Drachentraum

 

Die dunklen Holztore der innersten Hallen des Ordens der grauen Pentakel erhoben sich bedrohlich in den finsteren Kellergewölben. Abbildungen gequälter Gesichter bildeten sich aus den gewaltigen, dicken Innenblättern, der - über die Jahrhunderte - versteinerten Blutbuche, deren Ausdruck vage an sterbende Männer erinnerte. Der Ort, hier, hundert Ellen tief unter den Zauberhöfen, atmete etwas archaisch Böses aus, dass Luca erschien wie ein Blick in die Welt, aus der einst die Wurzeln des Ordens kamen.
Die Finsternis und die stickige Hitze hier unten, hatten den Hauch eines Höllenschlundes.
Staub und leichter Schwefeldampf mischten sich in die Gerüche nach Salzwasser, Schweiß und Alter.
Luca nahm es immer wieder den Atem. Damals, als er das erste Mal vor diesen Toren stand, war er ein kleiner Junge gewesen, neun Winter alt, allerdings so erfüllt von Zorn, dass er die Urangst der Tiefe und den Tonnengewichten über sich nicht wahrnahm. Bei seiner zweiten Weihe war er älter, fünfzehn, und die beiden Großmeister des Ordens hatten ihm das Fürchten, aber auch das Kämpfen gelehrt. Auch da war ihm nicht aufgefallen, dass der Ort eher ein Weg in die Hölle zu sein schien. Die Anspannung und der Wille alles zu erreichen, was er sich vorgenommen hatte, gewann einst die Überhand.
Doch die Jahre verstrichen und er verlor immer mehr von seinem fast wütenden Eifer, der jüngste Ordensmeister zu werden, den es gab.
Der Weg hier her ließ ihn nachdenklich werden, die Gewalt der Hallen, die Macht der Erde und des Steines um sich körperlich spüren.
Nun kehrte er zurück, als geschlagener und gedemütigter Mann, allein, ohne seine ihm anvertraute Drachenechse, die ihm Freund und Gefährtin war.
Schlimmer als ihr Tot war das Wissen, dass sie ihm ihr Vertrauen entzogen hatte, sich vor ihm verschloss und ihm aus dem Weg ging, nicht einmal mehr bereit war, näher als fünfzig Schritte an ihn heranzukommen.
Sein Verhalten, eine einzige Verfehlung in seinem Handeln, hatte sie verschreckt.
Nun würde er sich dem Hort der Drachlinge erneut aussetzen müssen und konnte nur darauf hoffen, dass er sein wirkliches Pendant fand, eine Vertraute, oder einen Vertrauten, der wirklich alles mit ihm zu teilen bereit war, sogar seine Ängste und Sorgen.
Allerdings war das mehr als viel verlangt.
Die Person Luca, nicht der Meistermagier Lysander, war schwierig, dennoch aber sehr sanft und stolz zugleich.
Der junge Mann schätzte sich selbst als zu strebsam ein, zu sehr darauf konzentriert, anderen zu dienen, als einen vermutlich sehr langweiligen Bücherwurm. Aber das sollte einem Drachling selten etwas ausmachen. Viel mehr war es die dunkle Seite seiner Seele, das Dämonenblut, was in ihm schlief. Nie hatte Luca auch nur einen Gedanken daran verschwendet, wirklich einem anderen Lebewesen zu seinen eigenen Gunsten Schaden zuzufügen. Dennoch war aber das geschehen. Die Natur des Seraphin hatte auf dem Schlachtfeld die Führung seines Bewusstseins übernommen, als er zu schwer verwundet worden war. Er griff unwillentlich nach Leben und raubte so viel davon, dass ein anderer, auch wenn es ein Gegner war, daran fast starb.
Der junge Magier hatte, auch wenn seine Meister ihn dafür verachteten, das Gelübde abgelegt, nicht töten zu wollen, gleichgültig, was geschehen sollte.
Das allerdings zu halten, als Kriegsmagier und Nekromant, erwies sich als sehr schwierig, insbesondere als Söldner in einem Heer, dass allseitig für den Meistbietenden arbeitete.
Dennoch hatten ihn eiserne Disziplin und sein Dickkopf immer wieder erfolgreich alle Möglichkeiten dazu umgangen.
Ihn schmerzte auch das Wissen, dass er nicht die Stärke zu haben schien, die er immer in sich vermutete. Letztlich hatte er doch versagt, und damit seinen Familiaris verloren.
Nun stand er hier, vor den Hallen des Sanktums und des Weges in die Bruthöhlen der Drachlinge.
Für einen winzigen Moment zögerte er, seine Hände nach den gewaltigen Toren auszustrecken.
Ihm wurde nur zu bewusst, dass er immer noch erschöpft und müde war, nach seiner Ankunft in den Ordenshöfen gar nicht die Möglichkeit erhielt, sich zu baden und wenigstens in Ruhe Rapport zu erstatten. Sein Meister hatte ihn, staubig und blutig, mit zerzaustem Haar und zerrissenen Roben hinab geschickt.
Eine Haarsträhne löste sich immer wieder aus seinem langen Zopf und kitzelte in seiner Stirn und an seinen Wangen.
Immerhin hatte Großmeister Ihad ihm die Gelegenheit gegeben, den Sattel abzulegen und sein Gepäck.
Luca blies die Strähne aus den Augen und streckte beide Hände aus. An dem Türblatt gab es weder Griffe noch Ringe, aber der Magier wusste auch so, dass seine reine Anwesenheit ausreichen würde, die Heiligtümer zu betreten. Die Magie in seinem Inneren war der Schlüssel.
Obgleich es Zauberei war, erklang ein leises, mechanisches Klicken und die Türe schwang langsam und lautlos auf. Helligkeit, die sich durch Lucas Pupillen bis in seine Schläfen hinein brannte und sich in plötzlichen, starken Kopfschmerzen Bahn brach, flutete in die große Felsenhalle.
Die Luft, die ihm mit dem – für seine an die Dunkelheit gewöhnten Augen - fast gleißenden Licht entgegenschlug, trug Hitze und dennoch eine frische Briese mit sich. Einst hatte der junge Mann geglaubt, es sei nur ein Zauber, der den neuen Magiern die Ängste rauben sollte. Heute aber wusste er, dass das Sanktum des Ordens eine andere, fremde Ebene war, eine andere Welt, wenn man es genau nahm. Das hier, dieses Tor, war ein Weltenportal.
Seine Augen gewöhnten sich nicht wirklich schnell an das starke, goldene Sonnenlicht, dass ihm entgegen schlug. Im ersten Moment wusste er nicht einmal, wohin er trat, als er das Tor durchschritt.
Unter seinen Füßen spürte er gesandeten Stein.
Füße?
Luca kam gerade wieder dumpf zu Bewusstsein, dass sich hier alles verändern konnte. Woher auch immer diese Erinnerung gekommen sein mochte. Für einen Moment blieb der Magier sogar irritiert stehen und senkte den Kopf, um zu verstehen, was er dachte, fühlte und wusste.
Seine Augen gewöhnten sich gerade gut genug an die Sonne, dass er nun endlich wieder mehr als schwarze Schatten und Schemen vor sich sah. Seine Stiefel fehlten, so auch seine Hose und sein Hemd. Anstatt dessen trug er etwas, dass ihn an ein Gewand seines Großmeisters Ihad erinnerte, einen bodenlangen, goldenen Brokatrock, der gerafft und gewickelt worden war und dem heißen Wind die Möglichkeit gab, seine nackten Beine zu umstreichen. Diese Konstruktion sah fantasievoll aber wenig praktisch aus, besonders in einem Kampf, zumal dieses lange stück Stoff nur von einem breiten Gürtel gehalten wurde.
Über den Armen trug er einen ebenfalls bodenlangen Mantel, mit weiten, luftigen Ärmeln. Allerdings entblößte der Überwurf seine nackte Brust. Der Magier empfand selten Scham, wenn jemand ihn unbekleidet sah. Luca kannte darin keine großen Hemmungen. Aber diese Kleidung verwirrte ihn ein wenig und er empfand sie als unpraktisch und an sich unpassend. Er verspottete sich selbst oft als unterernährte Bohnenstange, und diese Gewänder unterstrichen seine langen, schmalen Glieder nur noch mehr. Dennoch erschien ihm diese Kleidung vertraut und bestens bekannt. Die Frage des Woher, schob er aber lieber erst von sich.
Die zu einfache Antwort, dass er alles hier um sich vergaß, wenn er durch das Tor zurück in den Orden trat, gefiel ihm nicht. Dahinter verbarg sich mehr. Aber er wollte sich das ganze in Ruhe durchdenken, nicht in einem Moment, in dem ohnehin zu viele irgendwie neue und dennoch vertraute Eindrücke auf ihn einstürmten.
Langsam hob der den Blick und sah sich um. Er stand am Rande einer offenen, prachtvoll gestalteten Tempelanlage, deren Boden allein ein Kunstwerk aus magischen Symbolen und konzentrischen Bannkreisen war, die sich um ein in den Boden eingelassenes Becken schlossen. Säulen standen in weitem Bogen um diese Anlage und begrenzten sie. Auch hier hatte ein Künstler unter den zauberkundigen, filigrane Zeichen eingemeißelt.
Langsam strichen Lucas Blicke über den gelben Sandstein und die elegante, feine Arbeit. Seine eitle, verträumte Künstlerseele empfand tiefe Bewunderung für das Können des Erschaffers. Allerdings empfand er auch alles hier als so wohl vertraut und angenehm, als wäre er gerade nach Hause gekehrt.
Wenn er sich gegenüber ehrlich war, hatte er alles verdrängt, was sich hier unten befand, und nur immer Erinnerungsbruchstücke und Fragmente von Empfindungen an das hier in sich bewahrt. Er wusste, dass es hier unten eine andere Welt gab und sie ihm vertraut war, mehr aber nicht.
Der Druck in seinem Schädel wurde stärker und für einen winzigen Moment glaubte Luca ein Beben unter seinen Füßen zu spüren. Zugleich legte sich ein schwarzer Schleier über den Anblick des Tempels.
Futter?...
Was dachte Luca? Futter? Befremdet schüttelte der Magier den Gedanken ab und rieb sich die bereits jetzt schon leicht von der Sonne entzündeten Augen.
Die Kopfschmerzen sanken leicht herab und er wagte es nun, sich zu bewegen. Langsam schritt er über den Stein und die Runen. Wohin er trat, glühten Symbole auf, vertraute Magie umwehte ihn wie ein warmer Luftzug.
Mit jeder weiteren Elle mit der er sich dem Becken im Zentrum des Tempels näherte, wurde er sicherer und ruhiger. Selbst die Schmerzen sanken herab. Etwas hier zog ihn stark an und gebar den Wunsch in ihm das Geheimnis dieses Tempels zu lüften. Für einen kurzen Moment verdrängte er sogar, dass er hier her entsandt worden war, um sich mit einem neuen Familiaris zu verbinden. Reine Neugier trieb ihn.
Wie mochte das alles hier wohl funktionieren? Kam die Magie aus dem Ort selbst, oder stammte sie von den Hunderten Magiern, die hier initiiert worden waren?
Der Stein selbst atmete Magie. Alles strahlte diesen gewaltigen Zauber aus, besonders das Becken, der See, im Inneren des Ordens.
Eigentlich sah das Wasser nicht besonders beeindruckend aus. Es hatte den alles umfassenden, allgegenwärtigen Schimmer von sanftem Gold. Obwohl leichter Wind ging, kräuselte kein Hauch die glatte Oberfläche. Luca konnte bis zu dem Grund des runden Beckens sehen. Auch hier hatte der Künstler die Symbole verewigt. Runen in einer wunderschönen Schrift, die mehr an Ornamentiken erinnerten, die man zur Zierde nutzte. Dennoch strahlten sie mächtiger als alle Bannkreise, die diesen See umspannten. Dem Magier kam es so vor, als sei er zum ersten Mal bis hier her vorgedrungen.
Er ging in die Hocke, wobei er sorgsam darauf achtete, dass sein Mantel und der Rock nicht das Wasser berührten.
Luca konnte die Spiegelung seines Gesichtes sehen, überspannt von einem klaren, goldenen Sonnenhimmel.
Ihn wunderte es gar nicht, dass seine Haut nicht bleich war, sondern schwarz und gewaltige, schwarze Flügel seinem Körper Schatten spendeten. Dennoch war ihm bewusst, dass sein Körper der eines Menschen war. Dieser See war eine Art Spiegel zu der Wahrheit, ein Seelenspiegel, vermutete Luca.
Leicht kräuselte sich die Wasserüberfläche und glättete sich wieder. Es schein ihm fast wie ein amüsiertes Lachen über seine vielleicht sehr naive Feststellung.
Spott?, dachte der junge Mann. Vermutlich war er wirklich auf dem Holzweg. Es bestätigte ihn nur noch mehr darin, das Geheimnis des Ordens und dieses Ortes zu lüften.
Er richtete sich auf und wollte gerade einen Rundblick wagen, als ihn etwas so unsanft im Rücken traf, dass Luca strauchelte.
Für einen kurzen, schrecklichen Moment, sah er das Wasser auf sich zukommen. Angst durchfuhr ihn Geistesgegenwärtig wob er einen Zauber, der ihn gerade noch in letzter Sekunde abfing und festhielt.
Als der junge Mann wieder festen Boden unter den Füßen spürte, fuhr er herum und sah sich um. Nichts. Er sah gar nichts, nur die sanften Sandverwehungen auf dem Stein.
Die Situation gefiel ihm gar nicht. Misstrauisch wob er einen Zauber, der ihm aufzeigen sollte, ob sich hier eine unsichtbare Person verbarg, spürte aber wieder deutlichen Spott, der zwar aus seinen eigenen Gefühlen aufstieg, dennoch aber nicht aus seinem Geist stammte. Luca selbst kam sich bei dem Zauber lächerlich vor, schon weil er nichts sah und dennoch ahnte, dass es Scherze der kleinen Pseudo-Drachen waren. Der Magier dachte wieder an den Gedankengang Futter, der wirklich nicht aus seinem Wunsch heraus entstanden war.
Lächelnd setzte sich der junge Mann nun im Schneidersitz auf den warmen Stein und legte seine Hände auf seine Knie. Er senkte die Lider.
„Futter willst Du also?“, fragte er leise. „Das sollte sich doch einrichten lassen.“
Er dachte an Äpfel, die er auf dem Markt gesehen hatte, als sie durch Maiden Haven geritten waren, schön, rot und duftend. Der Gedanke manifestierte sich. In seinem Schoß lag ein schöner, roter Apfel, dessen raue Schale allein einen süßen Duft aussendete.
Allerdings konnte sich der junge Mann nur kurz an dem Anblick erfreuen. Plötzlich war der Apfel weg. Nicht einfach nur unsichtbar. Das Gewicht der Frucht fehlte. Verduzt und wahrscheinlich etwas zu langsam sah Luca auf. Gleichzeitig hörte er schmatzende Geräusche und roch den frischen Saft. Dann plumpste ein unförmig runder, blaugeschuppter Drachling in seinen Schoß und rollte sich dort zusammen. Ihn schien es gar nicht zu stören, dass er Lucas Gewand gerade mit dem Saft und dem Fruchtfleisch verschmutzte. Als der kleine Kerl Lucas Blicke bemerkte versuchte er sogar noch mit vollem Mund zu grinsen, wobei sich seine großen goldenen Augen zusammenkniffen.
Für einen Moment präsentierte er Luca den Anblick kleiner Raubtierzähnchen, zwischen deren kleinen Lücken Apfelbröckchen hingen, die er auch großzügig auf dem goldenen Brokat verteilte.
„Hast Du noch welche davon?“, fragte der Drachling und
verspeiste gerade das Kernhaus lautstark.
Luca musste lächeln, obwohl ihm die Essweise gar nicht zusagte, sondern eher sogar eine leichte Übelkeit in ihm auslöste.
„Willst Du noch einen davon?“, fragte Luca gutmütig.
Der Drachling nickte heftig, sodass seine kleinen Schlappohren wild gegen den langen Schlangenhals schlugen.
„Was ist das denn?“, fragte das Kerlchen neugierig.
„Du frisst Sachen, die Du nicht kennst?“, fragte Luca nun strafend. „Was wenn ich dir etwas Böses wollte?“
„Du bist nicht böse“, legte der Drachling fest und unterstrich es mit einer Handbewegung und theatralisch geschlossenen Augen.
„Ah, sieht man mir das an meiner Nasenspitze an?“, harkte Luca mit gehobener Braue nach und stützte sich nun mit den Ellenbogen auf dem Boden ab, wobei er sich nach hinten lehnte und zu dem Drachling blickte, der ihn völlig unbeeindruckt ansah.
„Du wärest nicht so nah an die Seelenquelle herangekommen“, entgegnete er einfach, setzte sich auf und ergriff die Quaste seines langen Schwanzes, um damit zu spielen. Dabei behielt er Luca ganz genau im Blick. „Wie war das mit dem zweiten... wie heißen diese Früchte?“
„Äpfel“, lächelte Luca.
„Äpfel“, wiederholte der Drachling nachdenklich und rieb sich den Unterkiefer. „Die schmecken sehr gut.“
Der Magier hatte den Bergriff Seelenquelle nicht außer Acht gelassen. Dennoch verschob er die Frage danach auf einen späteren Zeitpunkt. Gemächlich richtete er sich wieder auf und betrachtete den Drachling. Fast war es ihm, als würde er in dem gefräßigen Dickerchen einen Hauch seiner eigenen Persönlichkeit wiederfinden. Die großen Goldaugen drückten die selbe Neugier aus, die ihn oft beseelte, der offene Blick eine gewisse Naivität und dennoch das Wissen vieler Jahre.
Der Kleine wollte den engen, körperlichen Kontakt, genau wie Luca ihn zumeist bei denen suchte, die er liebte.
Er spürte wie der kleine Kerl den ersten zaghaften Versuch unternahm, seinen Geist mit Lucas zu verbinden. Der Magier lächelte ihn lieb an und gab Tambren offen alles preis, was ihn ausmachte, wer er war und was er bereits alles in seinem Leben an Schlechtem und Gutem getan hatte.
Das Tasten des fremden Bewusstsein war nicht annähernd so unangenehm und schmerzhaft wie das Goldys, seiner kleinen Drachendame, die ihn verstoßen hatte.
Auch diesen Vorfall verheimlichte er nicht. Er gab alles preis.
Das quittierte der Drachling mit sehr sanftem Forschen und tröstenden Gefühlen, die sich in dem Herzen des Magiers manifestierten.
Die Wärme, die von dem kleinen Kerl ausging, ergriff Lucas Herz und streichelte seine Seele.
Luca ließ sich nach hinten sinken und streckte sich auf dem sandigen Boden aus. Der aufgeheizte Stein gab seine Wärme ab und Luca sah einige Sekunden still hinauf in den Himmel. Das Licht machte ihm gar nichts aus. Er befand sich in einer eigenen kleinen Welt, zusammen mit diesem sanften, kleinen Drachling. Seine Lider sanken herab und ein glückliches Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Die Seele des Kleinen, Tambren hieß er, war seiner sehr viel näher als alles sonst. Es schien fast, als verschmolzen sie miteinander. Hinter seinen geschlossenen Augen, erwachten Bilder zu all den schönen und liebevollen Gefühlen, die ihn umfingen. Der Magier sah klarer denn je.
Tambren ergab sich nur zu gerne in seine Seele. Der Kleine war Herz und Seele seines Clans, dennoch immer ein Sonderling, weil es kaum Drachlinge wie ihn gab, Neutren, die weder Männchen, noch Weibchen waren. Ihn mieden die meisten Weibchen, weil sie nichts davon hatten, wenn sie sich in seiner Nähe aufhielten, und die Männchen nahmen ihn in ihren Rangkämpfen nicht ernst. Lucas Verbundenheit zu Tam wuchs mit jedem Herzschlag ihrer Verbindung. Ihm war es auch nie anders ergangen. Auch er konnte eine Gruppe zusammenschweißen, blieb aber dennoch immer ein Fremdkörper für alle anderen, weil sie ihn nicht erfassen konnten und seine Bestrebungen nicht verstanden. Der kleine Kerl rollte sich still auf Lucas Brust zusammen und schlang seinen langen Schwanz um den rundlichen Leib. Er suchte die Wärme und Geborgenheit der nackten Haut, das Gefühl nicht mehr allein zu sein.
Luca umschlang den kleinen Drachling zärtlich und streichelte liebevoll den Kopf, der flach auf seiner Schulter ruhte. Er spürte das leise klappern der Schuppen mehr, als dass er es hören konnte. Tambren fühlte sich wohl bei ihm, vertraut und sicher, so sehr, dass er alle Vorsicht, die den Drachlingen zueigen war, sofort fallen gelassen hatte und sich dem Magier zu ihrer Seelenverbindung nur zu bereitwillig hingab. Lucas Herzschlag ging so ruhig, wie der Atem des Kleinen.
‚Luca?’, fragte Tambren.
Der Magier registrierte im ersten Moment gar nicht, dass der Drachling nicht gesprochen hatte. So antwortete er ihm laut mit einem trägen Brummen.
‚Du bist der erste, dem ich diene, und du wirst der einzige sein. In dir fühle ich mich wohl, in deinem Herzen finde ich mich, und deine Persönlichkeit ist wie die meine.’
Luca hob überrascht die Lider, sah das breite, liebe Drachengesicht und musste sanft lächeln.
Tam hatte recht. Diese Art der Verbindung hatte er mit Goldy selbst nach zwei Jahren nicht gehabt. Tambren hingegen war ein Wesen, in dem er sich selbst finden konnte. Sie waren wie Seelenbrüder und wollten mehr noch. Diese Verbindung hatte etwas von tiefer Liebe und dem Wunsch einander zu beschützen.
Luca deckte den kleinen Drachling behutsam mit seinem Mantel zu und streichelte ihn wieder zärtlich.
Ganz langsam dämmerte er weg und spürte, wie auch Tambren einschlief.

Ein leises Geräusch weckte den Magier.
Luca hob die Lider und spähte in die Finsternis um sich. Er konnte nichts entdecken. Dennoch fühlte er sich beobachtet. Er sah nach seinem kleinen Freund.
Tambren lang noch immer zusammengerollt auf seiner Brust und schlief tief und fest. Der Stein unter seinem Rücken strahlte noch die Hitze des Tages ab, aber die Nachtluft war kalt, so kalt, dass Luca sich aufsetzte und die Beine an den Leib zog. Er achtete genau darauf, dass Tam nicht erwachte, stützte ihn sanft und schlang das Obergewand behutsam um den Drachling. Dann löste er seinen Zopf, um durch das lange Haar, dass in offenem Zustand bis zu seinen Knien reichte, etwas mehr Wärme zu haben.
Erneut sah er sich um. Einen Zauber auf magischem Weg hier zu erkennen, war unmöglich, das wusste Luca nur zu gut. Der ganze Ort würde glühen und leuchten. Jeder zufällig gewebte Zauber bliebe unentdeckt. So konnte sich Luca lediglich auf seine Augen und sein Gehör verlassen.
Seine feinen Sinne, seine Fähigkeiten als Seraphin, konnten ihm nun von Nutzen sein.
Das leise Geräusch wiederholte sich. Luca konnte aber weder lokalisieren, woher und was es verursacht haben konnte. Mit einem deutlichen Gefühl von Gefahr erhob er sich und drehte sich um seine eigene Achse, um noch ein weiteres Mal den Tempel mit den Blicken anzusuchen. Er hob den Blick gen Himmel. Die Schwärze dieser Nacht kam ihm plötzlich erdrückend vor. Er konnte trotz der Kälte kaum Atem holen.
Etwas mächtiges lauerte in der Finsternis. Dieses Wesen - oder war es nur reines Bewusstsein? – wartete auf ihn. Luca spürte die Angst, die ihm die Kehle zuschnürte schmerzhaft deutlich. Es fiel ihm plötzlich schwer, sich ruhig und überlegt zu verhalten. Er glaubte sogar, dass sich die Finsternis zwischen den Säulen ballte und stofflich wurde.
Luca schloss die Lider und kämpfte mühsam die klamme Furcht in sich herab. Gleichzeitig aber spürte er, wie eine machtvolle Welle ihn zu überrollen drohte, die ein vollkommen fremdartiges Bewusstsein war, so bizarr, dass es den Magier physisch ergriff und fast vor Entsetzen schreien lassen wollte. Er konnte einfach nicht einschätzen, was es war, dass ihn angriff, aber es war da, gewaltig, mächtig und voll abschätzigem Hohn für ihn.
Der Stolz des Magiers war groß, stark genug, um einen kurzen Funken tiefen Zornes als Auslöser zu nutzen, damit Luca wieder klarer denken konnte, nicht mehr gefangen in seiner irrealen Angst vor einem Wesen, dessen Natur er nicht kannte.
Der kurze Moment verhalf ihm dazu seinen Geist frei genug zu bekommen, um zu erfassen, dass seine Vorteile greifbar nah lagen. Er befand sich an dem sichersten Ort der Welt, im Zentrum der Magie, der Macht, die die Seine war, die er erlernt und erlebt hatte.
Er hob die Lider und sah zu den Symbolen auf dem Boden. Sie hatten geglüht, als er sie mit seinen nackten Füße berührte.
Still, beschützend, nahm er Tambren fester in seine Arme.
Sein Blick streifte einen Kreis, in dem in schwungvollen Runen ein Zauber gebannt war. Ohne darüber nachdenken zu müssen, erfasste er den Sinn des Zaubers und aktivierte ihn. Seine Willenskraft und Macht waren längst so stark, dass er keine Befehlsworte mehr brauchte.
Um ihn und Tambren bildete sich ein leichter Wirbel von Energie, reiner Magie, deren Bestreben es war, alles fern zu halten, was ihrer beider Geist zu beeinflussen in der Lage war. Sein Blick strich zu der Finsternis zwischen den Säulen, die langsam hinein sickerte und sich wie Nebel über den Boden ausbreitete.
Lucas Blick strich über ein klares, einfaches Symbol, was einer stilisierten Sonne glich. Zugleich drehte er sich einmal um seine eigene Achse und entflammte jede einzelne Säule mit gleißendem Sonnenfeuer.
Luca senkte die Lider. Das Licht war selbst für ihn zu viel. Aber die Kreatur, was immer es war, ertrug es wohl kaum. Der Boden des Tempels erbebte und das Wasser kräuselte sich, spritzte über den Rand des Beckens, von der Urgewalt, die er verwundet hatte.
Ohrenbetäubendes Geschrei erfüllte die Luft, ließ sie vibrieren, erschütterte Luca bis in die Knochen hinab und brachte die Säulen eine nach der anderen zu Bersten. Der peitschende Knall, als der Stein zersprang, machte dem Magier klar, dass dieses Geschöpf grausamer und stärker war, als alles, gegen das er je gekämpft hatte.
Das Sonnenfeuer verlosch mit jeder Säule, die zerplatzte.
Luca spürte, dass dieses Wesen ihn haben wollte, aus welchem Grund auch immer. Aber kampflos gab er sicher nicht auf!
Zornig hob er eine freie Hand und wies auf einen Bannkreis, ballte die Faust und spürte, wie der Zauber seinen Körper erfasste, die Energie sich in ihm sammelte. Er würde die Magie in sich verstärken und geballt loslassen.
Unsägliche Kraft durchfloss ihn, gab ihm das Gefühl ein anderer zu sein, nicht der einfache Kriegsmagier, der unerkannt in einem Söldnerheer mitwanderte. Für einen kurzen Moment erfasste sein Geist seine Natur, die Macht, die wahrhaftig aus ihm kam, nicht aus dem Stein, aus dem See oder dem Tempel. All das hier konnte er mit solcher Leichtigkeit befehligen, weil er es war, der diesen Tempel geschaffen hatte! Er war der Erbauer, der sein Leben und seine Macht in den Stein gebannt hatte, irgendwann, vor Jahrtausenden! Er, Luca, war der wahrhaftige Ordensgroßmeister.
Er sah zu dem kleinen See hinüber. Darin befand sich die Essenz seiner Magie, seiner gesamten Kraft.
Ihn wunderte gar nicht, dass ein transparentes Abbild seiner eigenen geflügelten Gestalt den Blick erwiderte, auf seiner Schulter einen schönen, eleganten, großen Drachling mit großen blaugolden Schwingen auf dem Rücken vor sich, der die gleiche innere Stärke besaß wie sein kleines, pummeliges Abbild, dass er in einem Arm hielt.
Mit einem winzigen Teil seiner Aufmerksamkeit erfasste der Magier, dass Tambren immer noch tief und fest schlummerte.
Allerdings konzentrierte er sich auf die Welle finsterer Macht des bizarren Wesens, dieses Geschöpfes, dass ihm auf verwirrende Weise so vertraut erschien.
Das Geschöpf sammelte ähnliche Kraft gegen Luca. Dennoch wusste der Magier sehr sicher, dass es nichts mehr gab, was ihm jetzt noch etwas entgegenzusetzen hatte. Still streckte er den Arm aus und öffnete seine Hand. Reine Bannmagie entlud sich und flutete in die Finsternis hinaus.
Luca spürte Triumpf. Ihm war bewusst, dass er dieses Geschöpf verbannen und verdrängen konnte und es sehr sicher getan hatte.
Einen Herzschlag lang geschah gar nichts, Stille schlug ihm entgegen. Es erschien ihm fast, als habe die Zeit den Atem angehalten. Dann aber brach sich die Gewalt, die er losgelassen hatte Bahn. Die schwarzen Nebel brachen auf und zogen sich zu einer einzigen schwarzen Gestalt zurück, einer Luca vertrauten Person. Seine Augen trafen die Smaragdaugen seines Gegners, strichen über den schlanken Leib und die feinen Muskeln, die sich unter schwarzer Haut spannten, das Pendant zu seinem silbernen Armband, was er sonst immer an der linken Hand trug, die schwarzen Flügel, die sich weit spreizten. Federn sanken zu Boden. Der Seraph trug seine Waffen, seine Robe, sein Aussehen. Luca erkannte sich, die dämonische Seite seiner Person, die fast traurig, dennoch stolz zu dem Magier hinüber blickte.
Er hatte sich selbst bekämpft, erkannt wer und was er war, welche Aufgabe ihm oblag. Stumm verlor sich sein Blick in den Augen seiner Gestalt gewordenen dunklen Seite und sah zu, wie sie langsam in nebelartige Schwaden auffaserte.
Ruhe kehrte in ihn ein. Still sah er zu, bis sein Pendant zu der Nacht und dem Alptraum geworden war, der ihm nur noch in seinen Träumen und den wenigen unbeherrschten Momenten gefährlich werden konnte.
Der Wind verwehte den Nebel in alle Richtungen.
Was immer der wirkliche Beweggrund von seinem Großmeister war, ihn hier her zu entsenden, er hatte es scheinbar geschafft, denn er sah, wie sich die Türenflügel des Weltenportals öffneten und ihn aus dem Sanktum entließen.
Still und mit vielen neuen Fragen im Herzen, trat der junge Magier erneut durch das Tor, zurück auf seine Welt, heim nach Äos und in die erdrückende Umklammerung der Felsenhöhlen.
Mit leichtem Bedauern spürte er, wie sich sein Geist umwölkte und das Wissen verschlang, bis nichts als eine milde Erinnerung daran zurück blieb. Luca sah an sich herab. Was hatte er erwartet? Er trug noch immer die gleichen, staubigen Kleider und in sich hegte er nichts weiter als den Wunsch, ein Bad zu nehmen.
Luca sah zu Tam, der sich sanft in seinem Arm ungebettet hatte und küsste sein Köpfchen behutsam. Träge hob der Drachling ein Augenlid und gähnte ungeniert.
Zufrieden mit sich und der Welt schmatzte er und grinste.
„Futter?“

 

(c) Tanja Meurer, 2008