftreten und seinen Worten dagegen.
Er galt sicherlich als der abscheulichste Paradiesvogel dieses Nestes, die Sorte Mannes, vor denen Mütter ihre Töchter warnten, und Eltern mit ihren kleinen Kindern auf die andere Straßenseite auswichen, begegnete er ihnen.
Es reichte ihm nicht, einfach nur offenkundig schwul zu sein und seinen Liebhaber in der Öffentlichkeit zu Küssen und zu berühren; nein, er trug seine Homosexualität wie eine Trophäe vor sich her, zeigte sich in den Augen der Leute als abartig, als Freak, als Punk, der nicht dazugehörte, der diese heile Welt zerstörte, den Rahmen sprengte und sich negativ in das Gedächtnis aller einbrannte.
Ein ausrasierter Hinterkopf und lange, regenbogenfarbige Strähnen, die in sein Gesicht fielen, gepiercte Braue, Zunge, Lippe und Nase bedeuteten für die Bevölkerung Birlenbachs, dass dieser Junge ein Fehler war, ein Fehler, über den man diskutieren, fluchen und ihn beschimpfen konnte.
Leider waren der Geist und die Mentalität Marcs nicht so gefestigt, als das es ihm wirklich gleichgültig gewesen wäre. Ihn machten die Anfeindungen wütend. Das war auch der Grund, weshalb er sich nie länger in diesem Dorf aufhalten wollte. Zumeist suchte er Zuflucht in der Stadt, bei einem Fotographen, der ihn gerne als Modell nutzte. Es gefiel ihm. Er konnte teilweise für Tage verschwinden und sich in dem harten, wilden Leben der Stadt verlieren, und zugleich reizte es ihn, diesen Mann, den besten und engsten Freund seines Liebhabers, aufzuheizen.
Wenn er sich vor Gabriel in den Laken räkelte und ihm seinen tätowierten und gepiercten Leib präsentierte, sich ihm in Ketten entgegen bog, sogar für Bilder masturbierte, fühlte er sich wirklich gut, denn er sah das Verlangen in den Augen Gabriels. Allein nur für einen Blick und einen Kuss des Fotographen, würde er alles geben; Treue stand Marc ohnehin nicht gut zu Gesicht. Er sehnte sich danach es mit Gabriel zu treiben, schon weil dieser den Punk immer wieder versuchte, indem er seine Selbstbeherrschung wahrte und sich selbst kasteite. Marc sah es als heißes, lustvolles Spiel an. Nie würde er Gab sagen, was er wollte, aber seine Körpersprache reichte vollkommen, und er sah, dass er der Erfüllung seiner Träume innerhalb der letzten zwei Jahre näher gekommen war.
Nun, nach dieser einen, lustvollen Woche bei Gab, die ihm allerdings nur Erfüllung in seiner eigenen Hand gebracht hatte, kehrte er zurück zu ihm – Friedrich - seinem Liebhaber, der ihn nur noch langweilte.
Marc war fast 30 Jahre jünger als der alte Mann. Er sah es unterdessen nicht mehr als anziehend an, dass Friedrich belesen, wortgewandt, gebildet und anarchistisch war. Er empfand ihn als enervierend altklug und verbraucht.
Ihm blieb verborgen, warum Friedrich Bücher so sehr liebte, ebenso konnte er nicht verstehen, dass Gab so eng mit dem Alten befreundet war. Die beiden Männer konnten Stunden und Tage philosophieren. Nicht ein einziges Mal ging ihnen das Gesprächsthema aus und sie kannten sich schon seit 11 oder 12 Jahren.
Aber im Gegensatz zu Friedrich kam sich Marc bei Gab nicht unterentwickelt und dumm vor.

Er sah nun zu dem Fester im ersten Stock, und beobachtete, wie der Nachtwind langsam die Vorhänge hinter den gekippten Scheiben bewegte.
Er war sich sicher, wenn er die Wohnung betrat, würde Friedrich in seinem Sessel sitzen und lesen, eingeengt in das winzige, mit Büchern voll gestopfte Zimmer. Wahrscheinlich bemerkte er Marcs Ankunft nicht einmal, bis dieser sich ausgezogen und auf seinen Schoß gesetzt hatte.

Marc machte dieser Gedankengang Angst.
Er wollte keinen so alten Liebhaber, aber Friedrich war der Mann, der ihn von der Straße aufgelesen hatte und der ihn umsorgte; völlig uneigennützig. Trotzdem war das kein Grund, sich auf ewig an diesen alten Mann zu binden? Einen Kerl, der schon jetzt nah an die 60 Jahre heran reichte!
Marcs Ziele waren andere. Er hatte sich unter den Undergroundfotomodellen einen Namen gemacht, arbeitete für bestimmte Goth-Label und war unterdessen die Muse Gabriels. An der Seite des Fotographen hatte er eine Chance und er würde das Leben in vollen Zügen genießen.
Außerdem machte sich der schöne, schlanke und wesentlich jüngere Goth an Marcs Seite besser als der alte, verbrauchte Philosoph.
Wie schon so oft hatte er sich vorgenommen, Friedrich zu verlassen. Er empfand nichts mehr für ihn. Friedrich war für ihn eine lächerliche Figur. Sein schlaffer Körper brachte keinen Spaß mehr.

Er packte seine Tasche fester, trat von seinem Auto fort und schritt langsam über den festgetretenen Schnee, unter dem der Kies knirschte. Der Weg zwischen Haus und Garten kam ihm länger vor. Als er den dreistufigen Podest, der Eingangstüre erreichte, rann ihm der Schweiß über den Rücken unter den Hosenbund. Was regte ihn so auf? Er konnte es sich nicht erklären.

Marc fiel ihm schwer den Haustürschlüssel zu ziehen und aufzuschließen. Alles hier widerstrebte seiner Jugend und dem Wunsch aus seinen selbst gesetzten Grenzen auszubrechen.
Seine Hand krampfte sich um den Bund.
Er konnte umkehren, bei Gab anfragen, ob er bleiben durfte. Gabriel war Friedrichs engster Freund. Nie könnte er ihn so hintergehen… außer…
In seiner Vorstellung manifestierte sich das Bild eines Friedrichs, verletzt, allein und enttäuscht, zurückgelassen von seinem Geliebten und seinem besten Freund.
Marc konnte den Fotographen für sich gewinnen, ganz sicher, mit Sex und Versprechen.
Was er über Friedrich zu erzählen hatte, würde Gab sicher auf seine Seite ziehen.
Er wollte einen Keil zwischen die Freunde treiben, Gabriel für sich gewinnen. Langsam begann sein Gehirn diese perfiden Gedanken weiter zu spinnen.
Er schloss die Haustüre auf und stieg langsam hinauf. Im Moment war er zu sehr von dem Gedanken gefangen, als dass er, wie sonst üblich Lärm machte, um die Nachbarn zu wecken.
Er nahm wesentlich beschwingter und leichtfüßiger die Beton-Stufen hinauf zu Friedrichs Wohnung und dieses Mal störte ihn auch nicht der Geruch nach Alter und billigen Fertigmahlzeiten aus dem Discounter.
Lächelnd und stolz auf seinen Entschluss, schloss er die Wohnung im ersten Stockwerk auf und trat in die Stille der Räume.

Wie erwartet, reagierte Friedrich nicht. Marc wusste dass der alte Mann da war. Er konnte sein billiges Rasierwasser wahrnehmen, allerdings auch den Duft von Badeölen, der in der Luft hing und sich mit schalem Zigarettengestank der letzten Jahre mischte.
Tasche und Jacke ließ er im Flur zurück. Er stahl sich in sein Zimmer, um sich saubere Kleider zu holen. Friedrich mied sein Zimmer. Er nannte es eine Ansammlung von Erinnerungen und Müll. Marc konnte ihm nur beipflichten. Es war tatsächlich eine gefährliche Mischung von Stolperfallen, die sich auf dem Boden, Tisch, Sofa und Stuhl stapelte und immer wieder die stumme Drohung beinhaltete, eines Tages seine eigenständige innere Stabilität zu verlieren.
Fotos, Mappen mit Bildern von seiner eigenen Person allerdings, hegte er wie seinen Augapfel, genauso all die schönen Kleider und der eigentlich recht billige Schmuck, den er von Gab über die Firmen bekommen hatte, für die der Fotograph arbeitete.
Hier fanden sich neben einem gestohlenen Grabstein Comics, Videos und DVDs, CDs, Kleider, Stiefel, Zeitungsausschnitte, ein PC, aber auch alte Schulbücher, ein ausrangierter Schulranzen, ein Plüschtier, was nicht mehr erkennbar zu einer Gattung zugehörig schien und alte Platten mit Hörspielen der Drei Fragezeichen und TKKG.
Marc liebte Schwarz und Neonfarben. Seine Wände hatte er entsprechend dekoriert und mit allen möglichen Symbolen bemalt, deren Bedeutung ihm nur aus der Szene bekannt waren, deren wirklicher Hintergrund er allerdings nicht kannte.
Mit dem Fuß schob er einen frischen Wäscheberg zur Seite und fischte sich ein paar Socken und eine Hose hervor.
Für einen winzigen Moment dachte er darüber nach, ob er seine angestaute Lust an Friedrich loswerden sollte, diesen zügellosen Verlagen genommen zu werden, dass Gabriel in ihm schürte. Trotzdem entschied er sich dagegen. Er wollte Sex, aber nicht mit Friedrich.
Ein neues Verlangen erwachte in ihm. Er wollte baden, es im Wasser machen und dabei an Gab denken. Für sein Vorhaben waren alle erniedrigenden und beleidigenden Aktionen gegenüber dem Alten eher negativ. In diesem Fall zog er vor es heimlich, im Verborgenen zu tun.

Entspannt und bestens gelaunt verließ er das Bad und warf einen kurzen Blick in die Küche.
Die Fahrt, das Bad und die zweimalige Masturbation sorgten dafür, dass sein Magen knurrte. Brennender Durst dörrte seinen Hals aus. Als er das Licht anschaltete, sah er in der Spüle die alte Tasse Friedrichs und ein Holzbrett. Offenbar hatte der alte Mann wieder vergessen, etwas Warmes zu essen. Marc seufzte. Leise Sorge war bei dem Gedankengang dabei. So viel empfand auch er doch noch für ihn.
Er trat an den Kühlschrank, nahm Butter und Belag heraus, stellte es auf dem kleinen, altersschwachen Küchentisch ab und griff nach dem Brotkorb, der auf der Anrichte stand. Inständig hoffte Marc, dass sich das Brot noch in einem essbaren Zustand befand. Viel zu oft schimmelten die Nahrungsmittel hier; schon weil Friedrich vergaß zu essen. An Kaffee und Zigaretten dachte er regelmäßig, aber nicht an das Elementarste.
Manchmal sinnierte Marc darüber, ob es am Alter lag, oder einfach nur in der Natur seines Liebhabers. Er kannte alte Bilder von Friedrich, Fotos aus den Sechzigern und Siebzigern, auf denen er sein Haar noch lang trug. Es musste einmal voll und schön gewesen sein.
Zugegeben, damals war er schon zu schmal, aber er sah auch gut aus. Heute erweckte er den Eindruck von verlebtem Spät-Hippi, der schlicht vergessen hatte, dass die Jahrtausendwende vollzogen war und er zum alten Eisen gehörte.
Sicher faszinierte der Alte andere Männer immer noch, aber das lag nicht an seinem schönen Gesicht, sondern an seiner Ausstrahlung, musste Marc zugeben.
Allein der Gedanke daran ließ den Punk wieder geistig umschlagen. Er verabscheute diesen alten Sack einfach nur!
„Ah, du bist hier?“
Marc fuhr zusammen und starrte wütend auf sein Brot. Friedrichs rauchige Stimme und die Tatsache, dass er sich angeschlichen hatte, ließen sein junges Blut kochen.
„Verdammt, musst Du mich so erschrecken?!“, zischte er. Er erschrak über den giftigen Ton, und verfluchte sich dafür, überreagiert zu haben, denn Friedrich amüsierte es zumeist eher, als dass ihn diese Ausbrüche verletzten oder ärgerten.
Auch jetzt lachte Friedrich leise. Marc hörte den leisen Spot aus seiner Stimme heraus.
Zu diesem Zeitpunkt hasste er ihn wirklich.
„Eine Zigarette, Marc?“
Der junge Mann fuhr hoch und nickte automatisch, bevor er auch nur daran dachte, sie taktisch zurückzuweisen.
Ruhig lehnte Friedrich an der Türleibung und hielt die Arme vor der Brust verschränkt.
Noch immer war er ein beeindruckend großer Mann, schlank und sehnig, aber sein Gesicht hatte seine Schönheit schon längst verloren. Dennoch war er nicht hässlich. Im Gegenteil. Die vielen leidvollen Erfahrungen, seine Sorgen und sein ewiger Kampf gegen die menschliche Ignoranz, Dummheit und Bigotterie hatten auf dem schmalen Gesicht ihre Spuren hinterlassen.
Noch immer zeigten sich derselbe starke Geist und das Durchsetzungsvermögen in seinem Blick, allerdings auch der leise Spott, den Marc immer auf seine Person bezog.
Quälend langsam zog Friedrich die Zigaretten aus seiner Hosentasche und reichte dem jungen Mann das Päckchen.
„Wie war es bei Gabriel?“ fragte er leise. Ein lauernder Unterton lag in seiner Stimme.
Marc zog sich eine zerdrückte Zigarette aus der Schachtel.
„Du solltest aufhören, immer die Kippen in der Hosentasche mit Dir herum zu tragen.“
Er umging die Frage Friedrichs. Im Moment wollte er ihn schwitzen, einfach nur im Dunklen lassen. Die Ungewissheit ob er Gab doch für sich gewonnen hatte, würde ihn wieder reizen, ihn verletzen.
Wortlos trat Friedrich in die Küche und nahm ein Päckchen Streichhölzer auf, dass er neben dem Gasherd abgelegt hatte.
Marc trat an seine Seite und sah ihn bittend zu ihm auf. Langsam drehte sich Friedrich zu ihm um und riss das Zündholz an. Er strich mit einer Hand die langen, bunten Haare Marcs aus dem Gesicht. Es war immer noch die gleiche führsorgliche Geste, wie am ersten Tag. Dann gab er ihm Feuer.
Marc erinnerte sich daran, wie der alte Mann ihm das erste Mal die Strähnen aus seinen Augen strich. Ein tiefer Stich fuhr in sein Herz. Er konnte nicht verleugnen, dass er sich damals, vor sieben Jahren, sofort in Friedrich verliebt hatte. Die freundlichen, intelligenten Augen, das Lächeln, die behutsame, sanfte Führsorge verfolgten ihn.
Marc zog an seiner Zigarette, sodass sie hell aufglühte. Er stieß den Rauch durch die Nase wieder aus und lächelte versonnen. Der alte Mann und der Stricher. Vor sieben Jahren sammelte Friedrich ihn auf der Straße auf. Marc war ein Ausreißer. An seinem dreizehnten Geburtstag kehrte er dieser Institution und der Schule den Rücken, nahm all sein Geld und ging nach Frankfurt/ Main, um dort zu arbeiten. Er hatte sich keine Sekunde Gedanken darüber gemacht, dass die 1.500 Mark garantiert nicht lange reichen würden. Aber er lernte es schnell. Niemand wollte ein Kind. Nur das Jugendamt und die Polizei wurden auf ihn aufmerksam. Er kam mehrfach nach Hause zurück, bis seine Eltern ihn in eine staatliche Anstalt schickten, aus der er mit vierzehn wieder fort lief. Jungen wie ihn, ohne Wohnung, Ausbildung oder Job. Schließlich versuchte er sein Glück in der Bahnhofsgegend Taunusstraße. Er hatte Leute kennen gelernt, die ihm sagten, dass mit Sex gutes Geld zu machen sei. Damit hatten sie Recht, aber es reichte nicht. An sich war es niemals genug, um ernstlich davon zu leben. Er rutschte immer weiter ab, immer tiefer in diesen Sumpf aus Existenzangst, Hunger, Armut und Sex.
Er war sich sicher, dass er noch nicht das absolute Ende erreicht hatte. Aber Friedrich, sein damaliger rettender Engel, der Mann, den er anbettelte, ihm ein paar Mark zu geben, nahm ihn mit sich, in seine einstige Wohnung in Frankfurt und half ihm langsam, wie einem Verletzten, wieder zu gesunden, gab ihm Kraft, Hoffnung und Freundschaft. Er war Marcs Welt, zumindest bis vor einigen Jahren. Er lernte Gabriel schon ziemlich am Anfang kennen, Friedrichs langjährigen besten Freund. Der Wiesbadener Foto-Künstler hatte ein genauso sanftes und friedliches Wesen, war dieselbe Art von gerechtigkeitsfanatisch, aber er war jünger, schön und erotisch. Marcs Verlangen ihn zu besitzen steigerte sich zu Anfang unbewusst, aber irgendwann wurde es ihm klar. In dem Moment kühlte das Gefühl für Friedrich ab, und er sah in ihm binnen kürzester Zeit nur noch eine Last. Aber jetzt, bei dieser Berührung, flackerte wieder kurz dieses Gefühl von Zärtlichkeit und Liebe auf.
Marc reckte er sich zu Friedrich und entzündete dessen Zigarette mit seiner eigenen.
Behutsam umschlang er den Nacken des alten Mannes und kraulte ihn, während er den Rauch inhalierte.
Mit einer elegant leichten Handbewegung nahm er die Zigarette aus dem Mund und blickte in Friedrichs hellgraue Augen.
„Was an mir liebst Du nur“, flüsterte er.
Friedrich sah ihn still an. Er musterten das hübsche, Knabengesicht nachdenklich.
„Ich weiß es nicht“, sagte er leise. Seine Stimme klang rau und dennoch warm. Sein Atem roch nach Zigaretten und Kaffee.
Wortlos nahm Marc ihm die Zigarette aus dem Mund, legte sie auf den Herdrand und reckte sich zu ihm, küsste ihn leidenschaftlich. Gleich was er sonst über Friedrich dachte, aber er mochte das Zusammenspiel von Gefühlen und Situation. Gleich was immer er im Anschluss empfand, wie leer er sich fühlte, im Moment konnte er nichts weiter tun als die schnelle, heftige Lust Marcs zu genießen.


*


Friedrich saß regungslos auf dem Sofa, den Blick auf die Seiten seines Buches gerichtet. Für ihn schien die Zeit stehen geblieben zu sein; eine unbestimmbare Zeit, seit er das Buch aufgeschlagen und den Satz „Wer bin ich“ gelesen hatte. Sein Geist versuchte diese philosophische Frage in all ihrer Komplexität zu beantworten, scheiterte aber immer wieder an dem Erlebnis mit Marc. Wer war er wirklich? Traf Marcs Anschuldigung zu, dass er verknöchert und altbacken auf Andere wirkte?
Er schloss die Augen. In seinem Schädel hallte diese Frage nach dem ICH immer wieder nach. Bislang war er sich seines Platzes in der Welt sicher gewesen. Er war sich seinerselbst sicher. Aber das Erlebnis hatte ihn aus der Bahn geworfen. Er kannte Marcs Untreue, seine Respektlosigkeit und seine Unsicherheit.
Vor einigen Jahren, als er das Buch „Sophies Welt“ das erste Mal gelesen hatte, stellte er Testweise auch seinem Lebensgefährten diese Frage. Zu diesem Zeitpunkt waren sie erst wenige Monate ein Paar und er ahnte die Reaktion Marcs.
Seine Antwort hatte sich in Friedrichs Erinnerung gebrannt.
Was ist das denn für eine Schwachsinnsfrage, Mann. Ich bin ich. Nun lass mich weiterzocken.
Damals nahm er die Antwort so nicht hin und regte eine Diskussion an.
Davon abgesehen, dass Marc den Sinn der Frage und vor allem den Inhalt gar nicht verstanden hatte, begriff er auch nicht, dass ihm seine Lebenseinstellung der simplen Körperlichkeit im Weg stand herauszufinden, wer er selbst sei.
Marc kam immer wieder zu dem gleichen Ergebnis. Er war Marc, keine Person deren Individualität und Handeln Einfluss auf hunderte anderer Menschen haben konnte, nicht die Person, die in anderen Freude und Leid erregte, Anziehung und Abscheu. Friedrich war nur zu gut bewusst, dass der Junge all das, was die Antwort war, dachte und fühlte, aber einfach die verbindende Brücke zu seiner Frage nicht schlagen konnte.
Heute stellte Friedrich sich diese Frage wer er war; die Essenz dessen, was Marcs Ablehnung ausmachte? Der Mensch, der den Punk dazu trieb das zu tun, was er tat? Was bedeutete seine Existenz im Zusammenhang mit Marc und Gabriel?
Sein Wesen, seine Liebe, was bedeuten sie in Auswirkung auf das Leben beider junger Männer?
Er schloss das Buch und legte es auf den Tisch zu all den anderen Büchern.
Langsam, schwerfällig erhob er sich und sah sich um. Chaos. Geordnetes Chaos. Das Wohnzimmer hatte seine eigene, innere Ordnung. Gefüllte Bücherregale dominierten das Bild, beherrschten den kleinen Raum und erfüllten ihn mit Wissen, Staub und dem Gefühl kaum atmen zu können. Dennoch war es ihm der liebste Ort auf der Welt.
Die wenigen Möbel waren alt und hatten ihre besten Jahre lange hinter sich. Das Cord-Sofa erinnerte in seiner Sandfarbe eher an etwas zerrupftes, ausgeblichenes, dass ein Möbelhaus vor ca. 30 Jahren irgendwo vergessen hatte und der Tisch, obgleich auch sauber und poliert, trug die Spuren der letzten 25 Jahre. Die neuzeitlichsten Möbelstücke waren der Fernseh- und der Computertisch.
Allerdings passte das alles zu dem streitbaren Endfünfziger. Er gehörte zu einer der intellektuellen Kommunen der siebziger Jahre und lebte schon immer standhaft in seinem eigenen, ihm gewählten Gefängnis der Zeit und Denkweise.
Im Moment aber waren seine Gefühle, die Liebe zu Marc, und besonders auch die Liebe zu Gab, sein Martyrium.
Er musste sich zumindest mit einem der beiden aussprechen.
Die Wahl dabei fiel ihm nicht schwer.
Der junge Fotograph zählte auch erst 32 Lenze, aber er war kein geistiges Kleinkind, sondern ein philosophischer Träumer, der seinen Verstand auf ganz andere Art einsetzte als Marc.

Dieser Mann hatte Friedrich vom ersten Moment ihres Aufeinandertreffens an verzaubert. Gabriel schien rein von seinem Wissen und seiner Intelligenz Jahre, sogar Jahrzehnte älter zu sein.
Als sie einander begegneten, befand sich der junge Goth in einer Phase der Depression und Abhängigkeit, die in Friedrich alle Beschützerinstinkte und seine ganze Liebe aufflammen ließen.
Innerhalb des ersten Tages schon entwickelte sich das Vertrauensverhältnis beider in solchem Maß, dass der alte Mann den Eindruck hatte, diesen damals 21-jährigen Jungen ewig zu kennen. Zugleich erwachte in ihm eine Form von Liebe, die ihm bis dahin vollkommen unbekannt war. Es war ein unbeschreiblich warmes, tiefes Gefühl, dass sein gesamtes Wesen erfasste und seine Seele erschütterte. Auch wenn die beiden nie darüber gesprochen hatten, so wussten sie diese Empfindung zu benennen. Gabriel erwiderte seine Liebe auf platonische Art.
Friedrich wusste, dass er im Leben des jungen Fotographen immer eine besondere Stellung innehaben würde.
Für ihn war es das Natürlichste überhaupt, mit Gab über das Geschehene zu reden und sich ihm anzuvertrauen.
Er glaubte auch keine Sekunde daran, dass Marc mit seinem Freund geschlafen hatte. Aber diese verlogene Art, die sich sein Geliebter angewöhnt hatte, verletzte ihn zusehends und trieb den Keil, der sie schon seit längerer Zeit entzweite, immer tiefer.
Er nahm sich das stark antiquierte, beige Telefon aus dem Flur mit in das Wohnzimmer und ließ sich auf dem Bürostuhl vor dem PC nieder.
Nachdenklich betrachtete er die schwarzen Tasten. Ob Gab eine Antwort auf seine Frage des - wie geht es nun weiter - haben würde?
Mit Sicherheit nicht. Aber allein seine Stimme linderte alle Schmerzen in Friedrichs Seele.
Mit der linken Hand zog er ein zerknittertes Päckchen aus seiner Hosentasche und steckte sich eine der Zigaretten zwischen die Lippen. Allerdings zündete er sie nicht an, sondern wählte die Nummer Gabs.
Erst als er das Freizeichen hörte, fischte er sein Feuerzeug aus der anderen Hosentasche und entzündete seine Zigarette.
Lange sog er daran, bis die Spitze orange-weiß aufglühte.
Der irreale Gedanke Gab zu stören erwachte und versank sofort wieder. Sein Blick glitt zu der alten, verstaubten Pendeluhr neben der Türe. Es war bereits nach drei. Kein Hinderungsgrund ihn anzurufen. Gabriel arbeitete fast ausschließlich nachts.
Aber was, wenn er gerade ein Modell bei sich hatte? Während seiner Arbeit ließ sich Gabriel ungern stören.
„Ja?“ meldete sich die kühle, klare Stimme Gabriels.
„Hallo Gabriel“, sagte Friedrich leise.
Scheinbar schwang doch sehr viel Trauer und Schmerz in seiner Stimme mit, denn der junge Mann reagierte sofort sehr besorgt.
„Was ist mit dir?“ fragte er leise.
„Marc. Er...“ Friedrich verstummte. Er wusste nicht, wie er das Geschehene über die Lippen bringen sollte. Wieder sog er an seiner Zigarette, suchte nach einer Formulierung. Allerdings musste er sich eingestehen, dass die Inhalation des Rauches ihn weder beruhigte, noch seinen Geist beflügelte und ihn keiner Lösung nahe brachte. „Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie ich all das in Wort kleiden soll, was geschehen ist und was ich denke, Gab.“
„Egal was Du zu sagen hast, ich höre Dir zu.“ In der Stimme das Goth schwang sehr viel Wärme und Liebe mit. Friedrich fühlte erschreckend stark, wie viel mehr Gabriel an ihm gelegen war als Marc. Zugleich flammte seine Liebe für seinen Freund stärker denn je auf.
„Hast Du überhaupt Zeit für mich?“ fragte Friedrich leise.
„Natürlich“, entgegnete Gabriel sanft. „Soll ich zu Dir kommen?“
„Nein, lass ruhig“, sagte der alte Mann. An sich waren diese Worte eine glatte Lüge. Er wollte Gabriel bei sich haben und mit ihm direkt reden, ihm in die Augen sehen, sich an ihn lehnen und in seinen tröstenden Armen vergraben, den Duft seiner Haut und seines langen Seidenhaars in sich aufnehmen.
Allerdings wusste er auch, dass es unsinnig war ihn eine Stunde mit dem Auto durch die Nacht zu hetzen, nur um nicht allein mit seinen Sorgen zu sein.
„Ich meine es ernst, Friedrich“, bekräftigte der junge Goth mit einigem Nachdruck in der Stimme. „Soll ich zu Dir kommen.“
Friedrich schloss die Augen und sog wieder an seiner Zigarette. Nachdenklich stieß er den Rauch durch die Nase wieder aus. Was dachte Gab von ihm – jetzt - in diesem Moment? War er für ihn noch dieselbe starke Person, der alte, weise Mann?
„Nein, mir reicht es schon Deine Stimme zu hören“, entgegnete Friedrich leise. Diesen Stolz musste er sich gegenüber seinem Freund bewahren. Die Anerkennung Gabriels bedeutete ihm mehr als alles andere auf dieser Welt.
Das warme, freundliche Lachen des jungen Mannes drang an sein Ohr. „Ich glaube, es wird Zeit, dass wir beide uns bald wieder sehen und Du einige Tage bei mir bleibst.“
Wie gerne hätte Friedrich ja gesagt. Aber er ignorierte den Kommentar vorerst. „Bitte Gabriel, sag’ mir, was in der einen Woche alles geschehen ist, in der Marc bei Dir war.“
Zitterte seine Stimme? Er verdammte sich dafür. Aber dies Marc gegenüber zu zeigen wäre schlimmer gewesen, ein unverzeihliche Blöße, eine Schwäche, die der Punk ausnutzen würde.
„Er war zum Fotografieren da“, antwortete Gabriel. „Fetisch-Bilder für ein Schwulen-Magazin.
Marc hat sich stellenweise sehr exhibitionistisch gezeigt. Du kennst ihn ja.“
Ja, leider, dachte Friedrich, schwieg aber.
Die Asche seiner Zigarette fiel auf seine Hose. Er hob nur eine Braue und schüttelte sie herab. Saugen musste er ohnehin. Welch seltsame Gedanken doch sein Bewusstsein ereilten, wenn er verwirrt und verletzt war. Friedrich fand sich höchst erstaunt über seine Denkwiese und Art mit diesem Problem umzugehen.
„Dir ist mein Arbeitszimmer ja bestens bekannt“, sagte Gabriel leise.
Oh ja, Friedrich kannte die Folterkammer. Ein Raum ohne Putz an den Wänden, nur mit den nackten Mauerziegeln, Haken und Ketten in Wand und Decke, insbesondere oberhalb des gewaltigen Stahlrohrbettes. Bis heute war sich der alte Mann nicht ganz sicher, ob diese Art des Liebesspieles Gabriel nicht doch sehr erregte. Allerdings schätzte er ihn nicht so ein. Das, was er über ihn wusste, stellte Gab eher als sehr zärtlichen und liebevollen Mann dar.
„Marc ließ sich von mir an das Bett fesseln und hat es offenbar ziemlich genossen. Letztlich habe ich die meiste Zeit über ihm gekniet. Er rieb sich stark an mir und ließ keinen Versuch aus, mich zu erregen.“
Friedrichs Herz zog sich zusammen. Aber er verspürte nicht Marcs wegen tiefe Eifersucht. Seine Zuneigung zu dem Jungen war immer noch ungebrochen, aber die Liebe zu Gab saß tiefer.
„Bei anderen Aufnahmen erregte er sich selbst und streichelte sich, zeigte mir nur zu deutlich, dass er Sex wollte. Er bot sich mir an...“
„Auch wenn Dich die Frage schockiert, hast du sein Angebot je angenommen?“ flüsterte Friedrich. Die Worte kamen nur schwer über seine Lippen. Es war für ihn fast wie der Bruch eines unausgesprochenen Vertrauensschwures Gabriel gegenüber. Und so schien der junge Mann es auch aufzufassen.
„Wie kommst Du auf einen solch abwegigen Gedanken?“ Enttäuschung schwang nur zu deutlich in Gabriels Stimme mit. „Ich würde Marc nicht anrühren.“ Er seufzte. „Und das liegt nicht daran, dass ich Dir den Geliebten nicht nehmen will, sondern weil ich meine eigenen Prinzipien verraten würde, meinen Stolz verletzen und mich dem billigsten, widerlichsten Sex überhaupt hingäbe. Das liegt mir einfach fern. Marc ist nicht meine Wahl von Mann.“
Friedrich lachte leise, bitter. „Ja, er ist primitiv und kindisch. Sag es ruhig.“
Er empfand einen leisen, stechenden Schmerz in seinem Herzen, einen Schmerz, der nicht wieder nachlassen würde, denn er hatte das ausgesprochen, was er selbst über Marc dachte, und er fühlte sich schäbig dabei, denn der Junge konnte nichts dafür.
„Er ist eine leere, hübsche Hülle. Seine Seele besitzt die Tiefe eine Pfütze, Friedrich, die Deine hingegen ist wie ein Meer, unauslotbar und von solchem Schmerz durchtränkt.“ In der Stimme des jungen Mannes schwang wieder diese Wärme und Zuneigung mit. „Du marterst Dich wegen eines Mannes, der Deine Liebe nicht verdient. Mein armer Freund, ich wünsche Dir so sehr und von ganzem Herzen einen Partner, der Dir ebenbürtig ist, und der Dich so bedingungslos liebt, wie Du zu lieben im Stande bist.“
Friedrichs Finger zitterten. Er hatte das Gefühl den Hörer fallen lassen zu müssen, nicht mehr die Kraft aufzubringen, dieses bisschen Kunststoff halten zu können. Behutsam legte er die Zigarette ab, stieß sie aber vom Rand des Aschenbechers auf den Computertisch. Sofort hinterließ die Glut einen unschönen Brandfleck und es roch nach verschmortem Plastik.
Er hob sie auf und drückte sie in dem Ascher aus.
Sein Herz schrie nach Gabriel. Er war die Liebe, die sich Friedrich wünschte. Kein Marc der Welt, gleich wie hübsch er auch sein mochte, konnte diesen jungen Mann ersetzen. Gabriels Wesen war es, was ihn von der ersten Sekunde an fasziniert hatte. Der klare, kluge Blick aus den blauen Augen und die wenigen, ruhigen, bedachten Worte, die Einsicht, dass er Hilfe brauchte, aus der Situation der Abhängigkeit, in der er sich befand herauszukommen, hatten Friedrich vor elf Jahren gefangen genommen. Er hatte sich sofort und unwiderruflich in den damaligen Studenten der bildenden Künste verliebt.
Gabriel lebte damals in einer Wohngemeinschaft mit einem älteren Studenten zusammen, der zugleich sein Partner war. Allerdings erwies sich diese Liebe als sehr einseitig. Wenn Friedrich es genauer betrachtete, war Gabriel das Spielzeug dieses Mannes, eine Puppe, die er seinen Freunden für Spiele aller Art zu Verfügung stellte und es genoss dabei zuzusehen, beziehungsweise sich daran zu ergötzen. Es war immer die Demütigung und Versklavung Gabriels, auf die es hinauslief. Er dominierte den jungen Goth in jeder Form und zerstörte ihn, den einsamen, gebildeten Träumer, vollkommen. Die Form der Versklavung betraf bei weitem nicht nur die Sexualität sondern alles. Das gesamte Zusammenleben der beiden. Um Gabriel gefügig zu machen, nahm er ihm Stück um Stück seine Würde und seine Ehre, besaß ihn wie einen Gegenstand.
Friedrich war Gabriels Retter, sein Schutzengel. Sie lernten sich durch eines dieser Dominanzspiele kennen. Der junge Goth sollte offenbar den erstbesten Mann, der ihm in einer Schwulenbar begegnete, verführen und ihm vollkommen zu Willen sein.
Gabriel blieb die Wahl selbst überlassen, seinen Bettgefährten auszusuchen. Nach einiger Zeit fiel ihm Friedrich auf, der ihn die ganze Zeit ohne Unterlass beobachtete und dessen ganzes Wesen bereits wie eine Aura um ihn wehte. Zudem war er allein. Das Außergewöhnliche und sein Charisma verführten Gabriel damals, ausgerechnet an ihm hängen zu bleiben. Die Nacht aber verbrachten sie vollkommen anders, als Gabriels Liebhaber es sich dachte. Sie redeten, philosophierten, fanden in der Nacht ihre unzerstörbare Freundschaft.
Friedrich nahm Gabriel für einige Wochen zu sich und half ihm den Übertritt in ein neues, eigenständiges Leben zu finden.
Allein dafür zeigte sich der junge Mann mehr als dankbar. Er schenkte seinem älteren Freund die schönste und glücklichste Zeit seines Lebens, eine Zeit, in der sich Friedrich seiner Selbst wirklich bewusst wurde. Sie erweckten einander und der alte Mann erfuhr eine solch liebevolle Form tiefsten Respekts und menschlicher Nähe, wie sie ihm von keinem anderen Menschen je gezollt wurde.
Dieser junge Fotograph war der Partner, der ihm alles bedeutete, der seinen Geist, sein Wissen teilte.
„Du bist meine ganze Liebe“, flüsterte Friedrich.
Gabriel schwieg. Er wusste, dass es so war. Zu diesen Worten gab es nichts hinzuzufügen. Sie standen im Raum wie eine feste Wahrheit. Nein, sie waren eine Wahrheit. Das wussten beide Männer.
„Wir haben uns vorhin geliebt und er schrie Deinen Namen, als er seinen Höhepunkt erreichte.“ Jetzt endlich gelang es Friedrich, diese Worte auszusprechen.
„Marcs Versuche mich zu Verführen scheitern immer an meiner Sturheit, Friedrich. Ich will ihn nicht. Außerdem würde ich damit den Mann verletzen, der mein Partner ist und seine Liebe zu mir missbrauchen.“
Gabriel sprach so klar und nüchtern wie eigentlich immer darüber.
Vor kurzem hatte er einen 12 Jahre jüngeren Mann kennen gelernt, den er über alles liebte. Und seltsamer Weise empfand Friedrich Marius gegenüber keinerlei Schmerz oder Wut, obgleich er genau wusste, dass die beiden Männer ihr Aufeinandertreffen generell sehr körperlich feierten. Aber Marius war nicht Marc. Er schien Gabriel angemessen und sie liebten einander. Zwischen ihnen gab es einen stummen Krieg der Persönlichkeiten, den Gabriel dank der Tatsache seiner extremen Selbstbeherrschung gewann.
Friedrich hatte Marius kennen gelernt und ihn paradoxer Weise sofort in sein Herz geschlossen. Obwohl eine ähnlich harte Vergangenheit auf seinen Schultern lastete wie die Marcs, er ebenfalls recht ungebildet war, umgab den Jungen eine Aura von Stärke und Willenskraft, die Marc fehlte. Zudem strahlten seine hellen Augen in einem Licht von klarer Ehrlichkeit und Offenheit, die Friedrich faszinierte.
Er hielt den jungen Mann für sehr klug, allerdings auch für wahnsinnig faul.
Wie auch Gabriel gehörte er zu dem schwarz gewandeten Menschenkreis. Marius war Musiker, talentiert, jung, außergewöhnlich offen Gefühlen gegenüber, die er mit Leichtigkeit in Worte und Noten unzusetzend wusste und er war eine Schönheit.
Seine Jugend und seine Kraft, aber auch all das Erlebte, prägten sein ebenmäßiges Gesicht und verliehen ihm einen erwachsenen, sehr gefassten Ausdruck. Allerdings ein Blick in seine Augen verriet ungeheure Energie und den tiefen Wunsch die Welt zu ändern und aus den Angeln zu heben. In einigen Punkten fand er den gleichen rebellischen Geist in Marius wieder, der ihn selbst einst beseelte und antrieb.
Im Gegensatz zu Gabriel war Marius einem Zusammenspiel aus seinen Gefühlen und Erlebnissen unterworfen, was ihn wie eine Aura umgab.
In seinem gesamten Sein verriet er eine innere Disharmonie, die seinen Geist trieb und stärkte, aber zugleich verlieh ihm das auch eine Sicherheit über seinen Platz in diesem Leben, die ihm niemand je wieder nehmen konnte.
Er war das Gegenteil zu dem ruhigen, überlegten Gabriel, der die Angewohnheit hatte, über alles sehr gründlich zu reflektieren.
Aber sie harmonierten, und Friedrich war sich sicher, dass nichts auf dieser Welt dieses Paar je wieder trennen konnte.
„Halte Marius fest in deinem Herzen, Gabriel“, sagte Friedrich leise. „Er ist etwas Außergewöhnliches. Einen Mann wie ihn wirst Du nie wieder finden.“
Leises Lachen antwortete ihm. „Ja, das ist wahr. Allerdings halte ich auch Dich fest, denn ein solcher Mensch wie Du, wird mir ebenfalls nie wieder begegnen. Du, mein Mentor, mein Freund, meine stille Liebe, wirst immer Teil meiner Seele sein.“
Diese Worte waren es, die Friedrichs Herz berührten und deren Klang seine Schmerzen aufhoben, ihn heilten.
„Danke mein Freund.“ Seine Lippen umspielte ein liebevolles Lächeln. „Nun kann ich wieder ruhiger schlafen.“

 

*


Das Erwachen fiel Marc dieses Mal schwer, wesentlich schwerer als sonst. Hatte er sich in der vergangenen Nacht so verausgabt? Eigentlich nicht. Vielleicht war es auch das Schweigen Friedrichs, der seit gestern Nacht nicht mehr mit ihm gesprochen hatte. Was, wenn er die Verbindung löste? Dann gäbe es für Marc auch keine Chance mehr, Gabriel auf seine Seite zu ziehen. Sein Weg in Gabriels Herz führte nur über den Umweg von Friedrich.
Er setzte sich matt in seinem Bett auf, streckte sich und gähnte hinter vorgehaltener Hand. Nachdenklich glitt sein Blick durch den Raum, das Chaos, und blieb an der alten Wanduhr hängen. Halb zwölf. Jetzt, um diese Zeit, arbeitete Friedrich. Der Alte würde nicht vor 17 Uhr hier sein, Zeit genug, sich etwas zu seiner Entschuldigung einfallen zu lassen.
Gleichgültig wie matt er sich fühlte, wenn er sein Ziel erreichen wollte, musste er nun aufstehen und sich Gedanken machen.
Marc schwang die Beine vom Bett und suchte sich einen Weg zu frischen Kleidern. Während er seine Hosen und ein Shirt aufhob, Sachen die ganz sicher sauber waren, allerdings völlig zerknittert, viel ihm auf, dass sein Körper immer noch von seinem eigenen Sperma klebrig war.
Das Intermezzo gestern Nacht war heiß, lustvoll und er sehnte es sich in die Wirklichkeit. Dennoch erschien es ihm nur als schal und fade, solange es nicht wirklich Gabriel war, der seinen Leib eroberte.
Aber diesen Gedanken schob er vorerst von sich und zog es vor, zu duschen.

Das heiße Wasser belebte ihn. Er genoss es, sich in der Wärme zu räkeln. Marc lehnte sich gegen die Wand und betrachtete den Dampf, der sich in der gläsernen Kabine sammelte, ballte und aufstieg, nur um leicht abgekühlt wieder herabzusinken.
Tropfen kondensierten an den Wänden und malten kleine, klare, Tränenspuren, durch die sich Marcs Blick hinausverirren konnte.
Was konnte er tun, um alles Geschehene ein wenig zu seinen Gunsten umzulenken? Vielleicht die Wohnung aufräumen? Oder Kochen? Friedrich aß zwar auf der Arbeit manchmal, aber die Kantine war, seiner Aussage nach, eher schlecht. Mochte er nicht gerne Suppe? Goulasch oder Braten?
Marc war sich bewusst, dass seine Kochkünste gerade dazu ausreichten, nicht zu verhungern, aber in diesem Fall zählte der gute Wille, und er kannte seinen Liebhaber dahingehend genügend. Friedrich respektierte das.
Vielleicht sollte er ihm das Essen nackt servieren?
Nein, besser nicht. Das war nicht, was dem alten Mann zusagte. Dazu hatte er wieder wesentlich zu viel Stil. Aber vielleicht ließ er sich ja verführen und wenn er ihn so weit getrieben hatte, würde er ihm alles verziehen haben.
Lächelnd und mit einem festen Plan, dem Vorsatz Friedrich zum Schein wieder für sich zu gewinnen, nur um ihn dann bei passender Gelegenheit vor Gabriel fertig zu machen, entstieg er aus der Dusche und trocknete sich ab.

 

*


Lange Zeit saß Friedrich in seinem Wagen vor der Villa, in der Gabriel lebte und sein Atelier führte. Sein Atem stieg in feinen Dunstwolken vor seinem Gesicht auf. Er fror in der winterlichen Kälte. Unentschlossenheit kannte er an sich nicht. Aber in diesem Moment war er sich seiner eigenen Gedanken und Gefühle nicht mehr sicher. Nachdenklich zog er seine Zigaretten aus der Hosentasche und führte eine davon zu seinen Lippen.
Plötzlich sah er sich überschattet von einem Beobachter, der sich auf dem Dach seines Wagens abstützte.
Eine Braue hob sich und er öffnete die Türe.
„Wie lange weißt Du schon, dass ich hier stehe, Gab?“
Der junge Mann setzte sich auf die Motorhaube des alten Wagens, strich seine langen, glatten, schwarzen Haare über die Schulter und sah starrte in den schneeverhangenen Himmel.
Friedrich zündete seine Zigarette an und sog den ätherischen Rauch ein. Während er ihn wieder ausstieß, schloss er die Autotüre hinter sich.
„Ich habe auf Deinen Besuch gewartet, Friedrich“, antwortete Gabriel leise und sah ihn unvermittelt an. Der klare Blick seiner hellen Augen beruhigte den alten Mann und bestätigte ihn darin, dass es richtig war, an diesem Tag früher sein Archiv geschlossen zu haben und zu Gabriel zu fahren.
Wortlos erhob sich der junge Mann und umschlang Friedrich liebevoll.
Im Gegensatz zu Marc war Gabriel fast genauso groß wie sein älterer Freund und sehr schlank. Wenn Friedrich eine Beschreibung zu der Bezeichnung eines perfekt schönen Menschen geben sollte, so würde er nur einen Namen nennen wollen. Aber er wusste, dass viele Andere es nicht so sahen. Gabriel war nicht männlich maskulin, sondern androgyn und kühl. Dennoch strahlte er eine Stärke und eine Macht aus, die man von einem Alexander oder Hannibal erwartete. Letztlich ließ sich dieses unterschwellige Gefühl aber auch darauf zusammenfassen, dass der junge Mann ein unglaublich starkes Charisma besaß, dem die meisten Menschen hilflos ausgeliefert waren und erlagen.
Sanft umfing Friedrich seinen Freund und drückte ihn fest an sich. Er roch den Duft nach Patchauli in dem dicken Wollstoff des Pullis und fühlte die sehnigen, schlanken Gliedmaßen.
Eine Welle von tiefer, schmerzlicher Sehnsucht erwachte in ihm.
„Ich liebe dich so sehr“, wisperte Friedrich.
Weiche, warme Lippen berührten seine Wange und strichen zu seinem Ohr. „Ich liebe Dich auch.“
Dann löste sich Gabriel von ihm. Der Blick seiner hellen Augen verriet tiefe Gefühle für den alten Mann.
„Hast Du Zeit für mich?“ Friedrich sog an der Zigarette.
Wieder inhalierte er den Rauch und stieß ihn durch die Nase aus.
„Natürlich. Kaffee habe ich bereits gekocht.“
Gabriel drehte sich von seinem Freund ab und sah über die Schulter zu ihm zurück.
Friedrich drückte die Zigarette aus und warf sie in einen der Hausmülleimer der Villa.
Wortlos folgte er ihm über den gekiesten Weg zwischen Blütensträuchern und Blumenrabatten zu der geweißten Villa hinüber.
Dieses Haus stammte aus der Epoche des Klassizismus wie alle Häuser des Viertels.
Im Erdgeschoss hielten drei Anwälte ihre Kanzlei und im ersten Stock wohnte eine junge Familie mit drei Kindern. Friedrich kannte Marion recht gut, die Mutter und Ehefrau. Da ihr Mann für einen internationalen Konzern arbeitete, leider immer von einer Großstadt in die nächste siedelte, Unternehmensgründungen initiierte und nie wirklich Zeit für seine Familie zu haben schien, hatte der alte Mann auch nie die Chance gehabt, ihn kennen zu lernen.
In der Dachetage wohnte und arbeitete Gabriel.
Der junge Mann war reich. Er hatte schon als Kind seine Eltern und seinen 20 Jahre älteren Halbbruder verloren. Großer Gott, dachte Friedrich, wie gut er Gab doch kannte!

Friedrich sah sich um. Auf dem kleinen Parkplatz standen einige der Autos. Sein kleiner, alter, verbeulter Wagen wirkte schäbig unter den großen Mittel- und Oberklassefahrzeugen.
Einzig der nicht weniger alte Leichenwagen dazwischen fiel auf. Es war Gabriels Auto und keineswegs eine reine Stilfrage, sondern viel eher mit dem praktischen Hintergedanken, dass er zumeist, wenn er nicht innerhalb seines Ateliers arbeitete, mit schwerer Ausrüstung reiste, sollte heißen, er nahm Stative, verschiedene Kameras und Hochleitungsstrahler mit sich, Pappen die aufhellten und andere, die das Licht absorbierten. Sicher war es auch ein wenig Stilmittel des jungen Goth, aber er zog es normal wirklich vor seine Stative nicht zusammen zu klappen, sondern in einer festen Einstellung beizubehalten.
Gabriel schritt zur Türe und schob sie auf. Wie alles hier, in dieser Villa, war sie sehr stilvoll aus dunklem Holz und geschliffenem, geätztem Glas.
In dem Windfang hing eine Alabasterlampe, gefasst von schwarzem Eisen, und die Marmorköpfe der beiden Architekten sahen aus Alkoven auf sie herab. Über schwarzen Stufen lag roter Teppich, eingefasst von goldenem Mäandermuster.
Gemessen schritt Gabriel die Treppe hinauf. Wortlos folgte Friedrich ihm.
Dieser junge Mann war eine ganz andere Art Mensch als Marc. Der Punk, der Friedrich so sehr Sohn und Geliebter war, erreichte einfach nicht das Niveau, das Gabriel hatte. Plebäer und Patrizier. Diese Einschätzung traf am ehesten. Marc, das elternlose, primitiv gebliebene Findelkind, dessen Stolz einfach nicht vorhanden war und Gabriel, der Sohn italienischer Adeliger, dessen Leben von Bildung und Reichtum geprägt wurde und dessen Stolz und Anmut einfach alles für Friedrich vorstellbare übertraf.
Der eine, wie der andere war ungreifbar und dennoch stand ihm Gabriel wesentlich näher, weil er trotz seiner distanzierten Kühle warm, herzlich, liebevoll und freundlich war. Wenn dieser Mann einen anderen Menschen in sein Herz geschlossen hatte, ließ er die Person nie wieder allein. Seine Freundschaft war anders, etwas besonderes, wie ein Kleinod.
Gabriel verharrte auf dem letzten Treppenpodest und wartete still, bis Friedrich zu ihm aufgeschlossen hatte.
Hinter der Türe saß der weiße Kater Gabriels. Das Tier wirkte wie ein Lichtpunkt auf dem nachtblauen Flurläufer.
Aus unergründlichen gelben Augen musterte er Friedrich. Der alte Mann fühlte sich immer etwas unwohl unter den Blicken. Wissen und Weisheit sprachen aus dem Tier, und obwohl es unmöglich war, schien er einen fast menschlichen Intellekt zu besitzen.
Eigentlich war der Kater eine ganz normale rasselose Hauskatze, aber auch ihn umgab diese Aura, dieselbe Stärke, die auch Gabriel wie ein Duft umhüllte.
Der Name Sokrates passte perfekt zu ihm. Gabriel allerdings nannte ihn nur Sokrates, wenn das alte Katzentier irgendetwas angestellt hatte. „Socke“ degradierte ihn zwar auf das Niveau eines normalen Straßenkaters, aber Gabriel zeigte dem Tier auch auf diese Art, wie sehr er ihn liebte.
Hier hatten sich zwei starke Persönlichkeiten zusammengefunden, zwei Einzelgänger, die nebeneinander herlebten, ohne sich gegenseitig in die Quere zu kommen, die einander liebten, und ohne den Freund und Partner nicht existieren konnten. Friedrich scheute den Moment, den Anruf Gabriels, die Nachricht des Todes. Sokrates war 20 Jahre alt. Lange würde er nicht mehr überdauern.
Als der junge Mann die Wohnung betrat erhob sich Socke und ging ihm um die Beine, rieb sein Köpfchen an der schwarzen Hose und hinterließ viele weiße Haare. Dann löste er sich von seinem Herren und Freund und schnürte auf weichen Pfötchen zu Friedrich, um sich an ihm zu reiben. Das allein war mit Abstand die zärtlichste Begrüßung, die der alte Mann je bekommen hatte.
Er liebte Katzen und musste immer wieder den Impuls unterdrücken, den Kater zu streicheln. Socke ließ das selten zu, und wenn nur bei Gab.
Nach Sekunden löste sich der Kater auch von ihm und schritt davon, ohne einen der beiden Männer auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen.

Gabriel saß Friedrich gegenüber und beobachtete seinen Freund, der angespannt noch einmal berichtete, was gestern Nacht passiert war. Allerdings erschien es ihm weniger wichtig die Details zu erfahren. Ihn interessierte eher, was Friedrich darüber dachte, insbesondere was er nun zu tun gedachte. Marc war eine Person, die seinen Freund mit Vorsatz verletzte, und Gabriel überlegte schon seit einiger Zeit, wie er selbst in Zukunft mit Marc verfahren wollte. Leider ähnelte der Fotograph in vielen Punkten Friedrich. Auch er empfand tiefes Mitleid und die beständig bohrende Sorge um den jungen Mann, dessen Perspektiven und Ziele so nichtig und flach waren.
Gabriel senkte die Lider. Er lauschte auf die leisen Untertöne in Friedrichs Stimme, versuchte herauszufiltern, welches Leid wirklich in der Brust seines Freundes wütete.
Seiner Meinung nach galt eine ganz grundlegende Sorge allein der Sicherheit Marcs. Friedrich brachte den Jungen einst aus dem Rotlichtmilieu Frankfurts mit und pflegte ihn wie eine halb verwilderte Katze. Er fand schnell heraus, dass Marc in ziemlicher Bedrängnis war, denn der Zuhälter des Jungen bedrängte ihn auf das Heftigste.
Gabriel gewährte ihnen für eine Weile Unterschlupf und half beiden die kleine, stille Wohnung in diesem kleinbürgerlichen Dorf Birlenbach zu finden. Allerdings war dieser kleine Ort nahe Bad Ems wirklich die Rettung. Danach wurde keiner der beiden wieder belästigt.
Irgendwann kam Marc auf die Idee, er wolle Friedrich finanziell unterstützen und bat Gabriel mit ihm vielleicht Kunstaufnahmen zu machen, erotische Künstlerfotos für einen Bildband. Der Goth ließ sich angesichts des hübschen Jungen leicht überzeugen. Und die Zusammenarbeit erwies sich als sehr erfolgreich. Gay-Magazine wollten die Fotos, einige Verlage die homoerotische Literatur vertrieben lechzten danach und etliche Bars kauften Poster ab. Also erhielt Marc einen Vertrag und konnte nun hauptberuflich als Modell arbeiten.
Friedrich allerdings verletzte es sehr und mehr als einmal stritt sich das Paar der Bilder und der exhibitionistischen Ader Marcs wegen. Jedes Mal begründete der Punk seine Handlungsweise mit den Worten: Er wolle Friedrich nur helfen und unterstützen. Letztlich sei er alt genug gewesen für andere fette, alte Kerle seine Jugend zu geben und ihnen seinen Körper anzubieten, also sei er auch jetzt alt genug, diese Bilder zu machen.
Was aus dieser Zusammenarbeit resultierte, gefiel Gabriel allerdings auch für seine eigene Person nicht. Marc versuchte sein Glück immer wieder und gab sich alle nur erdenkliche Mühe den Fotographen zu verführen. Gabriels Interesse an dem Punk allerdings hielt sich sehr in Grenzen. Er versuchte in dem Jungen weitere Interessen zu wecken, bildende Kunst, Musik, Literatur, Sprachen, Historik. Nichts sprach Marc an. Er schien völlig unempfindlich gegenüber jedweder Form von Bildung. Seine Welt bestand aus sehen und gesehen werden, bzw. Unterwürfigkeit und blankem Sex.
Das, was den Fotographen mit Friedrich verband war so viel tiefer, älter und liebevoller. Er sah seine Freundschaft immer wieder gefährdet.
Derweilen überlegte Gabriel ohnehin, wie er die Zusammenarbeit mit Marc beenden konnte. Er hatte andere Modelle, die nicht weniger beliebt waren. Allein die Bilder, die er von Friedrich gemacht hatte und ausstellte, erreichten wesentlich mehr Menschen und weckten mehr Interesse. Diese Bilder besaßen Seele und Ausdruck. Gabriel kannte das Geheimnis dahinter. Der Blick, die Augen. Er legte immer extremen Wert darauf Mimik und Augen hervorzuheben, Situationen zu beschreiben. Und in dem interessanten, gereiften Gesicht Friedrichs sprach so viel mehr Leben, Wissen und Persönlichkeit, als Marc je erreichen würde.
Probeweise hatte Gabriel auch mit seiner Liebe - Marius - Bilder gemacht.
Nachdem er sie entwickelt und sortiert hatte, war er überrascht und erfreut von dem Ergebnis. Marius war weit mehr als außergewöhnlich schön und erotisch. Er besaß ein ausdrucksvolles, faszinierendes Gesicht, dieses Funkeln in den Augen, was ihm viel verhieß, lüstern, aber auch schalkhaft, jungenhaft. Trotz seiner Jugend sprach eine erwachsene Reife aus seinem Gesicht, eine besondere Stärke, Stolz und Überheblichkeit.
Marius... tief in seinem Herzen sehnte er sich nach ihm und wünschte sich bereits die Woche, in der sein Liebster frei hatte, herbei.
Noch zwei Tage des Wartens.
Er sammelte sich wieder und konzentrierte sich auf die Worte Friedrichs.
„Du bist in Gedanken, Gabriel.“
„Das ist richtig“, bestätigte er und nippte an seinem unterdessen doch kalt gewordenen Kaffee.
„Ich überlege im Moment, wie ich persönlich mit Marc weiter verfahren soll, Friedrich. Er ist vertraglich an mich gebunden und ich letztlich an ihn. Aber er ist leicht ersetzbar und die Aufträge, für die er Gebucht ist, sind für mich sehr schnell abgearbeitet. Danach hält mich nichts mehr davon ab, ihm den Vertrag nicht zu verlängern. Allerdings ist da immer noch die Sorge des danach.“ Er neigte sich etwas nach vorne und legte seinen Unterarm über sein Knie. „Was, wenn er weiter abrutscht? Ich kann mir lebhaft vorstellen, dass das erste, wohin er sich wendet, ein Bordell ist, ein Club, in dem er all seine ganzen Gelüste ausleben kann.“ Gab schüttelte sich leicht bei dem Gedanken. „Sex gegen Geld ist für mich unvorstellbar, auch wenn das Gewerbe alt ist. Aber er fühlt sich in der Rolle des einsamen, ausgestoßenen, des hilflos ausgelieferten Opfers sehr wohl. Dieser Gedanke bestimmt seine Aura, sein gesamtes Wesen und Sein.“
„Ich weiß“, murmelte Friedrich. „Nur zu gut weiß ich das. Er ist so simpel und vorhersehbar, aber auch so schwierig, weil es mir unmöglich ist, ihn wenigstens ein wenig glücklich zu machen. Er ist verliebt - in Dich verliebt - Gab. Du bist seine ganze Lust.“
Traurig senkte Gabriel den Kopf. „Ihn wollte ich nie, Friedrich.“
Die Betonung dieser Worte ließen den alten Mann aufsehen. Bedeutete dieser leise Unteron, dass Gabriel ihn einst geliebt hatte? Aber wenn, warum hatte er es Friedrich nie offen gezeigt?
Der Blick der jungen Augen hielt Friedrichs gefangen. Es war der gleiche mystische Bann, den auch dieser Kater weben konnte. Voller Faszination und Liebe betrachtete er den jungen Goth. Ein weiteres Mal hielt ihn diese Ausstrahlung fest.
Gabriel erhob sich und schritt langsam um den dunklen Wohnzimmertisch zu Friedrich, kniete sich neben ihn auf den Boden und sah zu seinem Freund hinauf. Verehrung, Respekt und Liebe sprachen aus seinem Blick.
Zärtlich strich ihm Friedrich über die Haare und das Profil. Gabriel lächelte, tastete nach der sanften, schlanken Hand und schmiegte seine Wange hinein. Dann senkte er die Lider und küsste liebevoll die Finger seines Freundes. Friedrich wurde bewusst, dass er seine Chance ihn zu halten und für sich zu gewinnen gehabt und verpasst hatte. Bis vor kurzem wäre sein Wunsch ausreichend gewesen und Gabriel hätte ihm gehört. Nun gab es Marius in dem Leben seines Freundes und Gab liebte den jungen Mann von ganzem Herzen. Er verfluchte sich nicht dafür. Er bedauerte es eher zutiefst und ihm wurde auch langsam klar, was er alles für Marc geopfert hatte, aber das alles wurde zu einer traurigen, schwachen Erinnerung, wenn er daran dachte, Gabriels Freundschaft vielleicht dabei verloren zu haben. Er war nicht dazu da beschmutzt zu werden. Sex war Friedrich nicht wichtig genug als dass er dafür das, was ihn mit Gab verband opfern würde.
„Allerdings will ich ihm all das erklären ohne ihn zu sehr zu verletzen“, vollendete der junge Mann leise den Satz.
„Ich rede heute Abend noch einmal mit ihm.“ Friedrich lächelte. „Und Dir sei das eine gesagt, Gabriel. Du warst, bist und wirst immer meine einzige Liebe sein. Auch wenn ich nie Deine Lippen gekostet, nie Deinen Körper gestreichelt habe, weiß ich, dass es eine stumme Erfüllung all meiner Träume wäre. Aber mehr als das liebe ich Deine Seele, und das, was uns beide verbindet, ist so zerbrechlich und zart, dass Lust es zerstören könnte. Ich bin glücklich mit dem, so wie es nun ist.“
Still lächelte Gabriel und schloss die Lider. Wortlos schmiegte er seinen Kopf an Friedrichs Knie. Er stimmte ihm in jedem Punkt zu. Das was sie jetzt hatten, konnte von reiner Körperlichkeit nur zerstört werden. Und er wollte diese stille, platonische Liebe zu ihm erhalten, genauso wie er diese flammende Liebe zu Marius vorantreiben und den Jungen glücklich machen wollte.

Schon im Hausflur roch Friedrich das angebrannte Fleisch und die Bratensoße.
Ihn faszinierte immer wieder der Gedanke, dass Marc doch über sich hinaus wachsen konnte. Schon jetzt hatte er eine überdeutlich klare Vorstellung eines vollkommen überforderten Jungen vor sich, der hyperventilierend zwischen überkochenden Töpfen und einem Berg von sich in der Spüle stapelnden, bereits ruinierten Pfannen und Brätern hin und her wand, ohne das Chaos wieder unter seine Kontrolle zwingen zu können.
Er eilte die letzten Stufen hoch und schloss eilig auf.
„Marc?“
Aus der Küche polterte es. Gleichzeitig mit einem saftigen Fluch folgte ein lautes Klirren. Friedrich machte sich lieber keine klaren Vorstellungen davon, was gerade in Scherben gegangen war.
„Friedrich...“ Das klang kläglich, dachte der alte Mann belustigt.
„Ich bin ja da.“ Er legte seine Jacke ab und eilte Marc zu Hilfe.
Der junge Mann kam ihm mit Schaufel und Besen bereits entgegen und blickte zu Friedrich auf. Ein Bild des Leides, wie der alte Mann still dachte.
Hinter Marc lagen die großen Scherben einer schweren Auflaufform auf dem blaugrauen PVC und auf dem unterdessen abgeschalteten Herd stand ein Topf mit Kartoffeln, die bereits etwas verkocht schienen und inmitten übergelaufener Bratensoße fand sich ein Bräter mit Rindfleisch.
„Riecht doch alles in allem nicht schlecht.“ Friedrich lächelte. „Etwas kräftig angebraten vielleicht, aber nicht schlecht.“
Marc sah ihn zweifelnd an. „Du machst Dich über mein Ungeschick lustig. Gemeiner Kerl.“
„Wer sagt denn das?“ fragte ihn der alte Mann und strich ihm mit der Hand über die Wange.
Marcs feine Nase nahm den leichten Duft Patchaulis an Friedrichs Finger wahr. Für ihn war sofort klar, dass er bei Gab gewesen sein musste. Er hatte ihn gestreichelt, vielleicht sogar geküsst und mit ihm geschlafen ...! Wenn das so war ...!
Wut flammte in dem Herz des Jungen auf und er starrte Friedrich für einige Sekunden wortlos an. Im Moment hasste er den Alten mehr denn je. Aber wenn er Erfolg haben wollte, dann musste er sich zusammenreißen.
Offenbar hatte Friedrich den Gemütswechsel bemerkt, denn er hob eine Braue.
„Du nimmst mich wieder mal nicht ernst, Friedrich.“ Marc war selbst überrascht, wie überzeugend er dabei klang. „Du verspottest mich doch nur. Ich kann gar nichts, bin keine Hilfe und stehe Dir nur im Weg. Was willst du überhaupt mit solch einem jungen Kerl wie mir? Ich bin nichts weiter als unintelligenter Abschaum für...“
Friedrich legte ihm sanft einen Finger über die Lippen. Wieder sog Marc den berauschenden Duft Gabriels von den Fingern des Alten. Er hatte etwas mit seinem zukünftigen Freund gemacht! Da war sich Marc sicher. Sein Hass wuchs nur noch weiter.
Dennoch ließ er es zu, dass Friedrich ihn an sich zog und ihn fest hielt. Marc schlang unvermittelt beide Arme um Friedrich.

 

*


Im Nachhinein dachte Marc lange darüber nach. Friedrich hatte es in dem Moment mehr als richtig gemacht, aber die nachfolgende Szene, die Frage danach, ob es ihm gut ginge, ob er ihm die Handgelenke verbinden solle, hatte alles wieder zerstört.
Nun lag Marc wach, in Friedrichs Bett, von ihm abgewendet und wütend.
Aber das, was geschehen war, konnte er bei Gab gegen Friedrich verwenden. Seine Handgelenke hatte er sich aufgerissen und sie bluteten immer wieder leicht, wenn er nicht sehr aufpasste. Sein Anus blutete ebenfalls. Er würde keine Probleme haben Gabriel eine Vergewaltigung glaubhaft zu machen.
Er freute sich bereits auf den morgigen Tag. Während Friedrich in Frankfurt arbeitete, würde er, Marc, Gabriel endlich für sich gewinnen.
Wesentlich zufriedener schlief er ein.

 

*


Gab arbeitete diese Nacht durch. Geduldig stand er Stunden um Stunden in seinem Labor und bearbeitete die Bilder, die er bereits nach einer Vorauswahl ausgesucht hatte, mit unterschiedlichen Belichtungstechniken und Filtern nach.
Erst als der Morgen graute, verließ er das Labor und beschloss, ein Bad zu nehmen, um etwas müder zu werden. Innerhalb der letzten Stunden mochte er wohl 2 Kannen Kaffee getrunken haben. Nicht dass ihn das Koffein wach hielt, aber der Gedanke daran, was er nun mit Marc machte, ließ ihn nicht mehr los. Vor allem wusste der Junge nichts davon, dass Gabriel sich verliebt und gebunden hatte. So, wie er den Punk und seine labile Psyche einschätzte, würde er irgendetwas unüberlegtes tun und vielleicht Marius und sich selbst in Gefahr bringen.
Der Duft nach frischen Brötchen und neuem Kaffee führte Gabriel in die Küche. Gerade schloss Marius den Kühlschrank und stellte den Belag auf dem Tisch ab. Ein spitzbübisches Grinsen stahl sich auf sein Gesicht, als er Gabriels verwirrten Blick bemerkte.
Es hatte ein solch schönes, stolzes Gesicht. Marius war eine Schönheit, ausdrucksstark und wild.
„Wo bleibt die Begrüßung, Gab?“ fragte er leicht enttäuscht, als sich der Fotograph nicht rührte.
Wortlos kam Gabriel zu ihm und umschlang ihn fest. Marius erwiderte die Umarmung. Allein diese stille Geste zeigte dem jungen Mann, wie glücklich sein Freund war.
Behutsam strich Gab über den Nacken und den ausrasierten Hinterkopf des Jungen. „Marius, ich habe mir so sehr gewünscht, dass Du kommst“, wisperte Gabriel.
„Ich wollte Dich überraschen. Offenbar ist mir das auch gut gelungen, Gab, oder?“ Glück schwang in der jungen, volltönenden Stimme mit.
Der Fotograph nickte sanft, lehnte seine Stirn gegen die seines Freundes und lächelte.
„Ja, mein Engel.“
„Schwarzer Engel“, grinste Marius und deutete an sich herab.
Er trug Lederhosen und einen schwarzen Wollpulli. Obgleich er bei seinem Job in der Bar Berufskleidung benutzte, nicht diese, roch er nach Rauch und Alkohol.
„Willst Du mit mir baden, Marius?“ In Gabriels Stimme schwang ein vielversprechender Unterton mit, der dem jungen Mann scheinbar sehr gefiel. Er senkte die Lider und öffnete seine Lippen. „Küss mich“, hauchte er.
Nur zu gerne kam Gab dieser Aufforderung nach.


*


Gegen Nachmittag erst hatte Marc sich von Birlenbach aus auf den Weg nach Wiesbaden gemacht. Dank des wieder einsetzenden Schneefalls zögerte sich das Tempo der Fahrt etwas hinaus. Dieser Umstand kam Marc gerader recht. So fand er Zeit sich eine wirklich mitleiderregende Geschichte für Gabriel zurecht zu legen.
Er musste zugeben, mit jedem Meter, den sich von seinem Zuhause entfernte, fühlte er sich glücklicher und freier. Bald würde ihm zu alledem auch Gab gehören. Allein dieser Gedanke beflügelte sein Herz.
Als er seinen Wagen endlich auf dem Kies-Parkplatz abstellte, war er sich bereits sicher, seine Wünsche noch heute alle in Erfüllung gehen zu sehen.
Er beachtete den alten R5 gar nicht, der genauso wenig hier her passte wie sein eigenes Auto. Sicher endlich alles erreichen zu können, ging er zur Haustüre, öffnete sie und stieg die Stufen hinauf. Gab schloss ohnehin nie seine Türe ab, also konnte er ihn überraschen.
Eilig erklomm er das letzte Podest und wendete sich der Türe zu, riss sie auf und erstarrte mitten in der Bewegung. Ein fremder Mann, das Badehandtuch locker um die Hüften geschlungen und an Schläfen, Schultern und Rücken tätowiert, trat aus dem Bad und sah fragend zur Marc.
Seine gezupften Brauen zuckten hoch. Abfällig musterte er den Punk und verzog die Lippen.
„Was zum Teufel... wer bist Du?!“ zischte Marc.
„Das würde mich auch interessieren. Aber ich glaube, ich weiß wer du bist. Ungepflegt, erdverbunden und mit einem saumäßigen Farbgeschmack ausgestattet. Du bist Marc, oder?“
In seiner Stimme schwang verletzender Hohn mit.
Wut sammelte sich in den Eingeweiden des Punks. Sein Herz raste. Er hasste diesen impertinenten Kerl schon jetzt, obwohl er ihn nicht kannte. Was tat er hier? War er ein neues Modell von Gab?
Marc war sich seiner selbst bei Gabriel so sicher, dass er den Gedanken, der Fotograph könne einen Freund haben, den er liebte und mit dem er schlief, gar nicht in Betracht zog.
„Machst Du dummer Idiot vielleicht mal die Wohnungstüre zu?!“ forderte Marius ihn auf. „Am besten von Außen.“
Im ersten Moment fiel Marc keine passende Antwort ein. Sprachlos wie ein Fisch starrte er Marius an, die Lippen halb geöffnet und bleich vor Zorn.
Der Goth zog ärgerlich die Brauen zusammen. Dann zuckte er mit den Schultern und trat in das Schlafzimmer Gabriels.
Weder Marc noch irgendein anderer hatten bislang die Erlaubnis erhalten, diesen Raum zu betreten. Das war verbotene Zone, und niemand wagte es dieses stumme Gesetz zu brechen.
Dieser Kerl mit dem Undercut allerdings betrat das Zimmer. War der noch ganz klar? überlegte Marc. Allerdings keimte in ihm eine Böse Idee auf. Er würde heute viele schlechte Nachrichten für Gab haben.
Dennoch folgte er Marius und blieb unter der Türe stehen. Sein Herz setzte für einige Sekunden aus. Eine Reisetasche stand vor dem Bett und auf dem Boden lagen fremde Kleider. Die seidenen Laken des Bettes waren zerwühlt und der gesamte Raum roch deutlich nach Sex.
„Was zu...“ Marc verstummte, als ihm endlich klar wurde, dass dieser junge Mann Gabriels Geliebter war.
Wieder brannte dieser sengende Ball der Wut, der nach und nach zu abgrundtiefem Hass wurde, in ihm und schnürte ihm die Luft zum Atmen ab. Seine Mimik verzerrte sich zu einer Grimasse.
„Vorsicht, sonst bleibt deine Miene so und Du wirst noch hässlicher, als Du bereits bist“, spottete Marius. Seine Stimme klang kalt und überlegt. Er kannte Marc nur aus den Erzählungen von Gabriel und Friedrich. Allein das bewog ihn, den Punk nicht zu mögen. Allerdings hatte ihn niemand auf die Wirklichkeit vorbereitet. So, direkt vis à vis war er noch wesentlich abstoßender. Ihn umgab eine Aura von Neid und Missgunst. Er war einfach nur abstoßend.
„Raus hier, Du Vogel!“ zischte Marius und wollte die Türe zuschlagen.
Geistesgegenwärtig stellte Marc den Fuß dazwischen. Dennoch zuckte er vor der Türe zurück. Dann allerdings trat er dann in den Raum.
„Raus aus unserem Schlafzimmer!“ befahl Marius wütend. „Du weißt, dass Gab das nicht mag.“
„Du Arsch hast mir gar nichts zu sagen!“ schrie Marc ihn mit überschnappender Stimme an.
Kalte, graue Augen musterten den Punk. „Wer bist Du Winzling, dass Du glaubst so mit mir reden zu können?“ fragte er. In seiner Stimme schwang eine böse Drohung mit.
Er musste sein Timbre und die Lautstärke nicht verändern, um Marc in seine Schranken zu weisen.
Der Punk sah ihn aus glasigen Augen an. Marius wendete sich von ihm ab, ließ sein Handtuch fallen und präsentierte ihm den Anblick seines muskulösen Körpers mit dem wunderschönen Tatoo, dass ein Gemälde Gabriels darstellte; ein aus dem Himmel stürzender Engel.
Langsam und ruhig kleidete sich der Goth an und drehte sich dann um.
„Genug gesehen, Du lüsterner alter Sack?“
Marc registrierte erst jetzt, dass sich sein Körper verselbstständigte. Obgleich dieser Mann definitiv jünger war als er selbst, hatte er etwas unglaublich herrisch Dominantes in seiner Art. Sofort fühlte der Punk sich von ihm angezogen und angemacht. Es musste richtig gut sein, sich von ihm...
Der Blick Marius’ richtete sich auf Marcs Schoß. „Was geht in Deinem Flachschädel nur vor sich“, zischte er böse. „Denkst Du eigentlich auch mit etwas anderem als mit Deinem Schwanz?“
Er trat auf Marc zu und riss ihn am Arm nach draußen.
Leise seufzte er. Keine Sekunde hatte er einen Blick an die Schönheit des Raumes verschwendet. Auch wenn er sich sonst so oft gewünscht hatte, hier hinein zu kommen, sich das Verbotene anzusehen, hatte er es nicht getan. Sein ganzer Körper schrie derzeit danach Sex zu bekommen am besten gleich von dem jungen Mann und Gabriel.
Aber das ließ Marius nicht zu. Unsanft zerrte er ihn in die Küche und drückte ihn auf einen der Stühle.
Socke saß auf der Anrichte und beobachtete interessiert das Treiben aus seinen wissenden Bernsteinaugen. Er misstraute Marc und ging ihm aus dem Weg, allerdings mochte er Marius und hatte ihn stillschweigend als 2. Herren im Haus akzeptiert. Er vertraute dem jungen Goth die Sicherheit dieser Wohnung gerne an.
Gemächlich erhob sich das alte Tier, balancierte elegant um die Spüle herum, legte das Köpfchen schräg und leckte einen Wassertropfen vom Hahn. Seine Ohren zuckten lediglich leicht.
„Wo ist Gabriel, ich muss mit ihm reden, “ brachte Marc hervor. „Und wer verdammt bist Du?“
Leider klag seine Stimme noch schwächer als sonst und fast paralysiert.
Marius ignorierte den Teil der Frage, der nicht ihn persönlich betraf. „Ich bin sein neues Modell.“ Über seine Züge huschte ein böses Lächeln. „Außerdem bin ich sein Geliebter.“
Marc hatte das Gefühl endgültig den Boden unter den Füßen zu verlieren. „Unmöglich!“
Marius trat einen Schritt von ihm weg, drehte sich um und öffnete den Küchenschrank.
„Willst Du einen Kaffee oder etwas stärkeres?“ fragte Marius unbeeindruckt.
„Gabriel liebt mich. In der einen Woche, die ich hier war haben wir es täglich miteinander gemacht, während der Aufnahmen. Und er ist gut, unglaublich wie er einen ausfüllen kann.“ In die Stimme des Punks schlich sich ein Unterton verletzender Boshaftigkeit und Zorn. Er war sich sicher, der Schuss ins Blaue hatte geholfen.
Marius nahm ganz automatisch ein Schnapsglas aus dem Schrank, stellte es vor Marc ab und ging hinüber zu dem Gefrierfach. Wortlos holte er den Wodka heraus und stellte die Flasche vor Marc auf den Tisch. „Bedien’ Dich.“
Er selbst stellte seine Tasse unter den Kaffee-Automaten und drückte die Start-Taste.
Eine Dampfwolke stieg auf und mit Hochdruck wurde das Wasser durch den Kaffee-Filter getrieben. Solche Profi-Maschinen wie diese hier nutzte Marius auch in der Bar. Nur trank dort fast niemand Kaffee, außer den Mitarbeitern. Er mochte den cremigen Schaum und den starken, herben Duft. Wenn Marius neben seiner Zigarettensucht ein zweites Laster aufzählen sollte, so war es dieses Getränk, vor allem anderen.
„Ihr habt also die ganze Zeit miteinander...“ er deutete mit seinem Becken eine entsprechend harte stoßende Bewegung an. „Klar doch.“ Der Hohn troff richtig gehend von Marius Lippen. Sein Blick strich spöttisch über die Gestalt des Jungen. „Gab hat mich und ich powere ihn genügend aus. Eine Gummipuppe hat er nicht notwendig, Marc. Bevor er Dich vögelt, würde er eher seine Hand benutzen.“
Ein weiteres Mal schnappte Marc nur wieder nach Luft und konnte nichts erwidern. Nun wurde ihm auch klar, dass er nicht einmal den Namen seines Hassgegners kannte.
„Wir werden ja sehen, was passiert, wenn er kommt. Er kennt mich seit 7 Jahren und er wird mich sicher hier bei sich aufnehmen. Du, Dich komische Gestalt, Du bist doch nur zu seiner Befriedigung gut.“
„Wenn Du meinst.“ Marius nahm sich seine Tasse und nippte an dem Kaffee.
„Du...“ Marc schnappte nach Luft.
„Marius ist mein Name, nicht DU, Du Idiot!“ zischte ihn Marius wieder an.
Offenbar zog seine momentane Taktik bei dem jungen Goth nicht. Marc musste anders vorgehen. Er senkte die Lider. „Hör mal, ich muss wirklich mit ihm reden. Ich bin von zu Hause abgehauen. Friedrich war gestern total wütend auf mich und hat mich...“ er brach ab, setzte eine leidvoll gequälte Miene auf. Dann zog er die Ärmel seiner Lederjacke hoch und präsentierte ihm die Handgelenke, die er sorgsam eingebunden hatte. „Er hat mir die Arme über dem Kopf zusammengebunden und mich vergewaltigt...“
Socke sprang von der Anrichte herab und verschwand aus dem Sichtfeld Marcs. Marius folgte dem Tier mit den Augen. Auch wenn er Friedrich bisher nur ein einziges Mal gesehen hatte, konnte er die Art, das ganze Wesen des alten Mannes recht gut einschätzen.
Er war Barkeeper und hatte es täglich mit mehr als hundert Kerlen zu tun, und jeder war ein Original, ein Einzelstück, was er nach und nach gelernt hatte einzuschätzen. Trotz seiner 21 Jahre besaß Marius ein besonderes Gefühl für die Persönlichkeit eines Menschen. Er erkannte sie zumeist schon sehr klar nach den ersten Minuten.
Friedrich... von ihm wusste Marius viel. Gabriel hatte ihm von seinem bibliophil veranlagten Freund bereits zuvor sehr oft erzählt, und in der flammenden und liebevollen Art, in der er von ihm redete, erhielt Marius den Eindruck tiefen Vertrauens der beiden Männer zueinander und wesentlich mehr als einfacher Freundschaft. In Friedrich sah er einen Freund, aber auch eine sehr starke Konkurrenz in der Liebe Gabriels.
Der alte Mann hatte das Wissen von mehr als 50 Jahren und war gebildet, hatte viel in seinem Leben gemacht, war mehrfach studiert und Marius, gleich mit wie vielen gebildeten Leuten er es zu tun hatte, konnte ihm und Gabriel oft bei den Gesprächen kaum folgen. Beide Männer hatten einen Level erreicht, der sie ebenbürtig machte, und einige Male bereits kam sich Marius durchaus dumm dabei vor. Leider, so musste er im Beisein der beiden Männer zugeben, war er nicht klüger als Marc. Allerdings hatte er sich seinerseits angefangen aus den Gesprächen mit Friedrich und zwischen Friedrich und Gab, seine eigene Art kleinen Lexikons in seinem Kopf anzulegen, dem er bei jedem Treffen Neues hinzufügen wollte. Eines unterschied Marius von Marc. Der Goth war ungebildet, aber Willens zu lernen, schon um für Gabriel mehr zu sein, als ein Bettgefährte. Marc allerdings bewies offensichtlich eine unsägliche Resistenz gegenüber jeder Bildung.
Außerdem hatte Gabriel in Marius die Sehnsucht nach Kunst nachhaltiger denn je geweckt. Neben seinen beiden Barkeeper-Jobs war der junge Mann auch Sänger und Bandleader einer Goth-Band, und sein Kunstempfinden war sehr definiert in Punkto Musik. Er klassifizierte alles, ganz automatisch nach Niveau und Inhalten.
Jetzt, hier, in dieser Sekunde konnte er Marc nur bedauern, denn der Punk hatte nichts. Ein hübsches Gesicht, einen netten Körper und die Bauernschläue, die ihm einen Fallstrick nach dem anderen legte.
Friedrich und ihn vergewaltigen? Das wäre das allerletzte was der alte Mann tun würde. Er war vielleicht sexuell unausgelastet, aber das lag in dem Fall eher daran, dass er nicht das bekam, was er brauchte, einen Partner, der nicht nur an Horizontalsport dachte.
Gabriel trat lautlos in die Küche, gefolgt von seinem Kater. Socke hatte ihn vor den anderen beiden wahrgenommen. Nun erfüllte allerdings auch der Duft der heißen Pizza die Küche.
Marius lächelte ihn lieb an. Marc fuhr herum, sprang so heftig auf, dass sein Stuhl nach hinten kippte und umklammerte Gab. Vorsichtig hob der Fotograph die Pizzen über Marc hinweg und reichte sie an Marius weiter. Der Blick seines Liebsten drückte all seine Verzweiflung und Wut über Marc aus. Dann sah Gab an sich herab und hob eine Braue. Er mochte es nicht von Marc so familiär berührt zu werden. Dennoch legte er einen Arm um ihn und seine Hand behutsam auf den Hinterkopf des Jungen.
„Was ist denn passiert?“ fragte er leise. In seiner Stimme schwang keine Sekunde Gefühl mit.
Marc fühlte sich nun am Ziel seiner Träume. Er sog den Duft Gabriels ein und genoss die Umarmung wie einen Kuss. Er schmiegte sich eng an ihn und genoss das Gefühl der engen Lackhose und des Latexhemdes, die Gab trug. Sollte Marius doch eifersüchtig werden. Es war ihm egal.
„Ich gehe mal telefonieren“, verabschiedete sich Marius und verließ die Küche.

„Was ist mit Dir?“ fragte Gabriel leise und sah nun zu Marc. „Du siehst ziemlich verzweifelt aus.“
Der Punk vergrub sein Gesicht an der Brust des Fotographen und wisperte leise: „Er hat es mit mir gemacht, gegen meinen Willen. Seid das vorgestern Nacht passiert ist, hasst er mich. Er hat mich Vergewaltigt...“
„Warte, warte“, murmelte Gab und schob ihn auf Armeslänge von sich. Er musterte Marc. Ihm war nur zu gut bewusst, dass der Junge log. Hätte Marc zu ihm nach oben gesehen, wäre ihm klar geworden, dass Gabriels Blick weder warm noch freundlich war, sondern schlicht kalt und abwägend. Er nahm den Jungen nicht ernst, aber er verspürte tiefen Zorn in sich.
„Von wem redest Du, Marc?“
„Friedrich“, antwortete der junge Punk weinerlich und krallte gleichzeitig seine Finger so in Gabs Hemd, dass der Fotograph einen exakten Blick auf die verbundenen Handgelenke erhaschen konnte.
„Friedrich“, echote Gab leise.
Aus seiner Stimme ließ sich unmöglich herauszuhören, ob er ihm glaubte oder nicht, bzw. ob es Schrecken oder Zweifel war.
„Ja, er hat mich, nachdem er heim kam, in der Küche vergewaltigt.“ Marc lehnte seinen Kopf wieder gegen Gabs Brust und atmete diesen schweren, herben, ungewöhnlichen Duft nach Patchauli ein, inhalierte ihn zusammen mit dem Aroma seiner Haut.
Es berauschte Marc. „Ich hatte gekocht“, murmelte er mit schwerer Zunge und schmiegte sich an ihn. „Leider ist alles schief gegangen. Und er war wütend... Er schrie mich an.“
Gabs Brauen zogen sich leicht zusammen. Als Friedrich ihn gestern verlassen hatte, erschien er dem Goth glücklicher und fühlte sich besser und entspannter als zuvor. Das lag vermutlich auch daran, dass sie sich über das Problem mit Marc unterhalten und zu einem Konsens gekommen waren.
Friedrich wollte sich auf ihn einlassen, sich ihm mehr öffnen und versuchen weniger kritisch und philosophisch zu erscheinen. Aber offenbar wusste Marc diesen Schritt auf ihn zu nicht zu würdigen.
„Was hat er getan?“ fragte Gab leise.
Offenbar hatte Marc nur darauf gewartet ihm seine Geschichte zu erzählen. „Er zerrte mich zum Tisch hinüber und fesselte mich, zeriss mein Hemd und meine Hose. Dann kam er ohne Vorspiel zu mir, so hart und brutal, dass mein Loch völlig blutig und aufgerissen ist. Sieh Dir doch allein meine Hände an!“ er hielt sie Gabriel hin.
Gab nickte nur und schob ihn von sich. „Setz’ Dich hin und trink’ etwas. Vielleicht beruhigst Du Dich dann wieder.“
Marc nickte und ließ sich wieder auf dem Stuhl, den Gab ihm aufrichtete, nieder. „Ich bin von zu Hause abgehauen. Kann ich bei Dir bleiben?“
Gabriel sah nicht zu ihm, sondern füllte sein Glas erneut nach. „Trink’ erst mal und iss. Nach hause schicken werde ich Dich kaum. Aber ich will Dir auch hier kein Zimmer bieten, denn Marius ist bei mir.“
Marc setzte das Wodkaglas an die Lippen und verschluckte sich sofort bei dem Kommentar. „Was ...?“ keuchte er und hustete. Gab klopfte ihm leidenschaftslos auf den Rücken. Er wartete, bis sich Marc wieder gefangen hatte. Dennoch unterbrach leises Husten immer wieder seine Worte.
„Ich dachte wir wären Freunde... den... kennst Du doch noch gar nicht. Der ist vielleicht hübsch, aber nur zum ficken gut...“
Die Augen des Fotographen verengten sich zu Schlitzen. Normaler Weise besaß Gabriel eine sehr ausgeprägte Selbstbeherrschung. Aber bei diesen Worten erwachte seine heißblütige, italienische Natur. Seine Hände ballten sich zu Fäusten und er musste sich dazu zwingen nicht auszuholen und zuzuschlagen. Marius liebte er von ganzem Herzen und Friedrich war seine stille, asexuelle Liebe. Er konnte es kaum ertragen, dass dieser Kretin, dieser kleine Emporkömmling, die beiden Männer, die ihm näher als seine eigene Familie standen, so beleidigte.
„In Deinem Interesse bitte ich Dich zu Schweigen.“ In seine Stimme hatte sich ein schneidender, eisiger Unterton eingeschlichen. Ich dulde es nicht, dass Du von den beiden Menschen, die ich liebe, so redest.“
Marc prallte zurück. Allein diese seelenlose Kälte erschreckte ihn zutiefst. Aber er spürte auch wieder diese gewaltige Aura, die Gabriel umgab. „A... aber Gab... ich dachte Du wärest mein Freund, würdest mich lieben.“ Panik schwang in seinen Worten mit.
Still hob der Goth eine Braue und schwieg.

Marius kam die Galle hoch, wenn er nur an Marcs Lügen dachte. Das, was er an Sympathie für Friedrich empfand, hegte er an Abneigung für Marc. Es war ihm unverständlich, dass ein so intelligenter Mann ausgerechnet an einem billigen, kleinen Stricher hängen blieb. Er kannte zwar die ganze Geschichte der Beiden, wie Friedrich Marc aus dem Straßenstrich-Milieu herausgeholt hatte, sich um ihn kümmerte und ihm half, wieder Fuß zu fassen, aber er hätte sich von dem Kerl nie verführen lassen, im Gegensatz zu Friedrich.
Aber dass dieser kleine Penner ausgerechnet Friedrich, der nun wirklich eine Seele von Mensch war, so in den Rücken fiel?! Er ließ sich im Wohnzimmer nieder und zog sein Handy aus der Tasche.
Neben ihm lag eines seiner vier Frettchen, die er mit zu Gab genommen hatte und schlief. Das zweite hatte es sich inmitten der auseinandergerupften Zeitschriften gemütlich gemacht und spielte versonnen mit einem Papierschnipsel. Die anderen beiden, jungen Tiere rannten herum, bissen sich, balgten und ruinierten Gabriels schöne, weiße Möbel und den Ebenholzboden.
Der Goth empfand Marc als eine massive Störung. Eigentlich wollte er Gab bitten, dass er bei ihm bleiben und mit ihm zusammen leben konnte. Einerseits weil er es ohnehin wollte, so verliebt wie er in den Fotographen war, andererseits aber auch, weil er einen massiven Wasserrohrbruch in seiner Wohnung hatte und sich einfach um seiner vier kleinen Pelztierchen sorgte. Bisher konnte er ihn deshalb noch nicht einmal fragen.
Uriel, das Frettchen, was neben ihm auf dem Sofa lag und schlief, war das älteste Tier. Er genoss es einfach viel zu ruhen und gut zu essen, viel Zuwendung zu bekommen und mit seinem Bruder Gabriel zu schmusen.
Damals, als Marius seine ersten beiden Tiere gekauft hatte, waren sie für ihn seine ganze Welt. Im Gegensatz zu den beiden jüngeren Tieren Rafael und Michael hatte er mit ihnen viel Zeit verbracht und sie dressiert.
Die Namen der vier Erzengel erschienen ihm heute natürlich eher als negativ, zumal Gabriel, der Mensch, wie das Tier, beide auf den Ruf hörten.
Mit einer Hand hob er seinen kleinen Uriel auf seinen Schoß. Das kleine Tier hob ein Lid und blinzelte ihn an. Er mochte es bei Marius zu liegen. Einige Sekunden später spürte der junge Mann das kratzen kleiner Krallen an seiner Hose. Gabriel wollte ebenfalls hochgenommen werden. Er hob ihn auf das Sofa und kraulte ihn, während er mit der anderen, freien Hand die Nummer Friedrichs eintippte.
Vermutlich störte er ihn nun bei der Arbeit, aber er wollte ihm einfach die Enttäuschung und Ungewissheit ersparen, die auf ihn wartete, wenn er in seine vereinsamte Wohnung kam und Marc nicht vorfand.
Er hob das kleine Gerät an sein Ohr. Einige Male erklang das Freizeichen. Dann hob Friedrich ab. „Marius? Was ist denn los?“ fragte er verwirrt.
„Entschuldige, wenn ich Dich bei Deiner Arbeit störe...“ sagte Marius unsicher.
„Ach Unsinn, das Archiv kann gerne auf mich warten, mein Freund.“ Sein raues, freundliches Lachen klang ungetrübt. Er konnte nichts von der Teufelei Marcs wissen.
Marius beschloss, ihn davon in Kenntnis zu setzen.

 

*


Als Friedrich aufgelegt hatte, schloss Marius die Augen. Der alte Mann tat ihm von Herzen leid. Keiner der beiden wusste, was nun noch passieren würde. Aber Marcs Liebhaber war auf dem Weg hierher. Entweder würde es eine Aussprache und eine Trennung geben, oder in einer Katastrophe enden. Marius schloss die Augen und ließ den Kopf in den Nacken fallen. Seine Lider senkten sich leicht und vor seinem Inneren Augen beschwor er Bilder eines sehr unangenehmen Tages herauf. Er wollte doch nichts weiter als eine schöne Weihnachtswoche mit Gabriel verbringen, und nun das.
Verzweifelt seufzte er und grub in seinen Taschen nach einem Päckchen Zigaretten. Rauchen, das beruhigte immer seine angespannten Nerven.
Er zog es hervor und betrachtete die zerknitterte Packung. So sehr er sich jetzt eine einzige Zigarette wünschte, so wenig wollte er Gabriel länger mit diesem Punk allein lassen. Der Kerl war zu allem in der Lage, wenn er gereizt wurde.
Behutsam setzte er seine alten Tiere zusammen und erhob sich. Uriel und sein Bruder beobachteten Marius verschlafen, nahmen es aber hin. Zärtlich kraulte der junge Goth seine beiden Tiere und streckte sich dann.
„Auf in den Kampf, “ murmelte er.

 

*


Marc saß weinend am Tisch, den Kopf auf den Armen und Gabriel lehnte stumm an der Wand, beobachtete ihn, die Hände in seinen Hosentaschen vergraben und den Kopf gesenkt. Seine langen Haare fielen ihm in das Gesicht, verbargen seine blauen Augen wie ein Schleier. Für Marius schien es kaum möglich zu sein, die Gedanken seines Liebsten zu erkennen. So kalt und reglos hatte er ihn allerdings auch noch nie erlebt. Gabriel war stolz und unnahbar; selbst auf ihn wirkte der Fotograph so. Nach ihrem ersten Treffen vor einem Monat hatte Marius ihn zornig, enttäuscht und verletzt verlassen. Sie kannten sich von Gabriels Künstler- und Fetisch-Homepage bereits seit mehr als einem Jahr und über das Internet hatten sie sich nicht nur sehr gut angefreundet, sondern aus den Posts und Mails sprach Gabriels Wortwahl nach sehr viel Zuneigung und Liebe. Der sensible Künstler traf mit jedem Schriftwechsel immer wieder bei Marius den Nerv und erreichte sehr schnell sein Herz.
Oft schon wollten sie sich treffen, aber in vielen Fällen kamen einem der beiden Männer ihre Berufe in die Quere. An diesem Tag vor einem Monat gelang es endlich.
Außerhalb der Neugier Marius’ für Gabriels wirkliche Natur und sein mysteriöses Äußeres, von dem er gar keine klare Vorstellung hatte, machte sich der junge Musiker und Barkeeper Hoffnungen auf eine heiße Nacht.
Von seinem Aussehen und seinem Charisma beeindruckt wollte Marius mehr denn je Gab erobern, und es kam auch zu einigen sehr erotischen Szenen zwischen Beiden, aber der Fotograph blieb hart und ging auf nichts ein, gleichgültig, wie sehr Marius ihn zu bezirzen versuchte.
Frustriert und wütend verließ er Gabriel. Allerdings gingen ihm die Worte nicht mehr aus dem Kopf. „Sexualität ist für mich kein Spie. Ich schlafe erst dann mit Dir, wenn Du Dir in Deinen Gefühlen für mich sicher bist.“
Lange Zeit haderte er mit sich und der Welt, allerdings konnte er Gabriel nicht ignorieren, besonders nicht, als er in der Schwulenbar erschien, in der Marius arbeitete. Gabs Anwesenheit zog das Interesse aller auf sich, und Marius war der Meinung, dass es nicht an seinem Aussehen lag, sondern an dieser kühlen, distanzierten Aura, die Wissen und Weisheit vermittelte, und an seinem eleganten Stil.
In dieser Nacht entschied Marius, dass es sinnlos war, ihn für etwas überzeugen zu wollen, was er sicher nicht tun würde. Gabriel hatte ihn mit nach Wiesbaden genommen und sie redeten Stunden um Stunden. Es war wie eine Aussprache, eine Diskussion, ein Kampf, dessen Preis Gabriel war, seine Liebe. Die Wahl der Waffen war das geschliffen scharfe Wort. Wenn er sich bis dahin nicht sicher war, ob er den schönen Italiener wirklich liebte, so verfiel er ihm in dieser Nacht mit Haut und Haaren. Gabriel bestimmte von dem Moment an Marius Denken und nach wenigen Tagen konnte der Junge seine Gefühle nur zu genau definieren. Nie zuvor hatte er geliebt, nie vorher hielt eine Beziehung länger als eine Nacht, aber dieser Mann hatte ihn, Marius, ganz für sich vereinnahmt und würde ihn nie mehr wieder loslassen. Er liebte und verehrte ihn auf eine Weise, wie er es nie zuvor bei einem anderen Menschen getan hatte. Gabriel war auf einem völlig anderen Level als der junge Musiker, aber der Fotograph weckte bei ihm den Wunsch seine Grenzen neu zu definieren.
Seither hatte sich sein Leben grundlegend verändert, aber auch verbessert. Er fühlte sich zum ersten Mal glücklich und sicher, geborgen...
Und dann kam dieser Punk an.
„Alles okay bei Dir Gab?“ fragte er leise und teilte mit beiden Händen den Haarmantel, um behutsam die Wangen und den Hals seines Liebsten zu streicheln. Gabriel sah ihn still an, aber die Kälte schmolz wie Eis in der Sonne aus seinen Blicken. Was zurück blieb war die reine Liebe zu Marius.
„Ich bin nichts wert für Dich, Gabriel, aber Du bist auch kein Waisenkind, Du hast nie auf der Straße gelebt und dich nie verkauft...“ lachhaft jämmerlich und dünn klang die Stimme Marcs.
Marius fuhr herum und starrte den Punk an. In seinen Augen brannte blanke Wut.
„Halt den Mund, Du Kakerlake!“ zischte er.
Die einzige Reaktion Marcs war es zusammenzufahren und leise zu schluchzen.
„Waschlappen“, murmelte Marius verärgert.
„Du kannst das doch gar nicht beurteilen!“ schrie der Punk hysterisch. Ein weiteres Mal schnappte seine Stimme über. Gabriel verzog nur leicht die Lippen. Sein Schädel schmerzte leicht von der ständigen Streiterei und der unangenehm grellen Tonlage Marcs.
Schweigend wendete sich Marius der bereits erkalteten Pizza auf dem Tisch zu. Ihn störte es nicht, wenn sein Essen nicht mehr heiß war. Allerdings vergällte ihm Marc nicht nur das gemütliche Diner mit Gab, sondern den ganzen Tag. Im Moment wünschte sich der junge Goth nichts sehnlicher, als die Fähigkeit, Marc in eine Stubenfliege zu verwandeln und ihn genüsslich mit der nächstbesten Flasche „Mückentot“ zur Strecke zu bringen.
„Wenn Du Idiot unbedingt bei gedecktem Tisch verhungern willst, dann tu’ Dir keinen Zwang an. Allerdings, wenn Du nur zu Essen gewillt bist, wenn man Dich gebührend bedauert, sorry, da kannst Du warten, bis Du schwarz wirst. Den Gefallen tue ich Dir nicht. Außerdem wären das ganz genauso falsche Krokodilstränen wie Deine eigenen und diese Verlogenheit bringe ich beim Besten Willen nicht auf.“
Er nahm sich ein großes Stück Pizza und biss hinein. Der Italiener musste richtig gut sein, denn man konnte die Marinara selbst jetzt noch essen.
Er fühlte sich gut dabei, und nicht nur des guten Essens wegen. Langsam fruchtete die ständige Nähe zu Gab. Er lernte immer besser seine Sprache als Waffe zu nutzen.
Marc hatte er nun doch schon mehr als einmal massiv in die Ecke drängen können und mehrfach ausgehebelt. Bis vor kurzem konnte er das noch nicht.
„Bei der Gelegenheit, Du bist nicht der Einzige, der in miserablen Verhältnissen groß wurde, ebenso wenig bist Du das einzige Waisenkind.“
Gab seufzte leise und setzte sich hin. „Bitte, hört einfach beide auf zu streiten“, bat er sehr leise.
Sein Schädel schmerzte immer stärker. Er konnte und wollte diesen Streit nicht länger mit anhören.
„Alles okay bei Dir?“ fragte Marius besorgt. Gabriel erschien ihm um einige Nuancen blasser als vorher.
„Ja, Liebster“, flüsterte Gab und lächelte. Noch immer hing sein Haar in seinem Gesicht. Doch schließlich strich er die Strähnen zurück und straffte sich. „Mir geht es gut. Nur empfinde ich diese Art von Streit als sehr ineffektiv. Marc hat schlimmes erlebt, fühlt sich aber in seiner verdammten Opferrolle so wohl, dass er die ignoriert Menschen, denen es nicht besser geht.“ Gabriels Wut schimmerte immer noch durch seinen Blick. So gemäßigt und gefasst seine Mimik auch war, innerlich kochte er vor Zorn. Der Punk hatte den Kopf gehoben und sah aus roten Augen zu Gab. Er weinte tatsächlich, schon weil er sich von dem Mann, den er zu Lieben glaubte, verraten fühlte.
„Opfer?“ wisperte er. Seine Stimme klang bitter. „Du weißt doch gar nicht, was es herisst das Opfer zu sein, Gabriel.“
Der Blick, mit dem ihn der Fotograph maß, lag zwischen Zorn und Bedauern.
„Bist Du Dir dessen so sicher?“ fragte er leise.
Marius ließ sich mit kalter Pizza und kaltem Kaffee neben Gabriel auf die Bank sinken. Er war neugierig, wie Gabriel Opfer definierte, denn der junge Goth hatte eine sehr klare Vorstellung davon das Opfer eines gewalttätigen Menschen zu sein. Er mehr vielleicht als Marc.
„Wenn ich mir ansehe, was Du mit Friedrich machst, wie Du ihn belügst und hintergehst, ihn zum Narren hältst und ihn ausnutzt, so bin ich mir sehr sicher, dass nicht Du das Opfer bist, sondern er.“
„Das ist gar nicht wahr!“ donnerte Marc. Fürwahr, so hatte er sich den glücklichsten Tag seines Lebens wirklich nicht vorstellt. Dieser Marius hatte Gabriels Seele vollkommen vergiftet mit seinen Lügen...
„Friedrich nahm alles auf sich, sogar Frankfurt hat er für Dich verlassen. Er war derjenige, der Dich Deinem Zuhälter abkaufte, um Dir ein freies Leben zu ermöglichen, und Du dankst es ihm, indem Du ihn hintergehst und ihn hier, vor mir verleumdest?“ Gabs Stimme hatte einen schneidenden Unterton bekommen. „Er war Dir Freund und Vater, kaufte Dir alles, was Du wolltest, lehrte dich alles, was Du brauchtest. Und dann das.“ Zornig schüttelte Gabriel sich. „Du erwartest von mir Schutz und Liebe?“
Marc zuckte unter jedem seiner Worte zusammen als bekäme er Peitschenhiebe.
Seine Seele schrie vor Schmerz. Friedrich und Marius hatten Gabriel vergiftet mit ihren Lügen. Er begann zu weinen, bitterlich zu weinen, als würden all seine Tränen dieses vermeintliche Gift von seinem geliebten Gabriel waschen und ihn reinigen.
„Nicht einmal Freundschaft, die einfachste Sympathie, könnte ich Dir nun noch zollen.“
Wütend stand Gab auf und trat auf Marc zu. „Friedrich ist mein Freund. Er war auch mein Retter, der Engel, der mich befreit und mir ein Zuhause gegeben hatte. Vom ersten Moment an wusste ich, dass dieser Mann mein Freund war. Egal, was ich tat, er stand hinter mir und stützte mich, hielt zu mir, tröstete mich, wenn ich Angst hatte oder alles über mir zusammenzubrechen drohte. Und ich habe mir geschworen ihm immer das zu sein, was er mir war. Auf meine Art bin ich ihm in meiner Liebe immer treu gewesen. Du aber hast versucht, seine Gelüste zu stillen, die er nicht hatte, hast nicht bemerkt, dass er keinen Geliebten wollte, sondern einen Sohn, sahst nicht, was er für Dich tat.“
Marc starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an.
„Du hast ihn nie verstanden, und Dir auch keine Mühe gemacht, herauszufinden, wer er ist, was er ist, und warum er das alles für Dich macht. Du siehst es einfach als gegeben an und nimmst nur.“
Marc sprang auf und hob seine Faust. Gabriel beleidigte seine letztes bisschen Stolz.
„Das ist nicht wahr. Ich wollte Geld dazu verdienen, wollte ihm etwas dafür geben, dass er mein Freund war...“
„Schweig!“ donnerte Gabriel ihn an. „Geld verdienen, klar, aber nur, um an mich heranzukommen. Verdammt, sei ehrlich, Marc. In Deinem Leben gibt es nur eine Sache, die Dich antreibt, und das ist Sex. Du bist unersättlich darin. Deine gesamte Welt dreht sich darum, dass Du unbefriedigt bist.“
„Wärest Du eine Frau, würde ich Dich als nymphoman abstempeln,“ bemerkte Marius trocken.
Gabriel schauderte leicht und sah an Marc vorbei in den Flur.
„Ich werde Dir helfen einen neuen Anfang zu machen, den Absprung zu schaffen, Marc, aber das tue ich für Friedrich, damit er endlich seinen Seelenfrieden zurück bekommt und für Marius und mich, weil Du uns das Leben zu Hölle machst.“
Der junge Mann sprang zurück und sah Gab aus flammenden Augen an. „Von Dir will ich keine Hilfe mehr, Du Schwein! Ich dachte Du liebst mich, bei den eindeutigen Angeboten, die Du mir gemacht hast. Aber Du bist ein genauso verlogenes, innerlich verrottendes Stück Dreck wie Friedrich!“
Der Blick Gabriels erkaltete wieder. Er hatte gesagt, was er sagen wollte. Was Marc von ihm dachte, konnte dem Fotographen gleichgültig sein.
Im Gegensatz zu ihm kochte nun das heiße Blut Marius’ hoch und sein unbeherrschtes Wesen übernahm sein Handeln vollkommen. Er holte aus und ohrfeigte Marc zweimal. Der Punk zuckte zusammen.
„Wie hast Du Gab und Friedrich genannt?!“ schrie Marius ihn an. Seine Stimme überschlug sich.
„Sag’ das nie wieder, dreckige Straßenratte!“
Marcs Herz krampfte sich zusammen. Er fühlte sich verraten und verkauft von all denen, die er für seine Freunde hielt. Er begann zu schluchzen, fuhr herum und eilte aus der Wohnung.
Auf den Stufen stolperte er in seiner Hysterie in Friedrich, stieß ihn zur Seite und stürzte sogar die letzten Stufen. Friedrich konnte sich gerade noch fangen und taumelte gegen die Wand.
„Marc, was…“
„Halts Maul!“ brüllte der Punk und hielt sich sein Knie.
Marion öffnete die Türe und sah neugierig hinaus. Ihr blonder Lockenkopf folgte dem jungen Mann. Eilig schob sie sich nach draußen, sah zu dem alten Mann und legte die Stirn in Falten. „Geht es ihnen gut, Friedrich?“ fragte sie besorgt.
Er nickte nur und lächelte. „Machen Sie sich keine Sorgen, mein Kind.“
Marius eilte nun ebenfalls die Stufen herab. Sein Gesicht verriet absoluten Zorn.
Dieser Mann brachte ihn um den Verstand. Er ruinierte alles. So verletzt und deprimiert wie eben, hatte er Gabriel nie vorher gesehen. Sein Freund war all dem gegenüber nur äußerlich kalt. Seine Seele litt unter dem, was gerade geschah.
Eigentlich wollte Gabriel selbst Marc aufhalten, aber Marius hatte ohnehin noch eine Rechnung mit dem Punk offen und entbot sich nur zu gerne dafür.
Marion sah ihn an sich vorbei eilen. Unten öffnete sich die Türe der Kanzlei und die Sekretärin trat auf den Flur. Verärgert starrte sie Marc hinterher. „So ein primitives Geschöpf!“, stellte sie nüchtern fest.
Marius hatte nicht damit gerechnet, dass sich ihm ein weiteres Hindernis in den Weg stellte.
Sein Schrecken über ihr erscheinen kam fast zu spät. Dennoch wand er sich an ihr vorüber, traf sie allerdings unangenehm an der Schulter. Die ältere Dame erschrak selbst viel zu sehr, als dass sie auch nur ein Wort hervor brachte. Allerdings zerriss der Ärmel ihrer Bluse an der Naht.
Marius nahm sich nicht die Zeit sich zu entschuldigen. Viel mehr eilte er sich, den Parkplatz zu erreichen, bevor Marc abfuhr.
Leider saß der Punk bereits in seinem Auto und startete den Motor.
In seiner Wut achtete er auch nicht darauf, was er tat. Ohne sich darum zu kümmern, dass Marius ihm in den Weg trat, gab er Gas.
Einzig ein beherzter Sprung rettete den jungen Goth davor überfahren zu werden.
Über ihm öffneten sich die Fenster der Kanzlei und einer der Anwälte rief zu Marius hinab: „Ist alles in Ordnung?“
Die Sekretärin eilte nach draußen und starrte finster zur Straße. Marc machte sich mit seinem kleinen Auto nicht die Mühe, zu warten, bis die Straße frei war. Er gab Gas und rammte einen stehenden Wagen, ignorierte es und gab Gas.
Friedrich und Marion kamen herbei, dicht gefolgt von Gabriel.
Marius, obgleich er sich einige blaue Flecken geholt hatte, stand bereits wieder.
„Mein Auto!“ hörte er aus der Kanzlei. „Hat sich jemand die Nummer von dem Penner aufgeschrieben?! Das war mein Wagen, den er gerammt hat!“
Gab umklammerte Marius. Wortlos drückte er ihn an sich. Der junge Goth spürte das Herz seines älteren Liebhabers rasen. Marion sah zu Friedrich.
„Was machen wir jetzt?“
Die Sekretärin trat zu ihr. „Die Polizei rufen, was sonst? Ich habe sein Kennzeichen.“
Unbewusst bewunderte Marius die ältere Dame für ihre Ruhe und Fassung. Er selbst fühlte sich aufgewühlt, wütend, erschüttert und entsetzt.
„Ich muss ihm hinterher“, zischte Gab. Doch bevor er sich umwenden und zu seinem Wagen eilen konnte, zog Marius ihn entschlossen am Arm zurück.
„Nein! Friedrich braucht Dich. Ich gehe!“
Sein Tonfall ließ keine Diskussion zu. Gab sah seinem Geliebten in die Augen. Stur erwiderte er seinen Blick.
„Bring’ Dich nicht in Gefahr, Marius, er ist unberechenbar“, flüsterte Gabriel. Tiefe Sorge schwang in seiner Stimme mit.
„Ich verspreche es.“ Der Junge war erleichtert, dass sein Liebhaber aufgegeben hatte, denn er fürchtete genau das, was Gabriel ihm eben gesagt hatte. Marc war unberechenbar und er würde sicher etwas tun, was Gabriels Stolz verletzte, oder sogar sein Leben in Gefahr brachte. Er hatte weniger zu verlieren, denn er hatte keine Skrupel Marc zusammenzuschlagen und ihn anschließend bei der Polizei abzuliefern.
Eilig, bevor Marc mit seinem grell rosa farbenen Auto im Berufsverkehr untertauchen konnte, setzte er sich auf seine Spur.
Gabriel sah ihm nach, wie er sich auf die Straße drängte und mit Gas und Hupe für Platz sorgte.

 

*


Vielleicht war es tatsächlich klüger, wenn Marius versuchte ihm zu folgen, dachte Gabriel bei sich, als die beiden Polizeibeamten die Villa verließen.
Vermutlich hätte sein hitzköpfiger Geliebter nur noch Öl in das Sprichwörtliche Feuer gegossen.
Sicher, der Anwalt, dessen Wagen Marc gerammt hatte, erstattete Anzeige gegen den Punk, und alle beteiligten Personen, also auch Marion, und die Sekretärin wurden vernommen. An sich deckten sich alle Aussagen genau. Nur Gabriel viel es schon schwer, sich nicht zu besorgt den beiden Männern gegenüber zu äußern. Er fürchtete um Marius’ Sicherheit. Seine Seele war aufgewühlt und sein Herz brannte vor Angst um ihn. Bei der Vernehmung konnte er sich nur schwer konzentrieren. Allerdings wusste er sehr gut, dass Friedrich wirklich seine Nähe brauchte. Er hatte auch während der Vernehmung nur wenig gesagt und Gabriel das Reden überlassen. Er zitterte leicht. Unter dem Tisch tastete er nach der Hand seines jungen Freundes und umklammerte sie fest, als er sie zu fassen bekam.
Als die Polizisten gingen und der Fotograph wieder in die Küche zurück kam, saß der alte Mann schweigend da und umklammerte seine Tasse so fest, dass das Steingut bedenklich knirschte.
Wortlos trat Gab zu ihm und streichelte sanft und liebevoll sein kurzes, dichtes, welliges Haar. Der Blick des alten Mannes hob sich langsam zu seinem Freund und blieb an den hellen Augen hängen.
Ein gequälter Laut kam über seine Lippen. Dann umschlang er Gabriel fest, drückte sich an ihn wie ein Ertrinkender seinen Retter umklammerte.
Jetzt konnte Gabriel Friedrich all die Zuneigung, Liebe und Geduld zurückzahlen, die der alte Mann für ihn aufgebracht hatte.
„Ich bin da“, flüsterte er sanft und umfing seinen älteren Freund zärtlich. „Ich werde immer an Deiner Seite bleiben.“
Stumme Tränen rannen über Friedrichs Wangen und liefen über das glatte Kunstmaterial von Gabriels Hemd, gegen das sich Friedrich drückte. Er fühlte sich einsamer, hilfloser und verlassener denn je. Sein Vorstellungsvermögen konnte durch die rote Wolke von Schmerz gar nicht erfassen, dass die letzten Tage mit Marc nichts als eine große Lüge waren.
Aber er wusste jetzt mehr denn je, dass er sich nie mit diesem Jungen hätte einlassen dürfen.
Der Mann, der ihn jetzt hielt und dessen Wärme und Freundschaft ihn auffingen, war es, den er von Herzen liebte, niemand sonst. Und diese furchtbare Situation bewies ihm, dass Gabriel dieses Gefühl erwiderte. Er verdrängte für ihn, einen alten Mann, sogar all die Ängste, die er zweifelsohne für seinen Liebsten hegte.
„Warum“, flüsterte Friedrich heiser. „Warum hat er das getan?“
„Weil er ein unreifes Kind ist und deine Liebe und Nähe nicht verdient, Friedrich.“ Gabriel neigte sich zu seinem Freund und küsste behutsam sein Haar. „Marc hat Liebe mit Lust verwechselt und Güte mit einer Einladung sich Dir anzubieten.“ Er streichelte liebevoll den Nacken seines Freundes. „Du bist bis heute ein stolzer, schöner, intelligenter und faszinierender Mann, und Du bezauberst mit Deinem Charisma alle möglichen Männer. Hast Du ein solches Wesen wie Marc notwendig?“
„Aber meine Aufgabe ist es doch auch, ihn zu beschützen, vor der Welt und vor allem sich selbst“, flüsterte Friedrich.
Gab glitt neben ihn auf die Bank und umschlang ihn wieder.
„All Deine Sorge um ihn ist sinnlos, weil er gar nicht weiß, was Du alles für ihn getan hast. Er weiß nicht einmal, dass Du für ihn Dein altes Leben aufgegeben hast.“
„Oh Gabriel, ich wünschte mir nichts mehr, als Dich an seiner Stelle, neben mir, an meiner Seite. Du bist etwas besonderes, etwas liebevolles, ein Mensch, der mich bislang mit Glück und Liebe erfüllte. Du an meiner Seite... Ich hätte Dich nie wieder gehen lassen.“ Er seufzte leise. „Verzeih, dass ich Dir 11 Jahre zu spät meine Liebe gestehe. Ich habe nun jede Chance auf Dich verloren. Aber vielleicht ist das der Grund, warum ich es nun endlich unbedenklich tun kann...“
Gabriel legte ihm die Finger über die Lippen. „Ich weiß es. Ich wusste es schon immer.“
Er neigte sich zu ihm und lehnte seine Stirn an Friedrichs. „Ich liebe Dich, Friedrich. Es ist dieselbe Liebe wie für Marius.“
„Danke“, flüsterte der alte Mann. Einerseits erfüllte Glück sein Herz, andererseits brach es fast in diesem Moment. Dennoch huschte ein Lächeln über seine Züge.

 

*


Marius saß in seinem kleinen Wagen und versuchte dem Marbella zu folgen, der rücksichtslos andere Autos überholte und jede Verkehrsregel brach, die es gab.
Die gesamte Sonnenberger Straße staute sich, und er schlängelte sich in den unmöglichen Windungen durch den Verkehr. Schließlich bog er nach rechts ab und raste eine stark vereiste Einbahnstraße hinauf. Marius war nicht verrückt genug, ihm dorthin zu folgen. Die Gasse war wesentlich zu eng und beiderseits beparkt. Außerdem ahnte er, dass hier in dieser Gegend, die reich und teuer war, sehr oft Polizeistreifen unterwegs sein mussten.
Innerlich verfluchte er sich bereits dafür an dieser Stelle zu kneifen, aber letztlich kamen Marius der Zufall und viel Glück zu Hilfe.
Ein weißer Transportbus einer Courier-Firma kam mit etwas zu viel Tempo um die Ecke der Schönen Aussicht und wäre fast mit dem Wagen Marcs frontal kollidiert.
Von seinem Standpunkt konnte Marius recht gut sehen, dass beide Fahrer bremsten und das buchstäblich in der letzten Sekunde.
Durch die Größe des alten MB310 war Marc die Straße versperrt, und obgleich die Fahrerin des Transporters leichenblass war, schien sie ein ziemlich aggressiver Mensch zu sein. Alles Hupen Marcs beeindruckte sie nicht. Viel mehr schien sie mit jedem Moment zorniger zu werden, bis sie schließlich die Türe ihres Busses aufriss und sich hinausreckte.
Was immer sie schrie, es schien nichts Nettes zu sein. Als Marcs Marbella sich immer noch keine Sekunde von der Stelle rührte, ließ sie den Motor des Busses mehrfach aufheulen. Sie sorgte dafür, dass der schwere Transporter auf der vereisten Fahrbahn bedrohlich auf Marcs Auto zurutschte. Mit einem, kräftigen Stoss gegen seine Stoßstange, überzeugte sie ihn von ihrer Absicht, nicht zu weichen. Dieses Mal nahm Marc die junge Frau ernst. Sie schien nicht wirklich zum Scherzen aufgelegt und ziemlich unerschrocken dreist zu sein.
Er gab Gas und raste rückwärts die Straße hinab. Marius, der mitten im Stau steckte, hörte innerlich schon das Geräusch eines Crashs, wenn der Punk nicht gleich auf die Bremse trat. Der Wagen, der vor der Ausfahrt der Einbahnstraße stand, war das Auto vor Marius. Im Gegensatz zu der Berufsfahrerin war der Mann, der in dem BMW saß, nicht so mutig. Er trat kurz auf sein Gaspedal. Sein Wagen brach aus der Schlange aus und stellte sich quer zum Gegenverkehr. Stöhnend griff sich Marius an den Kopf und seufzte hilflos. Nun war das Chaos perfekt. Marc allerdings hätte so oder so den Wagen nicht getroffen. Der Motor seines Marbella heulte protestierend auf und erstarb, als Marc die Unmöglichkeit versuchte vom Rückwärtsgang in den ersten zu schalten, ohne zu bremsen. Allerdings das ungesunde Knirschen seines Getriebes verriet, dass er sein Auto endgültig zu Grabe tragen konnte. So, wie der Wagen stand, quer auf der T-Kreuzung, ließ er ihn zurück und schlängelte sich gegen alle Flüche und alles Hupen, durch den Verkehr zum Kurpark und verschwand jenseits des eisernen Tores.
Marius fluchte leise und hielt verkehrswidrig an der Straßenecke an.
Als er seinen Wagen verließ, war er sich ziemlich sicher, dass er ihn sich auf dem Hof des Ordnungsamtes wieder abholen konnte.


*


Marc war schnell, und offensichtlich nicht halb so eingeschüchtert und verzweifelt, wie es zuvor erschien. Alles was er jetzt tat schien zwar ungeplant, aber nichts desto trotz mit Vorsatz zu geschehen.
Offenbar kannte Marc das Wiesbadener Kurviertel bestens, denn Marius verlor ihn mehrfach aus den Augen. Er war sich allerdings auch sicher, dass der Punk sich gar nicht darüber bewusst war, verfolgt zu werden. Er sah sich nie sichernd um, sondern folgte nur sehr schnell seinem Weg, den er sich zurechtgelegt hatte.
Wenn Marius die Zeit gehabt hätte die Schönheit der Parkanlage zu bewundern, so hätte er das sicher auch getan, aber Marcs Verfolgung rechter Hand an dem Teich vorbei, hinter dem Kurhaus und dem Musik-Pavillon beanspruchte seine Aufmerksamkeit zu hundert Prozent. Wohin immer die Jagd ging, Marius war im Notfall rettungslos in den Schluchten der Stadt verloren und würde sich nur noch weiter verlaufen. Mehr als einmal dachte er daran, Gabriel anzurufen, zögerte es aber immer wieder hinaus.
Zu Fuß folgte er dem Punk aus dem Park und hinter dem Theater entlang durch den nächsten kleinen Park. Schließlich fand sich Marius auf einer Straße wieder, die ihm bekannt vorkam. Hier gab es die ganzen teuren Geschäfte mit all ihren unbezahlbaren Auslagen, und recht nah diese kitschige Riesen-Kuckucksuhr. Die Prunkstraße Wiesbadens, erinnerte sich Marius, so hatte Gabriel sie genannt... Wilhelmstraße. Allerdings stand hier der Verkehr genauso. Marc war also nicht darauf angewiesen, dass eine Fußgängerampel grün wurde. Die Autos standen vierspurig und nichts schien mehr zu gehen. Nach dem, was oben auf der Sonnenberger passiert war, erschien es Marius nur als natürlich, dass der Hauptzubringer sich staute.
Und all das nur wegen Marc! Er hätte diesen Kerl am liebsten sofort geschnappt und ihm in einer Dunklen Ecke ein paar klare, unmissverständliche Worte zu dem Thema gesagt. Allerdings mangelte es jetzt, am späten Nachmittag ganz gravierend an passenden Gelegenheiten.
Marc verschwand in einer der prachtvollen Passagen, die Geschäfte der Oberklasse beherbergte.
Zögernd folgte Marius ihm, denn in der Passage fiel er weit mehr auf. Hier deckten ihn nicht die Massen der Passanten.
Der Weg war leer, kein Marc. Mit sehr unguten Gefühlen eilte er hinterher, folgte dem Knick, den der Gang machte und konnte gerade noch umdrehen, als er Marc nur wenige Meter von sich entfernt sah. Aber nicht das zusammentreffen ließ ihn in Deckung gehen sondern eher der Mann, der Marc gegenüber stand. Er war groß und schlank, bleich und schön wie ein Engel. Seine schwarzen Haare fielen in einem Zopf über die Schulter und zu seinen Oberschenkeln herab. Blaue Augen musterten Marc.
Er trug einen warmen Wollmantel über dem dunklen Anzug.
Wenn sich Marius nicht zu hundert Prozent sicher gewesen wäre, dass Gabriel zu Hause saß und Friedrich tröstete, hätte er geschworen, er stünde hier und würde mit Marc reden.
Die Ungewissheit ließ ihn nicht los. Nun zog er doch sein Handy aus der Hosentasche und drückte die Kurzwahltaste von Gabriels Handynummer. Wenn nun irgendetwas dort drüben klingeln würde, wüsste er genau, dass es sein Freund war, aber er würde kaum noch begreifen, was hier vor sich ging. Allerdings regte sich dort vorne gar nichts. Kein Handy, das klingelte, nichts.
„Marius, ist alles in Ordnung bei Dir?“
Im ersten Moment realisierte der junge Mann gar nicht, dass Gab das Gespräch angenommen hatte, denn es passte so gar nicht zu dem Bild, was er in der Schaufensterscheibe gespiegelt sah.
Der Mann, der Gabriel so ähnelte, stand ruhig da, hörte sich irgendwelche erstunkenen und erlogenen Ausführungen des Punks an und schwieg.
„Marius?“ in der Stimme seines Freundes schwang tiefe Sorge mit.
„Gab, gibt es von Dir einen Doppelgänger?“ flüsterte Marius.
„Warum fragst Du?“ vollkommene Ahnungslosigkeit schlug ihm entgegen.
„Nur so... Ich bin hier in der Passage nahe der Wilhelmstraße. Marc steht mit einem Doppelgänger von Dir hier, ganz nah, nach Biegung. Die beiden reden.“
Gab schwieg einige Sekunden lang. „Nein, unmöglich“, flüsterte er.
„Was ist unmöglich?“ wollte Marius wissen.
„Mein Neffe Manuel sieht mir sehr ähnlich. Er ist der Sohn meines Halbbruders. Manuel lebt in Italien. Aber ich halte es für unmöglich, weil er Marc nur einmal bei mir gesehen hat, und das ist schon wieder etwa 5 Jahre her.“
„Wie gut ist dein Verhältnis zu deinem Neffen?“ fragte Marius leise. „Ich frage Dich nur, weil ich es nicht für ein zufälliges Treffen zwischen den Beiden halte, und wenn es so ist, dann sah man Marc keinerlei Überraschung an.“
Gabriel schien kurz zu überlegen. „Wir haben kein schlechtes Verhältnis zueinander. Aber wir leben auch in unterschiedlichen Ländern, Marius.“
Aus dem Augenwinkel bemerkte der junge Mann, dass sich die beiden Männer gemeinsam in Richtung des Wiesbadener Markplatzes in Bewegung setzten.
„Sie gehen weiter. Ich bleibe an ihnen dran, “ flüsterte Marius.
„Ich rufe Manuel an“, überlegte Gabriel. „Dann lasse ich mein Handy an, und Du kannst mithören.“
„Was soll das bringen?“ fragte Marius verwirrt.
„Ich weiß nicht“, murmelte er. „Mich interessiert seine Mimik dabei. Ich bin ein wenig verwirrt und nervös. Manuel besucht mich normaler Weise, wenn er hier ist und lässt sich von mir vom Flughafen abholen. Irgendwie macht mich das Ganze etwas stutzig, insbesondere seine nähere Bekanntschaft mit Marc.“
Marius huschte aus seinem Versteck und folgte den beiden Männern zum Ausgang der Passage. Er konnte sie im ersten Moment nicht sehen. Zum Markt konnten sie nicht hinüber gegangen sein. Auch nicht Richtung Bahnhof, aber in die Altstadt, nach rechts. Er blieb ziemlich dicht hinter ihnen. Wenn sie sich umgedreht hätten, wäre ihnen der Goth sofort aufgefallen.
Marius achtete im Moment allerdings auch teilweise auf die Geräusche seines Handys. Offenbar stand Gabriel im Flur, an seinem Telefontisch, denn er hörte die Tastenwahl des Festnetzes.
Das Freizeichen bekam er sogar mit.
Schließlich meldete sich eine weibliche Stimme; distinguiert, ruhig, gemessen, ähnlich gefasst wie Gabriel. Leider verstand Marius nichts, was allerdings nicht an der Verbindung lag, sondern schlicht an der Tatsache, dass sie eine andere Sprache nutzte.
Gabriel sprach sie gleichermaßen an. Marius verkniff es sich genervt zu seufzen.
Während sein Freund mit irgendeiner Frau redete, folgte er den beiden Männern in die Altstadt, vorbei an prächtigen Klassizismus- und Jugendstilgebäuden, vielen Menschen in farbeigen Kleidern, die ihn anstarrten, als sei er ein Weltwunder und schönen, unbezahlbaren Auslagen. Sein Blick blieb für den Bruchteil einer Sekunde fasziniert an dem Schaufenster eines Piano-Geschäftes hängen.
„Wow“, flüsterte er.
„Marius?“ Gabriel klang sehr unterkühlt und gefasst.
„Was war eben? Mit wem hast Du geredet?“ fragte der Junge, der sich nun wieder auf das Gespräch konzentrierte und Marc und Manuel nicht aus den Augen zu verlieren.
„Ich habe meine Schwägerin angerufen, die Witwe meines Bruders Giovanni. Manuel ist ihr Sohn. Und sie sagte mir, er sei in Paris.“
Marius blieb stehen. „Was will der geschniegelte Kerl bitte mit einem solchen Flachw…“ er verkniff es sich, das Schimpfwort auszusprechen, da Gabriel solche Dinge nie gerne hörte. „Mit einem Kerl wie Marc“, endete er schließlich.
„Ich weiß es nicht. Aber ich habe mich umentschieden, Ich komme zu Dir. Ich will das Gesicht Manuels selbst sehen, seine Reaktionen.“
Die Entschlossenheit und Kälte in Gabriels Stimme war nicht zu überhören. Er kochte sicherlich innerlich vor Wut.
„Gut, denn ich glaube, sie machen es sich in einer Bar bequem, Gabriel.“ Er verdrehte etwas den Kopf nach oben. „Robin Hood heißt das Ding. Weißt Du, wohin Du musst?“
„Ja, nur zu gut, Marius. Da habe ich Friedrich vor 11 Jahren kennen gelernt.“
An sich war Marius von der Idee, dass Gabriel sich in mögliche Gefahr brachte, nicht gerade angetan, aber er durchschaute auch das Zusammentreffen dieser Männer hier nicht. Was war das hier? Ein großes Komplott?
Der junge Mann sah sich rasch um und entdeckte ein schönes, Helles Geschäft auf der anderen Seite der Häfnerstraße. „Ich warte gegenüber bei der Kunstgalerie auf Dich.“

 

*


In diesem Fall konnte Marius von Glück reden, dass die Galeristin noch einen anderen Kunden hatte, der sie in Anspruch nahm, sonst hätte er wohl oder übel mit ihr ein Verhandlungsgespräch über eben jenes Bild führen müssen, um das er die ganze Zeit herumschlich. Hintergrund dessen war natürlich, wie nicht anders zu erwarten, der perfekte Blick zu dem blau beleuchteten Eingang der Bar gegenüber. Von seinem Standpunkt aus verbarg ihn eines der Bilder im Schaufenster, gewährte ihm aber auch ausreichend Platz, Manuel und Marc durch eines der Fenster in dem Gastraum zu beobachten. Als er irgendwann auch einen Blick auf das Bild riskierte, wusste er nicht, ob er es virtuos oder einfach nur grauenhaft nennen sollte. In jedem Fall war es bunt und es ließ sich nicht genau sagen, was der Inhalt des Machwerks vorzustellen versuchte. Auf dem Preisschild fand er den Titel. Tulpenfeld.
Beim besten Willen hätte er keine Tulpe erkannt, gleich wie sehr er sich anstrengte. Und all das für 850 Euro? Ihm lief es kalt den Rücken herab.
Da sich in den letzten 10 Minuten weder Marc noch Gabs Doppelgänger vom Platz bewegt hatten, nahm sich Marius nun doch Zeit, ein wenig genauer durch die Galerie zu stöbern.
Hinter ihm hingen weitere Bilder des Künstlers, der die „Tulpen“ verbrochen hatte. Eines schien bunter und großflächiger als das andere, und die Maße steigerten sich von einem halben Meter Bildquerschnitt zu ca. 1,50 Metern. Was ihn wesentlich mehr ansprach, waren die Gemälde eines Spaniers, der eine liebe zu Rot- und Gelbtönen hatte, aber sehr ästethische Motive verewigte. Hierbei handelte es sich um Frauen, aber das änderte nichts daran, dass jedes einzelne Kunstwerk diese Bezeichnung auch verdiente.
Moderne Pop-Art-Bilder, Drucke in diesem Fall, fand er in einem Posterständer. Bilder von Keith Haring, James Rizzi, Andy Warhol oder Roy Lichtenstein dominierten. Davon sagte Marius gar nichts zu. Es war bunt, einfach nur grell bunt.
Als er das Türsignal hörte, sah er über die Schulter und lächelte. Friedrich und Gabriel traten in die Galerie.
„Einen Moment bitte“, rief die Galeristin geschäftig und machte Anstalten, den Kunden eilig abzuwimmeln. Dann allerdings erkannte sie Gabriel und strahlte ihn an. „Haben Sie wieder Bilder für mich?“ fragte sie.
Gabriel begrüßte sie freundlich, lächelte und schüttelte dann den Kopf. „Heute nicht. Aber Sie können mich gerne in den nächsten Tagen mit Ihrem Mann besuchen kommen und den neuen Katalog ansehen. Ich bin als Kunde hier. Aber bitte, bedienen Sie den Gentleman“, er deutete auf den runden Mittvierziger, der in furchtbarstem bayrischen Dialekt mit ihr sprach. „Erst in Ruhe zu Ende.“
Sie nickte, fuhr sich mit ihren langen Fingern durch die blondierten Haare und widmete sich wieder dem Verkauf einer Rahmung.
Gab trat zu Marius. „Sind sie noch in der Bar?“
Marius nickte. „Bislang haben sie sich nicht hinaus bewegt...“ Marius musterte seinen Freund. „Sag’ mir eines. Wer in dieser verdammten Stadt kennt Dich eigentlich nicht, und ist nicht gut Freund mit Dir?“
Nachdenklich senkte Gab den Blick. „Ich weiß nicht. Freunde...“ Er lächelte matt. „Geschäftspartner trifft eher den Kern.“
„Übrigens, was meinst Du mit: Du bist als Kunde hier?“ fragte Marius leise.
„Na ja,“ Gab ließ seinen Blick schweifen. „Wenn Du schon ewig hier bist, wäre es auffällig zu gehen ohne etwas zu kaufen, besonders weil sie und ihr Mann Käufer von meinen Bildern sind.“
Marius sah ihn an, und sein Blick verriet vollkommenes Unverständnis.
„Gibt es etwas, dass Du gerne zu Hause bei uns haben willst?“
„Das kannst Du nicht machen, die Preise hier sind weitaus höher als meine Miete!“ flüsterte Marius.
„Ich weiß“, antwortete der Fotograph und lächelte. „Das ändert nichts daran, dass diese Frage immer noch im Raum steht.“
Verzweifelt bemerkte Marius, dass Gab ernst meinte, was er sagte. Deshalb deutete er auf den Posterständer. „Eins von denen da.“ Er schlug wahllos eine der Schaumappen auf und nickte. „Das da.“
Da er keine Sekunde nachgesehen hatte, was er haben wollte, konnte er erst den zweifelnden Blick Gabriels nicht begreifen. Friedrich hob eine Braue. „Les Girles“ von James Rizzi?“ fragte er befremdet. „Das ist nicht Dein Ernst.“
Nun warf auch Marius einen Blick auf den Druck und schauderte. „Uh!“ murmelte er. Das Bild zeigte eine Reihe Mädchen, die dahingeschmiert waren, mit dicken Edding-Outlines und im besten Stil der 80er Jahre dastanden. Die Farben allein reichten um einen ausgewachsenen Mann zu vergraulen, von dem Stil ganz zu schweigen. Es war einfach ausgedrückt scheußlich.
Gab schüttelte den Kopf angesichts des angewiderten Blickes.
„Damit wirst Du nicht glücklich. Ich kenne da Bilder von einem Künstler die würden Dir eher zusagen. Zum einen ist es schwule Kunst, zum anderen beschränken sich die Farben auf Grau-, Blau und Schwarztöne.“
Er zog Marius von dem Ständer weg und blieb vor einigen ungewöhnlich formatierten Bildern stehen, schmal und lang, hoch und schlank... Es waren immer Bilder von zwei Personen, den starken Armen und Händen, bzw. den breiten Rücken nach zu urteilen, in jedem Fall Männer, die zusammen in einer Badewanne lagen, eng aneinander geschmiegt, unter den leichten Bettdecken auf einem Stahlrohrbett oder in einer Hängematte. In jedem Fall konnte der Betrachter davon ausgehen, dass sie sich liebten, auch wenn es dezent verborgen blieb. Marius war sofort tief beeindruckt von den Gemälden.
Er bemerkte nicht das Lächeln auf Gabs Lippen. Jedes kleine Detail der Körper sog er in sich auf. Diese Kunstwerke waren ein Traum.
„Nun, haben Sie sich entschieden?“ fragte die Galeristin.
Marius war es vollkommen entgangen, dass der Kunde bereits gezahlt hatte und gegangen war.
„Diese Bilderreihe. Ich bezahle sie gleich, aber es wäre mir lieb, wenn Sie sie erst mitbrächten, wenn Sie mich mit Ihrem Mann Besuchen...“
„Gab, das kannst Du nicht“, krächzte Marius heiser, als er die Preise entdeckte.
„Machen Sie sich keine Gedanken, junger Mann,“ lachte die Dame und strich wieder eine ihrer widerspenstigen Haarsträhnen aus den Augen. „Das verrechnen wir mit den nächsten Fotos und Gemälden, die wir ankaufen.“
Marius fuhr herum und starrte sie an. Sie wich erschrocken zurück. „Was ist?“ fragte sie leise.
„Verkaufen sich Gabs Sachen so gut?!“ Wollte Marius nun wissen.
„Da er sehr virtuose Bilder liefert, sicher“, erwiderte sie irritiert.
„Verzeihen Sie“, unterbrach Gabriel jetzt das Gespräch. „Da ich noch eine Verabredung habe, würde ich gerne schnell den geschäftlichen Teil hinter mich bringen. Ich denke, zu einer klareren Aussprache kommen wir im Lauf der nächsten Woche, wenn Sie mich besuchen, oder?“
Er lächelte sie an.
„Sicher“, strahlte sie. „Folgen Sie mir bitte...“

 

*


Marius sah aus den Augenwinkeln zu Gabriel. „Du bist verrückt, vollkommen verrückt.“
Dieser erwiderte den Blick, strich ihm sanft über die Schulter und flüsterte: „Solange es Dir gefällt, ist es gut.“
Dieses Mal zog der junge Goth es vor zu schweigen, denn er war tief in seinem Herzen einfach nur zutiefst erschüttert, dass Gabriel ihm ein solches Geschenk machte.
Eigentlich wollte er ihm um den Hals fallen und ihn dafür Küssen, aber er wollte die Aufmerksamkeit nicht zu sehr auf sich lenken.
Als sie über die Straße gingen, wurde ihm bewusst, dass es bereits dunkel war und unangenehm abkühlte.
„Was nun?“ fragte Friedrich leise. Er hatte fast die ganze Zeit geschwiegen. Ihm war leicht anzusehen, dass die Sache mit Marc ihn schwer belastete.
„Gehen wir sie überraschen!“ Marius ballte angriffslustig die Fäuste. Allerdings legte Gab sanft seine Finger auf den Unterarm seines Geliebten. „Nicht so. Bitte sucht ihr beide euch einen Tisch, weiter abseits, und außer Sichtweite der Beiden. Ich will Manuel zuerst alleine gegenüber treten. Es kann gut sein, dass Marc durchdreht. Dann brauche ich Dich, Marius. Du musst ihn unter allen Umständen davon abhalten, noch einmal so etwas Lebensmüdes zu veranstalten, wie vorhin.“
„Ich wäre lieber bei Dir“, erhob der junge Mann Einspruch.
„Ich bin Stammgast im Robin Hood, und ich will im Interesse Manuels so wenig wie möglich für Probleme und Aufruhr sorgen. Notfalls, wenn Marc die Kontrolle verliert, musst Du eingreifen.“
„Wenn er ausrastet, sorge ich dafür, dass es im Rahmen des Erträglichen bleibt“, versprach Marius, allerdings wusste er nicht, ob er diese Worte auch halten konnte. Sein Zorn und Hass auf den Punk nahm immer weiter überhand. Sollte er noch einmal seine beiden Freunde angreifen, sei es Verbal oder körperlich, so würde er ihn aufhalten, und Marius kannte sich. Er neigte zu Wutausbrüchen.
Die Bar war noch recht schwach besucht, und das Licht wesentlich zu hell. An den gelb gestrichenen Wänden hingen Spiegel zur Dekoration und der dunkelrote Torso eines Mannes. An sich war die Bar nicht annähernd so edel eingerichtet wie die, in der Marius arbeitete, aber sie erschien freundlich und familiär.
Die wenigen anwesenden Gäste hielten sich direkt am Tresen auf, bzw. Manuel und Marc saßen sich gegenüber an einem kleinen Holztisch. Der Punk hielt einen Cocktail mit beiden Händen umklammert und redete leise, aber sehr hektisch und schnell, während sein Partner ruhig zuhörte, die Arme vor der Brust verschränkt und selbstsicher. Er strahlte genau die gleiche Art souveräner Sicherheit aus, die auch Gabriel umgab.
Nachdenklich sah Marius von ihm zu Marc und dann zu seinem Liebhaber. Versuchte diese kleine Straßenratte nun Manuel zu becircen?
„Komm, Marius“, forderte Friedrich den Goth auf. „Gehen wir zur Bar. Ich brauche etwas zur Beruhigung.“
Der junge Mann nickte und folgte seinem älteren Freund.
Gabriel sah ihnen kurz nach, schon um zu sichern, dass der Besitzer nicht allzu sehr auf ihn aufmerksam wurde. Er als Stammgast kannte ihn gut und sie redeten oft und viel miteinander.
Es würde seinem momentanen Vorhaben nicht entgegen kommen sich jetzt in lange und familiär freundschaftliche Gespräche ziehen zu lassen.
Langsam drehte er sich zu dem Einzeltisch um und schritt still, langsam und gemessen näher.
Der Blick Manuels traf ihn, flackerte kurz, aber der schlanke junge Mann fasste sich sofort und hielt seine Ruhe. Marc, der Gabriel nicht sah, plapperte unermüdlich weiter.
Behutsam legte Manuel seine Hand über Marcs, drückte sie sanft und stand dann auf.
„Was höre ich da schlimmes von Dir, Gabriel?“ fragte er seinen Onkel in akzentfreiem Deutsch.
„Du hast unseren Freund Marc aus Deinen Diensten entlassen?“
Gabriel trat zu ihm und reichte seinem Neffen die Hand. „Du bist hier, in Deutschland?“ fragte er kühl. Er überging vollkommen den Kommentar Manuels.
„Ich wollte Dich überraschen“, lächelte das etwas jüngere Abbild des Goth.
Sekunden lang taxierte Gabriel ihn und versuchte durch die fröhlich freundliche Miene seines Neffen zu blicken. Konnte das alles eine Lüge sein? Manuel und er hingen einst aneinander. Der junge Mann hatte sich seinen nur wenige Jahre älteren Onkel zu einer Ikone erkoren, der er sogar darin huldigte, wie er aussehen zu wollen. Emilia, die Mutter des jungen Mannes und Gabriels Schwägerin hasste den Goth dafür. Sein Einfluss auf Manuel missfiel ihr. Das lange Haar, die wilde, erotische Kleidung, den Hang zum Narzissmus, und die Homosexualität machten sie wahnsinnig. Zu allem Überfluss liebte der junge Mann auch Kunst genauso sehr wie Gab und die Beziehung der beiden, wenn Manuel bei seinem Onkel weilte, war innig und zärtlich, gleichsam als wären sie ein Paar.
Gabriel hatte diese Nähe und die gelebte Selbstverliebtheit beider immer sehr genossen. Zwar empfand er für Manuel nicht sonderlich viel mehr als leichte Zuneigung, aber es war ein stummes, erotisches Spiel zwischen ihnen, irreal und verwirrend. Gleichsam hätten sich auch Zwillinge ineinander verlieben und einander verfallen können. Allerdings ließ Gabriel es nie so weit kommen, dass sie sich darin verloren.
„Offensichtlich ist mir das nicht gelungen“, sagte Manuel nun leise. Enttäuschung schwang in seiner Stimme mit.
„Doch, diese Überraschung ist Dir gelungen“, erwiderte Gabriel leise. Sein Blick allerdings ging an Manuel vorbei zu Marc. „Scheinbar bedeutet er Dir viel.“
Manuel sah zu Marc. „Wenn ich hier bin, treffen wir uns durchaus, und dieses Mal sind wir uns unterwegs begegnet. Ich war auf dem Weg zu Dir.“
Gabriel nickte nachdenklich.
„Es ist schade, dass Du Dich nicht darüber freust, dass ich dich besuche.“ Wirkliche Enttäuschung glomm in den blauen Augen des jungen Mannes.
Gabriel legte ihm sanft die Hand auf die Schulter. Er wusste dass es ein Fehler war. Dennoch konnte er diesen traurigen Augen nicht widerstehen.
„Verzeih, Manuel.“
Dann wandte er sich Marc zu. Sein Blick gefror.
„Was ich von Dir denke, muss ich nicht mehr in Worte fassen. Du bist dieser Mühe nicht mehr wert. Aber das eine noch, als Zeichen meines guten Willens.“
Marc schien in seinen Kleidern zu schrumpfen. Gabriel schüchterte ihn ein, so sehr, dass seine Augen sich verengten und er anfing zu wimmern.
„Pack Dein Zeug bei Friedrich und verschwinde. Die Anwälte in meinem Haus haben Anzeige gegen Dich erstattet.“
Seine Augen weiteten sich ängstlich. Dann wich er zurück. Hilfe suchend schaute er zu Manuel. Ein kurzer Blick Gabriels reichte um ihm zu zeigen dass, gleich was zuvor zwischen den Beiden als Abkommen existierte, er seinen Handlanger gerade fallen ließ.
Der Fotograph nahm es allerdings nur zur Kenntnis. Später wollte er darauf eingehen, wenn er allein mit Manuel war.
Marc sprang auf und wankte einige Schritte zurück, bevor er gegen ein Hindernis stieß. Als er herumfuhr, panisch, die nackte Angst in den Augen, fand er Friedrich vor sich, der ihn nur sanft und mitleidig betrachtete.
„Friedrich… ich…“ er zitterte am ganzen Leib. „Ich habe nichts gemacht. Ich wollte doch nur… ich hatte Angst, und dann rief er mich an, rief mich zu sich. Er…!“
Der Punk deutete auf Manuel.
Friedrich legte ihm behutsam die Finger über die Lippen. „Ich will nur eines wissen, Marc. Warum.“
Der Junge starrte ihn fragend an und Friedrich begriff, dass er die Frage spezifizieren musste.
„Warum ich? Warum hast Du Dir mich ausgesucht? Ich bin alt genug um Dein Vater zu sein. Und Du wusstest genau, dass ich in Dir immer einen Sohn und nie die Liebe meines Lebens gesehen habe. Gabriel ist meine große Liebe, und ich werde niemals einen anderen Mann so lieben können. Warum hast du Dir niemand gesucht, der Dir adäquat ist?“
Marc starrte ihn aus brennenden Augen an. Angst, Schmerz und Wut einten sich.
Obgleich sie leise gesprochen hatten, war Marcs auffälliges Verhalten Anlass für die Gäste neugierig zuzuschauen.
Der Punk hatte nichts mehr zu verlieren. Mit aller Gewalt boxte er Friedrich in den Bauch. Er trieb ihm die Luft aus den Lungen. Als der alte Mann zur Seite taumelte, spuckte ihn Marc an. Zu sehr viel mehr gab ihm Marius gar nicht die Chance. Für ihn war das Maß voll. Er ertrug diese weinerliche Art des Punks nicht und verabscheute seine Stimmungsschwankungen. Wütend riss er ihn am Ärmel seiner Jacke zu sich und zerrte ihn aus der Bar.
Gabriel wollte noch etwas sagen, ihn aufhalten, fuhr aber zusammen, als er hörte, dass Manuel gerade die Polizei rief.
Das war das Letzte, was er gebrauchen konnte, ein zweites Mal Polizei. Es schadete Marius, wenn dieser Marc wirklich etwas tat, ruinierte seinen Ruf und den Gabriels.
Er wollte auf diesem Weg sicher nicht bekannter werden.
Sein Blick traf Manuels. Die Kälte, die in den Augen seines Neffen ruhte, war der seinen nicht unähnlich. Aber da war mehr. Die reine Boshaftigkeit und ein vernichtender Hass, der ihn erschütterte.
Er musste nicht nach dem Grund fragen. In diesem Fall ahnte er schon worauf es hinaus lief.
Es ging um Gabriels Stellung in der Familie und die Tatsache, dass er alleiniger Erbe des Familienvermögens war. Die Tatsache, dass er alles aufgeteilt hatte und sich sogar aus Italien, der Politik und der Gesellschaft fern hielt, reichte Emilia und Manuel nicht.
Manuel, seine Rolle darin war die des Verführers, der das Vertrauen ausnutzte.
Gabriel hatte vor den Spieß umzudrehen. Das konnte er nicht zulassen, schon wegen Marius und Friedrich nicht.
Er drehte sich um und trat zu Friedrich, der sich langsam wieder aufrichtete. Vorsichtig nahm er ihn an den Schultern und stützte ihn.
„Geht es Dir gut?“ fragte Gab und wusste zugleich, dass diese Frage lächerlich war.
„Mein Ego hat Schaden genommen“, erwiderte sein Freund. In seiner Stimme klang ein ironischer Unterton mit. Leider lag diese Ironie weit näher an der Wahrheit, als es Friedrich recht gewesen wäre.
Er fingerte in seiner Jacke nach einem Taschentuch und wischte sich den Speichel Marcs aus dem Gesicht. Er richtete sich auf und strich sich seine Kleidung glatt. Der alte Mann war zu stolz, um sich eine weitere Blöße zu geben. Behutsam strich er über Gabriels Wange.
„Lass uns gehen.


*


Marc wollte schreien, einfach nur seine panische Angst vor dem schönen, kraftvollen Mann in die Nacht hinaus brüllen. Marius versetzte den Punk in solche Panik, dass er nicht einmal mehr seine Stimme kontrollieren konnte.
Bebend, wimmernd, sank er zusammen und fiel auf seine Knie. Alles an ihm zitterte. Krampfartig zog sich seine Brust immer wieder zusammen und seine Schultern zuckten heftig. Er weinte, ohne eine Träne zu vergießen.
Sein Gesicht hielt er halb in den Händen verborgen. Das was Marius im schummrigen Restlicht der Straßenbeleuchtung sah, hier, in einer geschützten Toreinfahrt, trieb seinen Ekel gegenüber Marcs immer weiter.
Der Goth hatte ihm den Schlüssel zu Friedrichs Wohnung abgenommen. Es war nichts als eine Vorsichtsmaßnahme. Marc neigte ganz eindeutig zu unkontrollierter Hysterie und Überreaktionen, wie die Aktion am Nachmittag eindrucksvoll bewiesen hatte.
Das Gesicht des Punks verzerrte sich zu einer Grimasse und ließ den hübschen Jungen hässlich erscheinen wie ein Brunnenspeier.
Marius musste nichts tun. Marc allein entblößte auf widerlichste Weise seine schwache Seele.
„Schlag’ mich nicht... bitte, bring’ mich nicht um...“ wimmerte er.
Er wagte nicht einmal Marius anzusehen. Sein Blick haftete mit solcher eiserner Verbissenheit an dem Boden, dass er nicht einmal mitbekam, als der Goth sich einfach nur wortlos abwendete und ging.

 

*


Was in und um die Bar herum noch geschah, bekamen die drei Männer nicht mehr mit. Gabriel kehrte mit ihnen in sein Appartement zurück. Den Weg dorthin gingen sie schweigend. Jeder von ihnen hing seinen Gedanken nach. Marius, immer noch entsetzt über die elende Jammergestalt, die Friedrich so lange Jahre schändlich genarrt hatte, konnte seine Gedanken kaum ordnen. Ein schwächerer Mann als dieser Marc war ihm nie zuvor unter gekommen. Zudem sah er in diesem labilen Menschen einen eigentlich sehr gefährlichen Gegner, der dringend psychiatrische Behandlung brauchte.
Friedrich trauerte still. Sein Herz hatte sich verdunkelt. Er war nun allein. Schon oft hatte er darüber nachgedacht, was passieren würde, wenn Marc ihn verließ. Allerdings kam es nicht an dieses grauenhafte Spiel heran, was sich binnen eines Tages vor seinen Augen aufgerollt hatte. Das Ausmaß der Lügen, die ihm der Junge aufgetischt hatte, ließ sich zwar theoretisch für ihn erfassen, aber seine Gefühle konnten es nicht ertragen. Sein Herz brannte vor Schmerz, vor Leid. Und zu alledem erkannte er immer deutlicher, dass seine Liebe zu Gabriel so sehnsüchtig und stark war, dass er sich bei dem Gedanken ertappte es zu bereuen, nicht in der ersten Nacht, in der sie aufeinander trafen, mit ihm geschlafen und ihn zu seinem Gefährten gemacht zu haben.
Seine Zerrissenheit machte ihn wahnsinnig. Er konnte nichts dagegen tun. Die Nähe Marius’ und Gabriels machte es ihm nur noch schwerer. Er brauchte einige Zeit für sich, nur zum Nachdenken.
Manches mal empfand er die Fähigkeit zu denken nicht als Segen, sondern als Fluch. Er dachte, ständig, permanent und er litt unter dem, was in ihm vor sich ging.
Gabriel hingegen grübelte über seinen Neffen und über Marc. Der Punk war nichts als ein unwissender Informant und ein kleines Licht. Wahrscheinlich horchte ihn Manuel mit Leichtigkeit aus und nutzte seine beständige Lust, um ihn zu lenken wie eine Puppe.
Aber was hatte Manuels ganzes Wesen so verdreht, dass der fünf Jahre jüngere Mann sich so gegen Gabriel stellte? In den Ferien verbrachten sie viel Zeit miteinander und fuhren zusammen weg, nutzten die Nähe des Anderen, um den Hass der Familie zu verdrängen und sich in ihrer Fremdartigkeit zu dem Rest der Welt zu feiern.
War Manuel von Anfang an darauf aus, ihn zu ruinieren? Wollte er all das Geld, was Gabriels Vater seinem einzig überbliebenen Kind vermachte? Gabriel hatte zugunsten seiner Schwägerin und seines Neffen das immense Vermögen geteilt und ihr alle Besitztümer in Italien gelassen. Sogar auf seinen Namen und seinen Titel verzichtete er. Hier, in Deutschland hatte er sich ein neues Leben geschaffen, eine neue Existenz. Er studierte hier, um Künstler zu werden, nahm sogar einen neuen Namen an um der Familie nicht zu schaden und gab alle Rechte auf, den Adelstitel, den er nach seinem Geburtsrecht trug, zu nutzen.
Was wollte Emilia mehr? Er gab ihr alles, weit mehr, als er behielt.
Aber war es überhaupt Manuels Mutter, die ihn vernichten wollte?
Schließlich war es Gabriel, der das Schweigen brach, kurz bevor sie die Villa wieder erreichten.
„Wenn wir eine definitive Verbindung zwischen Marc und Manuel finden und glaubhaft beweisen können, bedeutet das, beide Männer in ihre Schranken zurückzuweisen.“
„Wir haben nichts, was das Geschehen in der Bar belegen kann, Gab“, murmelte Friedrich niedergeschlagen.
„Bist Du sicher?“ fragte der Fotograph. Das Funkeln in Gabriels Augen verriet Friedrich, dass er eine Idee hatte.
So gerne auch Friedrich alleine gewesen wäre, sosehr weckte Gabriels Plan doch seine Neugier. „Was geht Dir durch den Kopf?“
Marius nickte. „Das würde mich ehrlich gesagt auch interessieren.“
Gab blieb stehe und wendete sich zu seinen beiden Freunden um.
„Wir haben drei Anhaltspunkte,“ begann er. „Ich bin mir sicher, dass wir in Marcs Sachen und Unterlagen einige Anhaltspunkte finden, und wenn es ein Geldbetrag, eine Überweisung auf sein Konto sein sollte. Kleine Gefälligkeiten. Ich weiß, wie Manuel ist. Er schenkt gerne, und oftmals lassen sich diese Geschenke zurückverfolgen. Das was er mir schon alles mitbrachte, waren Einzelanfertigungen speziell für mich, und zumeist mit Gravur.“
„Glaubst Du, er würde etwas für diesen Punk anfertigen lassen?“ fragte Marius zweifelnd.
„Das vielleicht nicht, aber er ist wie die Seele einer Wagneroper, pathetisch und schwülstig, soll heißen, er würde es sich nicht nehmen lassen, ein Andenken zu hinterlassen, was Ewigkeitswert besitzt.“
Marius hob eine Braue und sah zu Friedrich. „Sag’ mal, hatte er manchmal Schmuck, den Du nicht kanntest, oder etwas, dass einfach zu teuer und zu schräg war, um es täglich zu tragen?“
Der alte Mann nickte. „Schon, aber er sagte mir immer, dass es Modelle von Gab wären, die er so bekommen hatte.“
„Ich habe ihm nur einfachen Schmuck mitgegeben, Lederhalsbänder, Armschienen, einen Klauenring und einige Billig-Ketten, die einzelne der Modelable einfach so als Webegeschenke beifügen. Sonst nichts. Das, was er immer behalten konnte, waren 50% der Kleider, die er zum Modeln trug und sonst nichts.“
Friedrich gab einen leisen, undefinierbaren Laut von sich. „Er trägt immer sein Zigarettenetui mit sich herum eines aus Silber, was er angeblich von Dir hatte Gab.“
„Vielleicht ist er sich dessen auch sicher, da sich Gabriel und Manuel irrsinnig ähneln,“ merkte Marius an.
„Zumindest habe ich ihm nie ein Zigarettenetui geschenkt“, fügte Gabriel hinzu. „Wie schaut es mit Geld aus, Friedrich? Hat er übermäßig viel Geld gehabt?“
Der alte Mann hob die Schultern. „Er kam oft Tagelang nicht nach Hause. Ich habe keine Ahnung, was und wie viel er verdiente.“
„Wenn wir zu Dir fahren, alles durchsuchen, vielleicht finden wir dort etwas“, schlug Marius vor.
„Und ich denke, dass er einige der wichtigsten Sachen bei sich hatte, Marius. Wahrscheinlich liegen sie noch immer in seinem Auto, und das dürfte abgeschleppt worden sein.“
Gereizt trat der junge Goth einen Stein zur Seite und nickte. „Nicht nur sein Wagen, meiner auch.“
Gabriel streichelte ihm sanft über den Arm. „Fährst Du zusammen mit Friedrich nach Birlenbach und sichtest die Sachen Marcs?“ fragte Gabriel.
Marius hob eine Braue.
„Ich bin nachtblind“, gab Friedrich leise zu. „Nachts zu fahren ist immer ziemlich gefährlich für mich.“
Der junge Mann starrte überrascht zu seinem Freund. Damit hatte er bei Friedrich nicht gerechnet. „Sicher, aber mein Auto ist auf dem Parkplatz des Ordnungsamtes“, flüsterte er unbehaglich.
Gabriel sah beide an. „Dann nehmt den Wagen Friedrichs, oder meinen.“
Entsetzt schüttelte Marius den Kopf. „Dein Schiff will ich gar nicht. Mit solch einem großen Auto bin ich noch nie gefahren.“
Wortlos fischte Friedrich seinen Autoschlüssel zusammen mit seinen Zigaretten aus der Hosenasche und hielt dem Jungen beides hin. „Zigarette?“ fragte er, während er Marius den Zündschlüssel seines alten Wagens in die Hand drückte.
Das Metall fühlte sich warm an, genauso warm wie der Körper Friedrichs sein musste, überlegte der Goth.
Er nahm eine der Zigaretten und bedankte sich. Aus seiner Hosentasche zog er ein Sturmfeuerzeug und klappte es auf. Die Flamme flackerte auf.
„Hier“, lächelte er.
Friedrich neigte sich ihm entgegen und zog an der Zigarette, bis der Tabak rot aufglühte.
„Danke,“ erwiderte Friedrich, während er den Rauch ausstieß.
Marius nickte nur und entzündete seine Zigarette ebenfalls.
„Was hast Du vor, Gabriel?“ fragte er leise.
„Vieles“, lächelte dieser. „Ein paar Kontakte in Italien reaktivieren, deinen Wagen auslösen, mit der Polizei verhandeln, Bilder sichten, auf denen vielleicht interessante Schmuckstücke sind, die eine Vergrößerung auf Fotopapier verdienen, Mails schreiben, das übliche Spiel, wenn man dafür sorgen will, die Familie wieder in ihre Schranken zu verweisen“, lächelte er.
Friedrich schienen zu verstehen, aber Marius, der noch keine Details von Gabriels Vergangenheit wusste, machte den Eindruck, leicht überfordert zu sein.
„Erklärst Du mir das auf der Fahrt genauer, Friedrich?“ fragte er leise.
Der alte Mann nickte nur und überquerte die Straße, um auf dem Parkplatz seinen Wagen zu erreichen.


*


Lange schon hatte Gabriel nicht mehr so ausgiebig seinen italienischen Wortschatz nutzen müssen wie an diesem Abend und in dieser Nacht. Er telefonierte mit den Anwälten seines Vaters und ließ sich genaue Einsicht in die Konten seines Neffen geben. Der Senior-Partner der Kanzlei, einst der Vormund Gabriels, stand dem jungen Mann heute noch nah. Er fand sich sofort bereit, ihm diverse Auskünfte zu erteilen, unter anderem Dinge, die das Vertrauen des Fotographen in seine Familie noch weiter erschütterten.
Der alte Mann versprach Gabriel alle Unterlagen, die er benötigte, unter anderem alle Kontenbelege Manuels, zu mailen und so schnell wie möglich nach Wiesbaden zu kommen.
Außerdem legte er Gabriel nahe seine Verfügung über die Teilung des Vermögens und die Abtretung des Titels unwirksam zu machen.
Das war etwas, dass den Fotographen ziemlich lange beschäftigte. Aber letztlich kam er zu dem Schluss, dass nicht er den Ruf der Familie schädigte, sondern seine Schwägerin. Scheinbar konnte nur noch ein weit schrecklicherer Skandal, als der, den offensichtlich Manuel in Italien mit einigen Jungen Männern losgetreten hatte, die Familienehre retten.
Langsam wurde Gabriel auch klar, aus welchem Grund sich Manuel hier aufhielt. Scheinbar suchte er nach einer Möglichkeit hier Fuß zu fassen, aber möglichst ohne einen lästigen Verwandten, der ihm nur Probleme bereiten konnte.
Marc war tatsächlich nichts weiter als sein Mittel zum Zweck.
Nachdem er aufgelegt hatte, musste Gabriel selbst erst wieder geistig Boden gewinnen. Die Nachricht, dass der Name seines Vaters nichts mehr wert und alles Geld der Familie die Ehre nicht zu retten im Stande war, ließ ihn an seiner damaligen Entscheidung zweifeln. Er musste tatsächlich das, was er einst verfügte, zurückziehen.
Es tat ihm leid, schon weil ihn doch wenigstens einige, Erinnerungen und schwache Gefühle an Emilia und Manuel banden, die letzten lebenden Mitglieder seiner Familie.
Aber er war nicht bereit, den Ruf und die Ehre zu riskieren.
Manuel würde nichts zu lachen habe, wenn sie sich das nächste Mal trafen.


*


„Was ist eigentlich mit Gabriel?“ fragte Marius, der den Wagen Friedrichs von der Beschleunigungsspur auf die A3 Richtung Limburg hinaus steuerte.
Um diese Uhrzeit fuhr der junge Mann besonders gerne, denn er hatte ziemlich die gesamte Strecke für sich allein. Vereinzelt begegneten ihnen LKWs.
„Hat er Dir nichts erzählt, Marius?“ antwortete Friedrich mit einer Gegenfrage.
„Bisher noch nicht“, murmelte der junge Mann verdrießlich. Ihn verletzte es schon, dass er, als Gabs Partner, weniger von seinem Liebhaber wusste als jeder andere.
„Wahrscheinlich hätte er es Dir auch nicht gesagt“, vermutete Friedrich. „Er hasst es über die Vergangenheit zu reden.“
„Was ist damals passiert...“ er stockte leicht. „Ich meine den Teil, den ich nicht kenne. Die Geschichte, wie ihr euch begegnet seid, ist mir bekannt.“
„Das alles, auch die Sache mit Manuel und Giovanni, ist weit vor meiner Zeit gewesen“, beteuerte Friedrich.
Marius sah ihn aus den Augenwinkeln an. „Erzähl, bitte.“
„Du weißt, dass Gabriel Italiener ist, oder?“ fragte der alte Mann.
Ein leises Nicken antwortete ihm.
„Er stammt aus Süditalien, aus einem wunderschönen Weinanbaugebiet. Seine Familie hat viel Land und eine der bekanntesten Keltereien Italiens. Schon im Mittelalter war die Familie von Adel, und das hielt sich sogar über das Kommunistische Regime nach dem 2. Weltkrieg hin.“ Er setzte sich etwas bequemer hin und wendete Marius seinen Blick zu. „Die Familie ist bekannt und unheimlich reich. Gab ist der Sohn aus 2. Ehe. Die erste Frau seines Vaters starb jung und viel zu früh. Sie hinterließ ihm den älteren Sohn, Giovanni, Manuels Vater. In späten Jahren allerdings heiratete der alte Mann ein weiteres Mal, und die Frau gebar ihm Gabriel, der damals auch noch einen anderen Namen hatte.“
Marius sah ihn aus großen Augen an. „Welchen, und warum hat er ihn geändert?“
„Er hieß Rafaele. Zugunsten seiner Schwägerin und Manuels hat er einen anderen Namen angenommen, denn ein Künstler in der Familie, insbesondere in dem streng katholischen Italien ein schwuler Künstler, würde den Familiennamen beschmutzen, gleich wo er gelebt hätte.“
Marius schluckte hart. Davon hatte er nichts gewusst.
„Gab wuchs auch nicht zu Hause in Italien auf, im Gegensatz zu Giovanni, Jahre zuvor, sondern besuchte von frühester Jugend an Internate in der Schweiz, England, Deutschland und Frankreich. Als er ein Teenager war, verlor er seine Eltern und seinen Bruder. Sie starben, als ihr Flugzeug abstürzte. Laut Augenzeugenberichten und Bildern war es offenbar kein einfacher Unfall. Entweder hat der Pilot die Gewalt über die Maschine verloren, oder es war Sabotage.“
Marius veriss einen Moment den Lenker und schlingerte über zwei Spuren. Friedrich klammerte sich an den Handgriff und starrte entsetzt auf die Fahrbahn. Allerdings fing der junge Mann den Wagen wieder ab und rollte bedächtiger weiter.
„Sorry“, murmelte Marius verstört. Das eben war zu viel für ihn gewesen.
„Musst Du mich so erschrecken? Ich bin nicht mehr so jung wie Du...“ Friedrich lächelte allerdings.
„Willst Du damit andeuten, dass es Mord war?“ fragte der junge Mann nun leise.
„Darin war sich die Polizei wohl nie sicher“, entgegnete Friedrich.
Allein der Gedanke ließ Marius schaudern. Was, wenn Manuels Mutter damals die Finger im Spiel gehabt hatte ...?
Er zog es allerdings vor den Gedanken nicht laut zu äußern, zumal er davon ausging, dass Friedrich auf die gleiche Idee gekommen sein dürfte.
„Der Erbverwalter war damals der Anwalt seines Vaters, und zugleich war er auch der Vormund Gabriels. Ein sehr freundlicher Mann. Auf Bitte des Jungen hin, der sich immer schon sehr gut mit seinem Neffen verstand, wurde Emilia, Gabriels Schwägerin, der 5-fache Witwenanteil ausgezahlt, um ihr und Manuel dasselbe Leben zu gewährleisten, wie sie es bisher geführt hatten. Nach seiner Volljährigkeit bat er auch darum, dass das Vermögen halbiert würde und Emilia das alleinige Recht verbliebe, den Adelstitel weiterzugeben. Er überließ ihr auch das Weingut und die Kelterei. Früh wusste er bereits, dass er gesellschaftlich nicht tragbar war, weil homosexuell. Er wollte sich zurückziehen und sein Leben selbst bestreiten. Das ist, was er auch heute tut. Er ist ein bekannter Fotokünstler und Maler geworden. Seinen Titel und sein Geld verschweigt er zumeist.“
„Jetzt ist mir auch klar, was Gabriel vorhin andeutete...“ Marius seufzte. Er hatte sich offenbar nicht nur einen schönen und gebildeten Partner gesucht, sondern einen Märchenprinzen, einer, der ihn liebte, allerdings bemerkte er, wie viele andere Männer sich um ihn bemühten. Friedrich stand allen voran. Er liebte Gabriel und die Art, wie ihn sein Liebster behandelte und ansah, war Marius Zeichen genug, dass Gabriel diese Gefühle erwiderte. Konnten sich Gefühle so auftrennen? Oder war er nur dafür da, die körperlichen Bedürfnisse Gabriels zu stillen? Warum hatte sein Geliebter ihm nie etwas von seiner Vergangenheit erzählt? Warum schwieg er darüber und zeigte sich kühl und unnahbar?
Was fühlte er für Marius?
Unsicher senkte er den Blick.
„Was ist, mein Junge?“ fragte Friedrich leise.
„Liebt Gab mich, oder bin ich nur für den Sex da?“ fragte Marius leise.
Fassungslos starrte Friedrich ihn an. „Willst Du andeuten, Du vertraust ihm nicht?“
„Scheinbar vertraut er mir nicht, Friedrich“, entgegnete Marius niedergeschlagen. Er fühlte sich schlecht und verspürte gar keine Sehnsucht mehr danach, bei Gabriel zu leben. Im Gegenteil drängte ihn alles zur Flucht.
„Hast Du ihn je gefragt, was er für Dich fühlt und ihm dabei in die Augen gesehen, ohne gleich an Sex zu denken?“ flüsterte Friedrich. „Wenn nicht, solltest Du das mal versuchen. Du wirst sehen, dass Du einer der wenigen Menschen bist, die sein Herz erreicht haben und der Einzige, der es besitzt. Niemand außer Dir kann behaupten, dass er in jeder Form von ihm geliebt wurde und wird. Normal trennt er Gefühl und Körper voneinander.“
„Ich habe den Eindruck“, murmelte Marius traurig. „Dass es bei mir nicht anders ist. Ich bin nur Erfüllung seiner Wünsche…“
Ärgerlich nickte der alte Mann. „Das ist auch Richtig. Du stillst seine Sehnsucht nach einem Gefährten, einem Freund, einem Geliebten und so vieles mehr. Reicht Dir das nicht?“
Marius atmete tief durch. Im ersten Moment wollte er es nicht aussprechen. Schließlich aber zwang er sich dazu in Worte zu fassen, was er bislang nur gedacht hatte. „Was ist mit Dir? Dich liebt er, und nicht nur wie einen Freund. Ihr passt perfekt zueinander. Ihr liebt euch von ganzem Herzen, seid belesen und gebildet. Was hindert euch, auch den letzten Schritt zu wagen und miteinander zu schlafen? Ich sehe doch in Deinen Blicken die Lust, die in dir schläft und nur darauf wartet von ihm geweckt zu werden. Er will Dich und du willst ihn.“
Friedrich senkte den Blick. „Das mag wohl stimmen, aber dennoch ist es anders und fast unmöglich zu erklären.“
Marius schien das Herz zu brechen.
Friedrich betrachtete ihn von der Seite. Es tat weh, ihn so zu sehen. Davon abgesehen wusste er nur zu gut, dass Gabriel sich entschieden hatte. Wenn er Friedrichs Gefühle wirklich auf diese Art erwidert hätte, wäre es ihm egal gewesen, ob es einen Marius gegeben hätte oder nicht. Gabriel liebte Marius, und das auf solch intensive Art, dass der alte Mann fast Angst davor bekam.
„Aber gegen all die Liebe, die er schon für Dich empfand, als ihr euch noch nicht persönlich kanntet und nur einander geschrieben habt, komme ich nicht an. Ich verblasse neben Dir zu dem was ich bin, ein Nichts. Frage ihn selbst, was er für Dich fühlt, und was er denkt. Ich muss es nicht. Ich kenne seine Antwort.


*


Gabriel hatte unterdessen Marius’ Auto ausgelöst und den kleinen R5 nach Hause gefahren. Die Zeit, die ihm blieb, nutzte er zum nachdenken. Immer wieder kam er zu dem Schluss verraten und verlassen worden zu sein. Nur Marius und Friedrich waren noch da. Und beide Männer wollte er nicht wieder fort lassen. Er nahm sich vor, alle Verbindungen nach Italien abzubrechen, und nur noch über Anwälte mit seiner Familie zu kommunizieren. Als er ausstieg, viel ihm auf, dass Licht aus seinem Wohnzimmerfenster drang. Automatisch sah er über den Parkplatz, fand aber Friedrichs Wagen nirgends. Ein ungutes Gefühl machte sich in ihm breit. Marc. Er wusste, dass Gabriels Wohnungstüre immer offen stand.
Der Fotograph zog die Brauen zusammen und sah sich um. Da es bereits einige Stunden nach Mitternacht war, hatte sich eine fast unnatürliche Stille über das Villenviertel gelegt. Nur ein vorbei rollender Wagen zerriss für einen Moment die Stille. Gabriel senkte die Lider, spähte in die Dunkelheit. Vielleicht befand sich Marc noch hier in der Gegend. Ihm lag sehr wenig an einer Begegnung. Nicht weil er Feige war. Er wusste, dass der Punk wesentlich weniger kräftig und auch wesentlich langsamer war als Gab. Zum Heldentum in dieser Form allerdings fehlte ihm der Sinn. Er gehörte zu der Sorte Mensch, die realistisch war und die passenden Stellen informierte. Vorerst setzte sich Gabriel wieder in den Wagen und schloss die Türe.

 

*


Marius war gelinde entsetzt von dem Zimmer Marcs. Er galt schon nicht der Inbegriff des Wortes Ordentlich. Aber der Punk hatte aus seinem Teil der Wohnung einer verlebte Räuberhöhle gemacht. Unter schmutziger, durcheinander geworfener Wäsche, in der einige Seiten von Comics und Gay-Magazinen lagen, fand Marc Essensreste, die diesen Namen nicht mehr verdienten, da sie sich bis zur vollständigen Unkenntlichkeit aufgelöst hatten.
Bett und Bettlaken waren hart vom Sperma und stanken. Er konnte nicht begreifen, dass man so leben konnte. Allein der Anblick widerstrebte Marius so sehr, dass er ganz automatisch begann sich zu kratzen.
Ekel erfasste ihn bei jedem Schritt aufs Neue.
„Sorry, Friedrich, aber das ist auch für mich zu hart“, murmelte er und tastete sich seinen Weg zum Fenster vor.
Dieser nickte angeekelt und arbeitete sich auf den Schreibtisch zu.
Unter Unmassen von Schwulen-Pornos fand er schließlich einige zerknitterte Kontenauszüge, auf die offenbar auch Sperma getropft war. Mit spitzen Fingern hob er sie hoch und grinste. „Einfacher als angenommen, Marius. Sein Chaos ist sein Untergang“, lächelte Friedrich. Er zog die Auszüge an einer Ecke hervor und zerriss einen davon versehentlich, weil er auf Tischplatte festklebte.
Marius stieg über einen großen Berg Müll und leerer Flaschen hinweg. „Zeig mal,“ bat er.
Friedrich reichte ihm die Auszüge.
Unwillkürlich würgte der junge Mann wieder, beherrschte sich aber. Insgeheim dachte er doch an Gabriels schöne und saubere Wohnung und an ein heißes Bad.
Aktuell wollte er nichts als nach Hause und zu Gab. Alles hier bedrückte und verunsicherte ihn.
Aber zumindest der Kontenauszug erheiterte sein Gemüt etwas.
Offenbar hatte Manuel von seinem privaten Konto mehrere Tausend Euro überwiesen,
„Damit können wir etwas anfangen…“
Sein Handy klingelte unvermittelt. Der junge Mann sah zu Friedrich. „Gab vielleicht?“
Der alte Mann nickte. „Sicher sogar.“
Marius zog sein Handy hervor, sah auf das Display und nickte lächelnd. „Wahrscheinlich macht er sich schon Sorgen, wo wir bleiben.“
„Was denn Gab?“ fragte er, als er die Sprechtaste drückte.
„Bitte kommt so schnell es geht wieder nach Wiesbaden“, flüsterte Gab. Eisiges Entsetzen schwang in seiner Stimme mit.
„Was ist passiert!“ schrie Marius mit überschnappender Stimme. Friedrich starrte ihn erschrocken an.
„Marc… er war hier“, flüsterte Gabriel tonlos. „Er hat sich gerächt…“


*


Bereits auf dem Parkplatz fielen Marius und Friedrich die beiden Streifenwagen auf und eine kleine Traube neugieriger Anwohner, die sich teilweise nicht einmal entblödete, in ihren Morgenmänteln da zu stehen.
Das ungute Gefühl Marius’ verstärkte sich zu einer massiven Übelkeitsattacke, als er die Treppen zu Gabriels Appartement hinauf eilte und bereits einen Polizisten sah, der Marion vernahm.
Gabriel hatte ihm am Telefon nicht spezifiziert, was passiert war.
Oben auf dem Podest stand Gabriel, reglos, wie eine Statue. Seine Haut hatte die Farbe weißen Marmors und sein Blick verlor sich in der Ferne.
„Was ist passiert!“ rief Marius schon von unten. Erst jetzt regte sich Gabriel und sah hinab. Die Ausdruckslosigkeit seines Blickes erschütterte Marius zutiefst. Mit einigen Schritten erreichte ihn der junge Mann. Langsam drehte sich Gabriel zu ihm, senkte die Lider und umklammerte ihn fest. In der Sekunde fühlte Marius, wie sehr sein Freund zitterte, wie kalt er war.
Friedrich schloss erst jetzt zu den beiden Männern auf und legte seine Hand auf Gabriels Schulter.
„Er hat Uriel und Sokrates umgebracht“, flüsterte Gabriel tonlos.
Marius Herz setzte für eine Sekunde aus. Er war versucht Gabriel loszulassen und hinein zu stürmen, wollte schreien, toben, Marc am liebsten den Hals dafür umdrehen, aber dann fühlte er die sanfte, liebevolle Berührung Gabriels, der ihn in seine Arme schloss und an sich drückte, spürte die heißen, stummen Tränen seines Liebsten, die auf seine Schulter fielen, spürte das gleiche tiefe Leid und die Trauer, aber auch die Wärme und die Liebe, die dieser Mann für ihn empfand. Aller Zorn wich und er wollte nichts anderes mehr, als sich an Gab zu klammern.
Friedrich ließ das Paar alleine und betrat die Wohnung. Einer der Polizisten sah kurz hoch. Es war derselbe Mann, der schon am Nachmittag des Vortages hier war. Bleich und abgespannt wirkte er, lächelte aber schmerzlich.
„Es tut mir leid“, sagte er leise. „Im Moment meint das Schicksal es nicht gut mit Ihnen und Ihren beiden Freunden, oder?“
Friedrich nickte schwermütig und sah sich kurz um. Marc hatte die Wände mit allem möglichen beschmiert und das Glas der filigranen Gusseisenmöbel zertrümmert. Mitten im Flur auf dem nachtblauen Teppich lag der blutige Leib des weißen Katers. Ein Kollege des Polizisten fotografierte das Tier gerade. Friedrich zog es das Herz zusammen, wenn er daran dachte. Ein anderer Polizist kam gerade mit einem Tütchen zurück, in dem sich eine silberne Zigarettendose befand. Die Dose, die Marc immer bei sich trug.
Friedrich senkte den Blick. „Wo sind die anderen Tiere?“ fragte er leise.
Der Beamte, der ihn angesprochen hatte, deutete zur Küche. „Wir haben sie dort eingesperrt. Sie sind ganz schön wild.“
Friedrich nickte. „Und das vierte Tier? Das, was wohl auch tot ist.“
Der Polizist deutete auf das Schlafzimmer. „Der Kerl hat das kleine Tier auf dem Bett auseinander genommen,“ murmelte er. „Wie krank kann man denn nur sein?!“
Das fragte sich Friedrich in der Sekunde auch. Gabriel hatte jedem untersagt, sein Schlafzimmer zu betreten, aber vermutlich Marius nicht. Er schauderte bei dem Gedanken, dass Marc 7 Jahre an seiner Seite lebte, und er die Natur des Jungen immer unterschätzt hatte.
„Wollen sie es sich ansehen?“ fragte der Polizist. Friedrich betrachtete das ehrliche, runde Gesicht des Mittvierzigers, schüttelte den Kopf und deutete auf die Türe. „Mich zieht es eher zum Leben hin.“
„Vorsicht, die drei Rabauken sind ziemlich aufgebracht und wild“, warnte ihn der Mann.
Friedrich sah zum Ausgang und betrachtete das verzweifelte Paar. „Marius, denke bitte auch an deine anderen Tiere. Die drei brauchen Dich jetzt.“
Der junge Mann löste sich langsam von Gabriel und verschränkte seine Finger in denen seines Liebhabers. Er wollte die Wohnung nicht ohne ihn betreten. Diesen Gang konnte er nur mit Gabriel bewältigen.
Der Anblick des toten Katers ließ ihn verharren. Alles in ihm weigerte sich, weiter zu gehen.
Offenbar verstand der Polizist gleich, was in Marius vor sich ging. Er deckte den Kadaver wortlos mit seiner Jacke zu.
Friedrich streckte ihm die Hand entgegen und nickte ihm zu. „Du bist nicht alleine.“
Still schloss Marius seine Augen und ließ sich vertrauensvoll von Gabriel und Friedrich führen.
Er begann endlich zu verstehen, dass er in diesen beiden Männern seine ganze Welt und seine Familie gefunden hatte, denn beide würden ihn nicht alleine lassen. Niemals.

Die restliche Nacht verbrachten die drei Männer in einem Hotel. Für Gabriel stand fest, er würde diese Wohnung endgültig aufgeben. Und er überraschte Marius sehr, als er von sich aus darum bat, mit ihm zusammen zu ziehen und mit ihm eine neue Wohnung oder ein kleines Haus auszusuchen. Gleich welche Bedenken Marius zuvor noch gehabt hatte, sie schienen wie fortgewischt. Er hatte innerhalb weniger Stunden herausgefunden, dass er tatsächlich der einzige Mensch war, der Zugang zu Gabriels Herz fand und das Eis in ihm brechen konnte. Das allein, dieses Wissen und diese Sicherheit, der Gedanke an das Gefühl, was ihn in dem Moment ergriff, als er spürte, wie sehr Gabriel ihn liebte, gaben ihm die Sicherheit ja zu sagen.
Er wollte mehr denn je sein Leben mit dem Fotographen und Künstler verbringen, wollte ihm seine Welt zeigen und Gabriels kennen lernen.
Allerdings ließ er sich mit der Antwort auf Gabriels Frage Zeit bis er weitestgehend ausgeschlafen hatte und mit Gab und Friedrich während des Frühstücks zusammen saß.
Allerdings hatte er sich noch lange nicht wieder von dem Schock und dem Schmerz erholt, eines seiner Tiere verloren zu haben. Er ging auch davon aus, dass Uriels Bruder den Verlust nicht überstehen würde. Im Prinzip, so war sich Marius sicher, hatte ihm Marc zwei Geschöpfe genommen, die ihm Freunde und Begleiter waren. Diese beiden Tiere bedeuteten ihm alles. Er hatte sie sich gekauft, nachdem er aus dem Erziehungsheim ausgerissen war und sich nach Frankfurt geflüchtet hatte. Im Prinzip ähnelte sein Werdegang dem Marcs in vielen Punkten. Allerdings unterschieden sie sich in einer Hinsicht sehr stark. Nie in seinem Leben wäre Marius auf den Gedanken gekommen, seinen Körper zu verkaufen. Er arbeitete für seinen Lebensunterhalt hart, verdiente sich in unterdessen drei Jobs sein Brot. Er kellnerte in zwei Bars und Modelte bei Gab. Der Job, den er bei seinem Liebhaber hatte allerdings, brachte ihm innerhalb einer Woche das, was er normal in 3 Monaten verdienen konnte, wenn die Gäste großzügig waren.
Außerhalb dessen hatte er zwar bis vor etwas über einem Monat jeden Tag einen anderen Mann genossen, aber nun...
Er saß während des Frühstücks Gabriel gegenüber, betrachtete ihn, wie er mit halb geschlossenen Lidern in seinem seiden bezogenen Sessel saß, die Kaffeetasse in der Hand, in sich gekehrt. Er wirkte auf ihn in dem schwarzen Seidenhemd und der eleganten Stoffhose gar nicht mehr wie der kühle Goth. Allerdings nahmen die Ereignisse der letzten Nacht auch Einfluss auf seine Mimik. Er wirkte traurig und müde. Obgleich er hier saß, gekleidet wie ein reicher Geschäftsmann, erschien er Marius verletzlicher und zerbrechlicher als er Gab je eingeschätzt hätte.
Das Bild traf Marius sehr. Er verliebte sich gerade eben erneut in Gabriel, und dieses Mal heftiger und stärker als zuvor. Dieser Mann, der in dem sonnendurchfluteten Stil-Art-Raum saß, war der wirkliche Mensch. Alles andere, die Maske, fiel in der gestrigen Nacht von ihm ab und zurück blieb ein verletzter, stiller Mann, der in seinem Stolz unnahbar, aber in seiner Einsamkeit verloren war.
Friedrich nippte ebenfalls an seinem Kaffee und ließ sich zurücksinken. „Heute kommt der Anwalt deines Vaters, richtig, Gab?“
Gabriel hob den Blick und deutete ein Nicken an. „Ja“, erwiderte er sehr leise.
„Was wirst Du tun?“ fragte nun Marius, der die Anspannung nicht mehr aushielt.
Gabriel lächelte. „Meine Frage der letzten Nacht bestimmt alles.“ Er stellte seine Tasse ab und strich sich mit der Hand über das Hemd. Jetzt, bei dieser Bewegung, zeichnete sich unter dem Stoff das Piercing Gabs deutlich ab. Das einzige, was das strenge, elegant-schöne Bild etwas disharmonisch erscheinen ließ. Er sah Marius in die Augen. „Willst Du mit mir zusammen leben, Liebster“, wiederholte er die Frage leise.
Marius senkte den Blick. „Der Prinz und der Bettelknabe. Meinst Du, das harmoniert?“
Gabriel sah ihn lange still an. In seinen Zügen konnte Marius nicht ablesen, ob er nervös oder angespannt war, ob er seine Antwort wusste, oder nicht. Die Ruhe, die er nun in sich trug war eine bleierne Müdigkeit, die seine Gefühle belegte, sein Herz lähmte.
„Muss ich Dich mit Rafaele anreden?“ fragte der junge Mann halblaut, schob sich währenddessen eine Zigarette in den Mundwinkel und zündete sie sich an. Er ignorierte vollkommen das Rauchverbot, das hier, in diesem Zimmer herrschte, um die klassizistischen Möbel zu schützen.
„Nein“, entgegnete Gabriel. „Ich hasse diesen Namen.“
Marius nickte nachdenklich. „Ich lebe dann wohl mit einem Adeligen zusammen, oder?“
„Das hast Du zuvor auch schon getan,“ sagte Friedrich leise.
„Aber da wusste ich es nicht. Und hättest Du mir nichts davon erzählt, wüsste ich sicher bis jetzt noch nichts davon, oder?“ der Vorwurf in Marius Stimme steigerte sich zu einer massiven Anklage.
„Ich bin nie damit hausieren gegangen, weil ich den Titel, die Ländereien und das Weingut an meine Schwägerin und Manuel abgetreten hatte. Allerdings bin ich immer noch der Alleinerbe des gesamten Besitzes. Und ich sehe nicht tatenlos dabei zu, dass diese Beiden Ruf und Ansehen meines Vaters und meines Bruders beschmutzen. Das Gut wird unter die Verwaltung meiner Anwälte gestellt, und ich versuche die Schulden meiner Familie zu decken, allerdings werde ich dafür auch den Titel zurückfordern.“ Er sah Marius an. „Ist das so unverständlich in Deinen Augen?“
Rein nach seiner Logik konnte der junge Goth nur mit einem Nein antworten. Er lächelte. „Ich bin jung, 11 Jahre jünger als Du, aber ich bin kein Kind mehr, Gabriel. Dein Weg ist der meine. Ich bin und bleibe bei Dir.“
Zärtlich sah Gabriel zu ihm. „Ich bin noch nicht fertig, Gab!“ sagte Marius streng. „Dafür verlange ich allerdings auch schonungslose Offenheit, okay? Ich will nicht alles, was mit dir ist und war, Friedrich aus der Nase ziehen, verstanden?“
Gabriel nickte wieder. „Ich versuche es zumindest.“
Nun war es Marius, der lächelte. „Gut so, und sei Dir dessen gewiss, dass ich Dich auch nicht mehr unbewacht in die Öffentlichkeit lasse, denn ich bin ein eifersüchtiger Mann. Ob Marc, Friedrich oder Manuel, ist mir egal. Es gibt nun nur noch mich.“
Gab hob eine Braue.
„Ich weiß ja, dass Du körperlich treu bist, Gabriel, aber Du träumst mir zu viel von anderen Kerlen.“
Der alte Mann sah sich Marius einige Zeit still an. „Aber mir verbietest Du nicht, von ihm unanständig zu träumen, oder?“
Der Blick, der Friedrich traf, sollte ihn vermutlich sofort in seine Schranken weisen, aber davon ließ sich der alte Mann nicht beeindrucken.
„Du bist und bleibst mein Freund, aber auch mein härtester Konkurrent“, bemerkte Marius bedrückt. Friedrich nickte. „Aber ich werde auch niemals einem Freund den Geliebten ausspannen, Marius. Soviel Ehre habe ich alle mal in mir.“
Der junge Mann hob den Blick und zog an seiner Zigarette. Er hatte schon noch seine Probleme damit so viel Vertrauen aufzubringen, aber er wollte sich nicht mehr von Gabriel trennen.
„Ja, ich bleibe bei Dir, Gab.“

*


An diesem Samstagnachmittag hielten sich unverhältnismäßig viele Personen auf dem Frankfurter Flughafen auf, besonders wenn man bedachte, dass es September und damit außerhalb jeder Feriensaison war. Hunderte und aberhunderte Personen drängten sich an den Schaltern der Fluggesellschaften und standen sich gegenseitig im Weg, während sie ein- und auscheckten. Die Nationalitäten aus allen Herren Ländern fanden sich hier, an diesem Ort kurz, für wenige Minuten zusammen, ohne sich wirklich zu berühren und gingen danach wieder auseinander, ohne Notiz davon zu nehmen, dass jede einzelne Person ein eigenes Leben, eine eigene Weltsicht und einzigartig war. Für Friedrich war dieser Ort immer wieder ein faszinierender Anstoß zu philosophischen Betrachtungen. Er selbst war schon so oft einer dieser Menschen, die hier hindurchgingen, ohne einen Eindruck zu hinterlassen. Dennoch war er sich schon damals bewusst darüber, dass er das Leben eines Jeden, dem er begegnete um einen minimalen Bruchteil in eine andere Richtung bewegte.
Damals, als er noch Lehrer war, beschäftigte er sich allgemein gerne mit der Theorie, dass jede Person, die existierte, das Schicksal einer anderen maßgeblich beeinflusste, selbst wenn es keine klaren Berührungspunkte, ja nicht einmal eine Bekanntschaft gab.
Jetzt, während er neben seinen beiden Freunden stand, reiste sein Geist in die Vergangenheit zurück, verweilte dort und begann lange vergessene Gedanken erneut zu überfliegen und zu wälzen.
Damals hatte er Gabriel auch mehrfach nach Italien begleitet und all diese philosophischen Bruchstücke zusammengetragen und mit ihm besprochen.
„Es ist wie ein Schmelztiegel,“ murmelte Marius beeindruckt. Der junge Mann stand an dem heutigen Tag zum ersten Mal hier. „Beeindruckend und unerträglich hektisch,“ flüsterte er. „Es ist, als rennen sie vor ihrem eigenen Leben und dem Zeiger ihrer Lebensuhr weg.“
Friedrich wie auch Gabriel betrachteten ihn erstaunt, allerdings auch erfreut.
„Ihr seid ansteckend,“ murmelte Marius beleidigt.
Gab wollte etwas erwidern, aber hinter der metallenen Abtrennung des Zolls öffnete sich die schwere Milchglastüre und ein alter Mann, wohl beleibter und mit Sicherheit 15 bis 20 Jahre älterer Mann als Friedrich es war, trat hinaus. „Rafaele!“ rief er fröhlich und winkte seinem einstmaligen Mündel zu.
„Antonio,“ lächelte Gabriel und trat auf ihn zu. Der alte Mann stellte seinen Koffer neben sich ab und umarmte Gab fest. Er reichte dem jungen Mann gerade bis zur Brust, aber was ihm an Körperlänge fehlte, machte er dadurch wett, dass er ihn auf seine Größe herab zog.
Marius und Friedrich konnten beide sehen, dass die Männer einander nahe standen.
„Kennst du ihn?“ fragte Marius leise.
„Ja, schon,“ nickte Friedrich. „Er ist nett, ein freundlicher Mann. Gab kann sich genauso auf Antonio verlassen, wie schon vor ihm sein Vater.“
Die beiden Männer traten nun auf Marius und Friedrich zu. Antonio strahlte über das ganze Gesicht, als er Gabriels älteren Freund wieder sah. „Es freut mich, dass Sie in Ihrer Freundschaft zu Rafaele so fest zu ihm stehen.“ In seiner Stimme schwang ein fröhlicher Unterton mit, und zusammen mit seinem gebrochenen Deutsch, erschien er einfach nur als sehr liebenswert.
„Auch ich bin erfreut Sie wieder zu sehen,“ lächelte Friedrich.
Antonios Grinsen wurde breiter.
Gab allerdings deutete nun auf Marius. „Er ist der junge Mann, von dem ich Dir so viel am Telefon erzählt habe, mein Partner, der Mann, den ich liebe.“
Antonio lachte plötzlich laut auf, ob der Tatsache, dass Marius’ Wangen sich röteten. Dann ergriff er den jungen Goth an den Schultern und zog ihn zu sich herab.
„Kommen Sie in meine Arme, mein Junge.“
Antonio war wesentlich weniger der kauzig fröhliche alte Mann als erwartet. Er trug eine genau gehegte Maske vor sich her, die einen scharfen Verstand und vor allem eine scharfe Zunge verbargen.
Diesen Abend erfuhren die drei Freunde von Antonio sehr genau, auf welchem Weg Manuel und seine Mutter den Familiennamen missbrauchten. Insbesondere belasteten sie ihn finanziell und Emilia wie Manuel lebten ihre Laster auf das bitterste aus. Es fiel Gabriel nach all den Erklärungen gar nicht schwer die Rücknahme des Titels zu unterzeichnen.
Allerdings konnte Marius kaum fassen, um welche auszugeichenden Summen es sich hierbei handelte. Die Schulden der Familie beliefen sich in einem Rahmen, der außerhalb jeder Tragweite seines darin begrenzten Fassungsvermögens lag. Auch Gabriel schluckte ziemlich hart. Aber er unterschrieb auch einen Scheck und eine Deckungsurkunde, die einen Teil der Schulden aufhoben.
Er seufzte leise. Letztlich deckte das Geld gerade einen Bruchteil dessen ab, was der Schuldenberg wirklich ausmachte.
„Hast du so viel Geld das alles zu bezahlen?“ fragte Marius leise.
Gab schüttelte leicht den Kopf. „Nein, das ist mein Erbe verdreifacht. Aber die Urkunde, die ich unterschrieben habe, beteiligt die Banken an den Jahreserträgen des Weingutes. Nun wird mir nichts bleiben, als einige Male im Jahr nach Italien zu reisen und dafür zu sorgen, dass die Gutsverwaltung in meinem Sinne arbeitet. Ansonsten liegt alles in den Händen meines lieben Antonio.“
Marius betrachtete seinen Freund aus neugierigen, großen Augen. Er begann Gabriel aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Der Mann, der er war, zählte zu den facettenreichsten Persönlichkeiten, die ihm je begegneten. Als er ihn kennen lernte, dachte er, der Fotograph sei nichts als ein etwas bizarrer Fan des erotisch Surrealen, aber das war eine gewaltige Fehleinschätzung. Gabriel war durchaus der in sich zurückgezogene Künstler, aber auch ein Spieler, wenn es um Beziehungen und das menschliche Miteinander ging. Und er konnte der klar denkende, logische Geschäftsmann sein. Er war von allem ein bisschen und noch lange nicht die Person, die Marius liebte.
Es faszinierte ihn einfach nur.
„Antonio?“
Der alte Mann sah zu seinem Mündel. „Was, mein Junge?“
„Bitte, sorge dafür, dass Manuel die Benachrichtigung zu der Übernahme seiner Schulden mit der Aberkennung des Titels bekommt, Antonio. Und begleite ihn nach Italien zurück. Ich will ihn nie mehr in meinem Leben sehen müssen. Mir wird schon übel, wenn ich nur an ihn denke.“
Sein Stolz kehrte zurück, stellte Marius fest. Sein Stolz und seine natürliche aristokratische Überheblichkeit.
Aber er liebte ihn so, wie er sich jetzt verhielt.
„Sicher, Rafaele...“
Das Handy Friedrichs brummte leise. Er erhob sich, grub es aus seiner Hosentasche und sah kurz auf das Display. „Die Polizei,“ murmelte er. Sein Gesicht hatte alle Farbe verloren.
Gab und Marius traten zu ihm.
Beiden Männern konnte man die Anspannung in den Augen ablesen.
„Ja?“ fragte er leise.
Danach folgte eine für alle Anwesenden unerträglich lange Pause, eine Zeit des Schweigens, in der es alleine galt in der Mimik Friderichs zu lesen galt. Seine Lider senkten sich, überschatteten die hellgrauen Augen mit seinen langen, farblosen Wimpern und seine Lippen zitterten leicht. Zugleich tastete er fahrig nach seien zerdrückten Zigaretten. Das Päckchen entglitt seinen Fingern und fiel zu Boden. Marius ging in die Knie, hob es auf und reichte ihm eine Zigarette. Friedrich allerdings war nicht mehr in der Lage auch nur sein Telefon zu halten. Es entglitt seinen Fingern und ging in der Sekunde, in der es auf dem Boden aufschlug, aus.
„Was ist mit dir, Friedrich?“ fragte Gab leise, ergriff ihn an den Schultern und drückte ihn in einen der Sessel.
Marius sammelte das Handy auf und schaltete es wieder an. Er betrachtete das leicht angeschlagene Display und überlegte. Was konnte Friedrich so sehr schockieren, dass er seine gewohnte Ruhe verlor?
„Sie haben Marc aufgegriffen,“ flüsterte der alte Mann. „Zu Hause. Er hat meine Wohnung verwüstet und danach versucht ein Feuer zu legen.“
Gabriel starrte ihn an. „Nicht das...“
Marius trat zu Friedrich, kniete neben ihm nieder und sah zu ihm hoch. Im Moment wusste er gar nicht, was er sagen sollte. Einerseits erschütterten ihn die Worte, andererseits stieg der Hass auf Marc. Im Moment wünschte er sich nichts sehnlicher, als diesen kleinen Punk noch einmal in die Finger zu bekommen, um ihm seinen elenden, dürren Hals umzudrehen.
Dieses wahnsinnige Geschöpf hatte sein Frettchen getötet, den Kater Gabriels und nun das.
„Nachbarn haben mitbekommen, wie er die Türe aufbrach und nach mir brüllte. Als sie nachsahen, fanden sie ihn in einem Zerstörungsrausch. Er...“ Friedrichs Stimme erstickte. Tränen rannen über seine Wangen.
Wortlos umschlang Gabriel ihn. Er konnte sich lebhaft vorstellen, was Marc vernichtet hatte. Friedrichs Bücher. Die Sammlung des alten Mannes belief sich auch mehr als 1.000 Bücher und ungefähr als die Hälfte davon waren wertvoll und alt. Bücher, das geschriebene Wort, der Gedanke in Buchstaben gefasst, waren seine große Liebe.
Die Finger Friedrichs krallten sich fest in das Hemd Gabriels und seine Tränen durchnässten es.
„Ich will ihn einfach nur zusammenschlagen,“ zischte Marius. „Unerträglich, dass ihn nun die Polizei beschützt!“
Unbewusst zerknüllte er das Päckchen mit Friedrichs Zigaretten und schleuderte es durch den Salon der Hotel-Suite.
„Dieses Schwein, dieses elende Schwein!“ Er sprang hoch und starrte auf Friedrich und Gabriel herab. „Was wird ihm nun geschehen?! Er muss gemeinnützige Arbeit leisten und wandert für eine Weile ins Zuchthaus!“
„Nein,“ flüsterte der alte Mann tonlos. „Er wird in die Psychiatrie eingeliefert.“
Marius fluchte leise. „Und was soll das helfen? Er wird sich nie ändern. Nie!“
Gabriel hob den Kopf. „Ich will diese Jammergestalt noch einmal sehen, seine Verzweiflung miterleben und seinen Wahnsinn einschätzen können.“
Marius senkte den Blick. „Wir sind dennoch nicht die Gewinner, Gab. Wir sind die Verlierer, die, die dem hinterher trauern, was nach unserer Liebe das Nächstwichtigste war.“
„Ja, Marius, ich weiß. Nur zu genau. Und ich empfinde keine Sekunde Triumph. Aber ich will wissen, warum dieser dumpfe Schmerz in mir ist, warum ich immer noch Mitleid empfinde, und was meine Gedanken bedeuten.“
Marius verstand ihn, zugleich begriff er allerdings nicht, wie Gabriel immer noch etwas für Marc aufbringen konnte, was kein blanker Hass war. Er allerdings wollte Marc auch noch einmal sehen. Bei ihm war es seine Form der Rache.
„Dann lass uns fahren.“


*

Marc saß reglos in seiner Zelle und starrte vor sich hin, die Augen zu Schlitzen verengt. Im Gegensatz zu der Annahme aller vier Männer war er nicht apathisch oder geistig weggetreten. Viel mehr schien sein perfides und dennoch dummes Gehirn neue Teufeleien auszubrüten. Er bemerkte weder Friedrich, noch Gab, noch Marius.
Seine Finger drehten unablässig kleine Rollen aus dem Zipfel seines Hemdes.
„Marc“, flüsterte Friedrich. Sein ohnehin schweres Herz schlug noch langsamer und der Schmerz ballte sich in ihm zu einem unerträglichen Ball aus Feuer in seiner Brust.
„Friedrich?“ Marcs Mimik änderte sich von einer Sekunde zur nächsten und zeigte einen vollkommen anderen Menschen. „Friedrich, nimm mich mit; hol’ mich hier raus! Du kannst mich doch nicht alleine lassen! Bitte. Ich war es doch gar nicht! Das alles habe ich doch immer nur wegen Manuel gemacht!“ Er erhob sich, trat an die Türe und schob seine Finger durch den Gittereinsatz.
Er trug keinen Schmuck mehr. Seine Ringe, das Piercing und alles andere hatte man ihm abgenommen.
Nun sah er zu Friedrich. Mit großen, hungrigen Kinderaugen bettelte er stumm. Der Blick des alten Mannes traf den des Punks. Beide ignorierten Marius und Gabriel.
Es war ein stummes Blickduell. Allerdings bangte Marius einige Sekunden lang wirklich dass Friedrich weich wurde. Immerhin empfand er wie ein Vater für den Jungen. Wut sammelte sich wieder im Herzen des Goth und für Sekunden wünschte er sich, dass die Gitter breit genug warne, um seine Hände um den Hals Marcs zu legen.
„Marc, du bist nichts als Abschaum, der Bodensatz der Menschheit.“
Die Stimme des alten Mannes hob und senkte sich nicht. Er sagte diese wenigen Worte mit demselben Gleichmut, den er auch aufwendete, um eine Bestellung aufzugeben.
Dann drehte er sich langsam um und ging.
„Und wer befriedigt Dich nun, du alte Sau?!“ brüllte Marc mit überschnappender, hysterischer Stimme.
Gabriel und Marius sahen einander an. Der jüngere die Beiden hob eine Braue.
„Er ist wirklich der Bodensatz“, bekräftigte er Friedrichs Worte.
Gabriel bestätigte nicht, aber er verneinte auch nicht.
„Lass uns gehen, Marius“, sagte er einfach nur.

 


 

Tanja Meurer:

 

Tanja Meurer, geboren 1973, in Wiesbaden, ist gelernte Bauzeichnerin aus dem Hochbau und arbeitet seit 2001 in bauverwandten Berufen und ist seit 2004 bei einem französischen Großkonzern als Dokumentationsassistenz beschäftigt. Nebenberuflich arbeitet sie als Illustrator für verschiedene Verlage.

Tanja Meurer über sich selbst:

Als Tochter einer Graphikerin und Malerin blieb es nicht aus, dass ich schon sehr früh mit Kunst in Berührung kam, weshalb ich auch seit 1997 nebenberuflich als Illustratorin arbeite.
Seit meiner Kinderzeit schreibe ich auch. Mit 8 Jahren kamen die ersten – zugegeben sehr lächerlichen – Krimis zustande. Während der Schulzeit habe ich das erste Mal eine Geschichte für den Verkauf in der Schule auf PC geschrieben.
1997 kam die erste Kurzgeschichte in einem Fantasy-Magazin heraus und vier Jahre später weitere.
2007, 2009, 2010 und 2011 gewann ich sechs Ausschreibungen, wobei die Kurzgeschichten und –Romane bei Kleinverlagen erschienen.

Die stärksten Einflüsse kommen bei mir durch Autoren wie E.T.A. Hoffmann, Oscar Wilde, Hermann Hesse und Neil Gaiman.

Mehr über mich findet ihr unter:
www.tanja-meurer.de