"Zwielicht"
von Tanja Meurer
(Genre:
Krimi, Drama)
Gedämpftes Licht drang durch die Vorhänge auf die
Straße. Um diese Uhrzeit und in dieser ruhigen, konservativen Gegend die
einzige Form der Helligkeit überhaupt. Jeder andere, der in diesem Bauerndorf
lebte, entsprach dem Bild des braven Bürgers, der früh aufstand, hart
arbeitete und nicht allzu spät das heimische Bett aufsuchte. Nicht einmal der
Jahreszeit typische bunte Weihnachtsterror tastete das Dorf an. Vereinzelt
hing eine jener rot gekleideten, affigen Figuren an einer Hauswand. Aber das
war auch schon das Höchste der Gefühle.
Marc hasste Birlenbach. Er verabscheute den Gedanken
an all diese langweiligen, konservativen Menschen und die kleinen, alten,
muffig riechenden Häuser.
Wenn er nur schon diese verbissenen, bereits in
jungen Jahren alten Gesichter sah, erschrak er. Marc war nicht der Mensch, der
seine Ängste zeigte. Im Gegenteil revoltierte er mit seiner ganzen Seele,
seinem Auftreten und seinen Worten dagegen.
Er galt sicherlich als der abscheulichste
Paradiesvogel dieses Nestes, die Sorte Mannes, vor denen Mütter ihre Töchter
warnten, und Eltern mit ihren kleinen Kindern auf die andere Straßenseite
auswichen, begegnete er ihnen.
Es reichte ihm nicht, einfach nur offenkundig schwul
zu sein und seinen Liebhaber in der Öffentlichkeit zu Küssen und zu berühren;
nein, er trug seine Homosexualität wie eine Trophäe vor sich her, zeigte sich
in den Augen der Leute als abartig, als Freak, als Punk, der nicht
dazugehörte, der diese heile Welt zerstörte, den Rahmen sprengte und sich
negativ in das Gedächtnis aller einbrannte.
Ein ausrasierter Hinterkopf und lange,
regenbogenfarbige Strähnen, die in sein Gesicht fielen, gepiercte Braue,
Zunge, Lippe und Nase bedeuteten für die Bevölkerung Birlenbachs, dass dieser
Junge ein Fehler war, ein Fehler, über den man diskutieren, fluchen und ihn
beschimpfen konnte.
Leider waren der Geist und die Mentalität Marcs nicht so gefestigt, als das es
ihm wirklich gleichgültig gewesen wäre. Ihn machten die Anfeindungen wütend.
Das war auch der Grund, weshalb er sich nie länger in diesem Dorf aufhalten
wollte. Zumeist suchte er Zuflucht in der Stadt, bei einem Fotographen, der
ihn gerne als Modell nutzte. Es gefiel ihm. Er konnte teilweise für Tage
verschwinden und sich in dem harten, wilden Leben der Stadt verlieren, und
zugleich reizte es ihn, diesen Mann, den besten und engsten Freund seines
Liebhabers, aufzuheizen.
Wenn er sich vor Gabriel in den Laken räkelte und
ihm seinen tätowierten und gepiercten Leib präsentierte, sich ihm in Ketten
entgegen bog, sogar für Bilder masturbierte, fühlte er sich wirklich gut, denn
er sah das Verlangen in den Augen Gabriels. Allein nur für einen Blick und
einen Kuss des Fotographen, würde er alles geben; Treue stand Marc ohnehin
nicht gut zu Gesicht. Er sehnte sich danach es mit Gabriel zu treiben, schon
weil dieser den Punk immer wieder versuchte, indem er seine Selbstbeherrschung
wahrte und sich selbst kasteite. Marc sah es als heißes, lustvolles Spiel an.
Nie würde er Gab sagen, was er wollte, aber seine Körpersprache reichte
vollkommen, und er sah, dass er der Erfüllung seiner Träume innerhalb der
letzten zwei Jahre näher gekommen war.
Nun, nach dieser einen, lustvollen Woche bei Gab,
die ihm allerdings nur Erfüllung in seiner eigenen Hand gebracht hatte, kehrte
er zurück zu ihm – Friedrich - seinem Liebhaber, der ihn nur noch langweilte.
Marc war fast 30 Jahre jünger als der alte Mann. Er
sah es unterdessen nicht mehr als anziehend an, dass Friedrich belesen,
wortgewandt, gebildet und anarchistisch war. Er empfand ihn als enervierend
altklug und verbraucht.
Ihm blieb verborgen, warum Friedrich Bücher so sehr
liebte, ebenso konnte er nicht verstehen, dass Gab so eng mit dem Alten
befreundet war. Die beiden Männer konnten Stunden und Tage philosophieren.
Nicht ein einziges Mal ging ihnen das Gesprächsthema aus und sie kannten sich
schon seit 11 oder 12 Jahren.
Aber im Gegensatz zu Friedrich kam sich Marc bei Gab
nicht unterentwickelt und dumm vor.
Er sah nun zu dem Fester im
ersten Stock, und beobachtete, wie der Nachtwind langsam die Vorhänge hinter
den gekippten Scheiben bewegte.
Er war sich sicher, wenn er die Wohnung betrat,
würde Friedrich in seinem Sessel sitzen und lesen, eingeengt in das winzige,
mit Büchern voll gestopfte Zimmer. Wahrscheinlich bemerkte er Marcs Ankunft
nicht einmal, bis dieser sich ausgezogen und auf seinen Schoß gesetzt hatte.
Marc machte dieser
Gedankengang Angst. Er
wollte keinen so alten Liebhaber, aber Friedrich war der Mann, der ihn von der
Straße aufgelesen hatte und der ihn umsorgte; völlig uneigennützig. Trotzdem
war das kein Grund, sich auf ewig an diesen alten Mann zu binden? Einen Kerl,
der schon jetzt nah an die 60 Jahre heran reichte!
Marcs Ziele waren andere. Er hatte sich unter den
Undergroundfotomodellen einen Namen gemacht, arbeitete für bestimmte
Goth-Label und war unterdessen die Muse Gabriels. An der Seite des Fotographen
hatte er eine Chance und er würde das Leben in vollen Zügen genießen.
Außerdem machte sich der schöne, schlanke und
wesentlich jüngere Goth an Marcs Seite besser als der alte, verbrauchte
Philosoph. Wie schon
so oft hatte er sich vorgenommen, Friedrich zu verlassen. Er empfand nichts
mehr für ihn. Friedrich war für ihn eine lächerliche Figur. Sein schlaffer
Körper brachte keinen Spaß mehr.
Er packte seine Tasche
fester, trat von seinem Auto fort und schritt langsam über den festgetretenen
Schnee, unter dem der Kies knirschte. Der Weg zwischen Haus und Garten kam ihm
länger vor. Als er den dreistufigen Podest, der Eingangstüre erreichte, rann
ihm der Schweiß über den Rücken unter den Hosenbund. Was regte ihn so auf? Er
konnte es sich nicht erklären.
Marc fiel ihm schwer den
Haustürschlüssel zu ziehen und aufzuschließen. Alles hier widerstrebte seiner
Jugend und dem Wunsch aus seinen selbst gesetzten Grenzen auszubrechen.
Seine Hand krampfte sich um den Bund.
Er konnte umkehren, bei Gab anfragen, ob er bleiben
durfte. Gabriel war Friedrichs engster Freund. Nie könnte er ihn so
hintergehen… außer… In
seiner Vorstellung manifestierte sich das Bild eines Friedrichs, verletzt,
allein und enttäuscht, zurückgelassen von seinem Geliebten und seinem besten
Freund. Marc konnte
den Fotographen für sich gewinnen, ganz sicher, mit Sex und Versprechen.
Was er über Friedrich zu erzählen hatte, würde Gab
sicher auf seine Seite ziehen.
Er wollte einen Keil zwischen die Freunde treiben,
Gabriel für sich gewinnen. Langsam begann sein Gehirn diese perfiden Gedanken
weiter zu spinnen. Er
schloss die Haustüre auf und stieg langsam hinauf. Im Moment war er zu sehr
von dem Gedanken gefangen, als dass er, wie sonst üblich Lärm machte, um die
Nachbarn zu wecken. Er
nahm wesentlich beschwingter und leichtfüßiger die Beton-Stufen hinauf zu
Friedrichs Wohnung und dieses Mal störte ihn auch nicht der Geruch nach Alter
und billigen Fertigmahlzeiten aus dem Discounter.
Lächelnd und stolz auf seinen Entschluss, schloss er
die Wohnung im ersten Stockwerk auf und trat in die Stille der Räume.
Wie erwartet, reagierte
Friedrich nicht. Marc wusste dass der alte Mann da war. Er konnte sein
billiges Rasierwasser wahrnehmen, allerdings auch den Duft von Badeölen, der
in der Luft hing und sich mit schalem Zigarettengestank der letzten Jahre
mischte. Tasche und
Jacke ließ er im Flur zurück. Er stahl sich in sein Zimmer, um sich saubere
Kleider zu holen. Friedrich mied sein Zimmer. Er nannte es eine Ansammlung von
Erinnerungen und Müll. Marc konnte ihm nur beipflichten. Es war tatsächlich
eine gefährliche Mischung von Stolperfallen, die sich auf dem Boden, Tisch,
Sofa und Stuhl stapelte und immer wieder die stumme Drohung beinhaltete, eines
Tages seine eigenständige innere Stabilität zu verlieren.
Fotos, Mappen mit Bildern von seiner eigenen Person
allerdings, hegte er wie seinen Augapfel, genauso all die schönen Kleider und
der eigentlich recht billige Schmuck, den er von Gab über die Firmen bekommen
hatte, für die der Fotograph arbeitete.
Hier fanden sich neben einem gestohlenen Grabstein
Comics, Videos und DVDs, CDs, Kleider, Stiefel, Zeitungsausschnitte, ein PC,
aber auch alte Schulbücher, ein ausrangierter Schulranzen, ein Plüschtier, was
nicht mehr erkennbar zu einer Gattung zugehörig schien und alte Platten mit
Hörspielen der Drei Fragezeichen und TKKG.
Marc liebte Schwarz und Neonfarben. Seine Wände
hatte er entsprechend dekoriert und mit allen möglichen Symbolen bemalt, deren
Bedeutung ihm nur aus der Szene bekannt waren, deren wirklicher Hintergrund er
allerdings nicht kannte.
Mit dem Fuß schob er einen frischen Wäscheberg zur
Seite und fischte sich ein paar Socken und eine Hose hervor.
Für einen winzigen Moment dachte er darüber nach, ob
er seine angestaute Lust an Friedrich loswerden sollte, diesen zügellosen
Verlagen genommen zu werden, dass Gabriel in ihm schürte. Trotzdem entschied
er sich dagegen. Er wollte Sex, aber nicht mit Friedrich.
Ein neues Verlangen erwachte in ihm. Er wollte
baden, es im Wasser machen und dabei an Gab denken. Für sein Vorhaben waren
alle erniedrigenden und beleidigenden Aktionen gegenüber dem Alten eher
negativ. In diesem Fall zog er vor es heimlich, im Verborgenen zu tun.
Entspannt und bestens
gelaunt verließ er das Bad und warf einen kurzen Blick in die Küche.
Die Fahrt, das Bad und die zweimalige Masturbation
sorgten dafür, dass sein Magen knurrte. Brennender Durst dörrte seinen Hals
aus. Als er das Licht anschaltete, sah er in der Spüle die alte Tasse
Friedrichs und ein Holzbrett. Offenbar hatte der alte Mann wieder vergessen,
etwas Warmes zu essen. Marc seufzte. Leise Sorge war bei dem Gedankengang
dabei. So viel empfand auch er doch noch für ihn.
Er trat an den Kühlschrank, nahm Butter und Belag
heraus, stellte es auf dem kleinen, altersschwachen Küchentisch ab und griff
nach dem Brotkorb, der auf der Anrichte stand. Inständig hoffte Marc, dass
sich das Brot noch in einem essbaren Zustand befand. Viel zu oft schimmelten
die Nahrungsmittel hier; schon weil Friedrich vergaß zu essen. An Kaffee und
Zigaretten dachte er regelmäßig, aber nicht an das Elementarste.
Manchmal sinnierte Marc darüber, ob es am Alter lag,
oder einfach nur in der Natur seines Liebhabers. Er kannte alte Bilder von
Friedrich, Fotos aus den Sechzigern und Siebzigern, auf denen er sein Haar
noch lang trug. Es musste einmal voll und schön gewesen sein.
Zugegeben, damals war er schon zu schmal, aber er
sah auch gut aus. Heute erweckte er den Eindruck von verlebtem Spät-Hippi, der
schlicht vergessen hatte, dass die Jahrtausendwende vollzogen war und er zum
alten Eisen gehörte.
Sicher faszinierte der Alte andere Männer immer noch, aber das lag nicht an
seinem schönen Gesicht, sondern an seiner Ausstrahlung, musste Marc zugeben.
Allein der Gedanke daran ließ den Punk wieder
geistig umschlagen. Er verabscheute diesen alten Sack einfach nur!
„Ah, du bist hier?“
Marc fuhr zusammen und starrte wütend auf sein Brot.
Friedrichs rauchige Stimme und die Tatsache, dass er sich angeschlichen hatte,
ließen sein junges Blut kochen.
„Verdammt, musst Du mich so erschrecken?!“, zischte
er. Er erschrak über den giftigen Ton, und verfluchte sich dafür, überreagiert
zu haben, denn Friedrich amüsierte es zumeist eher, als dass ihn diese
Ausbrüche verletzten oder ärgerten.
Auch jetzt lachte Friedrich leise. Marc hörte den
leisen Spot aus seiner Stimme heraus.
Zu diesem Zeitpunkt hasste er ihn wirklich.
„Eine Zigarette, Marc?“
Der junge Mann fuhr hoch und nickte automatisch,
bevor er auch nur daran dachte, sie taktisch zurückzuweisen.
Ruhig lehnte Friedrich an der Türleibung und hielt
die Arme vor der Brust verschränkt.
Noch immer war er ein beeindruckend großer Mann,
schlank und sehnig, aber sein Gesicht hatte seine Schönheit schon längst
verloren. Dennoch war er nicht hässlich. Im Gegenteil. Die vielen leidvollen
Erfahrungen, seine Sorgen und sein ewiger Kampf gegen die menschliche
Ignoranz, Dummheit und Bigotterie hatten auf dem schmalen Gesicht ihre Spuren
hinterlassen. Noch
immer zeigten sich derselbe starke Geist und das Durchsetzungsvermögen in
seinem Blick, allerdings auch der leise Spott, den Marc immer auf seine Person
bezog. Quälend langsam
zog Friedrich die Zigaretten aus seiner Hosentasche und reichte dem jungen
Mann das Päckchen.
„Wie war es bei Gabriel?“ fragte er leise. Ein lauernder Unterton lag in
seiner Stimme. Marc
zog sich eine zerdrückte Zigarette aus der Schachtel.
„Du solltest aufhören, immer die Kippen in der
Hosentasche mit Dir herum zu tragen.“
Er umging die Frage Friedrichs. Im Moment wollte er
ihn schwitzen, einfach nur im Dunklen lassen. Die Ungewissheit ob er Gab doch
für sich gewonnen hatte, würde ihn wieder reizen, ihn verletzen.
Wortlos trat Friedrich in die Küche und nahm ein
Päckchen Streichhölzer auf, dass er neben dem Gasherd abgelegt hatte.
Marc trat an seine Seite und sah ihn bittend zu ihm
auf. Langsam drehte sich Friedrich zu ihm um und riss das Zündholz an. Er
strich mit einer Hand die langen, bunten Haare Marcs aus dem Gesicht. Es war
immer noch die gleiche führsorgliche Geste, wie am ersten Tag. Dann gab er ihm
Feuer. Marc erinnerte
sich daran, wie der alte Mann ihm das erste Mal die Strähnen aus seinen Augen
strich. Ein tiefer Stich fuhr in sein Herz. Er konnte nicht verleugnen, dass
er sich damals, vor sieben Jahren, sofort in Friedrich verliebt hatte. Die
freundlichen, intelligenten Augen, das Lächeln, die behutsame, sanfte
Führsorge verfolgten ihn.
Marc zog an seiner Zigarette, sodass sie hell
aufglühte. Er stieß den Rauch durch die Nase wieder aus und lächelte
versonnen. Der alte Mann und der Stricher. Vor sieben Jahren sammelte
Friedrich ihn auf der Straße auf. Marc war ein Ausreißer. An seinem
dreizehnten Geburtstag kehrte er dieser Institution und der Schule den Rücken,
nahm all sein Geld und ging nach Frankfurt/ Main, um dort zu arbeiten. Er
hatte sich keine Sekunde Gedanken darüber gemacht, dass die 1.500 Mark
garantiert nicht lange reichen würden. Aber er lernte es schnell. Niemand
wollte ein Kind. Nur das Jugendamt und die Polizei wurden auf ihn aufmerksam.
Er kam mehrfach nach Hause zurück, bis seine Eltern ihn in eine staatliche
Anstalt schickten, aus der er mit vierzehn wieder fort lief. Jungen wie ihn,
ohne Wohnung, Ausbildung oder Job. Schließlich versuchte er sein Glück in der
Bahnhofsgegend Taunusstraße. Er hatte Leute kennen gelernt, die ihm sagten,
dass mit Sex gutes Geld zu machen sei. Damit hatten sie Recht, aber es reichte
nicht. An sich war es niemals genug, um ernstlich davon zu leben. Er rutschte
immer weiter ab, immer tiefer in diesen Sumpf aus Existenzangst, Hunger, Armut
und Sex. Er war sich
sicher, dass er noch nicht das absolute Ende erreicht hatte. Aber Friedrich,
sein damaliger rettender Engel, der Mann, den er anbettelte, ihm ein paar Mark
zu geben, nahm ihn mit sich, in seine einstige Wohnung in Frankfurt und half
ihm langsam, wie einem Verletzten, wieder zu gesunden, gab ihm Kraft, Hoffnung
und Freundschaft. Er war Marcs Welt, zumindest bis vor einigen Jahren. Er
lernte Gabriel schon ziemlich am Anfang kennen, Friedrichs langjährigen besten
Freund. Der Wiesbadener Foto-Künstler hatte ein genauso sanftes und
friedliches Wesen, war dieselbe Art von gerechtigkeitsfanatisch, aber er war
jünger, schön und erotisch. Marcs Verlangen ihn zu besitzen steigerte sich zu
Anfang unbewusst, aber irgendwann wurde es ihm klar. In dem Moment kühlte das
Gefühl für Friedrich ab, und er sah in ihm binnen kürzester Zeit nur noch eine
Last. Aber jetzt, bei dieser Berührung, flackerte wieder kurz dieses Gefühl
von Zärtlichkeit und Liebe auf.
Marc reckte er sich zu Friedrich und entzündete
dessen Zigarette mit seiner eigenen.
Behutsam umschlang er den Nacken des alten Mannes
und kraulte ihn, während er den Rauch inhalierte.
Mit einer elegant leichten Handbewegung nahm er die
Zigarette aus dem Mund und blickte in Friedrichs hellgraue Augen.
„Was an mir liebst Du nur“, flüsterte er.
Friedrich sah ihn still an. Er musterten das
hübsche, Knabengesicht nachdenklich.
„Ich weiß es nicht“, sagte er leise. Seine Stimme
klang rau und dennoch warm. Sein Atem roch nach Zigaretten und Kaffee.
Wortlos nahm Marc ihm die Zigarette aus dem Mund,
legte sie auf den Herdrand und reckte sich zu ihm, küsste ihn
leidenschaftlich. Gleich was er sonst über Friedrich dachte, aber er mochte
das Zusammenspiel von Gefühlen und Situation. Gleich was immer er im Anschluss
empfand, wie leer er sich fühlte, im Moment konnte er nichts weiter tun als
die schnelle, heftige Lust Marcs zu genießen.
*
Friedrich saß regungslos auf dem Sofa, den Blick auf
die Seiten seines Buches gerichtet. Für ihn schien die Zeit stehen geblieben
zu sein; eine unbestimmbare Zeit, seit er das Buch aufgeschlagen und den Satz
„Wer bin ich“ gelesen hatte. Sein Geist versuchte diese philosophische Frage
in all ihrer Komplexität zu beantworten, scheiterte aber immer wieder an dem
Erlebnis mit Marc. Wer war er wirklich? Traf Marcs Anschuldigung zu, dass er
verknöchert und altbacken auf Andere wirkte?
Er schloss die Augen. In seinem Schädel hallte diese
Frage nach dem ICH immer wieder nach. Bislang war er sich seines Platzes in
der Welt sicher gewesen. Er war sich seinerselbst sicher. Aber das Erlebnis
hatte ihn aus der Bahn geworfen. Er kannte Marcs Untreue, seine
Respektlosigkeit und seine Unsicherheit.
Vor einigen Jahren, als er das Buch „Sophies Welt“
das erste Mal gelesen hatte, stellte er Testweise auch seinem Lebensgefährten
diese Frage. Zu diesem Zeitpunkt waren sie erst wenige Monate ein Paar und er
ahnte die Reaktion Marcs.
Seine Antwort hatte sich in Friedrichs Erinnerung
gebrannt. Was ist das
denn für eine Schwachsinnsfrage, Mann. Ich bin ich. Nun lass mich
weiterzocken. Damals
nahm er die Antwort so nicht hin und regte eine Diskussion an.
Davon abgesehen, dass Marc den Sinn der Frage und
vor allem den Inhalt gar nicht verstanden hatte, begriff er auch nicht, dass
ihm seine Lebenseinstellung der simplen Körperlichkeit im Weg stand
herauszufinden, wer er selbst sei.
Marc kam immer wieder zu dem gleichen Ergebnis. Er
war Marc, keine Person deren Individualität und Handeln Einfluss auf hunderte
anderer Menschen haben konnte, nicht die Person, die in anderen Freude und
Leid erregte, Anziehung und Abscheu. Friedrich war nur zu gut bewusst, dass
der Junge all das, was die Antwort war, dachte und fühlte, aber einfach die
verbindende Brücke zu seiner Frage nicht schlagen konnte.
Heute stellte Friedrich sich diese Frage wer er war;
die Essenz dessen, was Marcs Ablehnung ausmachte? Der Mensch, der den Punk
dazu trieb das zu tun, was er tat? Was bedeutete seine Existenz im
Zusammenhang mit Marc und Gabriel?
Sein Wesen, seine Liebe, was bedeuten sie in
Auswirkung auf das Leben beider junger Männer?
Er schloss das Buch und legte es auf den Tisch zu
all den anderen Büchern.
Langsam, schwerfällig erhob er sich und sah sich um.
Chaos. Geordnetes Chaos. Das Wohnzimmer hatte seine eigene, innere Ordnung.
Gefüllte Bücherregale dominierten das Bild, beherrschten den kleinen Raum und
erfüllten ihn mit Wissen, Staub und dem Gefühl kaum atmen zu können. Dennoch
war es ihm der liebste Ort auf der Welt.
Die wenigen Möbel waren alt und hatten ihre besten
Jahre lange hinter sich. Das Cord-Sofa erinnerte in seiner Sandfarbe eher an
etwas zerrupftes, ausgeblichenes, dass ein Möbelhaus vor ca. 30 Jahren
irgendwo vergessen hatte und der Tisch, obgleich auch sauber und poliert, trug
die Spuren der letzten 25 Jahre. Die neuzeitlichsten Möbelstücke waren der
Fernseh- und der Computertisch.
Allerdings passte das alles zu dem streitbaren
Endfünfziger. Er gehörte zu einer der intellektuellen Kommunen der siebziger
Jahre und lebte schon immer standhaft in seinem eigenen, ihm gewählten
Gefängnis der Zeit und Denkweise.
Im Moment aber waren seine Gefühle, die Liebe zu
Marc, und besonders auch die Liebe zu Gab, sein Martyrium.
Er musste sich zumindest mit einem der beiden
aussprechen. Die Wahl
dabei fiel ihm nicht schwer.
Der junge Fotograph zählte auch erst 32 Lenze, aber
er war kein geistiges Kleinkind, sondern ein philosophischer Träumer, der
seinen Verstand auf ganz andere Art einsetzte als Marc.
Dieser Mann hatte Friedrich
vom ersten Moment ihres Aufeinandertreffens an verzaubert. Gabriel schien rein
von seinem Wissen und seiner Intelligenz Jahre, sogar Jahrzehnte älter zu
sein. Als sie einander
begegneten, befand sich der junge Goth in einer Phase der Depression und
Abhängigkeit, die in Friedrich alle Beschützerinstinkte und seine ganze Liebe
aufflammen ließen.
Innerhalb des ersten Tages schon entwickelte sich das Vertrauensverhältnis
beider in solchem Maß, dass der alte Mann den Eindruck hatte, diesen damals
21-jährigen Jungen ewig zu kennen. Zugleich erwachte in ihm eine Form von
Liebe, die ihm bis dahin vollkommen unbekannt war. Es war ein unbeschreiblich
warmes, tiefes Gefühl, dass sein gesamtes Wesen erfasste und seine Seele
erschütterte. Auch wenn die beiden nie darüber gesprochen hatten, so wussten
sie diese Empfindung zu benennen. Gabriel erwiderte seine Liebe auf
platonische Art.
Friedrich wusste, dass er im Leben des jungen Fotographen immer eine besondere
Stellung innehaben würde.
Für ihn war es das Natürlichste überhaupt, mit Gab
über das Geschehene zu reden und sich ihm anzuvertrauen.
Er glaubte auch keine Sekunde daran, dass Marc mit
seinem Freund geschlafen hatte. Aber diese verlogene Art, die sich sein
Geliebter angewöhnt hatte, verletzte ihn zusehends und trieb den Keil, der sie
schon seit längerer Zeit entzweite, immer tiefer.
Er nahm sich das stark antiquierte, beige Telefon
aus dem Flur mit in das Wohnzimmer und ließ sich auf dem Bürostuhl vor dem PC
nieder. Nachdenklich
betrachtete er die schwarzen Tasten. Ob Gab eine Antwort auf seine Frage des -
wie geht es nun weiter - haben würde?
Mit Sicherheit nicht. Aber allein seine Stimme
linderte alle Schmerzen in Friedrichs Seele.
Mit der linken Hand zog er ein zerknittertes
Päckchen aus seiner Hosentasche und steckte sich eine der Zigaretten zwischen
die Lippen. Allerdings zündete er sie nicht an, sondern wählte die Nummer
Gabs. Erst als er das
Freizeichen hörte, fischte er sein Feuerzeug aus der anderen Hosentasche und
entzündete seine Zigarette.
Lange sog er daran, bis die Spitze orange-weiß
aufglühte. Der irreale
Gedanke Gab zu stören erwachte und versank sofort wieder. Sein Blick glitt zu
der alten, verstaubten Pendeluhr neben der Türe. Es war bereits nach drei.
Kein Hinderungsgrund ihn anzurufen. Gabriel arbeitete fast ausschließlich
nachts. Aber was, wenn
er gerade ein Modell bei sich hatte? Während seiner Arbeit ließ sich Gabriel
ungern stören. „Ja?“
meldete sich die kühle, klare Stimme Gabriels.
„Hallo Gabriel“, sagte Friedrich leise.
Scheinbar schwang doch sehr viel Trauer und Schmerz
in seiner Stimme mit, denn der junge Mann reagierte sofort sehr besorgt.
„Was ist mit dir?“ fragte er leise.
„Marc. Er...“ Friedrich verstummte. Er wusste nicht,
wie er das Geschehene über die Lippen bringen sollte. Wieder sog er an seiner
Zigarette, suchte nach einer Formulierung. Allerdings musste er sich
eingestehen, dass die Inhalation des Rauches ihn weder beruhigte, noch seinen
Geist beflügelte und ihn keiner Lösung nahe brachte. „Ich weiß ehrlich gesagt
nicht, wie ich all das in Wort kleiden soll, was geschehen ist und was ich
denke, Gab.“ „Egal was
Du zu sagen hast, ich höre Dir zu.“ In der Stimme das Goth schwang sehr viel
Wärme und Liebe mit. Friedrich fühlte erschreckend stark, wie viel mehr
Gabriel an ihm gelegen war als Marc. Zugleich flammte seine Liebe für seinen
Freund stärker denn je auf.
„Hast Du überhaupt Zeit für mich?“ fragte Friedrich
leise. „Natürlich“,
entgegnete Gabriel sanft. „Soll ich zu Dir kommen?“
„Nein, lass ruhig“, sagte der alte Mann. An sich
waren diese Worte eine glatte Lüge. Er wollte Gabriel bei sich haben und mit
ihm direkt reden, ihm in die Augen sehen, sich an ihn lehnen und in seinen
tröstenden Armen vergraben, den Duft seiner Haut und seines langen Seidenhaars
in sich aufnehmen.
Allerdings wusste er auch, dass es unsinnig war ihn eine Stunde mit dem Auto
durch die Nacht zu hetzen, nur um nicht allein mit seinen Sorgen zu sein.
„Ich meine es ernst, Friedrich“, bekräftigte der
junge Goth mit einigem Nachdruck in der Stimme. „Soll ich zu Dir kommen.“
Friedrich schloss die Augen und sog wieder an seiner
Zigarette. Nachdenklich stieß er den Rauch durch die Nase wieder aus. Was
dachte Gab von ihm – jetzt - in diesem Moment? War er für ihn noch dieselbe
starke Person, der alte, weise Mann?
„Nein, mir reicht es schon Deine Stimme zu hören“,
entgegnete Friedrich leise. Diesen Stolz musste er sich gegenüber seinem
Freund bewahren. Die Anerkennung Gabriels bedeutete ihm mehr als alles andere
auf dieser Welt. Das
warme, freundliche Lachen des jungen Mannes drang an sein Ohr. „Ich glaube, es
wird Zeit, dass wir beide uns bald wieder sehen und Du einige Tage bei mir
bleibst.“ Wie gerne
hätte Friedrich ja gesagt. Aber er ignorierte den Kommentar vorerst. „Bitte
Gabriel, sag’ mir, was in der einen Woche alles geschehen ist, in der Marc bei
Dir war.“ Zitterte
seine Stimme? Er verdammte sich dafür. Aber dies Marc gegenüber zu zeigen wäre
schlimmer gewesen, ein unverzeihliche Blöße, eine Schwäche, die der Punk
ausnutzen würde. „Er
war zum Fotografieren da“, antwortete Gabriel. „Fetisch-Bilder für ein
Schwulen-Magazin. Marc
hat sich stellenweise sehr exhibitionistisch gezeigt. Du kennst ihn ja.“
Ja, leider, dachte Friedrich, schwieg aber.
Die Asche seiner Zigarette fiel auf seine Hose. Er
hob nur eine Braue und schüttelte sie herab. Saugen musste er ohnehin. Welch
seltsame Gedanken doch sein Bewusstsein ereilten, wenn er verwirrt und
verletzt war. Friedrich fand sich höchst erstaunt über seine Denkwiese und Art
mit diesem Problem umzugehen.
„Dir ist mein Arbeitszimmer ja bestens bekannt“,
sagte Gabriel leise.
Oh ja, Friedrich kannte die Folterkammer. Ein Raum ohne Putz an den Wänden,
nur mit den nackten Mauerziegeln, Haken und Ketten in Wand und Decke,
insbesondere oberhalb des gewaltigen Stahlrohrbettes. Bis heute war sich der
alte Mann nicht ganz sicher, ob diese Art des Liebesspieles Gabriel nicht doch
sehr erregte. Allerdings schätzte er ihn nicht so ein. Das, was er über ihn
wusste, stellte Gab eher als sehr zärtlichen und liebevollen Mann dar.
„Marc ließ sich von mir an das Bett fesseln und hat
es offenbar ziemlich genossen. Letztlich habe ich die meiste Zeit über ihm
gekniet. Er rieb sich stark an mir und ließ keinen Versuch aus, mich zu
erregen.“ Friedrichs
Herz zog sich zusammen. Aber er verspürte nicht Marcs wegen tiefe Eifersucht.
Seine Zuneigung zu dem Jungen war immer noch ungebrochen, aber die Liebe zu
Gab saß tiefer. „Bei
anderen Aufnahmen erregte er sich selbst und streichelte sich, zeigte mir nur
zu deutlich, dass er Sex wollte. Er bot sich mir an...“
„Auch wenn Dich die Frage schockiert, hast du sein
Angebot je angenommen?“ flüsterte Friedrich. Die Worte kamen nur schwer über
seine Lippen. Es war für ihn fast wie der Bruch eines unausgesprochenen
Vertrauensschwures Gabriel gegenüber. Und so schien der junge Mann es auch
aufzufassen. „Wie
kommst Du auf einen solch abwegigen Gedanken?“ Enttäuschung schwang nur zu
deutlich in Gabriels Stimme mit. „Ich würde Marc nicht anrühren.“ Er seufzte.
„Und das liegt nicht daran, dass ich Dir den Geliebten nicht nehmen will,
sondern weil ich meine eigenen Prinzipien verraten würde, meinen Stolz
verletzen und mich dem billigsten, widerlichsten Sex überhaupt hingäbe. Das
liegt mir einfach fern. Marc ist nicht meine Wahl von Mann.“
Friedrich lachte leise, bitter. „Ja, er ist primitiv
und kindisch. Sag es ruhig.“
Er empfand einen leisen, stechenden Schmerz in
seinem Herzen, einen Schmerz, der nicht wieder nachlassen würde, denn er hatte
das ausgesprochen, was er selbst über Marc dachte, und er fühlte sich schäbig
dabei, denn der Junge konnte nichts dafür.
„Er ist eine leere, hübsche Hülle. Seine Seele
besitzt die Tiefe eine Pfütze, Friedrich, die Deine hingegen ist wie ein Meer,
unauslotbar und von solchem Schmerz durchtränkt.“ In der Stimme des jungen
Mannes schwang wieder diese Wärme und Zuneigung mit. „Du marterst Dich wegen
eines Mannes, der Deine Liebe nicht verdient. Mein armer Freund, ich wünsche
Dir so sehr und von ganzem Herzen einen Partner, der Dir ebenbürtig ist, und
der Dich so bedingungslos liebt, wie Du zu lieben im Stande bist.“
Friedrichs Finger zitterten. Er hatte das Gefühl den
Hörer fallen lassen zu müssen, nicht mehr die Kraft aufzubringen, dieses
bisschen Kunststoff halten zu können. Behutsam legte er die Zigarette ab,
stieß sie aber vom Rand des Aschenbechers auf den Computertisch. Sofort
hinterließ die Glut einen unschönen Brandfleck und es roch nach verschmortem
Plastik. Er hob sie
auf und drückte sie in dem Ascher aus.
Sein Herz schrie nach Gabriel. Er war die Liebe, die
sich Friedrich wünschte. Kein Marc der Welt, gleich wie hübsch er auch sein
mochte, konnte diesen jungen Mann ersetzen. Gabriels Wesen war es, was ihn von
der ersten Sekunde an fasziniert hatte. Der klare, kluge Blick aus den blauen
Augen und die wenigen, ruhigen, bedachten Worte, die Einsicht, dass er Hilfe
brauchte, aus der Situation der Abhängigkeit, in der er sich befand
herauszukommen, hatten Friedrich vor elf Jahren gefangen genommen. Er hatte
sich sofort und unwiderruflich in den damaligen Studenten der bildenden Künste
verliebt. Gabriel
lebte damals in einer Wohngemeinschaft mit einem älteren Studenten zusammen,
der zugleich sein Partner war. Allerdings erwies sich diese Liebe als sehr
einseitig. Wenn Friedrich es genauer betrachtete, war Gabriel das Spielzeug
dieses Mannes, eine Puppe, die er seinen Freunden für Spiele aller Art zu
Verfügung stellte und es genoss dabei zuzusehen, beziehungsweise sich daran zu
ergötzen. Es war immer die Demütigung und Versklavung Gabriels, auf die es
hinauslief. Er dominierte den jungen Goth in jeder Form und zerstörte ihn, den
einsamen, gebildeten Träumer, vollkommen. Die Form der Versklavung betraf bei
weitem nicht nur die Sexualität sondern alles. Das gesamte Zusammenleben der
beiden. Um Gabriel gefügig zu machen, nahm er ihm Stück um Stück seine Würde
und seine Ehre, besaß ihn wie einen Gegenstand.
Friedrich war Gabriels Retter, sein Schutzengel. Sie
lernten sich durch eines dieser Dominanzspiele kennen. Der junge Goth sollte
offenbar den erstbesten Mann, der ihm in einer Schwulenbar begegnete,
verführen und ihm vollkommen zu Willen sein.
Gabriel blieb die Wahl selbst überlassen, seinen
Bettgefährten auszusuchen. Nach einiger Zeit fiel ihm Friedrich auf, der ihn
die ganze Zeit ohne Unterlass beobachtete und dessen ganzes Wesen bereits wie
eine Aura um ihn wehte. Zudem war er allein. Das Außergewöhnliche und sein
Charisma verführten Gabriel damals, ausgerechnet an ihm hängen zu bleiben. Die
Nacht aber verbrachten sie vollkommen anders, als Gabriels Liebhaber es sich
dachte. Sie redeten, philosophierten, fanden in der Nacht ihre unzerstörbare
Freundschaft.
Friedrich nahm Gabriel für einige Wochen zu sich und half ihm den Übertritt in
ein neues, eigenständiges Leben zu finden.
Allein dafür zeigte sich der junge Mann mehr als
dankbar. Er schenkte seinem älteren Freund die schönste und glücklichste Zeit
seines Lebens, eine Zeit, in der sich Friedrich seiner Selbst wirklich bewusst
wurde. Sie erweckten einander und der alte Mann erfuhr eine solch liebevolle
Form tiefsten Respekts und menschlicher Nähe, wie sie ihm von keinem anderen
Menschen je gezollt wurde.
Dieser junge Fotograph war der Partner, der ihm
alles bedeutete, der seinen Geist, sein Wissen teilte.
„Du bist meine ganze Liebe“, flüsterte Friedrich.
Gabriel schwieg. Er wusste, dass es so war. Zu
diesen Worten gab es nichts hinzuzufügen. Sie standen im Raum wie eine feste
Wahrheit. Nein, sie waren eine Wahrheit. Das wussten beide Männer.
„Wir haben uns vorhin geliebt und er schrie Deinen
Namen, als er seinen Höhepunkt erreichte.“ Jetzt endlich gelang es Friedrich,
diese Worte auszusprechen.
„Marcs Versuche mich zu Verführen scheitern immer an
meiner Sturheit, Friedrich. Ich will ihn nicht. Außerdem würde ich damit den
Mann verletzen, der mein Partner ist und seine Liebe zu mir missbrauchen.“
Gabriel sprach so klar und nüchtern wie eigentlich
immer darüber. Vor
kurzem hatte er einen 12 Jahre jüngeren Mann kennen gelernt, den er über alles
liebte. Und seltsamer Weise empfand Friedrich Marius gegenüber keinerlei
Schmerz oder Wut, obgleich er genau wusste, dass die beiden Männer ihr
Aufeinandertreffen generell sehr körperlich feierten. Aber Marius war nicht
Marc. Er schien Gabriel angemessen und sie liebten einander. Zwischen ihnen
gab es einen stummen Krieg der Persönlichkeiten, den Gabriel dank der Tatsache
seiner extremen Selbstbeherrschung gewann.
Friedrich hatte Marius kennen gelernt und ihn
paradoxer Weise sofort in sein Herz geschlossen. Obwohl eine ähnlich harte
Vergangenheit auf seinen Schultern lastete wie die Marcs, er ebenfalls recht
ungebildet war, umgab den Jungen eine Aura von Stärke und Willenskraft, die
Marc fehlte. Zudem strahlten seine hellen Augen in einem Licht von klarer
Ehrlichkeit und Offenheit, die Friedrich faszinierte.
Er hielt den jungen Mann für sehr klug, allerdings
auch für wahnsinnig faul.
Wie auch Gabriel gehörte er zu dem schwarz
gewandeten Menschenkreis. Marius war Musiker, talentiert, jung,
außergewöhnlich offen Gefühlen gegenüber, die er mit Leichtigkeit in Worte und
Noten unzusetzend wusste und er war eine Schönheit.
Seine Jugend und seine Kraft, aber auch all das
Erlebte, prägten sein ebenmäßiges Gesicht und verliehen ihm einen erwachsenen,
sehr gefassten Ausdruck. Allerdings ein Blick in seine Augen verriet ungeheure
Energie und den tiefen Wunsch die Welt zu ändern und aus den Angeln zu heben.
In einigen Punkten fand er den gleichen rebellischen Geist in Marius wieder,
der ihn selbst einst beseelte und antrieb.
Im Gegensatz zu Gabriel war Marius einem
Zusammenspiel aus seinen Gefühlen und Erlebnissen unterworfen, was ihn wie
eine Aura umgab. In
seinem gesamten Sein verriet er eine innere Disharmonie, die seinen Geist
trieb und stärkte, aber zugleich verlieh ihm das auch eine Sicherheit über
seinen Platz in diesem Leben, die ihm niemand je wieder nehmen konnte.
Er war das Gegenteil zu dem ruhigen, überlegten
Gabriel, der die Angewohnheit hatte, über alles sehr gründlich zu
reflektieren. Aber sie
harmonierten, und Friedrich war sich sicher, dass nichts auf dieser Welt
dieses Paar je wieder trennen konnte.
„Halte Marius fest in deinem Herzen, Gabriel“, sagte
Friedrich leise. „Er ist etwas Außergewöhnliches. Einen Mann wie ihn wirst Du
nie wieder finden.“
Leises Lachen antwortete ihm. „Ja, das ist wahr. Allerdings halte ich auch
Dich fest, denn ein solcher Mensch wie Du, wird mir ebenfalls nie wieder
begegnen. Du, mein Mentor, mein Freund, meine stille Liebe, wirst immer Teil
meiner Seele sein.“
Diese Worte waren es, die Friedrichs Herz berührten und deren Klang seine
Schmerzen aufhoben, ihn heilten.
„Danke mein Freund.“ Seine Lippen umspielte ein
liebevolles Lächeln. „Nun kann ich wieder ruhiger schlafen.“
*
Das Erwachen fiel Marc
dieses Mal schwer, wesentlich schwerer als sonst. Hatte er sich in der
vergangenen Nacht so verausgabt? Eigentlich nicht. Vielleicht war es auch das
Schweigen Friedrichs, der seit gestern Nacht nicht mehr mit ihm gesprochen
hatte. Was, wenn er die Verbindung löste? Dann gäbe es für Marc auch keine
Chance mehr, Gabriel auf seine Seite zu ziehen. Sein Weg in Gabriels Herz
führte nur über den Umweg von Friedrich.
Er setzte sich matt in seinem Bett auf, streckte
sich und gähnte hinter vorgehaltener Hand. Nachdenklich glitt sein Blick durch
den Raum, das Chaos, und blieb an der alten Wanduhr hängen. Halb zwölf. Jetzt,
um diese Zeit, arbeitete Friedrich. Der Alte würde nicht vor 17 Uhr hier sein,
Zeit genug, sich etwas zu seiner Entschuldigung einfallen zu lassen.
Gleichgültig wie matt er sich fühlte, wenn er sein
Ziel erreichen wollte, musste er nun aufstehen und sich Gedanken machen.
Marc schwang die Beine vom Bett und suchte sich
einen Weg zu frischen Kleidern. Während er seine Hosen und ein Shirt aufhob,
Sachen die ganz sicher sauber waren, allerdings völlig zerknittert, viel ihm
auf, dass sein Körper immer noch von seinem eigenen Sperma klebrig war.
Das Intermezzo gestern Nacht war heiß, lustvoll und
er sehnte es sich in die Wirklichkeit. Dennoch erschien es ihm nur als schal
und fade, solange es nicht wirklich Gabriel war, der seinen Leib eroberte.
Aber diesen Gedanken schob er vorerst von sich und
zog es vor, zu duschen.
Das heiße Wasser belebte ihn. Er genoss es, sich in
der Wärme zu räkeln. Marc lehnte sich gegen die Wand und betrachtete den
Dampf, der sich in der gläsernen Kabine sammelte, ballte und aufstieg, nur um
leicht abgekühlt wieder herabzusinken.
Tropfen kondensierten an den Wänden und malten
kleine, klare, Tränenspuren, durch die sich Marcs Blick hinausverirren konnte.
Was konnte er tun, um alles Geschehene ein wenig zu
seinen Gunsten umzulenken? Vielleicht die Wohnung aufräumen? Oder Kochen?
Friedrich aß zwar auf der Arbeit manchmal, aber die Kantine war, seiner
Aussage nach, eher schlecht. Mochte er nicht gerne Suppe? Goulasch oder
Braten? Marc war sich
bewusst, dass seine Kochkünste gerade dazu ausreichten, nicht zu verhungern,
aber in diesem Fall zählte der gute Wille, und er kannte seinen Liebhaber
dahingehend genügend. Friedrich respektierte das.
Vielleicht sollte er ihm das Essen nackt servieren?
Nein, besser nicht. Das war nicht, was dem alten
Mann zusagte. Dazu hatte er wieder wesentlich zu viel Stil. Aber vielleicht
ließ er sich ja verführen und wenn er ihn so weit getrieben hatte, würde er
ihm alles verziehen haben.
Lächelnd und mit einem festen Plan, dem Vorsatz
Friedrich zum Schein wieder für sich zu gewinnen, nur um ihn dann bei
passender Gelegenheit vor Gabriel fertig zu machen, entstieg er aus der Dusche
und trocknete sich ab.
*
Lange Zeit saß Friedrich in seinem Wagen vor der
Villa, in der Gabriel lebte und sein Atelier führte. Sein Atem stieg in feinen
Dunstwolken vor seinem Gesicht auf. Er fror in der winterlichen Kälte.
Unentschlossenheit kannte er an sich nicht. Aber in diesem Moment war er sich
seiner eigenen Gedanken und Gefühle nicht mehr sicher. Nachdenklich zog er
seine Zigaretten aus der Hosentasche und führte eine davon zu seinen Lippen.
Plötzlich sah er sich überschattet von einem
Beobachter, der sich auf dem Dach seines Wagens abstützte.
Eine Braue hob sich und er öffnete die Türe.
„Wie lange weißt Du schon, dass ich hier stehe,
Gab?“ Der junge Mann
setzte sich auf die Motorhaube des alten Wagens, strich seine langen, glatten,
schwarzen Haare über die Schulter und sah starrte in den schneeverhangenen
Himmel. Friedrich
zündete seine Zigarette an und sog den ätherischen Rauch ein. Während er ihn
wieder ausstieß, schloss er die Autotüre hinter sich.
„Ich habe auf Deinen Besuch gewartet, Friedrich“,
antwortete Gabriel leise und sah ihn unvermittelt an. Der klare Blick seiner
hellen Augen beruhigte den alten Mann und bestätigte ihn darin, dass es
richtig war, an diesem Tag früher sein Archiv geschlossen zu haben und zu
Gabriel zu fahren.
Wortlos erhob sich der junge Mann und umschlang Friedrich liebevoll.
Im Gegensatz zu Marc war Gabriel fast genauso groß
wie sein älterer Freund und sehr schlank. Wenn Friedrich eine Beschreibung zu
der Bezeichnung eines perfekt schönen Menschen geben sollte, so würde er nur
einen Namen nennen wollen. Aber er wusste, dass viele Andere es nicht so
sahen. Gabriel war nicht männlich maskulin, sondern androgyn und kühl. Dennoch
strahlte er eine Stärke und eine Macht aus, die man von einem Alexander oder
Hannibal erwartete. Letztlich ließ sich dieses unterschwellige Gefühl aber
auch darauf zusammenfassen, dass der junge Mann ein unglaublich starkes
Charisma besaß, dem die meisten Menschen hilflos ausgeliefert waren und
erlagen. Sanft umfing
Friedrich seinen Freund und drückte ihn fest an sich. Er roch den Duft nach
Patchauli in dem dicken Wollstoff des Pullis und fühlte die sehnigen,
schlanken Gliedmaßen.
Eine Welle von tiefer, schmerzlicher Sehnsucht erwachte in ihm.
„Ich liebe dich so sehr“, wisperte Friedrich.
Weiche, warme Lippen berührten seine Wange und
strichen zu seinem Ohr. „Ich liebe Dich auch.“
Dann löste sich Gabriel von ihm. Der Blick seiner
hellen Augen verriet tiefe Gefühle für den alten Mann.
„Hast Du Zeit für mich?“ Friedrich sog an der
Zigarette. Wieder
inhalierte er den Rauch und stieß ihn durch die Nase aus.
„Natürlich. Kaffee habe ich bereits gekocht.“
Gabriel drehte sich von seinem Freund ab und sah
über die Schulter zu ihm zurück.
Friedrich drückte die Zigarette aus und warf sie in
einen der Hausmülleimer der Villa.
Wortlos folgte er ihm über den gekiesten Weg
zwischen Blütensträuchern und Blumenrabatten zu der geweißten Villa hinüber.
Dieses Haus stammte aus der Epoche des Klassizismus
wie alle Häuser des Viertels.
Im Erdgeschoss hielten drei Anwälte ihre Kanzlei und
im ersten Stock wohnte eine junge Familie mit drei Kindern. Friedrich kannte
Marion recht gut, die Mutter und Ehefrau. Da ihr Mann für einen
internationalen Konzern arbeitete, leider immer von einer Großstadt in die
nächste siedelte, Unternehmensgründungen initiierte und nie wirklich Zeit für
seine Familie zu haben schien, hatte der alte Mann auch nie die Chance gehabt,
ihn kennen zu lernen.
In der Dachetage wohnte und arbeitete Gabriel.
Der junge Mann war reich. Er hatte schon als Kind
seine Eltern und seinen 20 Jahre älteren Halbbruder verloren. Großer Gott,
dachte Friedrich, wie gut er Gab doch kannte!
Friedrich sah sich um. Auf
dem kleinen Parkplatz standen einige der Autos. Sein kleiner, alter,
verbeulter Wagen wirkte schäbig unter den großen Mittel- und
Oberklassefahrzeugen.
Einzig der nicht weniger alte Leichenwagen dazwischen fiel auf. Es war
Gabriels Auto und keineswegs eine reine Stilfrage, sondern viel eher mit dem
praktischen Hintergedanken, dass er zumeist, wenn er nicht innerhalb seines
Ateliers arbeitete, mit schwerer Ausrüstung reiste, sollte heißen, er nahm
Stative, verschiedene Kameras und Hochleitungsstrahler mit sich, Pappen die
aufhellten und andere, die das Licht absorbierten. Sicher war es auch ein
wenig Stilmittel des jungen Goth, aber er zog es normal wirklich vor seine
Stative nicht zusammen zu klappen, sondern in einer festen Einstellung
beizubehalten. Gabriel
schritt zur Türe und schob sie auf. Wie alles hier, in dieser Villa, war sie
sehr stilvoll aus dunklem Holz und geschliffenem, geätztem Glas.
In dem Windfang hing eine Alabasterlampe, gefasst
von schwarzem Eisen, und die Marmorköpfe der beiden Architekten sahen aus
Alkoven auf sie herab. Über schwarzen Stufen lag roter Teppich, eingefasst von
goldenem Mäandermuster.
Gemessen schritt Gabriel die Treppe hinauf. Wortlos
folgte Friedrich ihm.
Dieser junge Mann war eine ganz andere Art Mensch als Marc. Der Punk, der
Friedrich so sehr Sohn und Geliebter war, erreichte einfach nicht das Niveau,
das Gabriel hatte. Plebäer und Patrizier. Diese Einschätzung traf am ehesten.
Marc, das elternlose, primitiv gebliebene Findelkind, dessen Stolz einfach
nicht vorhanden war und Gabriel, der Sohn italienischer Adeliger, dessen Leben
von Bildung und Reichtum geprägt wurde und dessen Stolz und Anmut einfach
alles für Friedrich vorstellbare übertraf.
Der eine, wie der andere war ungreifbar und dennoch
stand ihm Gabriel wesentlich näher, weil er trotz seiner distanzierten Kühle
warm, herzlich, liebevoll und freundlich war. Wenn dieser Mann einen anderen
Menschen in sein Herz geschlossen hatte, ließ er die Person nie wieder allein.
Seine Freundschaft war anders, etwas besonderes, wie ein Kleinod.
Gabriel verharrte auf dem letzten Treppenpodest und
wartete still, bis Friedrich zu ihm aufgeschlossen hatte.
Hinter der Türe saß der weiße Kater Gabriels. Das
Tier wirkte wie ein Lichtpunkt auf dem nachtblauen Flurläufer.
Aus unergründlichen gelben Augen musterte er
Friedrich. Der alte Mann fühlte sich immer etwas unwohl unter den Blicken.
Wissen und Weisheit sprachen aus dem Tier, und obwohl es unmöglich war, schien
er einen fast menschlichen Intellekt zu besitzen.
Eigentlich war der Kater eine ganz normale rasselose
Hauskatze, aber auch ihn umgab diese Aura, dieselbe Stärke, die auch Gabriel
wie ein Duft umhüllte.
Der Name Sokrates passte perfekt zu ihm. Gabriel
allerdings nannte ihn nur Sokrates, wenn das alte Katzentier irgendetwas
angestellt hatte. „Socke“ degradierte ihn zwar auf das Niveau eines normalen
Straßenkaters, aber Gabriel zeigte dem Tier auch auf diese Art, wie sehr er
ihn liebte. Hier
hatten sich zwei starke Persönlichkeiten zusammengefunden, zwei Einzelgänger,
die nebeneinander herlebten, ohne sich gegenseitig in die Quere zu kommen, die
einander liebten, und ohne den Freund und Partner nicht existieren konnten.
Friedrich scheute den Moment, den Anruf Gabriels, die Nachricht des Todes.
Sokrates war 20 Jahre alt. Lange würde er nicht mehr überdauern.
Als der junge Mann die Wohnung betrat erhob sich
Socke und ging ihm um die Beine, rieb sein Köpfchen an der schwarzen Hose und
hinterließ viele weiße Haare. Dann löste er sich von seinem Herren und Freund
und schnürte auf weichen Pfötchen zu Friedrich, um sich an ihm zu reiben. Das
allein war mit Abstand die zärtlichste Begrüßung, die der alte Mann je
bekommen hatte. Er
liebte Katzen und musste immer wieder den Impuls unterdrücken, den Kater zu
streicheln. Socke ließ das selten zu, und wenn nur bei Gab.
Nach Sekunden löste sich der Kater auch von ihm und
schritt davon, ohne einen der beiden Männer auch nur eines weiteren Blickes zu
würdigen.
Gabriel saß Friedrich gegenüber und beobachtete
seinen Freund, der angespannt noch einmal berichtete, was gestern Nacht
passiert war. Allerdings erschien es ihm weniger wichtig die Details zu
erfahren. Ihn interessierte eher, was Friedrich darüber dachte, insbesondere
was er nun zu tun gedachte. Marc war eine Person, die seinen Freund mit
Vorsatz verletzte, und Gabriel überlegte schon seit einiger Zeit, wie er
selbst in Zukunft mit Marc verfahren wollte. Leider ähnelte der Fotograph in
vielen Punkten Friedrich. Auch er empfand tiefes Mitleid und die beständig
bohrende Sorge um den jungen Mann, dessen Perspektiven und Ziele so nichtig
und flach waren.
Gabriel senkte die Lider. Er lauschte auf die leisen Untertöne in Friedrichs
Stimme, versuchte herauszufiltern, welches Leid wirklich in der Brust seines
Freundes wütete.
Seiner Meinung nach galt eine ganz grundlegende Sorge allein der Sicherheit
Marcs. Friedrich brachte den Jungen einst aus dem Rotlichtmilieu Frankfurts
mit und pflegte ihn wie eine halb verwilderte Katze. Er fand schnell heraus,
dass Marc in ziemlicher Bedrängnis war, denn der Zuhälter des Jungen bedrängte
ihn auf das Heftigste.
Gabriel gewährte ihnen für eine Weile Unterschlupf
und half beiden die kleine, stille Wohnung in diesem kleinbürgerlichen Dorf
Birlenbach zu finden. Allerdings war dieser kleine Ort nahe Bad Ems wirklich
die Rettung. Danach wurde keiner der beiden wieder belästigt.
Irgendwann kam Marc auf die Idee, er wolle Friedrich
finanziell unterstützen und bat Gabriel mit ihm vielleicht Kunstaufnahmen zu
machen, erotische Künstlerfotos für einen Bildband. Der Goth ließ sich
angesichts des hübschen Jungen leicht überzeugen. Und die Zusammenarbeit
erwies sich als sehr erfolgreich. Gay-Magazine wollten die Fotos, einige
Verlage die homoerotische Literatur vertrieben lechzten danach und etliche
Bars kauften Poster ab. Also erhielt Marc einen Vertrag und konnte nun
hauptberuflich als Modell arbeiten.
Friedrich allerdings verletzte es sehr und mehr als
einmal stritt sich das Paar der Bilder und der exhibitionistischen Ader Marcs
wegen. Jedes Mal begründete der Punk seine Handlungsweise mit den Worten: Er
wolle Friedrich nur helfen und unterstützen. Letztlich sei er alt genug
gewesen für andere fette, alte Kerle seine Jugend zu geben und ihnen seinen
Körper anzubieten, also sei er auch jetzt alt genug, diese Bilder zu machen.
Was aus dieser Zusammenarbeit resultierte, gefiel
Gabriel allerdings auch für seine eigene Person nicht. Marc versuchte sein
Glück immer wieder und gab sich alle nur erdenkliche Mühe den Fotographen zu
verführen. Gabriels Interesse an dem Punk allerdings hielt sich sehr in
Grenzen. Er versuchte in dem Jungen weitere Interessen zu wecken, bildende
Kunst, Musik, Literatur, Sprachen, Historik. Nichts sprach Marc an. Er schien
völlig unempfindlich gegenüber jedweder Form von Bildung. Seine Welt bestand
aus sehen und gesehen werden, bzw. Unterwürfigkeit und blankem Sex.
Das, was den Fotographen mit Friedrich verband war
so viel tiefer, älter und liebevoller. Er sah seine Freundschaft immer wieder
gefährdet. Derweilen
überlegte Gabriel ohnehin, wie er die Zusammenarbeit mit Marc beenden konnte.
Er hatte andere Modelle, die nicht weniger beliebt waren. Allein die Bilder,
die er von Friedrich gemacht hatte und ausstellte, erreichten wesentlich mehr
Menschen und weckten mehr Interesse. Diese Bilder besaßen Seele und Ausdruck.
Gabriel kannte das Geheimnis dahinter. Der Blick, die Augen. Er legte immer
extremen Wert darauf Mimik und Augen hervorzuheben, Situationen zu
beschreiben. Und in dem interessanten, gereiften Gesicht Friedrichs sprach so
viel mehr Leben, Wissen und Persönlichkeit, als Marc je erreichen würde.
Probeweise hatte Gabriel auch mit seiner Liebe -
Marius - Bilder gemacht.
Nachdem er sie entwickelt und sortiert hatte, war er
überrascht und erfreut von dem Ergebnis. Marius war weit mehr als
außergewöhnlich schön und erotisch. Er besaß ein ausdrucksvolles,
faszinierendes Gesicht, dieses Funkeln in den Augen, was ihm viel verhieß,
lüstern, aber auch schalkhaft, jungenhaft. Trotz seiner Jugend sprach eine
erwachsene Reife aus seinem Gesicht, eine besondere Stärke, Stolz und
Überheblichkeit.
Marius... tief in seinem Herzen sehnte er sich nach ihm und wünschte sich
bereits die Woche, in der sein Liebster frei hatte, herbei.
Noch zwei Tage des Wartens.
Er sammelte sich wieder und konzentrierte sich auf
die Worte Friedrichs.
„Du bist in Gedanken, Gabriel.“
„Das ist richtig“, bestätigte er und nippte an
seinem unterdessen doch kalt gewordenen Kaffee.
„Ich überlege im Moment, wie ich persönlich mit Marc
weiter verfahren soll, Friedrich. Er ist vertraglich an mich gebunden und ich
letztlich an ihn. Aber er ist leicht ersetzbar und die Aufträge, für die er
Gebucht ist, sind für mich sehr schnell abgearbeitet. Danach hält mich nichts
mehr davon ab, ihm den Vertrag nicht zu verlängern. Allerdings ist da immer
noch die Sorge des danach.“ Er neigte sich etwas nach vorne und legte seinen
Unterarm über sein Knie. „Was, wenn er weiter abrutscht? Ich kann mir lebhaft
vorstellen, dass das erste, wohin er sich wendet, ein Bordell ist, ein Club,
in dem er all seine ganzen Gelüste ausleben kann.“ Gab schüttelte sich leicht
bei dem Gedanken. „Sex gegen Geld ist für mich unvorstellbar, auch wenn das
Gewerbe alt ist. Aber er fühlt sich in der Rolle des einsamen, ausgestoßenen,
des hilflos ausgelieferten Opfers sehr wohl. Dieser Gedanke bestimmt seine
Aura, sein gesamtes Wesen und Sein.“
„Ich weiß“, murmelte Friedrich. „Nur zu gut weiß ich
das. Er ist so simpel und vorhersehbar, aber auch so schwierig, weil es mir
unmöglich ist, ihn wenigstens ein wenig glücklich zu machen. Er ist verliebt -
in Dich verliebt - Gab. Du bist seine ganze Lust.“
Traurig senkte Gabriel den Kopf. „Ihn wollte ich
nie, Friedrich.“ Die
Betonung dieser Worte ließen den alten Mann aufsehen. Bedeutete dieser leise
Unteron, dass Gabriel ihn einst geliebt hatte? Aber wenn, warum hatte er es
Friedrich nie offen gezeigt?
Der Blick der jungen Augen hielt Friedrichs
gefangen. Es war der gleiche mystische Bann, den auch dieser Kater weben
konnte. Voller Faszination und Liebe betrachtete er den jungen Goth. Ein
weiteres Mal hielt ihn diese Ausstrahlung fest.
Gabriel erhob sich und schritt langsam um den
dunklen Wohnzimmertisch zu Friedrich, kniete sich neben ihn auf den Boden und
sah zu seinem Freund hinauf. Verehrung, Respekt und Liebe sprachen aus seinem
Blick. Zärtlich strich
ihm Friedrich über die Haare und das Profil. Gabriel lächelte, tastete nach
der sanften, schlanken Hand und schmiegte seine Wange hinein. Dann senkte er
die Lider und küsste liebevoll die Finger seines Freundes. Friedrich wurde
bewusst, dass er seine Chance ihn zu halten und für sich zu gewinnen gehabt
und verpasst hatte. Bis vor kurzem wäre sein Wunsch ausreichend gewesen und
Gabriel hätte ihm gehört. Nun gab es Marius in dem Leben seines Freundes und
Gab liebte den jungen Mann von ganzem Herzen. Er verfluchte sich nicht dafür.
Er bedauerte es eher zutiefst und ihm wurde auch langsam klar, was er alles
für Marc geopfert hatte, aber das alles wurde zu einer traurigen, schwachen
Erinnerung, wenn er daran dachte, Gabriels Freundschaft vielleicht dabei
verloren zu haben. Er war nicht dazu da beschmutzt zu werden. Sex war
Friedrich nicht wichtig genug als dass er dafür das, was ihn mit Gab verband
opfern würde.
„Allerdings will ich ihm all das erklären ohne ihn zu sehr zu verletzen“,
vollendete der junge Mann leise den Satz.
„Ich rede heute Abend noch einmal mit ihm.“
Friedrich lächelte. „Und Dir sei das eine gesagt, Gabriel. Du warst, bist und
wirst immer meine einzige Liebe sein. Auch wenn ich nie Deine Lippen gekostet,
nie Deinen Körper gestreichelt habe, weiß ich, dass es eine stumme Erfüllung
all meiner Träume wäre. Aber mehr als das liebe ich Deine Seele, und das, was
uns beide verbindet, ist so zerbrechlich und zart, dass Lust es zerstören
könnte. Ich bin glücklich mit dem, so wie es nun ist.“
Still lächelte Gabriel und schloss die Lider.
Wortlos schmiegte er seinen Kopf an Friedrichs Knie. Er stimmte ihm in jedem
Punkt zu. Das was sie jetzt hatten, konnte von reiner Körperlichkeit nur
zerstört werden. Und er wollte diese stille, platonische Liebe zu ihm
erhalten, genauso wie er diese flammende Liebe zu Marius vorantreiben und den
Jungen glücklich machen wollte.
Schon im Hausflur roch
Friedrich das angebrannte Fleisch und die Bratensoße.
Ihn faszinierte immer wieder der Gedanke, dass Marc
doch über sich hinaus wachsen konnte. Schon jetzt hatte er eine überdeutlich
klare Vorstellung eines vollkommen überforderten Jungen vor sich, der
hyperventilierend zwischen überkochenden Töpfen und einem Berg von sich in der
Spüle stapelnden, bereits ruinierten Pfannen und Brätern hin und her wand,
ohne das Chaos wieder unter seine Kontrolle zwingen zu können.
Er eilte die letzten Stufen hoch und schloss eilig
auf. „Marc?“
Aus der Küche polterte es. Gleichzeitig mit einem
saftigen Fluch folgte ein lautes Klirren. Friedrich machte sich lieber keine
klaren Vorstellungen davon, was gerade in Scherben gegangen war.
„Friedrich...“ Das klang kläglich, dachte der alte
Mann belustigt. „Ich
bin ja da.“ Er legte seine Jacke ab und eilte Marc zu Hilfe.
Der junge Mann kam ihm mit Schaufel und Besen
bereits entgegen und blickte zu Friedrich auf. Ein Bild des Leides, wie der
alte Mann still dachte.
Hinter Marc lagen die großen Scherben einer schweren
Auflaufform auf dem blaugrauen PVC und auf dem unterdessen abgeschalteten Herd
stand ein Topf mit Kartoffeln, die bereits etwas verkocht schienen und
inmitten übergelaufener Bratensoße fand sich ein Bräter mit Rindfleisch.
„Riecht doch alles in allem nicht schlecht.“
Friedrich lächelte. „Etwas kräftig angebraten vielleicht, aber nicht
schlecht.“ Marc sah
ihn zweifelnd an. „Du machst Dich über mein Ungeschick lustig. Gemeiner Kerl.“
„Wer sagt denn das?“ fragte ihn der alte Mann und
strich ihm mit der Hand über die Wange.
Marcs feine Nase nahm den leichten Duft Patchaulis
an Friedrichs Finger wahr. Für ihn war sofort klar, dass er bei Gab gewesen
sein musste. Er hatte ihn gestreichelt, vielleicht sogar geküsst und mit ihm
geschlafen ...! Wenn das so war ...!
Wut flammte in dem Herz des Jungen auf und er
starrte Friedrich für einige Sekunden wortlos an. Im Moment hasste er den
Alten mehr denn je. Aber wenn er Erfolg haben wollte, dann musste er sich
zusammenreißen.
Offenbar hatte Friedrich den Gemütswechsel bemerkt, denn er hob eine Braue.
„Du nimmst mich wieder mal nicht ernst, Friedrich.“
Marc war selbst überrascht, wie überzeugend er dabei klang. „Du verspottest
mich doch nur. Ich kann gar nichts, bin keine Hilfe und stehe Dir nur im Weg.
Was willst du überhaupt mit solch einem jungen Kerl wie mir? Ich bin nichts
weiter als unintelligenter Abschaum für...“
Friedrich legte ihm sanft einen Finger über die
Lippen. Wieder sog Marc den berauschenden Duft Gabriels von den Fingern des
Alten. Er hatte etwas mit seinem zukünftigen Freund gemacht! Da war sich Marc
sicher. Sein Hass wuchs nur noch weiter.
Dennoch ließ er es zu, dass Friedrich ihn an sich
zog und ihn fest hielt. Marc schlang unvermittelt beide Arme um Friedrich.
*
Im Nachhinein dachte Marc
lange darüber nach. Friedrich hatte es in dem Moment mehr als richtig gemacht,
aber die nachfolgende Szene, die Frage danach, ob es ihm gut ginge, ob er ihm
die Handgelenke verbinden solle, hatte alles wieder zerstört.
Nun lag Marc wach, in Friedrichs Bett, von ihm
abgewendet und wütend.
Aber das, was geschehen war, konnte er bei Gab gegen
Friedrich verwenden. Seine Handgelenke hatte er sich aufgerissen und sie
bluteten immer wieder leicht, wenn er nicht sehr aufpasste. Sein Anus blutete
ebenfalls. Er würde keine Probleme haben Gabriel eine Vergewaltigung glaubhaft
zu machen. Er freute
sich bereits auf den morgigen Tag. Während Friedrich in Frankfurt arbeitete,
würde er, Marc, Gabriel endlich für sich gewinnen.
Wesentlich zufriedener schlief er ein.
*
Gab arbeitete diese Nacht
durch. Geduldig stand er Stunden um Stunden in seinem Labor und bearbeitete
die Bilder, die er bereits nach einer Vorauswahl ausgesucht hatte, mit
unterschiedlichen Belichtungstechniken und Filtern nach.
Erst als der Morgen graute, verließ er das Labor und
beschloss, ein Bad zu nehmen, um etwas müder zu werden. Innerhalb der letzten
Stunden mochte er wohl 2 Kannen Kaffee getrunken haben. Nicht dass ihn das
Koffein wach hielt, aber der Gedanke daran, was er nun mit Marc machte, ließ
ihn nicht mehr los. Vor allem wusste der Junge nichts davon, dass Gabriel sich
verliebt und gebunden hatte. So, wie er den Punk und seine labile Psyche
einschätzte, würde er irgendetwas unüberlegtes tun und vielleicht Marius und
sich selbst in Gefahr bringen.
Der Duft nach frischen Brötchen und neuem Kaffee
führte Gabriel in die Küche. Gerade schloss Marius den Kühlschrank und stellte
den Belag auf dem Tisch ab. Ein spitzbübisches Grinsen stahl sich auf sein
Gesicht, als er Gabriels verwirrten Blick bemerkte.
Es hatte ein solch schönes, stolzes Gesicht. Marius
war eine Schönheit, ausdrucksstark und wild.
„Wo bleibt die Begrüßung, Gab?“ fragte er leicht
enttäuscht, als sich der Fotograph nicht rührte.
Wortlos kam Gabriel zu ihm und umschlang ihn fest.
Marius erwiderte die Umarmung. Allein diese stille Geste zeigte dem jungen
Mann, wie glücklich sein Freund war.
Behutsam strich Gab über den Nacken und den
ausrasierten Hinterkopf des Jungen. „Marius, ich habe mir so sehr gewünscht,
dass Du kommst“, wisperte Gabriel.
„Ich wollte Dich überraschen. Offenbar ist mir das
auch gut gelungen, Gab, oder?“ Glück schwang in der jungen, volltönenden
Stimme mit. Der
Fotograph nickte sanft, lehnte seine Stirn gegen die seines Freundes und
lächelte. „Ja, mein
Engel.“ „Schwarzer
Engel“, grinste Marius und deutete an sich herab.
Er trug Lederhosen und einen schwarzen Wollpulli.
Obgleich er bei seinem Job in der Bar Berufskleidung benutzte, nicht diese,
roch er nach Rauch und Alkohol.
„Willst Du mit mir baden, Marius?“ In Gabriels
Stimme schwang ein vielversprechender Unterton mit, der dem jungen Mann
scheinbar sehr gefiel. Er senkte die Lider und öffnete seine Lippen. „Küss
mich“, hauchte er. Nur
zu gerne kam Gab dieser Aufforderung nach.
*
Gegen Nachmittag erst hatte Marc sich von Birlenbach
aus auf den Weg nach Wiesbaden gemacht. Dank des wieder einsetzenden
Schneefalls zögerte sich das Tempo der Fahrt etwas hinaus. Dieser Umstand kam
Marc gerader recht. So fand er Zeit sich eine wirklich mitleiderregende
Geschichte für Gabriel zurecht zu legen.
Er musste zugeben, mit jedem Meter, den sich von
seinem Zuhause entfernte, fühlte er sich glücklicher und freier. Bald würde
ihm zu alledem auch Gab gehören. Allein dieser Gedanke beflügelte sein Herz.
Als er seinen Wagen endlich auf dem Kies-Parkplatz
abstellte, war er sich bereits sicher, seine Wünsche noch heute alle in
Erfüllung gehen zu sehen.
Er beachtete den alten R5 gar nicht, der genauso
wenig hier her passte wie sein eigenes Auto. Sicher endlich alles erreichen zu
können, ging er zur Haustüre, öffnete sie und stieg die Stufen hinauf. Gab
schloss ohnehin nie seine Türe ab, also konnte er ihn überraschen.
Eilig erklomm er das letzte Podest und wendete sich
der Türe zu, riss sie auf und erstarrte mitten in der Bewegung. Ein fremder
Mann, das Badehandtuch locker um die Hüften geschlungen und an Schläfen,
Schultern und Rücken tätowiert, trat aus dem Bad und sah fragend zur Marc.
Seine gezupften Brauen zuckten hoch. Abfällig
musterte er den Punk und verzog die Lippen.
„Was zum Teufel... wer bist Du?!“ zischte Marc.
„Das würde mich auch interessieren. Aber ich glaube,
ich weiß wer du bist. Ungepflegt, erdverbunden und mit einem saumäßigen
Farbgeschmack ausgestattet. Du bist Marc, oder?“
In seiner Stimme schwang verletzender Hohn mit.
Wut sammelte sich in den Eingeweiden des Punks. Sein
Herz raste. Er hasste diesen impertinenten Kerl schon jetzt, obwohl er ihn
nicht kannte. Was tat er hier? War er ein neues Modell von Gab?
Marc war sich seiner selbst bei Gabriel so sicher,
dass er den Gedanken, der Fotograph könne einen Freund haben, den er liebte
und mit dem er schlief, gar nicht in Betracht zog.
„Machst Du dummer Idiot vielleicht mal die
Wohnungstüre zu?!“ forderte Marius ihn auf. „Am besten von Außen.“
Im ersten Moment fiel Marc keine passende Antwort
ein. Sprachlos wie ein Fisch starrte er Marius an, die Lippen halb geöffnet
und bleich vor Zorn.
Der Goth zog ärgerlich die Brauen zusammen. Dann zuckte er mit den Schultern
und trat in das Schlafzimmer Gabriels.
Weder Marc noch irgendein anderer hatten bislang die
Erlaubnis erhalten, diesen Raum zu betreten. Das war verbotene Zone, und
niemand wagte es dieses stumme Gesetz zu brechen.
Dieser Kerl mit dem Undercut allerdings betrat das
Zimmer. War der noch ganz klar? überlegte Marc. Allerdings keimte in ihm eine
Böse Idee auf. Er würde heute viele schlechte Nachrichten für Gab haben.
Dennoch folgte er Marius und blieb unter der Türe
stehen. Sein Herz setzte für einige Sekunden aus. Eine Reisetasche stand vor
dem Bett und auf dem Boden lagen fremde Kleider. Die seidenen Laken des Bettes
waren zerwühlt und der gesamte Raum roch deutlich nach Sex.
„Was zu...“ Marc verstummte, als ihm endlich klar
wurde, dass dieser junge Mann Gabriels Geliebter war.
Wieder brannte dieser sengende Ball der Wut, der
nach und nach zu abgrundtiefem Hass wurde, in ihm und schnürte ihm die Luft
zum Atmen ab. Seine Mimik verzerrte sich zu einer Grimasse.
„Vorsicht, sonst bleibt deine Miene so und Du wirst
noch hässlicher, als Du bereits bist“, spottete Marius. Seine Stimme klang
kalt und überlegt. Er kannte Marc nur aus den Erzählungen von Gabriel und
Friedrich. Allein das bewog ihn, den Punk nicht zu mögen. Allerdings hatte ihn
niemand auf die Wirklichkeit vorbereitet. So, direkt vis à vis war er noch
wesentlich abstoßender. Ihn umgab eine Aura von Neid und Missgunst. Er war
einfach nur abstoßend.
„Raus hier, Du Vogel!“ zischte Marius und wollte die
Türe zuschlagen.
Geistesgegenwärtig stellte Marc den Fuß dazwischen. Dennoch zuckte er vor der
Türe zurück. Dann allerdings trat er dann in den Raum.
„Raus aus unserem Schlafzimmer!“ befahl Marius
wütend. „Du weißt, dass Gab das nicht mag.“
„Du Arsch hast mir gar nichts zu sagen!“ schrie Marc
ihn mit überschnappender Stimme an.
Kalte, graue Augen musterten den Punk. „Wer bist Du
Winzling, dass Du glaubst so mit mir reden zu können?“ fragte er. In seiner
Stimme schwang eine böse Drohung mit.
Er musste sein Timbre und die Lautstärke nicht
verändern, um Marc in seine Schranken zu weisen.
Der Punk sah ihn aus glasigen Augen an. Marius
wendete sich von ihm ab, ließ sein Handtuch fallen und präsentierte ihm den
Anblick seines muskulösen Körpers mit dem wunderschönen Tatoo, dass ein
Gemälde Gabriels darstellte; ein aus dem Himmel stürzender Engel.
Langsam und ruhig kleidete sich der Goth an und
drehte sich dann um.
„Genug gesehen, Du lüsterner alter Sack?“
Marc registrierte erst jetzt, dass sich sein Körper
verselbstständigte. Obgleich dieser Mann definitiv jünger war als er selbst,
hatte er etwas unglaublich herrisch Dominantes in seiner Art. Sofort fühlte
der Punk sich von ihm angezogen und angemacht. Es musste richtig gut sein,
sich von ihm... Der
Blick Marius’ richtete sich auf Marcs Schoß. „Was geht in Deinem Flachschädel
nur vor sich“, zischte er böse. „Denkst Du eigentlich auch mit etwas anderem
als mit Deinem Schwanz?“
Er trat auf Marc zu und riss ihn am Arm nach
draußen. Leise seufzte
er. Keine Sekunde hatte er einen Blick an die Schönheit des Raumes
verschwendet. Auch wenn er sich sonst so oft gewünscht hatte, hier hinein zu
kommen, sich das Verbotene anzusehen, hatte er es nicht getan. Sein ganzer
Körper schrie derzeit danach Sex zu bekommen am besten gleich von dem jungen
Mann und Gabriel. Aber
das ließ Marius nicht zu. Unsanft zerrte er ihn in die Küche und drückte ihn
auf einen der Stühle.
Socke saß auf der Anrichte und beobachtete interessiert das Treiben aus seinen
wissenden Bernsteinaugen. Er misstraute Marc und ging ihm aus dem Weg,
allerdings mochte er Marius und hatte ihn stillschweigend als 2. Herren im
Haus akzeptiert. Er vertraute dem jungen Goth die Sicherheit dieser Wohnung
gerne an. Gemächlich
erhob sich das alte Tier, balancierte elegant um die Spüle herum, legte das
Köpfchen schräg und leckte einen Wassertropfen vom Hahn. Seine Ohren zuckten
lediglich leicht. „Wo
ist Gabriel, ich muss mit ihm reden, “ brachte Marc hervor. „Und wer verdammt
bist Du?“ Leider klag
seine Stimme noch schwächer als sonst und fast paralysiert.
Marius ignorierte den Teil der Frage, der nicht ihn
persönlich betraf. „Ich bin sein neues Modell.“ Über seine Züge huschte ein
böses Lächeln. „Außerdem bin ich sein Geliebter.“
Marc hatte das Gefühl endgültig den Boden unter den
Füßen zu verlieren. „Unmöglich!“
Marius trat einen Schritt von ihm weg, drehte sich
um und öffnete den Küchenschrank.
„Willst Du einen Kaffee oder etwas stärkeres?“
fragte Marius unbeeindruckt.
„Gabriel liebt mich. In der einen Woche, die ich
hier war haben wir es täglich miteinander gemacht, während der Aufnahmen. Und
er ist gut, unglaublich wie er einen ausfüllen kann.“ In die Stimme des Punks
schlich sich ein Unterton verletzender Boshaftigkeit und Zorn. Er war sich
sicher, der Schuss ins Blaue hatte geholfen.
Marius nahm ganz automatisch ein Schnapsglas aus dem
Schrank, stellte es vor Marc ab und ging hinüber zu dem Gefrierfach. Wortlos
holte er den Wodka heraus und stellte die Flasche vor Marc auf den Tisch.
„Bedien’ Dich.“ Er
selbst stellte seine Tasse unter den Kaffee-Automaten und drückte die
Start-Taste. Eine
Dampfwolke stieg auf und mit Hochdruck wurde das Wasser durch den
Kaffee-Filter getrieben. Solche Profi-Maschinen wie diese hier nutzte Marius
auch in der Bar. Nur trank dort fast niemand Kaffee, außer den Mitarbeitern.
Er mochte den cremigen Schaum und den starken, herben Duft. Wenn Marius neben
seiner Zigarettensucht ein zweites Laster aufzählen sollte, so war es dieses
Getränk, vor allem anderen.
„Ihr habt also die ganze Zeit miteinander...“ er
deutete mit seinem Becken eine entsprechend harte stoßende Bewegung an. „Klar
doch.“ Der Hohn troff richtig gehend von Marius Lippen. Sein Blick strich
spöttisch über die Gestalt des Jungen. „Gab hat mich und ich powere ihn
genügend aus. Eine Gummipuppe hat er nicht notwendig, Marc. Bevor er Dich
vögelt, würde er eher seine Hand benutzen.“
Ein weiteres Mal schnappte Marc nur wieder nach Luft
und konnte nichts erwidern. Nun wurde ihm auch klar, dass er nicht einmal den
Namen seines Hassgegners kannte.
„Wir werden ja sehen, was passiert, wenn er kommt.
Er kennt mich seit 7 Jahren und er wird mich sicher hier bei sich aufnehmen.
Du, Dich komische Gestalt, Du bist doch nur zu seiner Befriedigung gut.“
„Wenn Du meinst.“ Marius nahm sich seine Tasse und
nippte an dem Kaffee.
„Du...“ Marc schnappte nach Luft.
„Marius ist mein Name, nicht DU, Du Idiot!“ zischte
ihn Marius wieder an.
Offenbar zog seine momentane Taktik bei dem jungen Goth nicht. Marc musste
anders vorgehen. Er senkte die Lider. „Hör mal, ich muss wirklich mit ihm
reden. Ich bin von zu Hause abgehauen. Friedrich war gestern total wütend auf
mich und hat mich...“ er brach ab, setzte eine leidvoll gequälte Miene auf.
Dann zog er die Ärmel seiner Lederjacke hoch und präsentierte ihm die
Handgelenke, die er sorgsam eingebunden hatte. „Er hat mir die Arme über dem
Kopf zusammengebunden und mich vergewaltigt...“
Socke sprang von der Anrichte herab und verschwand
aus dem Sichtfeld Marcs. Marius folgte dem Tier mit den Augen. Auch wenn er
Friedrich bisher nur ein einziges Mal gesehen hatte, konnte er die Art, das
ganze Wesen des alten Mannes recht gut einschätzen.
Er war Barkeeper und hatte es täglich mit mehr als
hundert Kerlen zu tun, und jeder war ein Original, ein Einzelstück, was er
nach und nach gelernt hatte einzuschätzen. Trotz seiner 21 Jahre besaß Marius
ein besonderes Gefühl für die Persönlichkeit eines Menschen. Er erkannte sie
zumeist schon sehr klar nach den ersten Minuten.
Friedrich... von ihm wusste Marius viel. Gabriel
hatte ihm von seinem bibliophil veranlagten Freund bereits zuvor sehr oft
erzählt, und in der flammenden und liebevollen Art, in der er von ihm redete,
erhielt Marius den Eindruck tiefen Vertrauens der beiden Männer zueinander und
wesentlich mehr als einfacher Freundschaft. In Friedrich sah er einen Freund,
aber auch eine sehr starke Konkurrenz in der Liebe Gabriels.
Der alte Mann hatte das Wissen von mehr als 50
Jahren und war gebildet, hatte viel in seinem Leben gemacht, war mehrfach
studiert und Marius, gleich mit wie vielen gebildeten Leuten er es zu tun
hatte, konnte ihm und Gabriel oft bei den Gesprächen kaum folgen. Beide Männer
hatten einen Level erreicht, der sie ebenbürtig machte, und einige Male
bereits kam sich Marius durchaus dumm dabei vor. Leider, so musste er im
Beisein der beiden Männer zugeben, war er nicht klüger als Marc. Allerdings
hatte er sich seinerseits angefangen aus den Gesprächen mit Friedrich und
zwischen Friedrich und Gab, seine eigene Art kleinen Lexikons in seinem Kopf
anzulegen, dem er bei jedem Treffen Neues hinzufügen wollte. Eines unterschied
Marius von Marc. Der Goth war ungebildet, aber Willens zu lernen, schon um für
Gabriel mehr zu sein, als ein Bettgefährte. Marc allerdings bewies
offensichtlich eine unsägliche Resistenz gegenüber jeder Bildung.
Außerdem hatte Gabriel in Marius die Sehnsucht nach
Kunst nachhaltiger denn je geweckt. Neben seinen beiden Barkeeper-Jobs war der
junge Mann auch Sänger und Bandleader einer Goth-Band, und sein Kunstempfinden
war sehr definiert in Punkto Musik. Er klassifizierte alles, ganz automatisch
nach Niveau und Inhalten.
Jetzt, hier, in dieser Sekunde konnte er Marc nur
bedauern, denn der Punk hatte nichts. Ein hübsches Gesicht, einen netten
Körper und die Bauernschläue, die ihm einen Fallstrick nach dem anderen legte.
Friedrich und ihn vergewaltigen? Das wäre das
allerletzte was der alte Mann tun würde. Er war vielleicht sexuell
unausgelastet, aber das lag in dem Fall eher daran, dass er nicht das bekam,
was er brauchte, einen Partner, der nicht nur an Horizontalsport dachte.
Gabriel trat lautlos in die Küche, gefolgt von
seinem Kater. Socke hatte ihn vor den anderen beiden wahrgenommen. Nun
erfüllte allerdings auch der Duft der heißen Pizza die Küche.
Marius lächelte ihn lieb an. Marc fuhr herum, sprang
so heftig auf, dass sein Stuhl nach hinten kippte und umklammerte Gab.
Vorsichtig hob der Fotograph die Pizzen über Marc hinweg und reichte sie an
Marius weiter. Der Blick seines Liebsten drückte all seine Verzweiflung und
Wut über Marc aus. Dann sah Gab an sich herab und hob eine Braue. Er mochte es
nicht von Marc so familiär berührt zu werden. Dennoch legte er einen Arm um
ihn und seine Hand behutsam auf den Hinterkopf des Jungen.
„Was ist denn passiert?“ fragte er leise. In seiner
Stimme schwang keine Sekunde Gefühl mit.
Marc fühlte sich nun am Ziel seiner Träume. Er sog
den Duft Gabriels ein und genoss die Umarmung wie einen Kuss. Er schmiegte
sich eng an ihn und genoss das Gefühl der engen Lackhose und des Latexhemdes,
die Gab trug. Sollte Marius doch eifersüchtig werden. Es war ihm egal.
„Ich gehe mal telefonieren“, verabschiedete sich
Marius und verließ die Küche.
„Was ist mit Dir?“ fragte
Gabriel leise und sah nun zu Marc. „Du siehst ziemlich verzweifelt aus.“
Der Punk vergrub sein Gesicht an der Brust des
Fotographen und wisperte leise: „Er hat es mit mir gemacht, gegen meinen
Willen. Seid das vorgestern Nacht passiert ist, hasst er mich. Er hat mich
Vergewaltigt...“
„Warte, warte“, murmelte Gab und schob ihn auf Armeslänge von sich. Er
musterte Marc. Ihm war nur zu gut bewusst, dass der Junge log. Hätte Marc zu
ihm nach oben gesehen, wäre ihm klar geworden, dass Gabriels Blick weder warm
noch freundlich war, sondern schlicht kalt und abwägend. Er nahm den Jungen
nicht ernst, aber er verspürte tiefen Zorn in sich.
„Von wem redest Du, Marc?“
„Friedrich“, antwortete der junge Punk weinerlich
und krallte gleichzeitig seine Finger so in Gabs Hemd, dass der Fotograph
einen exakten Blick auf die verbundenen Handgelenke erhaschen konnte.
„Friedrich“, echote Gab leise.
Aus seiner Stimme ließ sich unmöglich herauszuhören,
ob er ihm glaubte oder nicht, bzw. ob es Schrecken oder Zweifel war.
„Ja, er hat mich, nachdem er heim kam, in der Küche
vergewaltigt.“ Marc lehnte seinen Kopf wieder gegen Gabs Brust und atmete
diesen schweren, herben, ungewöhnlichen Duft nach Patchauli ein, inhalierte
ihn zusammen mit dem Aroma seiner Haut.
Es berauschte Marc. „Ich hatte gekocht“, murmelte er
mit schwerer Zunge und schmiegte sich an ihn. „Leider ist alles schief
gegangen. Und er war wütend... Er schrie mich an.“
Gabs Brauen zogen sich leicht zusammen. Als
Friedrich ihn gestern verlassen hatte, erschien er dem Goth glücklicher und
fühlte sich besser und entspannter als zuvor. Das lag vermutlich auch daran,
dass sie sich über das Problem mit Marc unterhalten und zu einem Konsens
gekommen waren.
Friedrich wollte sich auf ihn einlassen, sich ihm mehr öffnen und versuchen
weniger kritisch und philosophisch zu erscheinen. Aber offenbar wusste Marc
diesen Schritt auf ihn zu nicht zu würdigen.
„Was hat er getan?“ fragte Gab leise.
Offenbar hatte Marc nur darauf gewartet ihm seine
Geschichte zu erzählen. „Er zerrte mich zum Tisch hinüber und fesselte mich,
zeriss mein Hemd und meine Hose. Dann kam er ohne Vorspiel zu mir, so hart und
brutal, dass mein Loch völlig blutig und aufgerissen ist. Sieh Dir doch allein
meine Hände an!“ er hielt sie Gabriel hin.
Gab nickte nur und schob ihn von sich. „Setz’ Dich
hin und trink’ etwas. Vielleicht beruhigst Du Dich dann wieder.“
Marc nickte und ließ sich wieder auf dem Stuhl, den
Gab ihm aufrichtete, nieder. „Ich bin von zu Hause abgehauen. Kann ich bei Dir
bleiben?“ Gabriel sah
nicht zu ihm, sondern füllte sein Glas erneut nach. „Trink’ erst mal und iss.
Nach hause schicken werde ich Dich kaum. Aber ich will Dir auch hier kein
Zimmer bieten, denn Marius ist bei mir.“
Marc setzte das Wodkaglas an die Lippen und
verschluckte sich sofort bei dem Kommentar. „Was ...?“ keuchte er und hustete.
Gab klopfte ihm leidenschaftslos auf den Rücken. Er wartete, bis sich Marc
wieder gefangen hatte. Dennoch unterbrach leises Husten immer wieder seine
Worte. „Ich dachte wir
wären Freunde... den... kennst Du doch noch gar nicht. Der ist vielleicht
hübsch, aber nur zum ficken gut...“
Die Augen des Fotographen verengten sich zu
Schlitzen. Normaler Weise besaß Gabriel eine sehr ausgeprägte
Selbstbeherrschung. Aber bei diesen Worten erwachte seine heißblütige,
italienische Natur. Seine Hände ballten sich zu Fäusten und er musste sich
dazu zwingen nicht auszuholen und zuzuschlagen. Marius liebte er von ganzem
Herzen und Friedrich war seine stille, asexuelle Liebe. Er konnte es kaum
ertragen, dass dieser Kretin, dieser kleine Emporkömmling, die beiden Männer,
die ihm näher als seine eigene Familie standen, so beleidigte.
„In Deinem Interesse bitte ich Dich zu Schweigen.“
In seine Stimme hatte sich ein schneidender, eisiger Unterton eingeschlichen.
Ich dulde es nicht, dass Du von den beiden Menschen, die ich liebe, so
redest.“ Marc prallte
zurück. Allein diese seelenlose Kälte erschreckte ihn zutiefst. Aber er spürte
auch wieder diese gewaltige Aura, die Gabriel umgab. „A... aber Gab... ich
dachte Du wärest mein Freund, würdest mich lieben.“ Panik schwang in seinen
Worten mit. Still hob
der Goth eine Braue und schwieg.
Marius kam die Galle hoch,
wenn er nur an Marcs Lügen dachte. Das, was er an Sympathie für Friedrich
empfand, hegte er an Abneigung für Marc. Es war ihm unverständlich, dass ein
so intelligenter Mann ausgerechnet an einem billigen, kleinen Stricher hängen
blieb. Er kannte zwar die ganze Geschichte der Beiden, wie Friedrich Marc aus
dem Straßenstrich-Milieu herausgeholt hatte, sich um ihn kümmerte und ihm
half, wieder Fuß zu fassen, aber er hätte sich von dem Kerl nie verführen
lassen, im Gegensatz zu Friedrich.
Aber dass dieser kleine Penner ausgerechnet
Friedrich, der nun wirklich eine Seele von Mensch war, so in den Rücken fiel?!
Er ließ sich im Wohnzimmer nieder und zog sein Handy aus der Tasche.
Neben ihm lag eines seiner vier Frettchen, die er
mit zu Gab genommen hatte und schlief. Das zweite hatte es sich inmitten der
auseinandergerupften Zeitschriften gemütlich gemacht und spielte versonnen mit
einem Papierschnipsel. Die anderen beiden, jungen Tiere rannten herum, bissen
sich, balgten und ruinierten Gabriels schöne, weiße Möbel und den
Ebenholzboden. Der
Goth empfand Marc als eine massive Störung. Eigentlich wollte er Gab bitten,
dass er bei ihm bleiben und mit ihm zusammen leben konnte. Einerseits weil er
es ohnehin wollte, so verliebt wie er in den Fotographen war, andererseits
aber auch, weil er einen massiven Wasserrohrbruch in seiner Wohnung hatte und
sich einfach um seiner vier kleinen Pelztierchen sorgte. Bisher konnte er ihn
deshalb noch nicht einmal fragen.
Uriel, das Frettchen, was neben ihm auf dem Sofa lag
und schlief, war das älteste Tier. Er genoss es einfach viel zu ruhen und gut
zu essen, viel Zuwendung zu bekommen und mit seinem Bruder Gabriel zu
schmusen. Damals, als
Marius seine ersten beiden Tiere gekauft hatte, waren sie für ihn seine ganze
Welt. Im Gegensatz zu den beiden jüngeren Tieren Rafael und Michael hatte er
mit ihnen viel Zeit verbracht und sie dressiert.
Die Namen der vier Erzengel erschienen ihm heute
natürlich eher als negativ, zumal Gabriel, der Mensch, wie das Tier, beide auf
den Ruf hörten. Mit
einer Hand hob er seinen kleinen Uriel auf seinen Schoß. Das kleine Tier hob
ein Lid und blinzelte ihn an. Er mochte es bei Marius zu liegen. Einige
Sekunden später spürte der junge Mann das kratzen kleiner Krallen an seiner
Hose. Gabriel wollte ebenfalls hochgenommen werden. Er hob ihn auf das Sofa
und kraulte ihn, während er mit der anderen, freien Hand die Nummer Friedrichs
eintippte. Vermutlich
störte er ihn nun bei der Arbeit, aber er wollte ihm einfach die Enttäuschung
und Ungewissheit ersparen, die auf ihn wartete, wenn er in seine vereinsamte
Wohnung kam und Marc nicht vorfand.
Er hob das kleine Gerät an sein Ohr. Einige Male
erklang das Freizeichen. Dann hob Friedrich ab. „Marius? Was ist denn los?“
fragte er verwirrt.
„Entschuldige, wenn ich Dich bei Deiner Arbeit störe...“ sagte Marius
unsicher. „Ach Unsinn,
das Archiv kann gerne auf mich warten, mein Freund.“ Sein raues, freundliches
Lachen klang ungetrübt. Er konnte nichts von der Teufelei Marcs wissen.
Marius beschloss, ihn davon in Kenntnis zu setzen.
*
Als Friedrich aufgelegt
hatte, schloss Marius die Augen. Der alte Mann tat ihm von Herzen leid. Keiner
der beiden wusste, was nun noch passieren würde. Aber Marcs Liebhaber war auf
dem Weg hierher. Entweder würde es eine Aussprache und eine Trennung geben,
oder in einer Katastrophe enden. Marius schloss die Augen und ließ den Kopf in
den Nacken fallen. Seine Lider senkten sich leicht und vor seinem Inneren
Augen beschwor er Bilder eines sehr unangenehmen Tages herauf. Er wollte doch
nichts weiter als eine schöne Weihnachtswoche mit Gabriel verbringen, und nun
das. Verzweifelt
seufzte er und grub in seinen Taschen nach einem Päckchen Zigaretten. Rauchen,
das beruhigte immer seine angespannten Nerven.
Er zog es hervor und betrachtete die zerknitterte
Packung. So sehr er sich jetzt eine einzige Zigarette wünschte, so wenig
wollte er Gabriel länger mit diesem Punk allein lassen. Der Kerl war zu allem
in der Lage, wenn er gereizt wurde.
Behutsam setzte er seine alten Tiere zusammen und
erhob sich. Uriel und sein Bruder beobachteten Marius verschlafen, nahmen es
aber hin. Zärtlich kraulte der junge Goth seine beiden Tiere und streckte sich
dann. „Auf in den
Kampf, “ murmelte er.
*
Marc saß weinend am Tisch, den Kopf auf den Armen
und Gabriel lehnte stumm an der Wand, beobachtete ihn, die Hände in seinen
Hosentaschen vergraben und den Kopf gesenkt. Seine langen Haare fielen ihm in
das Gesicht, verbargen seine blauen Augen wie ein Schleier. Für Marius schien
es kaum möglich zu sein, die Gedanken seines Liebsten zu erkennen. So kalt und
reglos hatte er ihn allerdings auch noch nie erlebt. Gabriel war stolz und
unnahbar; selbst auf ihn wirkte der Fotograph so. Nach ihrem ersten Treffen
vor einem Monat hatte Marius ihn zornig, enttäuscht und verletzt verlassen.
Sie kannten sich von Gabriels Künstler- und Fetisch-Homepage bereits seit mehr
als einem Jahr und über das Internet hatten sie sich nicht nur sehr gut
angefreundet, sondern aus den Posts und Mails sprach Gabriels Wortwahl nach
sehr viel Zuneigung und Liebe. Der sensible Künstler traf mit jedem
Schriftwechsel immer wieder bei Marius den Nerv und erreichte sehr schnell
sein Herz. Oft schon
wollten sie sich treffen, aber in vielen Fällen kamen einem der beiden Männer
ihre Berufe in die Quere. An diesem Tag vor einem Monat gelang es endlich.
Außerhalb der Neugier Marius’ für Gabriels wirkliche
Natur und sein mysteriöses Äußeres, von dem er gar keine klare Vorstellung
hatte, machte sich der junge Musiker und Barkeeper Hoffnungen auf eine heiße
Nacht. Von seinem
Aussehen und seinem Charisma beeindruckt wollte Marius mehr denn je Gab
erobern, und es kam auch zu einigen sehr erotischen Szenen zwischen Beiden,
aber der Fotograph blieb hart und ging auf nichts ein, gleichgültig, wie sehr
Marius ihn zu bezirzen versuchte.
Frustriert und wütend verließ er Gabriel. Allerdings
gingen ihm die Worte nicht mehr aus dem Kopf. „Sexualität ist für mich kein
Spie. Ich schlafe erst dann mit Dir, wenn Du Dir in Deinen Gefühlen für mich
sicher bist.“ Lange
Zeit haderte er mit sich und der Welt, allerdings konnte er Gabriel nicht
ignorieren, besonders nicht, als er in der Schwulenbar erschien, in der Marius
arbeitete. Gabs Anwesenheit zog das Interesse aller auf sich, und Marius war
der Meinung, dass es nicht an seinem Aussehen lag, sondern an dieser kühlen,
distanzierten Aura, die Wissen und Weisheit vermittelte, und an seinem
eleganten Stil. In
dieser Nacht entschied Marius, dass es sinnlos war, ihn für etwas überzeugen
zu wollen, was er sicher nicht tun würde. Gabriel hatte ihn mit nach Wiesbaden
genommen und sie redeten Stunden um Stunden. Es war wie eine Aussprache, eine
Diskussion, ein Kampf, dessen Preis Gabriel war, seine Liebe. Die Wahl der
Waffen war das geschliffen scharfe Wort. Wenn er sich bis dahin nicht sicher
war, ob er den schönen Italiener wirklich liebte, so verfiel er ihm in dieser
Nacht mit Haut und Haaren. Gabriel bestimmte von dem Moment an Marius Denken
und nach wenigen Tagen konnte der Junge seine Gefühle nur zu genau definieren.
Nie zuvor hatte er geliebt, nie vorher hielt eine Beziehung länger als eine
Nacht, aber dieser Mann hatte ihn, Marius, ganz für sich vereinnahmt und würde
ihn nie mehr wieder loslassen. Er liebte und verehrte ihn auf eine Weise, wie
er es nie zuvor bei einem anderen Menschen getan hatte. Gabriel war auf einem
völlig anderen Level als der junge Musiker, aber der Fotograph weckte bei ihm
den Wunsch seine Grenzen neu zu definieren.
Seither hatte sich sein Leben grundlegend verändert,
aber auch verbessert. Er fühlte sich zum ersten Mal glücklich und sicher,
geborgen... Und dann
kam dieser Punk an.
„Alles okay bei Dir Gab?“ fragte er leise und teilte mit beiden Händen den
Haarmantel, um behutsam die Wangen und den Hals seines Liebsten zu streicheln.
Gabriel sah ihn still an, aber die Kälte schmolz wie Eis in der Sonne aus
seinen Blicken. Was zurück blieb war die reine Liebe zu Marius.
„Ich bin nichts wert für Dich, Gabriel, aber Du bist
auch kein Waisenkind, Du hast nie auf der Straße gelebt und dich nie
verkauft...“ lachhaft jämmerlich und dünn klang die Stimme Marcs.
Marius fuhr herum und starrte den Punk an. In seinen
Augen brannte blanke Wut.
„Halt den Mund, Du Kakerlake!“ zischte er.
Die einzige Reaktion Marcs war es zusammenzufahren
und leise zu schluchzen.
„Waschlappen“, murmelte Marius verärgert.
„Du kannst das doch gar nicht beurteilen!“ schrie
der Punk hysterisch. Ein weiteres Mal schnappte seine Stimme über. Gabriel
verzog nur leicht die Lippen. Sein Schädel schmerzte leicht von der ständigen
Streiterei und der unangenehm grellen Tonlage Marcs.
Schweigend wendete sich Marius der bereits
erkalteten Pizza auf dem Tisch zu. Ihn störte es nicht, wenn sein Essen nicht
mehr heiß war. Allerdings vergällte ihm Marc nicht nur das gemütliche Diner
mit Gab, sondern den ganzen Tag. Im Moment wünschte sich der junge Goth nichts
sehnlicher, als die Fähigkeit, Marc in eine Stubenfliege zu verwandeln und ihn
genüsslich mit der nächstbesten Flasche „Mückentot“ zur Strecke zu bringen.
„Wenn Du Idiot unbedingt bei gedecktem Tisch
verhungern willst, dann tu’ Dir keinen Zwang an. Allerdings, wenn Du nur zu
Essen gewillt bist, wenn man Dich gebührend bedauert, sorry, da kannst Du
warten, bis Du schwarz wirst. Den Gefallen tue ich Dir nicht. Außerdem wären
das ganz genauso falsche Krokodilstränen wie Deine eigenen und diese
Verlogenheit bringe ich beim Besten Willen nicht auf.“
Er nahm sich ein großes Stück Pizza und biss hinein.
Der Italiener musste richtig gut sein, denn man konnte die Marinara selbst
jetzt noch essen. Er
fühlte sich gut dabei, und nicht nur des guten Essens wegen. Langsam fruchtete
die ständige Nähe zu Gab. Er lernte immer besser seine Sprache als Waffe zu
nutzen. Marc hatte er
nun doch schon mehr als einmal massiv in die Ecke drängen können und mehrfach
ausgehebelt. Bis vor kurzem konnte er das noch nicht.
„Bei der Gelegenheit, Du bist nicht der Einzige, der
in miserablen Verhältnissen groß wurde, ebenso wenig bist Du das einzige
Waisenkind.“ Gab
seufzte leise und setzte sich hin. „Bitte, hört einfach beide auf zu
streiten“, bat er sehr leise.
Sein Schädel schmerzte immer stärker. Er konnte und
wollte diesen Streit nicht länger mit anhören.
„Alles okay bei Dir?“ fragte Marius besorgt. Gabriel
erschien ihm um einige Nuancen blasser als vorher.
„Ja, Liebster“, flüsterte Gab und lächelte. Noch
immer hing sein Haar in seinem Gesicht. Doch schließlich strich er die
Strähnen zurück und straffte sich. „Mir geht es gut. Nur empfinde ich diese
Art von Streit als sehr ineffektiv. Marc hat schlimmes erlebt, fühlt sich aber
in seiner verdammten Opferrolle so wohl, dass er die ignoriert Menschen, denen
es nicht besser geht.“ Gabriels Wut schimmerte immer noch durch seinen Blick.
So gemäßigt und gefasst seine Mimik auch war, innerlich kochte er vor Zorn.
Der Punk hatte den Kopf gehoben und sah aus roten Augen zu Gab. Er weinte
tatsächlich, schon weil er sich von dem Mann, den er zu Lieben glaubte,
verraten fühlte.
„Opfer?“ wisperte er. Seine Stimme klang bitter. „Du weißt doch gar nicht, was
es herisst das Opfer zu sein, Gabriel.“
Der Blick, mit dem ihn der Fotograph maß, lag
zwischen Zorn und Bedauern.
„Bist Du Dir dessen so sicher?“ fragte er leise.
Marius ließ sich mit kalter Pizza und kaltem Kaffee
neben Gabriel auf die Bank sinken. Er war neugierig, wie Gabriel Opfer
definierte, denn der junge Goth hatte eine sehr klare Vorstellung davon das
Opfer eines gewalttätigen Menschen zu sein. Er mehr vielleicht als Marc.
„Wenn ich mir ansehe, was Du mit Friedrich machst,
wie Du ihn belügst und hintergehst, ihn zum Narren hältst und ihn ausnutzt, so
bin ich mir sehr sicher, dass nicht Du das Opfer bist, sondern er.“
„Das ist gar nicht wahr!“ donnerte Marc. Fürwahr, so
hatte er sich den glücklichsten Tag seines Lebens wirklich nicht vorstellt.
Dieser Marius hatte Gabriels Seele vollkommen vergiftet mit seinen Lügen...
„Friedrich nahm alles auf sich, sogar Frankfurt hat
er für Dich verlassen. Er war derjenige, der Dich Deinem Zuhälter abkaufte, um
Dir ein freies Leben zu ermöglichen, und Du dankst es ihm, indem Du ihn
hintergehst und ihn hier, vor mir verleumdest?“ Gabs Stimme hatte einen
schneidenden Unterton bekommen. „Er war Dir Freund und Vater, kaufte Dir
alles, was Du wolltest, lehrte dich alles, was Du brauchtest. Und dann das.“
Zornig schüttelte Gabriel sich. „Du erwartest von mir Schutz und Liebe?“
Marc zuckte unter jedem seiner Worte zusammen als
bekäme er Peitschenhiebe.
Seine Seele schrie vor Schmerz. Friedrich und Marius
hatten Gabriel vergiftet mit ihren Lügen. Er begann zu weinen, bitterlich zu
weinen, als würden all seine Tränen dieses vermeintliche Gift von seinem
geliebten Gabriel waschen und ihn reinigen.
„Nicht einmal Freundschaft, die einfachste
Sympathie, könnte ich Dir nun noch zollen.“
Wütend stand Gab auf und trat auf Marc zu.
„Friedrich ist mein Freund. Er war auch mein Retter, der Engel, der mich
befreit und mir ein Zuhause gegeben hatte. Vom ersten Moment an wusste ich,
dass dieser Mann mein Freund war. Egal, was ich tat, er stand hinter mir und
stützte mich, hielt zu mir, tröstete mich, wenn ich Angst hatte oder alles
über mir zusammenzubrechen drohte. Und ich habe mir geschworen ihm immer das
zu sein, was er mir war. Auf meine Art bin ich ihm in meiner Liebe immer treu
gewesen. Du aber hast versucht, seine Gelüste zu stillen, die er nicht hatte,
hast nicht bemerkt, dass er keinen Geliebten wollte, sondern einen Sohn, sahst
nicht, was er für Dich tat.“
Marc starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an.
„Du hast ihn nie verstanden, und Dir auch keine Mühe
gemacht, herauszufinden, wer er ist, was er ist, und warum er das alles für
Dich macht. Du siehst es einfach als gegeben an und nimmst nur.“
Marc sprang auf und hob seine Faust. Gabriel
beleidigte seine letztes bisschen Stolz.
„Das ist nicht wahr. Ich wollte Geld dazu verdienen,
wollte ihm etwas dafür geben, dass er mein Freund war...“
„Schweig!“ donnerte Gabriel ihn an. „Geld verdienen,
klar, aber nur, um an mich heranzukommen. Verdammt, sei ehrlich, Marc. In
Deinem Leben gibt es nur eine Sache, die Dich antreibt, und das ist Sex. Du
bist unersättlich darin. Deine gesamte Welt dreht sich darum, dass Du
unbefriedigt bist.“
„Wärest Du eine Frau, würde ich Dich als nymphoman abstempeln,“ bemerkte
Marius trocken.
Gabriel schauderte leicht und sah an Marc vorbei in den Flur.
„Ich werde Dir helfen einen neuen Anfang zu machen,
den Absprung zu schaffen, Marc, aber das tue ich für Friedrich, damit er
endlich seinen Seelenfrieden zurück bekommt und für Marius und mich, weil Du
uns das Leben zu Hölle machst.“
Der junge Mann sprang zurück und sah Gab aus
flammenden Augen an. „Von Dir will ich keine Hilfe mehr, Du Schwein! Ich
dachte Du liebst mich, bei den eindeutigen Angeboten, die Du mir gemacht hast.
Aber Du bist ein genauso verlogenes, innerlich verrottendes Stück Dreck wie
Friedrich!“ Der Blick
Gabriels erkaltete wieder. Er hatte gesagt, was er sagen wollte. Was Marc von
ihm dachte, konnte dem Fotographen gleichgültig sein.
Im Gegensatz zu ihm kochte nun das heiße Blut
Marius’ hoch und sein unbeherrschtes Wesen übernahm sein Handeln vollkommen.
Er holte aus und ohrfeigte Marc zweimal. Der Punk zuckte zusammen.
„Wie hast Du Gab und Friedrich genannt?!“ schrie
Marius ihn an. Seine Stimme überschlug sich.
„Sag’ das nie wieder, dreckige Straßenratte!“
Marcs Herz krampfte sich zusammen. Er fühlte sich
verraten und verkauft von all denen, die er für seine Freunde hielt. Er begann
zu schluchzen, fuhr herum und eilte aus der Wohnung.
Auf den Stufen stolperte er in seiner Hysterie in
Friedrich, stieß ihn zur Seite und stürzte sogar die letzten Stufen. Friedrich
konnte sich gerade noch fangen und taumelte gegen die Wand.
„Marc, was…“
„Halts Maul!“ brüllte der Punk und hielt sich sein
Knie. Marion öffnete
die Türe und sah neugierig hinaus. Ihr blonder Lockenkopf folgte dem jungen
Mann. Eilig schob sie sich nach draußen, sah zu dem alten Mann und legte die
Stirn in Falten. „Geht es ihnen gut, Friedrich?“ fragte sie besorgt.
Er nickte nur und lächelte. „Machen Sie sich keine
Sorgen, mein Kind.“
Marius eilte nun ebenfalls die Stufen herab. Sein Gesicht verriet absoluten
Zorn. Dieser Mann
brachte ihn um den Verstand. Er ruinierte alles. So verletzt und deprimiert
wie eben, hatte er Gabriel nie vorher gesehen. Sein Freund war all dem
gegenüber nur äußerlich kalt. Seine Seele litt unter dem, was gerade geschah.
Eigentlich wollte Gabriel selbst Marc aufhalten,
aber Marius hatte ohnehin noch eine Rechnung mit dem Punk offen und entbot
sich nur zu gerne dafür.
Marion sah ihn an sich vorbei eilen. Unten öffnete
sich die Türe der Kanzlei und die Sekretärin trat auf den Flur. Verärgert
starrte sie Marc hinterher. „So ein primitives Geschöpf!“, stellte sie
nüchtern fest. Marius
hatte nicht damit gerechnet, dass sich ihm ein weiteres Hindernis in den Weg
stellte. Sein
Schrecken über ihr erscheinen kam fast zu spät. Dennoch wand er sich an ihr
vorüber, traf sie allerdings unangenehm an der Schulter. Die ältere Dame
erschrak selbst viel zu sehr, als dass sie auch nur ein Wort hervor brachte.
Allerdings zerriss der Ärmel ihrer Bluse an der Naht.
Marius nahm sich nicht die Zeit sich zu
entschuldigen. Viel mehr eilte er sich, den Parkplatz zu erreichen, bevor Marc
abfuhr. Leider saß der
Punk bereits in seinem Auto und startete den Motor.
In seiner Wut achtete er auch nicht darauf, was er
tat. Ohne sich darum zu kümmern, dass Marius ihm in den Weg trat, gab er Gas.
Einzig ein beherzter Sprung rettete den jungen Goth
davor überfahren zu werden.
Über ihm öffneten sich die Fenster der Kanzlei und
einer der Anwälte rief zu Marius hinab: „Ist alles in Ordnung?“
Die Sekretärin eilte nach draußen und starrte
finster zur Straße. Marc machte sich mit seinem kleinen Auto nicht die Mühe,
zu warten, bis die Straße frei war. Er gab Gas und rammte einen stehenden
Wagen, ignorierte es und gab Gas.
Friedrich und Marion kamen herbei, dicht gefolgt von
Gabriel. Marius,
obgleich er sich einige blaue Flecken geholt hatte, stand bereits wieder.
„Mein Auto!“ hörte er aus der Kanzlei. „Hat sich
jemand die Nummer von dem Penner aufgeschrieben?! Das war mein Wagen, den er
gerammt hat!“ Gab
umklammerte Marius. Wortlos drückte er ihn an sich. Der junge Goth spürte das
Herz seines älteren Liebhabers rasen. Marion sah zu Friedrich.
„Was machen wir jetzt?“
Die Sekretärin trat zu ihr. „Die Polizei rufen, was
sonst? Ich habe sein Kennzeichen.“
Unbewusst bewunderte Marius die ältere Dame für ihre
Ruhe und Fassung. Er selbst fühlte sich aufgewühlt, wütend, erschüttert und
entsetzt. „Ich muss
ihm hinterher“, zischte Gab. Doch bevor er sich umwenden und zu seinem Wagen
eilen konnte, zog Marius ihn entschlossen am Arm zurück.
„Nein! Friedrich braucht Dich. Ich gehe!“
Sein Tonfall ließ keine Diskussion zu. Gab sah
seinem Geliebten in die Augen. Stur erwiderte er seinen Blick.
„Bring’ Dich nicht in Gefahr, Marius, er ist
unberechenbar“, flüsterte Gabriel. Tiefe Sorge schwang in seiner Stimme mit.
„Ich verspreche es.“ Der Junge war erleichtert, dass
sein Liebhaber aufgegeben hatte, denn er fürchtete genau das, was Gabriel ihm
eben gesagt hatte. Marc war unberechenbar und er würde sicher etwas tun, was
Gabriels Stolz verletzte, oder sogar sein Leben in Gefahr brachte. Er hatte
weniger zu verlieren, denn er hatte keine Skrupel Marc zusammenzuschlagen und
ihn anschließend bei der Polizei abzuliefern.
Eilig, bevor Marc mit seinem grell rosa farbenen
Auto im Berufsverkehr untertauchen konnte, setzte er sich auf seine Spur.
Gabriel sah ihm nach, wie er sich auf die Straße
drängte und mit Gas und Hupe für Platz sorgte.
*
Vielleicht war es tatsächlich klüger, wenn Marius
versuchte ihm zu folgen, dachte Gabriel bei sich, als die beiden
Polizeibeamten die Villa verließen.
Vermutlich hätte sein hitzköpfiger Geliebter nur
noch Öl in das Sprichwörtliche Feuer gegossen.
Sicher, der Anwalt, dessen Wagen Marc gerammt hatte,
erstattete Anzeige gegen den Punk, und alle beteiligten Personen, also auch
Marion, und die Sekretärin wurden vernommen. An sich deckten sich alle
Aussagen genau. Nur Gabriel viel es schon schwer, sich nicht zu besorgt den
beiden Männern gegenüber zu äußern. Er fürchtete um Marius’ Sicherheit. Seine
Seele war aufgewühlt und sein Herz brannte vor Angst um ihn. Bei der
Vernehmung konnte er sich nur schwer konzentrieren. Allerdings wusste er sehr
gut, dass Friedrich wirklich seine Nähe brauchte. Er hatte auch während der
Vernehmung nur wenig gesagt und Gabriel das Reden überlassen. Er zitterte
leicht. Unter dem Tisch tastete er nach der Hand seines jungen Freundes und
umklammerte sie fest, als er sie zu fassen bekam.
Als die Polizisten gingen und der Fotograph wieder
in die Küche zurück kam, saß der alte Mann schweigend da und umklammerte seine
Tasse so fest, dass das Steingut bedenklich knirschte.
Wortlos trat Gab zu ihm und streichelte sanft und
liebevoll sein kurzes, dichtes, welliges Haar. Der Blick des alten Mannes hob
sich langsam zu seinem Freund und blieb an den hellen Augen hängen.
Ein gequälter Laut kam über seine Lippen. Dann
umschlang er Gabriel fest, drückte sich an ihn wie ein Ertrinkender seinen
Retter umklammerte.
Jetzt konnte Gabriel Friedrich all die Zuneigung, Liebe und Geduld
zurückzahlen, die der alte Mann für ihn aufgebracht hatte.
„Ich bin da“, flüsterte er sanft und umfing seinen
älteren Freund zärtlich. „Ich werde immer an Deiner Seite bleiben.“
Stumme Tränen rannen über Friedrichs Wangen und
liefen über das glatte Kunstmaterial von Gabriels Hemd, gegen das sich
Friedrich drückte. Er fühlte sich einsamer, hilfloser und verlassener denn je.
Sein Vorstellungsvermögen konnte durch die rote Wolke von Schmerz gar nicht
erfassen, dass die letzten Tage mit Marc nichts als eine große Lüge waren.
Aber er wusste jetzt mehr denn je, dass er sich nie
mit diesem Jungen hätte einlassen dürfen.
Der Mann, der ihn jetzt hielt und dessen Wärme und
Freundschaft ihn auffingen, war es, den er von Herzen liebte, niemand sonst.
Und diese furchtbare Situation bewies ihm, dass Gabriel dieses Gefühl
erwiderte. Er verdrängte für ihn, einen alten Mann, sogar all die Ängste, die
er zweifelsohne für seinen Liebsten hegte.
„Warum“, flüsterte Friedrich heiser. „Warum hat er
das getan?“ „Weil er
ein unreifes Kind ist und deine Liebe und Nähe nicht verdient, Friedrich.“
Gabriel neigte sich zu seinem Freund und küsste behutsam sein Haar. „Marc hat
Liebe mit Lust verwechselt und Güte mit einer Einladung sich Dir anzubieten.“
Er streichelte liebevoll den Nacken seines Freundes. „Du bist bis heute ein
stolzer, schöner, intelligenter und faszinierender Mann, und Du bezauberst mit
Deinem Charisma alle möglichen Männer. Hast Du ein solches Wesen wie Marc
notwendig?“ „Aber
meine Aufgabe ist es doch auch, ihn zu beschützen, vor der Welt und vor allem
sich selbst“, flüsterte Friedrich.
Gab glitt neben ihn auf die Bank und umschlang ihn
wieder. „All Deine
Sorge um ihn ist sinnlos, weil er gar nicht weiß, was Du alles für ihn getan
hast. Er weiß nicht einmal, dass Du für ihn Dein altes Leben aufgegeben hast.“
„Oh Gabriel, ich wünschte mir nichts mehr, als Dich
an seiner Stelle, neben mir, an meiner Seite. Du bist etwas besonderes, etwas
liebevolles, ein Mensch, der mich bislang mit Glück und Liebe erfüllte. Du an
meiner Seite... Ich hätte Dich nie wieder gehen lassen.“ Er seufzte leise.
„Verzeih, dass ich Dir 11 Jahre zu spät meine Liebe gestehe. Ich habe nun jede
Chance auf Dich verloren. Aber vielleicht ist das der Grund, warum ich es nun
endlich unbedenklich tun kann...“
Gabriel legte ihm die Finger über die Lippen. „Ich
weiß es. Ich wusste es schon immer.“
Er neigte sich zu ihm und lehnte seine Stirn an
Friedrichs. „Ich liebe Dich, Friedrich. Es ist dieselbe Liebe wie für Marius.“
„Danke“, flüsterte der alte Mann. Einerseits
erfüllte Glück sein Herz, andererseits brach es fast in diesem Moment. Dennoch
huschte ein Lächeln über seine Züge.
*
Marius saß in seinem kleinen Wagen und versuchte dem
Marbella zu folgen, der rücksichtslos andere Autos überholte und jede
Verkehrsregel brach, die es gab.
Die gesamte Sonnenberger Straße staute sich, und er
schlängelte sich in den unmöglichen Windungen durch den Verkehr. Schließlich
bog er nach rechts ab und raste eine stark vereiste Einbahnstraße hinauf.
Marius war nicht verrückt genug, ihm dorthin zu folgen. Die Gasse war
wesentlich zu eng und beiderseits beparkt. Außerdem ahnte er, dass hier in
dieser Gegend, die reich und teuer war, sehr oft Polizeistreifen unterwegs
sein mussten.
Innerlich verfluchte er sich bereits dafür an dieser Stelle zu kneifen, aber
letztlich kamen Marius der Zufall und viel Glück zu Hilfe.
Ein weißer Transportbus einer Courier-Firma kam mit
etwas zu viel Tempo um die Ecke der Schönen Aussicht und wäre fast mit dem
Wagen Marcs frontal kollidiert.
Von seinem Standpunkt konnte Marius recht gut sehen,
dass beide Fahrer bremsten und das buchstäblich in der letzten Sekunde.
Durch die Größe des alten MB310 war Marc die Straße
versperrt, und obgleich die Fahrerin des Transporters leichenblass war, schien
sie ein ziemlich aggressiver Mensch zu sein. Alles Hupen Marcs beeindruckte
sie nicht. Viel mehr schien sie mit jedem Moment zorniger zu werden, bis sie
schließlich die Türe ihres Busses aufriss und sich hinausreckte.
Was immer sie schrie, es schien nichts Nettes zu
sein. Als Marcs Marbella sich immer noch keine Sekunde von der Stelle rührte,
ließ sie den Motor des Busses mehrfach aufheulen. Sie sorgte dafür, dass der
schwere Transporter auf der vereisten Fahrbahn bedrohlich auf Marcs Auto
zurutschte. Mit einem, kräftigen Stoss gegen seine Stoßstange, überzeugte sie
ihn von ihrer Absicht, nicht zu weichen. Dieses Mal nahm Marc die junge Frau
ernst. Sie schien nicht wirklich zum Scherzen aufgelegt und ziemlich
unerschrocken dreist zu sein.
Er gab Gas und raste rückwärts die Straße hinab.
Marius, der mitten im Stau steckte, hörte innerlich schon das Geräusch eines
Crashs, wenn der Punk nicht gleich auf die Bremse trat. Der Wagen, der vor der
Ausfahrt der Einbahnstraße stand, war das Auto vor Marius. Im Gegensatz zu der
Berufsfahrerin war der Mann, der in dem BMW saß, nicht so mutig. Er trat kurz
auf sein Gaspedal. Sein Wagen brach aus der Schlange aus und stellte sich quer
zum Gegenverkehr. Stöhnend griff sich Marius an den Kopf und seufzte hilflos.
Nun war das Chaos perfekt. Marc allerdings hätte so oder so den Wagen nicht
getroffen. Der Motor seines Marbella heulte protestierend auf und erstarb, als
Marc die Unmöglichkeit versuchte vom Rückwärtsgang in den ersten zu schalten,
ohne zu bremsen. Allerdings das ungesunde Knirschen seines Getriebes verriet,
dass er sein Auto endgültig zu Grabe tragen konnte. So, wie der Wagen stand,
quer auf der T-Kreuzung, ließ er ihn zurück und schlängelte sich gegen alle
Flüche und alles Hupen, durch den Verkehr zum Kurpark und verschwand jenseits
des eisernen Tores.
Marius fluchte leise und hielt verkehrswidrig an der Straßenecke an.
Als er seinen Wagen verließ, war er sich ziemlich
sicher, dass er ihn sich auf dem Hof des Ordnungsamtes wieder abholen konnte.
*
Marc war schnell, und
offensichtlich nicht halb so eingeschüchtert und verzweifelt, wie es zuvor
erschien. Alles was er jetzt tat schien zwar ungeplant, aber nichts desto
trotz mit Vorsatz zu geschehen.
Offenbar kannte Marc das Wiesbadener Kurviertel
bestens, denn Marius verlor ihn mehrfach aus den Augen. Er war sich allerdings
auch sicher, dass der Punk sich gar nicht darüber bewusst war, verfolgt zu
werden. Er sah sich nie sichernd um, sondern folgte nur sehr schnell seinem
Weg, den er sich zurechtgelegt hatte.
Wenn Marius die Zeit gehabt hätte die Schönheit der
Parkanlage zu bewundern, so hätte er das sicher auch getan, aber Marcs
Verfolgung rechter Hand an dem Teich vorbei, hinter dem Kurhaus und dem
Musik-Pavillon beanspruchte seine Aufmerksamkeit zu hundert Prozent. Wohin
immer die Jagd ging, Marius war im Notfall rettungslos in den Schluchten der
Stadt verloren und würde sich nur noch weiter verlaufen. Mehr als einmal
dachte er daran, Gabriel anzurufen, zögerte es aber immer wieder hinaus.
Zu Fuß folgte er dem Punk aus dem Park und hinter
dem Theater entlang durch den nächsten kleinen Park. Schließlich fand sich
Marius auf einer Straße wieder, die ihm bekannt vorkam. Hier gab es die ganzen
teuren Geschäfte mit all ihren unbezahlbaren Auslagen, und recht nah diese
kitschige Riesen-Kuckucksuhr. Die Prunkstraße Wiesbadens, erinnerte sich
Marius, so hatte Gabriel sie genannt... Wilhelmstraße. Allerdings stand hier
der Verkehr genauso. Marc war also nicht darauf angewiesen, dass eine
Fußgängerampel grün wurde. Die Autos standen vierspurig und nichts schien mehr
zu gehen. Nach dem, was oben auf der Sonnenberger passiert war, erschien es
Marius nur als natürlich, dass der Hauptzubringer sich staute.
Und all das nur wegen Marc! Er hätte diesen Kerl am
liebsten sofort geschnappt und ihm in einer Dunklen Ecke ein paar klare,
unmissverständliche Worte zu dem Thema gesagt. Allerdings mangelte es jetzt,
am späten Nachmittag ganz gravierend an passenden Gelegenheiten.
Marc verschwand in einer der prachtvollen Passagen,
die Geschäfte der Oberklasse beherbergte.
Zögernd folgte Marius ihm, denn in der Passage fiel
er weit mehr auf. Hier deckten ihn nicht die Massen der Passanten.
Der Weg war leer, kein Marc. Mit sehr unguten
Gefühlen eilte er hinterher, folgte dem Knick, den der Gang machte und konnte
gerade noch umdrehen, als er Marc nur wenige Meter von sich entfernt sah. Aber
nicht das zusammentreffen ließ ihn in Deckung gehen sondern eher der Mann, der
Marc gegenüber stand. Er war groß und schlank, bleich und schön wie ein Engel.
Seine schwarzen Haare fielen in einem Zopf über die Schulter und zu seinen
Oberschenkeln herab. Blaue Augen musterten Marc.
Er trug einen warmen Wollmantel über dem dunklen
Anzug. Wenn sich
Marius nicht zu hundert Prozent sicher gewesen wäre, dass Gabriel zu Hause saß
und Friedrich tröstete, hätte er geschworen, er stünde hier und würde mit Marc
reden. Die
Ungewissheit ließ ihn nicht los. Nun zog er doch sein Handy aus der
Hosentasche und drückte die Kurzwahltaste von Gabriels Handynummer. Wenn nun
irgendetwas dort drüben klingeln würde, wüsste er genau, dass es sein Freund
war, aber er würde kaum noch begreifen, was hier vor sich ging. Allerdings
regte sich dort vorne gar nichts. Kein Handy, das klingelte, nichts.
„Marius, ist alles in Ordnung bei Dir?“
Im ersten Moment realisierte der junge Mann gar
nicht, dass Gab das Gespräch angenommen hatte, denn es passte so gar nicht zu
dem Bild, was er in der Schaufensterscheibe gespiegelt sah.
Der Mann, der Gabriel so ähnelte, stand ruhig da,
hörte sich irgendwelche erstunkenen und erlogenen Ausführungen des Punks an
und schwieg. „Marius?“
in der Stimme seines Freundes schwang tiefe Sorge mit.
„Gab, gibt es von Dir einen Doppelgänger?“ flüsterte
Marius. „Warum fragst
Du?“ vollkommene Ahnungslosigkeit schlug ihm entgegen.
„Nur so... Ich bin hier in der Passage nahe der
Wilhelmstraße. Marc steht mit einem Doppelgänger von Dir hier, ganz nah, nach
Biegung. Die beiden reden.“
Gab schwieg einige Sekunden lang. „Nein, unmöglich“,
flüsterte er. „Was ist
unmöglich?“ wollte Marius wissen.
„Mein Neffe Manuel sieht mir sehr ähnlich. Er ist
der Sohn meines Halbbruders. Manuel lebt in Italien. Aber ich halte es für
unmöglich, weil er Marc nur einmal bei mir gesehen hat, und das ist schon
wieder etwa 5 Jahre her.“
„Wie gut ist dein Verhältnis zu deinem Neffen?“
fragte Marius leise. „Ich frage Dich nur, weil ich es nicht für ein zufälliges
Treffen zwischen den Beiden halte, und wenn es so ist, dann sah man Marc
keinerlei Überraschung an.“
Gabriel schien kurz zu überlegen. „Wir haben kein
schlechtes Verhältnis zueinander. Aber wir leben auch in unterschiedlichen
Ländern, Marius.“ Aus
dem Augenwinkel bemerkte der junge Mann, dass sich die beiden Männer gemeinsam
in Richtung des Wiesbadener Markplatzes in Bewegung setzten.
„Sie gehen weiter. Ich bleibe an ihnen dran, “
flüsterte Marius. „Ich
rufe Manuel an“, überlegte Gabriel. „Dann lasse ich mein Handy an, und Du
kannst mithören.“ „Was
soll das bringen?“ fragte Marius verwirrt.
„Ich weiß nicht“, murmelte er. „Mich interessiert
seine Mimik dabei. Ich bin ein wenig verwirrt und nervös. Manuel besucht mich
normaler Weise, wenn er hier ist und lässt sich von mir vom Flughafen abholen.
Irgendwie macht mich das Ganze etwas stutzig, insbesondere seine nähere
Bekanntschaft mit Marc.“
Marius huschte aus seinem Versteck und folgte den
beiden Männern zum Ausgang der Passage. Er konnte sie im ersten Moment nicht
sehen. Zum Markt konnten sie nicht hinüber gegangen sein. Auch nicht Richtung
Bahnhof, aber in die Altstadt, nach rechts. Er blieb ziemlich dicht hinter
ihnen. Wenn sie sich umgedreht hätten, wäre ihnen der Goth sofort aufgefallen.
Marius achtete im Moment allerdings auch teilweise
auf die Geräusche seines Handys. Offenbar stand Gabriel im Flur, an seinem
Telefontisch, denn er hörte die Tastenwahl des Festnetzes.
Das Freizeichen bekam er sogar mit.
Schließlich meldete sich eine weibliche Stimme;
distinguiert, ruhig, gemessen, ähnlich gefasst wie Gabriel. Leider verstand
Marius nichts, was allerdings nicht an der Verbindung lag, sondern schlicht an
der Tatsache, dass sie eine andere Sprache nutzte.
Gabriel sprach sie gleichermaßen an. Marius verkniff
es sich genervt zu seufzen.
Während sein Freund mit irgendeiner Frau redete,
folgte er den beiden Männern in die Altstadt, vorbei an prächtigen
Klassizismus- und Jugendstilgebäuden, vielen Menschen in farbeigen Kleidern,
die ihn anstarrten, als sei er ein Weltwunder und schönen, unbezahlbaren
Auslagen. Sein Blick blieb für den Bruchteil einer Sekunde fasziniert an dem
Schaufenster eines Piano-Geschäftes hängen.
„Wow“, flüsterte er.
„Marius?“ Gabriel klang sehr unterkühlt und gefasst.
„Was war eben? Mit wem hast Du geredet?“ fragte der
Junge, der sich nun wieder auf das Gespräch konzentrierte und Marc und Manuel
nicht aus den Augen zu verlieren.
„Ich habe meine Schwägerin angerufen, die Witwe
meines Bruders Giovanni. Manuel ist ihr Sohn. Und sie sagte mir, er sei in
Paris.“ Marius blieb
stehen. „Was will der geschniegelte Kerl bitte mit einem solchen Flachw…“ er
verkniff es sich, das Schimpfwort auszusprechen, da Gabriel solche Dinge nie
gerne hörte. „Mit einem Kerl wie Marc“, endete er schließlich.
„Ich weiß es nicht. Aber ich habe mich
umentschieden, Ich komme zu Dir. Ich will das Gesicht Manuels selbst sehen,
seine Reaktionen.“ Die
Entschlossenheit und Kälte in Gabriels Stimme war nicht zu überhören. Er
kochte sicherlich innerlich vor Wut.
„Gut, denn ich glaube, sie machen es sich in einer
Bar bequem, Gabriel.“ Er verdrehte etwas den Kopf nach oben. „Robin Hood heißt
das Ding. Weißt Du, wohin Du musst?“
„Ja, nur zu gut, Marius. Da habe ich Friedrich vor
11 Jahren kennen gelernt.“
An sich war Marius von der Idee, dass Gabriel sich
in mögliche Gefahr brachte, nicht gerade angetan, aber er durchschaute auch
das Zusammentreffen dieser Männer hier nicht. Was war das hier? Ein großes
Komplott? Der junge
Mann sah sich rasch um und entdeckte ein schönes, Helles Geschäft auf der
anderen Seite der Häfnerstraße. „Ich warte gegenüber bei der Kunstgalerie auf
Dich.“
*
In diesem Fall konnte Marius von Glück reden, dass
die Galeristin noch einen anderen Kunden hatte, der sie in Anspruch nahm,
sonst hätte er wohl oder übel mit ihr ein Verhandlungsgespräch über eben jenes
Bild führen müssen, um das er die ganze Zeit herumschlich. Hintergrund dessen
war natürlich, wie nicht anders zu erwarten, der perfekte Blick zu dem blau
beleuchteten Eingang der Bar gegenüber. Von seinem Standpunkt aus verbarg ihn
eines der Bilder im Schaufenster, gewährte ihm aber auch ausreichend Platz,
Manuel und Marc durch eines der Fenster in dem Gastraum zu beobachten. Als er
irgendwann auch einen Blick auf das Bild riskierte, wusste er nicht, ob er es
virtuos oder einfach nur grauenhaft nennen sollte. In jedem Fall war es bunt
und es ließ sich nicht genau sagen, was der Inhalt des Machwerks vorzustellen
versuchte. Auf dem Preisschild fand er den Titel. Tulpenfeld.
Beim besten Willen hätte er keine Tulpe erkannt,
gleich wie sehr er sich anstrengte. Und all das für 850 Euro? Ihm lief es kalt
den Rücken herab. Da
sich in den letzten 10 Minuten weder Marc noch Gabs Doppelgänger vom Platz
bewegt hatten, nahm sich Marius nun doch Zeit, ein wenig genauer durch die
Galerie zu stöbern.
Hinter ihm hingen weitere Bilder des Künstlers, der die „Tulpen“ verbrochen
hatte. Eines schien bunter und großflächiger als das andere, und die Maße
steigerten sich von einem halben Meter Bildquerschnitt zu ca. 1,50 Metern. Was
ihn wesentlich mehr ansprach, waren die Gemälde eines Spaniers, der eine liebe
zu Rot- und Gelbtönen hatte, aber sehr ästethische Motive verewigte. Hierbei
handelte es sich um Frauen, aber das änderte nichts daran, dass jedes einzelne
Kunstwerk diese Bezeichnung auch verdiente.
Moderne Pop-Art-Bilder, Drucke in diesem Fall, fand
er in einem Posterständer. Bilder von Keith Haring, James Rizzi, Andy Warhol
oder Roy Lichtenstein dominierten. Davon sagte Marius gar nichts zu. Es war
bunt, einfach nur grell bunt.
Als er das Türsignal hörte, sah er über die Schulter
und lächelte. Friedrich und Gabriel traten in die Galerie.
„Einen Moment bitte“, rief die Galeristin geschäftig
und machte Anstalten, den Kunden eilig abzuwimmeln. Dann allerdings erkannte
sie Gabriel und strahlte ihn an. „Haben Sie wieder Bilder für mich?“ fragte
sie. Gabriel begrüßte
sie freundlich, lächelte und schüttelte dann den Kopf. „Heute nicht. Aber Sie
können mich gerne in den nächsten Tagen mit Ihrem Mann besuchen kommen und den
neuen Katalog ansehen. Ich bin als Kunde hier. Aber bitte, bedienen Sie den
Gentleman“, er deutete auf den runden Mittvierziger, der in furchtbarstem
bayrischen Dialekt mit ihr sprach. „Erst in Ruhe zu Ende.“
Sie nickte, fuhr sich mit ihren langen Fingern durch
die blondierten Haare und widmete sich wieder dem Verkauf einer Rahmung.
Gab trat zu Marius. „Sind sie noch in der Bar?“
Marius nickte. „Bislang haben sie sich nicht hinaus
bewegt...“ Marius musterte seinen Freund. „Sag’ mir eines. Wer in dieser
verdammten Stadt kennt Dich eigentlich nicht, und ist nicht gut Freund mit
Dir?“ Nachdenklich
senkte Gab den Blick. „Ich weiß nicht. Freunde...“ Er lächelte matt.
„Geschäftspartner trifft eher den Kern.“
„Übrigens, was meinst Du mit: Du bist als Kunde
hier?“ fragte Marius leise.
„Na ja,“ Gab ließ seinen Blick schweifen. „Wenn Du
schon ewig hier bist, wäre es auffällig zu gehen ohne etwas zu kaufen,
besonders weil sie und ihr Mann Käufer von meinen Bildern sind.“
Marius sah ihn an, und sein Blick verriet
vollkommenes Unverständnis.
„Gibt es etwas, dass Du gerne zu Hause bei uns haben
willst?“ „Das kannst
Du nicht machen, die Preise hier sind weitaus höher als meine Miete!“
flüsterte Marius. „Ich
weiß“, antwortete der Fotograph und lächelte. „Das ändert nichts daran, dass
diese Frage immer noch im Raum steht.“
Verzweifelt bemerkte Marius, dass Gab ernst meinte,
was er sagte. Deshalb deutete er auf den Posterständer. „Eins von denen da.“
Er schlug wahllos eine der Schaumappen auf und nickte. „Das da.“
Da er keine Sekunde nachgesehen hatte, was er haben
wollte, konnte er erst den zweifelnden Blick Gabriels nicht begreifen.
Friedrich hob eine Braue. „Les Girles“ von James Rizzi?“ fragte er befremdet.
„Das ist nicht Dein Ernst.“
Nun warf auch Marius einen Blick auf den Druck und
schauderte. „Uh!“ murmelte er. Das Bild zeigte eine Reihe Mädchen, die
dahingeschmiert waren, mit dicken Edding-Outlines und im besten Stil der 80er
Jahre dastanden. Die Farben allein reichten um einen ausgewachsenen Mann zu
vergraulen, von dem Stil ganz zu schweigen. Es war einfach ausgedrückt
scheußlich. Gab
schüttelte den Kopf angesichts des angewiderten Blickes.
„Damit wirst Du nicht glücklich. Ich kenne da Bilder
von einem Künstler die würden Dir eher zusagen. Zum einen ist es schwule
Kunst, zum anderen beschränken sich die Farben auf Grau-, Blau und
Schwarztöne.“ Er zog
Marius von dem Ständer weg und blieb vor einigen ungewöhnlich formatierten
Bildern stehen, schmal und lang, hoch und schlank... Es waren immer Bilder von
zwei Personen, den starken Armen und Händen, bzw. den breiten Rücken nach zu
urteilen, in jedem Fall Männer, die zusammen in einer Badewanne lagen, eng
aneinander geschmiegt, unter den leichten Bettdecken auf einem Stahlrohrbett
oder in einer Hängematte. In jedem Fall konnte der Betrachter davon ausgehen,
dass sie sich liebten, auch wenn es dezent verborgen blieb. Marius war sofort
tief beeindruckt von den Gemälden.
Er bemerkte nicht das Lächeln auf Gabs Lippen. Jedes
kleine Detail der Körper sog er in sich auf. Diese Kunstwerke waren ein Traum.
„Nun, haben Sie sich entschieden?“ fragte die
Galeristin. Marius war
es vollkommen entgangen, dass der Kunde bereits gezahlt hatte und gegangen
war. „Diese
Bilderreihe. Ich bezahle sie gleich, aber es wäre mir lieb, wenn Sie sie erst
mitbrächten, wenn Sie mich mit Ihrem Mann Besuchen...“
„Gab, das kannst Du nicht“, krächzte Marius heiser,
als er die Preise entdeckte.
„Machen Sie sich keine Gedanken, junger Mann,“
lachte die Dame und strich wieder eine ihrer widerspenstigen Haarsträhnen aus
den Augen. „Das verrechnen wir mit den nächsten Fotos und Gemälden, die wir
ankaufen.“ Marius fuhr
herum und starrte sie an. Sie wich erschrocken zurück. „Was ist?“ fragte sie
leise. „Verkaufen sich
Gabs Sachen so gut?!“ Wollte Marius nun wissen.
„Da er sehr virtuose Bilder liefert, sicher“,
erwiderte sie irritiert.
„Verzeihen Sie“, unterbrach Gabriel jetzt das
Gespräch. „Da ich noch eine Verabredung habe, würde ich gerne schnell den
geschäftlichen Teil hinter mich bringen. Ich denke, zu einer klareren
Aussprache kommen wir im Lauf der nächsten Woche, wenn Sie mich besuchen,
oder?“ Er lächelte sie
an. „Sicher“, strahlte
sie. „Folgen Sie mir bitte...“
*
Marius sah aus den Augenwinkeln zu Gabriel. „Du bist
verrückt, vollkommen verrückt.“
Dieser erwiderte den Blick, strich ihm sanft über
die Schulter und flüsterte: „Solange es Dir gefällt, ist es gut.“
Dieses Mal zog der junge Goth es vor zu schweigen,
denn er war tief in seinem Herzen einfach nur zutiefst erschüttert, dass
Gabriel ihm ein solches Geschenk machte.
Eigentlich wollte er ihm um den Hals fallen und ihn
dafür Küssen, aber er wollte die Aufmerksamkeit nicht zu sehr auf sich lenken.
Als sie über die Straße gingen, wurde ihm bewusst,
dass es bereits dunkel war und unangenehm abkühlte.
„Was nun?“ fragte Friedrich leise. Er hatte fast die
ganze Zeit geschwiegen. Ihm war leicht anzusehen, dass die Sache mit Marc ihn
schwer belastete.
„Gehen wir sie überraschen!“ Marius ballte angriffslustig die Fäuste.
Allerdings legte Gab sanft seine Finger auf den Unterarm seines Geliebten.
„Nicht so. Bitte sucht ihr beide euch einen Tisch, weiter abseits, und außer
Sichtweite der Beiden. Ich will Manuel zuerst alleine gegenüber treten. Es
kann gut sein, dass Marc durchdreht. Dann brauche ich Dich, Marius. Du musst
ihn unter allen Umständen davon abhalten, noch einmal so etwas Lebensmüdes zu
veranstalten, wie vorhin.“
„Ich wäre lieber bei Dir“, erhob der junge Mann
Einspruch. „Ich bin
Stammgast im Robin Hood, und ich will im Interesse Manuels so wenig wie
möglich für Probleme und Aufruhr sorgen. Notfalls, wenn Marc die Kontrolle
verliert, musst Du eingreifen.“
„Wenn er ausrastet, sorge ich dafür, dass es im
Rahmen des Erträglichen bleibt“, versprach Marius, allerdings wusste er nicht,
ob er diese Worte auch halten konnte. Sein Zorn und Hass auf den Punk nahm
immer weiter überhand. Sollte er noch einmal seine beiden Freunde angreifen,
sei es Verbal oder körperlich, so würde er ihn aufhalten, und Marius kannte
sich. Er neigte zu Wutausbrüchen.
Die Bar war noch recht schwach besucht, und das
Licht wesentlich zu hell. An den gelb gestrichenen Wänden hingen Spiegel zur
Dekoration und der dunkelrote Torso eines Mannes. An sich war die Bar nicht
annähernd so edel eingerichtet wie die, in der Marius arbeitete, aber sie
erschien freundlich und familiär.
Die wenigen anwesenden Gäste hielten sich direkt am
Tresen auf, bzw. Manuel und Marc saßen sich gegenüber an einem kleinen
Holztisch. Der Punk hielt einen Cocktail mit beiden Händen umklammert und
redete leise, aber sehr hektisch und schnell, während sein Partner ruhig
zuhörte, die Arme vor der Brust verschränkt und selbstsicher. Er strahlte
genau die gleiche Art souveräner Sicherheit aus, die auch Gabriel umgab.
Nachdenklich sah Marius von ihm zu Marc und dann zu
seinem Liebhaber. Versuchte diese kleine Straßenratte nun Manuel zu becircen?
„Komm, Marius“, forderte Friedrich den Goth auf.
„Gehen wir zur Bar. Ich brauche etwas zur Beruhigung.“
Der junge Mann nickte und folgte seinem älteren
Freund. Gabriel sah
ihnen kurz nach, schon um zu sichern, dass der Besitzer nicht allzu sehr auf
ihn aufmerksam wurde. Er als Stammgast kannte ihn gut und sie redeten oft und
viel miteinander. Es
würde seinem momentanen Vorhaben nicht entgegen kommen sich jetzt in lange und
familiär freundschaftliche Gespräche ziehen zu lassen.
Langsam drehte er sich zu dem Einzeltisch um und
schritt still, langsam und gemessen näher.
Der Blick Manuels traf ihn, flackerte kurz, aber der
schlanke junge Mann fasste sich sofort und hielt seine Ruhe. Marc, der Gabriel
nicht sah, plapperte unermüdlich weiter.
Behutsam legte Manuel seine Hand über Marcs, drückte
sie sanft und stand dann auf.
„Was höre ich da schlimmes von Dir, Gabriel?“ fragte
er seinen Onkel in akzentfreiem Deutsch.
„Du hast unseren Freund Marc aus Deinen Diensten
entlassen?“ Gabriel
trat zu ihm und reichte seinem Neffen die Hand. „Du bist hier, in
Deutschland?“ fragte er kühl. Er überging vollkommen den Kommentar Manuels.
„Ich wollte Dich überraschen“, lächelte das etwas
jüngere Abbild des Goth.
Sekunden lang taxierte Gabriel ihn und versuchte
durch die fröhlich freundliche Miene seines Neffen zu blicken. Konnte das
alles eine Lüge sein? Manuel und er hingen einst aneinander. Der junge Mann
hatte sich seinen nur wenige Jahre älteren Onkel zu einer Ikone erkoren, der
er sogar darin huldigte, wie er aussehen zu wollen. Emilia, die Mutter des
jungen Mannes und Gabriels Schwägerin hasste den Goth dafür. Sein Einfluss auf
Manuel missfiel ihr. Das lange Haar, die wilde, erotische Kleidung, den Hang
zum Narzissmus, und die Homosexualität machten sie wahnsinnig. Zu allem
Überfluss liebte der junge Mann auch Kunst genauso sehr wie Gab und die
Beziehung der beiden, wenn Manuel bei seinem Onkel weilte, war innig und
zärtlich, gleichsam als wären sie ein Paar.
Gabriel hatte diese Nähe und die gelebte
Selbstverliebtheit beider immer sehr genossen. Zwar empfand er für Manuel
nicht sonderlich viel mehr als leichte Zuneigung, aber es war ein stummes,
erotisches Spiel zwischen ihnen, irreal und verwirrend. Gleichsam hätten sich
auch Zwillinge ineinander verlieben und einander verfallen können. Allerdings
ließ Gabriel es nie so weit kommen, dass sie sich darin verloren.
„Offensichtlich ist mir das nicht gelungen“, sagte
Manuel nun leise. Enttäuschung schwang in seiner Stimme mit.
„Doch, diese Überraschung ist Dir gelungen“,
erwiderte Gabriel leise. Sein Blick allerdings ging an Manuel vorbei zu Marc.
„Scheinbar bedeutet er Dir viel.“
Manuel sah zu Marc. „Wenn ich hier bin, treffen wir
uns durchaus, und dieses Mal sind wir uns unterwegs begegnet. Ich war auf dem
Weg zu Dir.“ Gabriel
nickte nachdenklich.
„Es ist schade, dass Du Dich nicht darüber freust, dass ich dich besuche.“
Wirkliche Enttäuschung glomm in den blauen Augen des jungen Mannes.
Gabriel legte ihm sanft die Hand auf die Schulter.
Er wusste dass es ein Fehler war. Dennoch konnte er diesen traurigen Augen
nicht widerstehen.
„Verzeih, Manuel.“
Dann wandte er sich Marc zu. Sein Blick gefror.
„Was ich von Dir denke, muss ich nicht mehr in Worte
fassen. Du bist dieser Mühe nicht mehr wert. Aber das eine noch, als Zeichen
meines guten Willens.“
Marc schien in seinen Kleidern zu schrumpfen.
Gabriel schüchterte ihn ein, so sehr, dass seine Augen sich verengten und er
anfing zu wimmern.
„Pack Dein Zeug bei Friedrich und verschwinde. Die Anwälte in meinem Haus
haben Anzeige gegen Dich erstattet.“
Seine Augen weiteten sich ängstlich. Dann wich er
zurück. Hilfe suchend schaute er zu Manuel. Ein kurzer Blick Gabriels reichte
um ihm zu zeigen dass, gleich was zuvor zwischen den Beiden als Abkommen
existierte, er seinen Handlanger gerade fallen ließ.
Der Fotograph nahm es allerdings nur zur Kenntnis.
Später wollte er darauf eingehen, wenn er allein mit Manuel war.
Marc sprang auf und wankte einige Schritte zurück,
bevor er gegen ein Hindernis stieß. Als er herumfuhr, panisch, die nackte
Angst in den Augen, fand er Friedrich vor sich, der ihn nur sanft und
mitleidig betrachtete.
„Friedrich… ich…“ er zitterte am ganzen Leib. „Ich
habe nichts gemacht. Ich wollte doch nur… ich hatte Angst, und dann rief er
mich an, rief mich zu sich. Er…!“
Der Punk deutete auf Manuel.
Friedrich legte ihm behutsam die Finger über die
Lippen. „Ich will nur eines wissen, Marc. Warum.“
Der Junge starrte ihn fragend an und Friedrich
begriff, dass er die Frage spezifizieren musste.
„Warum ich? Warum hast Du Dir mich ausgesucht? Ich
bin alt genug um Dein Vater zu sein. Und Du wusstest genau, dass ich in Dir
immer einen Sohn und nie die Liebe meines Lebens gesehen habe. Gabriel ist
meine große Liebe, und ich werde niemals einen anderen Mann so lieben können.
Warum hast du Dir niemand gesucht, der Dir adäquat ist?“
Marc starrte ihn aus brennenden Augen an. Angst,
Schmerz und Wut einten sich.
Obgleich sie leise gesprochen hatten, war Marcs
auffälliges Verhalten Anlass für die Gäste neugierig zuzuschauen.
Der Punk hatte nichts mehr zu verlieren. Mit aller
Gewalt boxte er Friedrich in den Bauch. Er trieb ihm die Luft aus den Lungen.
Als der alte Mann zur Seite taumelte, spuckte ihn Marc an. Zu sehr viel mehr
gab ihm Marius gar nicht die Chance. Für ihn war das Maß voll. Er ertrug diese
weinerliche Art des Punks nicht und verabscheute seine Stimmungsschwankungen.
Wütend riss er ihn am Ärmel seiner Jacke zu sich und zerrte ihn aus der Bar.
Gabriel wollte noch etwas sagen, ihn aufhalten, fuhr
aber zusammen, als er hörte, dass Manuel gerade die Polizei rief.
Das war das Letzte, was er gebrauchen konnte, ein
zweites Mal Polizei. Es schadete Marius, wenn dieser Marc wirklich etwas tat,
ruinierte seinen Ruf und den Gabriels.
Er wollte auf diesem Weg sicher nicht bekannter
werden. Sein Blick
traf Manuels. Die Kälte, die in den Augen seines Neffen ruhte, war der seinen
nicht unähnlich. Aber da war mehr. Die reine Boshaftigkeit und ein
vernichtender Hass, der ihn erschütterte.
Er musste nicht nach dem Grund fragen. In diesem
Fall ahnte er schon worauf es hinaus lief.
Es ging um Gabriels Stellung in der Familie und die
Tatsache, dass er alleiniger Erbe des Familienvermögens war. Die Tatsache,
dass er alles aufgeteilt hatte und sich sogar aus Italien, der Politik und der
Gesellschaft fern hielt, reichte Emilia und Manuel nicht.
Manuel, seine Rolle darin war die des Verführers,
der das Vertrauen ausnutzte.
Gabriel hatte vor den Spieß umzudrehen. Das konnte
er nicht zulassen, schon wegen Marius und Friedrich nicht.
Er drehte sich um und trat zu Friedrich, der sich
langsam wieder aufrichtete. Vorsichtig nahm er ihn an den Schultern und
stützte ihn. „Geht es
Dir gut?“ fragte Gab und wusste zugleich, dass diese Frage lächerlich war.
„Mein Ego hat Schaden genommen“, erwiderte sein
Freund. In seiner Stimme klang ein ironischer Unterton mit. Leider lag diese
Ironie weit näher an der Wahrheit, als es Friedrich recht gewesen wäre.
Er fingerte in seiner Jacke nach einem Taschentuch
und wischte sich den Speichel Marcs aus dem Gesicht. Er richtete sich auf und
strich sich seine Kleidung glatt. Der alte Mann war zu stolz, um sich eine
weitere Blöße zu geben. Behutsam strich er über Gabriels Wange.
„Lass uns gehen.
*
Marc wollte schreien, einfach nur seine panische
Angst vor dem schönen, kraftvollen Mann in die Nacht hinaus brüllen. Marius
versetzte den Punk in solche Panik, dass er nicht einmal mehr seine Stimme
kontrollieren konnte.
Bebend, wimmernd, sank er zusammen und fiel auf seine Knie. Alles an ihm
zitterte. Krampfartig zog sich seine Brust immer wieder zusammen und seine
Schultern zuckten heftig. Er weinte, ohne eine Träne zu vergießen.
Sein Gesicht hielt er halb in den Händen verborgen.
Das was Marius im schummrigen Restlicht der Straßenbeleuchtung sah, hier, in
einer geschützten Toreinfahrt, trieb seinen Ekel gegenüber Marcs immer weiter.
Der Goth hatte ihm den Schlüssel zu Friedrichs
Wohnung abgenommen. Es war nichts als eine Vorsichtsmaßnahme. Marc neigte ganz
eindeutig zu unkontrollierter Hysterie und Überreaktionen, wie die Aktion am
Nachmittag eindrucksvoll bewiesen hatte.
Das Gesicht des Punks verzerrte sich zu einer
Grimasse und ließ den hübschen Jungen hässlich erscheinen wie ein
Brunnenspeier. Marius
musste nichts tun. Marc allein entblößte auf widerlichste Weise seine schwache
Seele. „Schlag’ mich
nicht... bitte, bring’ mich nicht um...“ wimmerte er.
Er wagte nicht einmal Marius anzusehen. Sein Blick
haftete mit solcher eiserner Verbissenheit an dem Boden, dass er nicht einmal
mitbekam, als der Goth sich einfach nur wortlos abwendete und ging.
*
Was in und um die Bar herum
noch geschah, bekamen die drei Männer nicht mehr mit. Gabriel kehrte mit ihnen
in sein Appartement zurück. Den Weg dorthin gingen sie schweigend. Jeder von
ihnen hing seinen Gedanken nach. Marius, immer noch entsetzt über die elende
Jammergestalt, die Friedrich so lange Jahre schändlich genarrt hatte, konnte
seine Gedanken kaum ordnen. Ein schwächerer Mann als dieser Marc war ihm nie
zuvor unter gekommen. Zudem sah er in diesem labilen Menschen einen eigentlich
sehr gefährlichen Gegner, der dringend psychiatrische Behandlung brauchte.
Friedrich trauerte still. Sein Herz hatte sich
verdunkelt. Er war nun allein. Schon oft hatte er darüber nachgedacht, was
passieren würde, wenn Marc ihn verließ. Allerdings kam es nicht an dieses
grauenhafte Spiel heran, was sich binnen eines Tages vor seinen Augen
aufgerollt hatte. Das Ausmaß der Lügen, die ihm der Junge aufgetischt hatte,
ließ sich zwar theoretisch für ihn erfassen, aber seine Gefühle konnten es
nicht ertragen. Sein Herz brannte vor Schmerz, vor Leid. Und zu alledem
erkannte er immer deutlicher, dass seine Liebe zu Gabriel so sehnsüchtig und
stark war, dass er sich bei dem Gedanken ertappte es zu bereuen, nicht in der
ersten Nacht, in der sie aufeinander trafen, mit ihm geschlafen und ihn zu
seinem Gefährten gemacht zu haben.
Seine Zerrissenheit machte ihn wahnsinnig. Er konnte
nichts dagegen tun. Die Nähe Marius’ und Gabriels machte es ihm nur noch
schwerer. Er brauchte einige Zeit für sich, nur zum Nachdenken.
Manches mal empfand er die Fähigkeit zu denken nicht
als Segen, sondern als Fluch. Er dachte, ständig, permanent und er litt unter
dem, was in ihm vor sich ging.
Gabriel hingegen grübelte über seinen Neffen und
über Marc. Der Punk war nichts als ein unwissender Informant und ein kleines
Licht. Wahrscheinlich horchte ihn Manuel mit Leichtigkeit aus und nutzte seine
beständige Lust, um ihn zu lenken wie eine Puppe.
Aber was hatte Manuels ganzes Wesen so verdreht,
dass der fünf Jahre jüngere Mann sich so gegen Gabriel stellte? In den Ferien
verbrachten sie viel Zeit miteinander und fuhren zusammen weg, nutzten die
Nähe des Anderen, um den Hass der Familie zu verdrängen und sich in ihrer
Fremdartigkeit zu dem Rest der Welt zu feiern.
War Manuel von Anfang an darauf aus, ihn zu
ruinieren? Wollte er all das Geld, was Gabriels Vater seinem einzig
überbliebenen Kind vermachte? Gabriel hatte zugunsten seiner Schwägerin und
seines Neffen das immense Vermögen geteilt und ihr alle Besitztümer in Italien
gelassen. Sogar auf seinen Namen und seinen Titel verzichtete er. Hier, in
Deutschland hatte er sich ein neues Leben geschaffen, eine neue Existenz. Er
studierte hier, um Künstler zu werden, nahm sogar einen neuen Namen an um der
Familie nicht zu schaden und gab alle Rechte auf, den Adelstitel, den er nach
seinem Geburtsrecht trug, zu nutzen.
Was wollte Emilia mehr? Er gab ihr alles, weit mehr,
als er behielt. Aber
war es überhaupt Manuels Mutter, die ihn vernichten wollte?
Schließlich war es Gabriel, der das Schweigen brach,
kurz bevor sie die Villa wieder erreichten.
„Wenn wir eine definitive Verbindung zwischen Marc
und Manuel finden und glaubhaft beweisen können, bedeutet das, beide Männer in
ihre Schranken zurückzuweisen.“
„Wir haben nichts, was das Geschehen in der Bar
belegen kann, Gab“, murmelte Friedrich niedergeschlagen.
„Bist Du sicher?“ fragte der Fotograph. Das Funkeln
in Gabriels Augen verriet Friedrich, dass er eine Idee hatte.
So gerne auch Friedrich alleine gewesen wäre, sosehr
weckte Gabriels Plan doch seine Neugier. „Was geht Dir durch den Kopf?“
Marius nickte. „Das würde mich ehrlich gesagt auch
interessieren.“ Gab
blieb stehe und wendete sich zu seinen beiden Freunden um.
„Wir haben drei Anhaltspunkte,“ begann er. „Ich bin
mir sicher, dass wir in Marcs Sachen und Unterlagen einige Anhaltspunkte
finden, und wenn es ein Geldbetrag, eine Überweisung auf sein Konto sein
sollte. Kleine Gefälligkeiten. Ich weiß, wie Manuel ist. Er schenkt gerne, und
oftmals lassen sich diese Geschenke zurückverfolgen. Das was er mir schon
alles mitbrachte, waren Einzelanfertigungen speziell für mich, und zumeist mit
Gravur.“ „Glaubst Du,
er würde etwas für diesen Punk anfertigen lassen?“ fragte Marius zweifelnd.
„Das vielleicht nicht, aber er ist wie die Seele
einer Wagneroper, pathetisch und schwülstig, soll heißen, er würde es sich
nicht nehmen lassen, ein Andenken zu hinterlassen, was Ewigkeitswert besitzt.“
Marius hob eine Braue und sah zu Friedrich. „Sag’
mal, hatte er manchmal Schmuck, den Du nicht kanntest, oder etwas, dass
einfach zu teuer und zu schräg war, um es täglich zu tragen?“
Der alte Mann nickte. „Schon, aber er sagte mir
immer, dass es Modelle von Gab wären, die er so bekommen hatte.“
„Ich habe ihm nur einfachen Schmuck mitgegeben,
Lederhalsbänder, Armschienen, einen Klauenring und einige Billig-Ketten, die
einzelne der Modelable einfach so als Webegeschenke beifügen. Sonst nichts.
Das, was er immer behalten konnte, waren 50% der Kleider, die er zum Modeln
trug und sonst nichts.“
Friedrich gab einen leisen, undefinierbaren Laut von
sich. „Er trägt immer sein Zigarettenetui mit sich herum eines aus Silber, was
er angeblich von Dir hatte Gab.“
„Vielleicht ist er sich dessen auch sicher, da sich
Gabriel und Manuel irrsinnig ähneln,“ merkte Marius an.
„Zumindest habe ich ihm nie ein Zigarettenetui
geschenkt“, fügte Gabriel hinzu. „Wie schaut es mit Geld aus, Friedrich? Hat
er übermäßig viel Geld gehabt?“
Der alte Mann hob die Schultern. „Er kam oft
Tagelang nicht nach Hause. Ich habe keine Ahnung, was und wie viel er
verdiente.“ „Wenn wir
zu Dir fahren, alles durchsuchen, vielleicht finden wir dort etwas“, schlug
Marius vor. „Und ich
denke, dass er einige der wichtigsten Sachen bei sich hatte, Marius.
Wahrscheinlich liegen sie noch immer in seinem Auto, und das dürfte
abgeschleppt worden sein.“
Gereizt trat der junge Goth einen Stein zur Seite
und nickte. „Nicht nur sein Wagen, meiner auch.“
Gabriel streichelte ihm sanft über den Arm. „Fährst
Du zusammen mit Friedrich nach Birlenbach und sichtest die Sachen Marcs?“
fragte Gabriel. Marius
hob eine Braue. „Ich
bin nachtblind“, gab Friedrich leise zu. „Nachts zu fahren ist immer ziemlich
gefährlich für mich.“
Der junge Mann starrte überrascht zu seinem Freund. Damit hatte er bei
Friedrich nicht gerechnet. „Sicher, aber mein Auto ist auf dem Parkplatz des
Ordnungsamtes“, flüsterte er unbehaglich.
Gabriel sah beide an. „Dann nehmt den Wagen
Friedrichs, oder meinen.“
Entsetzt schüttelte Marius den Kopf. „Dein Schiff
will ich gar nicht. Mit solch einem großen Auto bin ich noch nie gefahren.“
Wortlos fischte Friedrich seinen Autoschlüssel
zusammen mit seinen Zigaretten aus der Hosenasche und hielt dem Jungen beides
hin. „Zigarette?“ fragte er, während er Marius den Zündschlüssel seines alten
Wagens in die Hand drückte.
Das Metall fühlte sich warm an, genauso warm wie der
Körper Friedrichs sein musste, überlegte der Goth.
Er nahm eine der Zigaretten und bedankte sich. Aus
seiner Hosentasche zog er ein Sturmfeuerzeug und klappte es auf. Die Flamme
flackerte auf. „Hier“,
lächelte er. Friedrich
neigte sich ihm entgegen und zog an der Zigarette, bis der Tabak rot
aufglühte. „Danke,“
erwiderte Friedrich, während er den Rauch ausstieß.
Marius nickte nur und entzündete seine Zigarette
ebenfalls. „Was hast
Du vor, Gabriel?“ fragte er leise.
„Vieles“, lächelte dieser. „Ein paar Kontakte in
Italien reaktivieren, deinen Wagen auslösen, mit der Polizei verhandeln,
Bilder sichten, auf denen vielleicht interessante Schmuckstücke sind, die eine
Vergrößerung auf Fotopapier verdienen, Mails schreiben, das übliche Spiel,
wenn man dafür sorgen will, die Familie wieder in ihre Schranken zu
verweisen“, lächelte er.
Friedrich schienen zu verstehen, aber Marius, der
noch keine Details von Gabriels Vergangenheit wusste, machte den Eindruck,
leicht überfordert zu sein.
„Erklärst Du mir das auf der Fahrt genauer,
Friedrich?“ fragte er leise.
Der alte Mann nickte nur und überquerte die Straße,
um auf dem Parkplatz seinen Wagen zu erreichen.
*
Lange schon hatte Gabriel
nicht mehr so ausgiebig seinen italienischen Wortschatz nutzen müssen wie an
diesem Abend und in dieser Nacht. Er telefonierte mit den Anwälten seines
Vaters und ließ sich genaue Einsicht in die Konten seines Neffen geben. Der
Senior-Partner der Kanzlei, einst der Vormund Gabriels, stand dem jungen Mann
heute noch nah. Er fand sich sofort bereit, ihm diverse Auskünfte zu erteilen,
unter anderem Dinge, die das Vertrauen des Fotographen in seine Familie noch
weiter erschütterten.
Der alte Mann versprach Gabriel alle Unterlagen, die er benötigte, unter
anderem alle Kontenbelege Manuels, zu mailen und so schnell wie möglich nach
Wiesbaden zu kommen.
Außerdem legte er Gabriel nahe seine Verfügung über die Teilung des Vermögens
und die Abtretung des Titels unwirksam zu machen.
Das war etwas, dass den Fotographen ziemlich lange
beschäftigte. Aber letztlich kam er zu dem Schluss, dass nicht er den Ruf der
Familie schädigte, sondern seine Schwägerin. Scheinbar konnte nur noch ein
weit schrecklicherer Skandal, als der, den offensichtlich Manuel in Italien
mit einigen Jungen Männern losgetreten hatte, die Familienehre retten.
Langsam wurde Gabriel auch klar, aus welchem Grund
sich Manuel hier aufhielt. Scheinbar suchte er nach einer Möglichkeit hier Fuß
zu fassen, aber möglichst ohne einen lästigen Verwandten, der ihm nur Probleme
bereiten konnte. Marc
war tatsächlich nichts weiter als sein Mittel zum Zweck.
Nachdem er aufgelegt hatte, musste Gabriel selbst
erst wieder geistig Boden gewinnen. Die Nachricht, dass der Name seines Vaters
nichts mehr wert und alles Geld der Familie die Ehre nicht zu retten im Stande
war, ließ ihn an seiner damaligen Entscheidung zweifeln. Er musste tatsächlich
das, was er einst verfügte, zurückziehen.
Es tat ihm leid, schon weil ihn doch wenigstens
einige, Erinnerungen und schwache Gefühle an Emilia und Manuel banden, die
letzten lebenden Mitglieder seiner Familie.
Aber er war nicht bereit, den Ruf und die Ehre zu
riskieren. Manuel
würde nichts zu lachen habe, wenn sie sich das nächste Mal trafen.
*
„Was ist eigentlich mit
Gabriel?“ fragte Marius, der den Wagen Friedrichs von der Beschleunigungsspur
auf die A3 Richtung Limburg hinaus steuerte.
Um diese Uhrzeit fuhr der junge Mann besonders
gerne, denn er hatte ziemlich die gesamte Strecke für sich allein. Vereinzelt
begegneten ihnen LKWs.
„Hat er Dir nichts erzählt, Marius?“ antwortete
Friedrich mit einer Gegenfrage.
„Bisher noch nicht“, murmelte der junge Mann
verdrießlich. Ihn verletzte es schon, dass er, als Gabs Partner, weniger von
seinem Liebhaber wusste als jeder andere.
„Wahrscheinlich hätte er es Dir auch nicht gesagt“,
vermutete Friedrich. „Er hasst es über die Vergangenheit zu reden.“
„Was ist damals passiert...“ er stockte leicht. „Ich
meine den Teil, den ich nicht kenne. Die Geschichte, wie ihr euch begegnet
seid, ist mir bekannt.“
„Das alles, auch die Sache mit Manuel und Giovanni,
ist weit vor meiner Zeit gewesen“, beteuerte Friedrich.
Marius sah ihn aus den Augenwinkeln an. „Erzähl,
bitte.“ „Du weißt,
dass Gabriel Italiener ist, oder?“ fragte der alte Mann.
Ein leises Nicken antwortete ihm.
„Er stammt aus Süditalien, aus einem wunderschönen
Weinanbaugebiet. Seine Familie hat viel Land und eine der bekanntesten
Keltereien Italiens. Schon im Mittelalter war die Familie von Adel, und das
hielt sich sogar über das Kommunistische Regime nach dem 2. Weltkrieg hin.“ Er
setzte sich etwas bequemer hin und wendete Marius seinen Blick zu. „Die
Familie ist bekannt und unheimlich reich. Gab ist der Sohn aus 2. Ehe. Die
erste Frau seines Vaters starb jung und viel zu früh. Sie hinterließ ihm den
älteren Sohn, Giovanni, Manuels Vater. In späten Jahren allerdings heiratete
der alte Mann ein weiteres Mal, und die Frau gebar ihm Gabriel, der damals
auch noch einen anderen Namen hatte.“
Marius sah ihn aus großen Augen an. „Welchen, und
warum hat er ihn geändert?“
„Er hieß Rafaele. Zugunsten seiner Schwägerin und
Manuels hat er einen anderen Namen angenommen, denn ein Künstler in der
Familie, insbesondere in dem streng katholischen Italien ein schwuler
Künstler, würde den Familiennamen beschmutzen, gleich wo er gelebt hätte.“
Marius schluckte hart. Davon hatte er nichts
gewusst. „Gab wuchs
auch nicht zu Hause in Italien auf, im Gegensatz zu Giovanni, Jahre zuvor,
sondern besuchte von frühester Jugend an Internate in der Schweiz, England,
Deutschland und Frankreich. Als er ein Teenager war, verlor er seine Eltern
und seinen Bruder. Sie starben, als ihr Flugzeug abstürzte. Laut
Augenzeugenberichten und Bildern war es offenbar kein einfacher Unfall.
Entweder hat der Pilot die Gewalt über die Maschine verloren, oder es war
Sabotage.“ Marius
veriss einen Moment den Lenker und schlingerte über zwei Spuren. Friedrich
klammerte sich an den Handgriff und starrte entsetzt auf die Fahrbahn.
Allerdings fing der junge Mann den Wagen wieder ab und rollte bedächtiger
weiter. „Sorry“,
murmelte Marius verstört. Das eben war zu viel für ihn gewesen.
„Musst Du mich so erschrecken? Ich bin nicht mehr so
jung wie Du...“ Friedrich lächelte allerdings.
„Willst Du damit andeuten, dass es Mord war?“ fragte
der junge Mann nun leise.
„Darin war sich die Polizei wohl nie sicher“,
entgegnete Friedrich.
Allein der Gedanke ließ Marius schaudern. Was, wenn Manuels Mutter damals die
Finger im Spiel gehabt hatte ...?
Er zog es allerdings vor den Gedanken nicht laut zu
äußern, zumal er davon ausging, dass Friedrich auf die gleiche Idee gekommen
sein dürfte. „Der
Erbverwalter war damals der Anwalt seines Vaters, und zugleich war er auch der
Vormund Gabriels. Ein sehr freundlicher Mann. Auf Bitte des Jungen hin, der
sich immer schon sehr gut mit seinem Neffen verstand, wurde Emilia, Gabriels
Schwägerin, der 5-fache Witwenanteil ausgezahlt, um ihr und Manuel dasselbe
Leben zu gewährleisten, wie sie es bisher geführt hatten. Nach seiner
Volljährigkeit bat er auch darum, dass das Vermögen halbiert würde und Emilia
das alleinige Recht verbliebe, den Adelstitel weiterzugeben. Er überließ ihr
auch das Weingut und die Kelterei. Früh wusste er bereits, dass er
gesellschaftlich nicht tragbar war, weil homosexuell. Er wollte sich
zurückziehen und sein Leben selbst bestreiten. Das ist, was er auch heute tut.
Er ist ein bekannter Fotokünstler und Maler geworden. Seinen Titel und sein
Geld verschweigt er zumeist.“
„Jetzt ist mir auch klar, was Gabriel vorhin
andeutete...“ Marius seufzte. Er hatte sich offenbar nicht nur einen schönen
und gebildeten Partner gesucht, sondern einen Märchenprinzen, einer, der ihn
liebte, allerdings bemerkte er, wie viele andere Männer sich um ihn bemühten.
Friedrich stand allen voran. Er liebte Gabriel und die Art, wie ihn sein
Liebster behandelte und ansah, war Marius Zeichen genug, dass Gabriel diese
Gefühle erwiderte. Konnten sich Gefühle so auftrennen? Oder war er nur dafür
da, die körperlichen Bedürfnisse Gabriels zu stillen? Warum hatte sein
Geliebter ihm nie etwas von seiner Vergangenheit erzählt? Warum schwieg er
darüber und zeigte sich kühl und unnahbar?
Was fühlte er für Marius?
Unsicher senkte er den Blick.
„Was ist, mein Junge?“ fragte Friedrich leise.
„Liebt Gab mich, oder bin ich nur für den Sex da?“
fragte Marius leise.
Fassungslos starrte Friedrich ihn an. „Willst Du andeuten, Du vertraust ihm
nicht?“ „Scheinbar
vertraut er mir nicht, Friedrich“, entgegnete Marius niedergeschlagen. Er
fühlte sich schlecht und verspürte gar keine Sehnsucht mehr danach, bei
Gabriel zu leben. Im Gegenteil drängte ihn alles zur Flucht.
„Hast Du ihn je gefragt, was er für Dich fühlt und
ihm dabei in die Augen gesehen, ohne gleich an Sex zu denken?“ flüsterte
Friedrich. „Wenn nicht, solltest Du das mal versuchen. Du wirst sehen, dass Du
einer der wenigen Menschen bist, die sein Herz erreicht haben und der Einzige,
der es besitzt. Niemand außer Dir kann behaupten, dass er in jeder Form von
ihm geliebt wurde und wird. Normal trennt er Gefühl und Körper voneinander.“
„Ich habe den Eindruck“, murmelte Marius traurig.
„Dass es bei mir nicht anders ist. Ich bin nur Erfüllung seiner Wünsche…“
Ärgerlich nickte der alte Mann. „Das ist auch
Richtig. Du stillst seine Sehnsucht nach einem Gefährten, einem Freund, einem
Geliebten und so vieles mehr. Reicht Dir das nicht?“
Marius atmete tief durch. Im ersten Moment wollte er
es nicht aussprechen. Schließlich aber zwang er sich dazu in Worte zu fassen,
was er bislang nur gedacht hatte. „Was ist mit Dir? Dich liebt er, und nicht
nur wie einen Freund. Ihr passt perfekt zueinander. Ihr liebt euch von ganzem
Herzen, seid belesen und gebildet. Was hindert euch, auch den letzten Schritt
zu wagen und miteinander zu schlafen? Ich sehe doch in Deinen Blicken die
Lust, die in dir schläft und nur darauf wartet von ihm geweckt zu werden. Er
will Dich und du willst ihn.“
Friedrich senkte den Blick. „Das mag wohl stimmen,
aber dennoch ist es anders und fast unmöglich zu erklären.“
Marius schien das Herz zu brechen.
Friedrich betrachtete ihn
von der Seite. Es tat weh, ihn so zu sehen. Davon abgesehen wusste er nur zu
gut, dass Gabriel sich entschieden hatte. Wenn er Friedrichs Gefühle wirklich
auf diese Art erwidert hätte, wäre es ihm egal gewesen, ob es einen Marius
gegeben hätte oder nicht. Gabriel liebte Marius, und das auf solch intensive
Art, dass der alte Mann fast Angst davor bekam.
„Aber gegen all die Liebe, die er schon für Dich
empfand, als ihr euch noch nicht persönlich kanntet und nur einander
geschrieben habt, komme ich nicht an. Ich verblasse neben Dir zu dem was ich
bin, ein Nichts. Frage ihn selbst, was er für Dich fühlt, und was er denkt.
Ich muss es nicht. Ich kenne seine Antwort.
*
Gabriel hatte unterdessen Marius’ Auto ausgelöst und
den kleinen R5 nach Hause gefahren. Die Zeit, die ihm blieb, nutzte er zum
nachdenken. Immer wieder kam er zu dem Schluss verraten und verlassen worden
zu sein. Nur Marius und Friedrich waren noch da. Und beide Männer wollte er
nicht wieder fort lassen. Er nahm sich vor, alle Verbindungen nach Italien
abzubrechen, und nur noch über Anwälte mit seiner Familie zu kommunizieren.
Als er ausstieg, viel ihm auf, dass Licht aus seinem Wohnzimmerfenster drang.
Automatisch sah er über den Parkplatz, fand aber Friedrichs Wagen nirgends.
Ein ungutes Gefühl machte sich in ihm breit. Marc. Er wusste, dass Gabriels
Wohnungstüre immer offen stand.
Der Fotograph zog die Brauen zusammen und sah sich
um. Da es bereits einige Stunden nach Mitternacht war, hatte sich eine fast
unnatürliche Stille über das Villenviertel gelegt. Nur ein vorbei rollender
Wagen zerriss für einen Moment die Stille. Gabriel senkte die Lider, spähte in
die Dunkelheit. Vielleicht befand sich Marc noch hier in der Gegend. Ihm lag
sehr wenig an einer Begegnung. Nicht weil er Feige war. Er wusste, dass der
Punk wesentlich weniger kräftig und auch wesentlich langsamer war als Gab. Zum
Heldentum in dieser Form allerdings fehlte ihm der Sinn. Er gehörte zu der
Sorte Mensch, die realistisch war und die passenden Stellen informierte.
Vorerst setzte sich Gabriel wieder in den Wagen und schloss die Türe.
*
Marius war gelinde entsetzt
von dem Zimmer Marcs. Er galt schon nicht der Inbegriff des Wortes Ordentlich.
Aber der Punk hatte aus seinem Teil der Wohnung einer verlebte Räuberhöhle
gemacht. Unter schmutziger, durcheinander geworfener Wäsche, in der einige
Seiten von Comics und Gay-Magazinen lagen, fand Marc Essensreste, die diesen
Namen nicht mehr verdienten, da sie sich bis zur vollständigen Unkenntlichkeit
aufgelöst hatten. Bett
und Bettlaken waren hart vom Sperma und stanken. Er konnte nicht begreifen,
dass man so leben konnte. Allein der Anblick widerstrebte Marius so sehr, dass
er ganz automatisch begann sich zu kratzen.
Ekel erfasste ihn bei jedem Schritt aufs Neue.
„Sorry, Friedrich, aber das ist auch für mich zu
hart“, murmelte er und tastete sich seinen Weg zum Fenster vor.
Dieser nickte angeekelt und arbeitete sich auf den
Schreibtisch zu. Unter
Unmassen von Schwulen-Pornos fand er schließlich einige zerknitterte
Kontenauszüge, auf die offenbar auch Sperma getropft war. Mit spitzen Fingern
hob er sie hoch und grinste. „Einfacher als angenommen, Marius. Sein Chaos ist
sein Untergang“, lächelte Friedrich. Er zog die Auszüge an einer Ecke hervor
und zerriss einen davon versehentlich, weil er auf Tischplatte festklebte.
Marius stieg über einen großen Berg Müll und leerer
Flaschen hinweg. „Zeig mal,“ bat er.
Friedrich reichte ihm die Auszüge.
Unwillkürlich würgte der junge Mann wieder,
beherrschte sich aber. Insgeheim dachte er doch an Gabriels schöne und saubere
Wohnung und an ein heißes Bad.
Aktuell wollte er nichts als nach Hause und zu Gab.
Alles hier bedrückte und verunsicherte ihn.
Aber zumindest der Kontenauszug erheiterte sein
Gemüt etwas. Offenbar
hatte Manuel von seinem privaten Konto mehrere Tausend Euro überwiesen,
„Damit können wir etwas anfangen…“
Sein Handy klingelte unvermittelt. Der junge Mann
sah zu Friedrich. „Gab vielleicht?“
Der alte Mann nickte. „Sicher sogar.“
Marius zog sein Handy hervor, sah auf das Display
und nickte lächelnd. „Wahrscheinlich macht er sich schon Sorgen, wo wir
bleiben.“ „Was denn
Gab?“ fragte er, als er die Sprechtaste drückte.
„Bitte kommt so schnell es geht wieder nach
Wiesbaden“, flüsterte Gab. Eisiges Entsetzen schwang in seiner Stimme mit.
„Was ist passiert!“ schrie Marius mit
überschnappender Stimme. Friedrich starrte ihn erschrocken an.
„Marc… er war hier“, flüsterte Gabriel tonlos. „Er
hat sich gerächt…“
*
Bereits auf dem Parkplatz fielen Marius und
Friedrich die beiden Streifenwagen auf und eine kleine Traube neugieriger
Anwohner, die sich teilweise nicht einmal entblödete, in ihren Morgenmänteln
da zu stehen. Das
ungute Gefühl Marius’ verstärkte sich zu einer massiven Übelkeitsattacke, als
er die Treppen zu Gabriels Appartement hinauf eilte und bereits einen
Polizisten sah, der Marion vernahm.
Gabriel hatte ihm am Telefon nicht spezifiziert, was
passiert war. Oben auf
dem Podest stand Gabriel, reglos, wie eine Statue. Seine Haut hatte die Farbe
weißen Marmors und sein Blick verlor sich in der Ferne.
„Was ist passiert!“ rief Marius schon von unten.
Erst jetzt regte sich Gabriel und sah hinab. Die Ausdruckslosigkeit seines
Blickes erschütterte Marius zutiefst. Mit einigen Schritten erreichte ihn der
junge Mann. Langsam drehte sich Gabriel zu ihm, senkte die Lider und
umklammerte ihn fest. In der Sekunde fühlte Marius, wie sehr sein Freund
zitterte, wie kalt er war.
Friedrich schloss erst jetzt zu den beiden Männern
auf und legte seine Hand auf Gabriels Schulter.
„Er hat Uriel und Sokrates umgebracht“, flüsterte
Gabriel tonlos. Marius
Herz setzte für eine Sekunde aus. Er war versucht Gabriel loszulassen und
hinein zu stürmen, wollte schreien, toben, Marc am liebsten den Hals dafür
umdrehen, aber dann fühlte er die sanfte, liebevolle Berührung Gabriels, der
ihn in seine Arme schloss und an sich drückte, spürte die heißen, stummen
Tränen seines Liebsten, die auf seine Schulter fielen, spürte das gleiche
tiefe Leid und die Trauer, aber auch die Wärme und die Liebe, die dieser Mann
für ihn empfand. Aller Zorn wich und er wollte nichts anderes mehr, als sich
an Gab zu klammern.
Friedrich ließ das Paar alleine und betrat die Wohnung. Einer der Polizisten
sah kurz hoch. Es war derselbe Mann, der schon am Nachmittag des Vortages hier
war. Bleich und abgespannt wirkte er, lächelte aber schmerzlich.
„Es tut mir leid“, sagte er leise. „Im Moment meint
das Schicksal es nicht gut mit Ihnen und Ihren beiden Freunden, oder?“
Friedrich nickte schwermütig und sah sich kurz um.
Marc hatte die Wände mit allem möglichen beschmiert und das Glas der
filigranen Gusseisenmöbel zertrümmert. Mitten im Flur auf dem nachtblauen
Teppich lag der blutige Leib des weißen Katers. Ein Kollege des Polizisten
fotografierte das Tier gerade. Friedrich zog es das Herz zusammen, wenn er
daran dachte. Ein anderer Polizist kam gerade mit einem Tütchen zurück, in dem
sich eine silberne Zigarettendose befand. Die Dose, die Marc immer bei sich
trug. Friedrich senkte
den Blick. „Wo sind die anderen Tiere?“ fragte er leise.
Der Beamte, der ihn angesprochen hatte, deutete zur
Küche. „Wir haben sie dort eingesperrt. Sie sind ganz schön wild.“
Friedrich nickte. „Und das vierte Tier? Das, was
wohl auch tot ist.“
Der Polizist deutete auf das Schlafzimmer. „Der Kerl hat das kleine Tier auf
dem Bett auseinander genommen,“ murmelte er. „Wie krank kann man denn nur
sein?!“ Das fragte
sich Friedrich in der Sekunde auch. Gabriel hatte jedem untersagt, sein
Schlafzimmer zu betreten, aber vermutlich Marius nicht. Er schauderte bei dem
Gedanken, dass Marc 7 Jahre an seiner Seite lebte, und er die Natur des Jungen
immer unterschätzt hatte.
„Wollen sie es sich ansehen?“ fragte der Polizist.
Friedrich betrachtete das ehrliche, runde Gesicht des Mittvierzigers,
schüttelte den Kopf und deutete auf die Türe. „Mich zieht es eher zum Leben
hin.“ „Vorsicht, die
drei Rabauken sind ziemlich aufgebracht und wild“, warnte ihn der Mann.
Friedrich sah zum Ausgang und betrachtete das
verzweifelte Paar. „Marius, denke bitte auch an deine anderen Tiere. Die drei
brauchen Dich jetzt.“
Der junge Mann löste sich langsam von Gabriel und verschränkte seine Finger in
denen seines Liebhabers. Er wollte die Wohnung nicht ohne ihn betreten. Diesen
Gang konnte er nur mit Gabriel bewältigen.
Der Anblick des toten Katers ließ ihn verharren.
Alles in ihm weigerte sich, weiter zu gehen.
Offenbar verstand der Polizist gleich, was in Marius
vor sich ging. Er deckte den Kadaver wortlos mit seiner Jacke zu.
Friedrich streckte ihm die Hand entgegen und nickte
ihm zu. „Du bist nicht alleine.“
Still schloss Marius seine Augen und ließ sich
vertrauensvoll von Gabriel und Friedrich führen.
Er begann endlich zu verstehen, dass er in diesen
beiden Männern seine ganze Welt und seine Familie gefunden hatte, denn beide
würden ihn nicht alleine lassen. Niemals.
Die restliche Nacht
verbrachten die drei Männer in einem Hotel. Für Gabriel stand fest, er würde
diese Wohnung endgültig aufgeben. Und er überraschte Marius sehr, als er von
sich aus darum bat, mit ihm zusammen zu ziehen und mit ihm eine neue Wohnung
oder ein kleines Haus auszusuchen. Gleich welche Bedenken Marius zuvor noch
gehabt hatte, sie schienen wie fortgewischt. Er hatte innerhalb weniger
Stunden herausgefunden, dass er tatsächlich der einzige Mensch war, der Zugang
zu Gabriels Herz fand und das Eis in ihm brechen konnte. Das allein, dieses
Wissen und diese Sicherheit, der Gedanke an das Gefühl, was ihn in dem Moment
ergriff, als er spürte, wie sehr Gabriel ihn liebte, gaben ihm die Sicherheit
ja zu sagen. Er wollte
mehr denn je sein Leben mit dem Fotographen und Künstler verbringen, wollte
ihm seine Welt zeigen und Gabriels kennen lernen.
Allerdings ließ er sich mit der Antwort auf Gabriels
Frage Zeit bis er weitestgehend ausgeschlafen hatte und mit Gab und Friedrich
während des Frühstücks zusammen saß.
Allerdings hatte er sich noch lange nicht wieder von
dem Schock und dem Schmerz erholt, eines seiner Tiere verloren zu haben. Er
ging auch davon aus, dass Uriels Bruder den Verlust nicht überstehen würde. Im
Prinzip, so war sich Marius sicher, hatte ihm Marc zwei Geschöpfe genommen,
die ihm Freunde und Begleiter waren. Diese beiden Tiere bedeuteten ihm alles.
Er hatte sie sich gekauft, nachdem er aus dem Erziehungsheim ausgerissen war
und sich nach Frankfurt geflüchtet hatte. Im Prinzip ähnelte sein Werdegang
dem Marcs in vielen Punkten. Allerdings unterschieden sie sich in einer
Hinsicht sehr stark. Nie in seinem Leben wäre Marius auf den Gedanken
gekommen, seinen Körper zu verkaufen. Er arbeitete für seinen Lebensunterhalt
hart, verdiente sich in unterdessen drei Jobs sein Brot. Er kellnerte in zwei
Bars und Modelte bei Gab. Der Job, den er bei seinem Liebhaber hatte
allerdings, brachte ihm innerhalb einer Woche das, was er normal in 3 Monaten
verdienen konnte, wenn die Gäste großzügig waren.
Außerhalb dessen hatte er zwar bis vor etwas über
einem Monat jeden Tag einen anderen Mann genossen, aber nun...
Er saß während des Frühstücks Gabriel gegenüber,
betrachtete ihn, wie er mit halb geschlossenen Lidern in seinem seiden
bezogenen Sessel saß, die Kaffeetasse in der Hand, in sich gekehrt. Er wirkte
auf ihn in dem schwarzen Seidenhemd und der eleganten Stoffhose gar nicht mehr
wie der kühle Goth. Allerdings nahmen die Ereignisse der letzten Nacht auch
Einfluss auf seine Mimik. Er wirkte traurig und müde. Obgleich er hier saß,
gekleidet wie ein reicher Geschäftsmann, erschien er Marius verletzlicher und
zerbrechlicher als er Gab je eingeschätzt hätte.
Das Bild traf Marius sehr. Er verliebte sich gerade
eben erneut in Gabriel, und dieses Mal heftiger und stärker als zuvor. Dieser
Mann, der in dem sonnendurchfluteten Stil-Art-Raum saß, war der wirkliche
Mensch. Alles andere, die Maske, fiel in der gestrigen Nacht von ihm ab und
zurück blieb ein verletzter, stiller Mann, der in seinem Stolz unnahbar, aber
in seiner Einsamkeit verloren war.
Friedrich nippte ebenfalls an seinem Kaffee und ließ
sich zurücksinken. „Heute kommt der Anwalt deines Vaters, richtig, Gab?“
Gabriel hob den Blick und deutete ein Nicken an.
„Ja“, erwiderte er sehr leise.
„Was wirst Du tun?“ fragte nun Marius, der die
Anspannung nicht mehr aushielt.
Gabriel lächelte. „Meine Frage der letzten Nacht
bestimmt alles.“ Er stellte seine Tasse ab und strich sich mit der Hand über
das Hemd. Jetzt, bei dieser Bewegung, zeichnete sich unter dem Stoff das
Piercing Gabs deutlich ab. Das einzige, was das strenge, elegant-schöne Bild
etwas disharmonisch erscheinen ließ. Er sah Marius in die Augen. „Willst Du
mit mir zusammen leben, Liebster“, wiederholte er die Frage leise.
Marius senkte den Blick. „Der Prinz und der
Bettelknabe. Meinst Du, das harmoniert?“
Gabriel sah ihn lange still an. In seinen Zügen
konnte Marius nicht ablesen, ob er nervös oder angespannt war, ob er seine
Antwort wusste, oder nicht. Die Ruhe, die er nun in sich trug war eine
bleierne Müdigkeit, die seine Gefühle belegte, sein Herz lähmte.
„Muss ich Dich mit Rafaele anreden?“ fragte der
junge Mann halblaut, schob sich währenddessen eine Zigarette in den Mundwinkel
und zündete sie sich an. Er ignorierte vollkommen das Rauchverbot, das hier,
in diesem Zimmer herrschte, um die klassizistischen Möbel zu schützen.
„Nein“, entgegnete Gabriel. „Ich hasse diesen
Namen.“ Marius nickte
nachdenklich. „Ich lebe dann wohl mit einem Adeligen zusammen, oder?“
„Das hast Du zuvor auch schon getan,“ sagte
Friedrich leise. „Aber
da wusste ich es nicht. Und hättest Du mir nichts davon erzählt, wüsste ich
sicher bis jetzt noch nichts davon, oder?“ der Vorwurf in Marius Stimme
steigerte sich zu einer massiven Anklage.
„Ich bin nie damit hausieren gegangen, weil ich den
Titel, die Ländereien und das Weingut an meine Schwägerin und Manuel
abgetreten hatte. Allerdings bin ich immer noch der Alleinerbe des gesamten
Besitzes. Und ich sehe nicht tatenlos dabei zu, dass diese Beiden Ruf und
Ansehen meines Vaters und meines Bruders beschmutzen. Das Gut wird unter die
Verwaltung meiner Anwälte gestellt, und ich versuche die Schulden meiner
Familie zu decken, allerdings werde ich dafür auch den Titel zurückfordern.“
Er sah Marius an. „Ist das so unverständlich in Deinen Augen?“
Rein nach seiner Logik konnte der junge Goth nur mit
einem Nein antworten. Er lächelte. „Ich bin jung, 11 Jahre jünger als Du, aber
ich bin kein Kind mehr, Gabriel. Dein Weg ist der meine. Ich bin und bleibe
bei Dir.“ Zärtlich sah
Gabriel zu ihm. „Ich bin noch nicht fertig, Gab!“ sagte Marius streng. „Dafür
verlange ich allerdings auch schonungslose Offenheit, okay? Ich will nicht
alles, was mit dir ist und war, Friedrich aus der Nase ziehen, verstanden?“
Gabriel nickte wieder. „Ich versuche es zumindest.“
Nun war es Marius, der lächelte. „Gut so, und sei
Dir dessen gewiss, dass ich Dich auch nicht mehr unbewacht in die
Öffentlichkeit lasse, denn ich bin ein eifersüchtiger Mann. Ob Marc, Friedrich
oder Manuel, ist mir egal. Es gibt nun nur noch mich.“
Gab hob eine Braue.
„Ich weiß ja, dass Du körperlich treu bist, Gabriel,
aber Du träumst mir zu viel von anderen Kerlen.“
Der alte Mann sah sich Marius einige Zeit still an.
„Aber mir verbietest Du nicht, von ihm unanständig zu träumen, oder?“
Der Blick, der Friedrich traf, sollte ihn vermutlich
sofort in seine Schranken weisen, aber davon ließ sich der alte Mann nicht
beeindrucken. „Du
bist und bleibst mein Freund, aber auch mein härtester Konkurrent“, bemerkte
Marius bedrückt. Friedrich nickte. „Aber ich werde auch niemals einem Freund
den Geliebten ausspannen, Marius. Soviel Ehre habe ich alle mal in mir.“
Der junge Mann hob den Blick und zog an seiner
Zigarette. Er hatte schon noch seine Probleme damit so viel Vertrauen
aufzubringen, aber er wollte sich nicht mehr von Gabriel trennen.
„Ja, ich bleibe bei Dir, Gab.“
*
An diesem Samstagnachmittag
hielten sich unverhältnismäßig viele Personen auf dem Frankfurter Flughafen
auf, besonders wenn man bedachte, dass es September und damit außerhalb jeder
Feriensaison war. Hunderte und aberhunderte Personen drängten sich an den
Schaltern der Fluggesellschaften und standen sich gegenseitig im Weg, während
sie ein- und auscheckten. Die Nationalitäten aus allen Herren Ländern fanden
sich hier, an diesem Ort kurz, für wenige Minuten zusammen, ohne sich wirklich
zu berühren und gingen danach wieder auseinander, ohne Notiz davon zu nehmen,
dass jede einzelne Person ein eigenes Leben, eine eigene Weltsicht und
einzigartig war. Für Friedrich war dieser Ort immer wieder ein faszinierender
Anstoß zu philosophischen Betrachtungen. Er selbst war schon so oft einer
dieser Menschen, die hier hindurchgingen, ohne einen Eindruck zu hinterlassen.
Dennoch war er sich schon damals bewusst darüber, dass er das Leben eines
Jeden, dem er begegnete um einen minimalen Bruchteil in eine andere Richtung
bewegte. Damals, als
er noch Lehrer war, beschäftigte er sich allgemein gerne mit der Theorie, dass
jede Person, die existierte, das Schicksal einer anderen maßgeblich
beeinflusste, selbst wenn es keine klaren Berührungspunkte, ja nicht einmal
eine Bekanntschaft gab.
Jetzt, während er neben seinen beiden Freunden
stand, reiste sein Geist in die Vergangenheit zurück, verweilte dort und
begann lange vergessene Gedanken erneut zu überfliegen und zu wälzen.
Damals hatte er Gabriel auch mehrfach nach Italien
begleitet und all diese philosophischen Bruchstücke zusammengetragen und mit
ihm besprochen. „Es
ist wie ein Schmelztiegel,“ murmelte Marius beeindruckt. Der junge Mann stand
an dem heutigen Tag zum ersten Mal hier. „Beeindruckend und unerträglich
hektisch,“ flüsterte er. „Es ist, als rennen sie vor ihrem eigenen Leben und
dem Zeiger ihrer Lebensuhr weg.“
Friedrich wie auch Gabriel betrachteten ihn
erstaunt, allerdings auch erfreut.
„Ihr seid ansteckend,“ murmelte Marius beleidigt.
Gab wollte etwas erwidern, aber hinter der
metallenen Abtrennung des Zolls öffnete sich die schwere Milchglastüre und ein
alter Mann, wohl beleibter und mit Sicherheit 15 bis 20 Jahre älterer Mann als
Friedrich es war, trat hinaus. „Rafaele!“ rief er fröhlich und winkte seinem
einstmaligen Mündel zu.
„Antonio,“ lächelte Gabriel und trat auf ihn zu. Der
alte Mann stellte seinen Koffer neben sich ab und umarmte Gab fest. Er reichte
dem jungen Mann gerade bis zur Brust, aber was ihm an Körperlänge fehlte,
machte er dadurch wett, dass er ihn auf seine Größe herab zog.
Marius und Friedrich konnten beide sehen, dass die
Männer einander nahe standen.
„Kennst du ihn?“ fragte Marius leise.
„Ja, schon,“ nickte Friedrich. „Er ist nett, ein
freundlicher Mann. Gab kann sich genauso auf Antonio verlassen, wie schon vor
ihm sein Vater.“ Die
beiden Männer traten nun auf Marius und Friedrich zu. Antonio strahlte über
das ganze Gesicht, als er Gabriels älteren Freund wieder sah. „Es freut mich,
dass Sie in Ihrer Freundschaft zu Rafaele so fest zu ihm stehen.“ In seiner
Stimme schwang ein fröhlicher Unterton mit, und zusammen mit seinem
gebrochenen Deutsch, erschien er einfach nur als sehr liebenswert.
„Auch ich bin erfreut Sie wieder zu sehen,“ lächelte
Friedrich. Antonios
Grinsen wurde breiter.
Gab allerdings deutete nun auf Marius. „Er ist der
junge Mann, von dem ich Dir so viel am Telefon erzählt habe, mein Partner, der
Mann, den ich liebe.“
Antonio lachte plötzlich laut auf, ob der Tatsache, dass Marius’ Wangen sich
röteten. Dann ergriff er den jungen Goth an den Schultern und zog ihn zu sich
herab. „Kommen Sie in
meine Arme, mein Junge.“
Antonio war wesentlich weniger der kauzig fröhliche
alte Mann als erwartet. Er trug eine genau gehegte Maske vor sich her, die
einen scharfen Verstand und vor allem eine scharfe Zunge verbargen.
Diesen Abend erfuhren die drei Freunde von Antonio
sehr genau, auf welchem Weg Manuel und seine Mutter den Familiennamen
missbrauchten. Insbesondere belasteten sie ihn finanziell und Emilia wie
Manuel lebten ihre Laster auf das bitterste aus. Es fiel Gabriel nach all den
Erklärungen gar nicht schwer die Rücknahme des Titels zu unterzeichnen.
Allerdings konnte Marius kaum fassen, um welche
auszugeichenden Summen es sich hierbei handelte. Die Schulden der Familie
beliefen sich in einem Rahmen, der außerhalb jeder Tragweite seines darin
begrenzten Fassungsvermögens lag. Auch Gabriel schluckte ziemlich hart. Aber
er unterschrieb auch einen Scheck und eine Deckungsurkunde, die einen Teil der
Schulden aufhoben. Er
seufzte leise. Letztlich deckte das Geld gerade einen Bruchteil dessen ab, was
der Schuldenberg wirklich ausmachte.
„Hast du so viel Geld das alles zu bezahlen?“ fragte
Marius leise. Gab
schüttelte leicht den Kopf. „Nein, das ist mein Erbe verdreifacht. Aber die
Urkunde, die ich unterschrieben habe, beteiligt die Banken an den
Jahreserträgen des Weingutes. Nun wird mir nichts bleiben, als einige Male im
Jahr nach Italien zu reisen und dafür zu sorgen, dass die Gutsverwaltung in
meinem Sinne arbeitet. Ansonsten liegt alles in den Händen meines lieben
Antonio.“ Marius
betrachtete seinen Freund aus neugierigen, großen Augen. Er begann Gabriel aus
einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Der Mann, der er war, zählte zu den
facettenreichsten Persönlichkeiten, die ihm je begegneten. Als er ihn kennen
lernte, dachte er, der Fotograph sei nichts als ein etwas bizarrer Fan des
erotisch Surrealen, aber das war eine gewaltige Fehleinschätzung. Gabriel war
durchaus der in sich zurückgezogene Künstler, aber auch ein Spieler, wenn es
um Beziehungen und das menschliche Miteinander ging. Und er konnte der klar
denkende, logische Geschäftsmann sein. Er war von allem ein bisschen und noch
lange nicht die Person, die Marius liebte.
Es faszinierte ihn einfach nur.
„Antonio?“
Der alte Mann sah zu seinem Mündel. „Was, mein
Junge?“ „Bitte, sorge
dafür, dass Manuel die Benachrichtigung zu der Übernahme seiner Schulden mit
der Aberkennung des Titels bekommt, Antonio. Und begleite ihn nach Italien
zurück. Ich will ihn nie mehr in meinem Leben sehen müssen. Mir wird schon
übel, wenn ich nur an ihn denke.“
Sein Stolz kehrte zurück, stellte Marius fest. Sein
Stolz und seine natürliche aristokratische Überheblichkeit.
Aber er liebte ihn so, wie er sich jetzt verhielt.
„Sicher, Rafaele...“
Das Handy Friedrichs brummte leise. Er erhob sich,
grub es aus seiner Hosentasche und sah kurz auf das Display. „Die Polizei,“
murmelte er. Sein Gesicht hatte alle Farbe verloren.
Gab und Marius traten zu ihm.
Beiden Männern konnte man die Anspannung in den
Augen ablesen. „Ja?“
fragte er leise.
Danach folgte eine für alle Anwesenden unerträglich lange Pause, eine Zeit des
Schweigens, in der es alleine galt in der Mimik Friderichs zu lesen galt.
Seine Lider senkten sich, überschatteten die hellgrauen Augen mit seinen
langen, farblosen Wimpern und seine Lippen zitterten leicht. Zugleich tastete
er fahrig nach seien zerdrückten Zigaretten. Das Päckchen entglitt seinen
Fingern und fiel zu Boden. Marius ging in die Knie, hob es auf und reichte ihm
eine Zigarette. Friedrich allerdings war nicht mehr in der Lage auch nur sein
Telefon zu halten. Es entglitt seinen Fingern und ging in der Sekunde, in der
es auf dem Boden aufschlug, aus.
„Was ist mit dir, Friedrich?“ fragte Gab leise,
ergriff ihn an den Schultern und drückte ihn in einen der Sessel.
Marius sammelte das Handy auf und schaltete es
wieder an. Er betrachtete das leicht angeschlagene Display und überlegte. Was
konnte Friedrich so sehr schockieren, dass er seine gewohnte Ruhe verlor?
„Sie haben Marc aufgegriffen,“ flüsterte der alte
Mann. „Zu Hause. Er hat meine Wohnung verwüstet und danach versucht ein Feuer
zu legen.“ Gabriel
starrte ihn an. „Nicht das...“
Marius trat zu Friedrich, kniete neben ihm nieder
und sah zu ihm hoch. Im Moment wusste er gar nicht, was er sagen sollte.
Einerseits erschütterten ihn die Worte, andererseits stieg der Hass auf Marc.
Im Moment wünschte er sich nichts sehnlicher, als diesen kleinen Punk noch
einmal in die Finger zu bekommen, um ihm seinen elenden, dürren Hals
umzudrehen. Dieses
wahnsinnige Geschöpf hatte sein Frettchen getötet, den Kater Gabriels und nun
das. „Nachbarn haben
mitbekommen, wie er die Türe aufbrach und nach mir brüllte. Als sie nachsahen,
fanden sie ihn in einem Zerstörungsrausch. Er...“ Friedrichs Stimme erstickte.
Tränen rannen über seine Wangen.
Wortlos umschlang Gabriel ihn. Er konnte sich
lebhaft vorstellen, was Marc vernichtet hatte. Friedrichs Bücher. Die Sammlung
des alten Mannes belief sich auch mehr als 1.000 Bücher und ungefähr als die
Hälfte davon waren wertvoll und alt. Bücher, das geschriebene Wort, der
Gedanke in Buchstaben gefasst, waren seine große Liebe.
Die Finger Friedrichs krallten sich fest in das Hemd
Gabriels und seine Tränen durchnässten es.
„Ich will ihn einfach nur zusammenschlagen,“ zischte
Marius. „Unerträglich, dass ihn nun die Polizei beschützt!“
Unbewusst zerknüllte er das Päckchen mit Friedrichs
Zigaretten und schleuderte es durch den Salon der Hotel-Suite.
„Dieses Schwein, dieses elende Schwein!“ Er sprang
hoch und starrte auf Friedrich und Gabriel herab. „Was wird ihm nun
geschehen?! Er muss gemeinnützige Arbeit leisten und wandert für eine Weile
ins Zuchthaus!“
„Nein,“ flüsterte der alte Mann tonlos. „Er wird in die Psychiatrie
eingeliefert.“ Marius
fluchte leise. „Und was soll das helfen? Er wird sich nie ändern. Nie!“
Gabriel hob den Kopf. „Ich will diese Jammergestalt
noch einmal sehen, seine Verzweiflung miterleben und seinen Wahnsinn
einschätzen können.“
Marius senkte den Blick. „Wir sind dennoch nicht die Gewinner, Gab. Wir sind
die Verlierer, die, die dem hinterher trauern, was nach unserer Liebe das
Nächstwichtigste war.“
„Ja, Marius, ich weiß. Nur zu genau. Und ich
empfinde keine Sekunde Triumph. Aber ich will wissen, warum dieser dumpfe
Schmerz in mir ist, warum ich immer noch Mitleid empfinde, und was meine
Gedanken bedeuten.“
Marius verstand ihn, zugleich begriff er allerdings nicht, wie Gabriel immer
noch etwas für Marc aufbringen konnte, was kein blanker Hass war. Er
allerdings wollte Marc auch noch einmal sehen. Bei ihm war es seine Form der
Rache. „Dann lass uns
fahren.“
*
Marc saß reglos in seiner Zelle und starrte vor sich
hin, die Augen zu Schlitzen verengt. Im Gegensatz zu der Annahme aller vier
Männer war er nicht apathisch oder geistig weggetreten. Viel mehr schien sein
perfides und dennoch dummes Gehirn neue Teufeleien auszubrüten. Er bemerkte
weder Friedrich, noch Gab, noch Marius.
Seine Finger drehten unablässig kleine Rollen aus
dem Zipfel seines Hemdes.
„Marc“, flüsterte Friedrich. Sein ohnehin schweres
Herz schlug noch langsamer und der Schmerz ballte sich in ihm zu einem
unerträglichen Ball aus Feuer in seiner Brust.
„Friedrich?“ Marcs Mimik änderte sich von einer
Sekunde zur nächsten und zeigte einen vollkommen anderen Menschen. „Friedrich,
nimm mich mit; hol’ mich hier raus! Du kannst mich doch nicht alleine lassen!
Bitte. Ich war es doch gar nicht! Das alles habe ich doch immer nur wegen
Manuel gemacht!“ Er erhob sich, trat an die Türe und schob seine Finger durch
den Gittereinsatz. Er
trug keinen Schmuck mehr. Seine Ringe, das Piercing und alles andere hatte man
ihm abgenommen. Nun
sah er zu Friedrich. Mit großen, hungrigen Kinderaugen bettelte er stumm. Der
Blick des alten Mannes traf den des Punks. Beide ignorierten Marius und
Gabriel. Es war ein
stummes Blickduell. Allerdings bangte Marius einige Sekunden lang wirklich
dass Friedrich weich wurde. Immerhin empfand er wie ein Vater für den Jungen.
Wut sammelte sich wieder im Herzen des Goth und für Sekunden wünschte er sich,
dass die Gitter breit genug warne, um seine Hände um den Hals Marcs zu legen.
„Marc, du bist nichts als Abschaum, der Bodensatz
der Menschheit.“ Die
Stimme des alten Mannes hob und senkte sich nicht. Er sagte diese wenigen
Worte mit demselben Gleichmut, den er auch aufwendete, um eine Bestellung
aufzugeben. Dann
drehte er sich langsam um und ging.
„Und wer befriedigt Dich nun, du alte Sau?!“ brüllte
Marc mit überschnappender, hysterischer Stimme.
Gabriel und Marius sahen einander an. Der jüngere
die Beiden hob eine Braue.
„Er ist wirklich der Bodensatz“, bekräftigte er
Friedrichs Worte.
Gabriel bestätigte nicht, aber er verneinte auch nicht.
„Lass uns gehen, Marius“, sagte er einfach nur.
Tanja
Meurer:
Tanja Meurer, geboren 1973, in
Wiesbaden, ist gelernte Bauzeichnerin aus dem Hochbau und arbeitet seit 2001
in bauverwandten Berufen und ist seit 2004 bei einem französischen Großkonzern
als Dokumentationsassistenz beschäftigt. Nebenberuflich arbeitet sie als
Illustrator für verschiedene Verlage.
Tanja
Meurer über sich selbst:
Als Tochter einer Graphikerin und
Malerin blieb es nicht aus, dass ich schon sehr früh mit Kunst in Berührung
kam, weshalb ich auch seit 1997 nebenberuflich als Illustratorin arbeite.
Seit meiner Kinderzeit schreibe ich auch. Mit 8 Jahren kamen die ersten –
zugegeben sehr lächerlichen – Krimis zustande. Während der Schulzeit habe ich
das erste Mal eine Geschichte für den Verkauf in der Schule auf PC
geschrieben. 1997 kam die erste Kurzgeschichte in einem Fantasy-Magazin
heraus und vier Jahre später weitere. 2007, 2009, 2010 und 2011 gewann ich
sechs Ausschreibungen, wobei die Kurzgeschichten und –Romane bei Kleinverlagen
erschienen.
Die stärksten Einflüsse kommen bei mir durch Autoren wie
E.T.A. Hoffmann, Oscar Wilde, Hermann Hesse und Neil Gaiman.
Mehr über
mich findet ihr unter:
www.tanja-meurer.de
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