Eisnacht

 

Eisige Nebel hingen in den Straßen, zwischen den Häusern und dämpften jeden Laut auf ein unwirkliches Echo herab. Der Asphalt war glatt, obwohl es weder in den letzten Wochen Schnee noch Eisregen gegeben hatte.
Unwirklich leuchtete die milchige Dunkelheit aus undefinierbar vielen Quellen und ergab ein knochenbleiches Licht. Durch die drückende Atmosphäre roch die Luft unangenehm nach Abgasen, die sich beharrlich herabsenkten. In diesen Gestank mischte sich der Duft frischer Tannennadeln und Harz, Gebäck, dass heiß aus dem Ofen kam und gebackenen Äpfeln.
Olli zog seinen Rollkragen aus der grünschwarzen, schäbigen Lederjacke und vergrub sich bis über die Nase darin. Sein warmer Atem und der hautwarme Wollstoff gab ihm den trügerischen Eindruck, nicht mehr so sehr zu frieren, aber in Wirklichkeit klapperten seine Zähne nur noch heftiger aufeinander. Außerdem hatte der alte, zerrissene Strickpulli den Gestank des Altenheims angenommen, in dem er Zivi war. Er mochte die alten Menschen dort fast alle sehr, aber der Gestank nach Urin, Erbrochenem und schlechtem Essen, setzte sich in dem Stoff fest. Die Tatsache, dass seine Häsin Opa ebenfalls unter Pulli und Jacke klemmte und sie ebenfalls ein wenig unangenehm roch, machte es nicht besser. Opa zitterte selbst stark und wagte kaum, sich aus ihrer zusammengerollten Pose zu lösen.
Mit weit ausgreifenden Schritten eilte Olli durch die Straßen Wiesbadens. Er ignorierte die erleuchteten Schaufenster und die geschmückten Häuser nur zu bereitwillig. Im Moment sehnte er sich nach einer Dusche, oder vielleicht einem heißen Bad. Der Gedankengang aufzutauen, war verlockend.
Dennoch wusste er, dass ihn vier hungrige Geschwister erwarteten und der alte Buchladen seines Großvaters, den er noch vor den Feiertagen sauber bekommen wollte.
Auch wenn das Geschäft seit zwei Jahren nicht mehr geöffnet worden war, hielt Oliver sich mit uneinsichtiger Sturheit daran, jeden Samstag den Laden zu kehren und zu Putzen, beziehungsweise Staub zu wischen. Keiner seiner kleinen Geschwister verstand, dass er darauf beharrte, selbst Elli nicht, die normal immer sehr auf Ordnung und Sauberkeit achtete. Seit dem Tot seines Großvaters verwaltete Olli allein das alte Buchantiquariat. Er träumte davon, den unrentablen Laden eines Tages wieder zu eröffnen. Dennoch war er sich fast sicher, dass er es entweder nie schaffen würde, schon weil ihm das Geld zur Sanierung von Geschäft und Haus fehlte, oder er ziemlich kläglich damit scheitern würde, weil er viel zu weit abseits der Innenstadt war.
Davon abgesehen bot das Lager Bücher, die vielleicht wertvoll, aber unrestauriert waren.
Allerdings konnte er sich von der Buchhandlung nicht trennen. Seine Brüder, Elli und er lebten im gleichen Haus, hatten das sanierungswürdige Gebäude mitsamt der Schulden und einem arbeitslosen, streitsüchtigen Ehepaar aus Italien geerbt und konnten, mangels anderer Mieter, auch nichts ausrichten, um den Schandfleck der Moritzstraße schöner und ansprechender zu gestalten.
Olli redete sich dennoch fest ein, dass es irgendwann mit dem Antiquariat und dem 110 Jahre alten Haus irgendwann wieder aufwärts gehen musste. Vermutlich war es nichts anderes als eine Selbstlüge, aber es gab nicht viel anderes, an dem er sich noch festklammern konnte.

Als er endlich die Haustüre hinter sich ins Schloss drückte, glaubte er, obgleich die eisige Luft nicht mehr unter seine Kleidung kroch, noch stärker zu frieren. Ein heftiger Schauer schüttelte den großen Punk. So sehr, das seine Zähne wieder heftig aufeinander schlugen.
Er versuchte sich vorzustellen, dass es sonnig und warm draußen war und er viel zu dick angezogen sei. Allerdings hielt dieser Gedankengang gerade so lange, bis er seine Wollmütze abgezogen und die Kälte seinen, bis auf einen verwuschelten, blonden Haarstreifen, der traurig in sein Gesicht und über den halben Rücken herabhing, kahlen Kopf schmerzhaft hart traf.
Olli biss dieses mal die Zähne zusammen, um nicht wieder Lärm zu verursachen.
Er sah zu dem Treppenpodest und überlegte, wie viel Sinn es machen würde, bis in den fünften Stock hinauf zu hetzen, nur um wenig später wieder hinunter zu laufen und das Ladenlokal zu putzen. Ohne lang zu zögern, entschied er sich, gleich seine Arbeit zu beginnen.
Das waren ihm sogar die paar Cent wert via Handy oben bei Elli anzurufen und ihr zu sagen, dass sie schon mit dem Essen anfangen und sie ihm Marc, Chris oder Micha schicken sollte, damit er schneller hier unten fertig wurde.
Während er die Stufen zum Hochparterre hinaufstieg, grub er in seinen Hosentaschen und fand sein altersschwaches Mobiltelefon.
Er schloss die Hintertüre des Ladens auf und öffnete den Stromkasten, um die Hauptsicherung einzudrehen. Dieses Unterfangen stellte sich als weitaus schwieriger vor mit den klamm kalten Fingern, die er hatte und dem Telefon am Ohr.
Zweimal ließ er die Sicherung fallen und verdammte seine Ungeschicklichkeit innerlich. Als er sich das zweite Mal bückte, nahm Elli das Gespräch endlich an.
Leider kullerte die Sicherung weiter, zwischen Ollis Stiefel. Opa in seiner Jacke wurde bei der Bewegung zusammengestaucht und zappelte verärgert.
Der junge Mann öffnete nun den Reisverschluss und die Hüftschnallen, damit die Häsin frei im Geschäft herumhoppeln konnte.
Das weißschwarz gefleckte Tier sprang mit einem weiten Satz auf den Boden und schlidderte auf dem glatten Linoleum bis nah an die Kante zu den Stufen in das Ladenlokal. Nachdem sie sich gefangen hatte, klopfte sie mit ihren kräftigen Hinterläufen mehrfach aufgebracht und klapperte beleidigt mit ihren Zähnen.
Der junge Mann sah sie aus dem Lichtkegel des Treppenhauslichtes und in den Schatten der Buchregale verschwinden.
„Ha...hallo Olli“, meldete sich die helle, mädchenhafte Stimme seiner kleinen Schwester. Ihre Worte erstarben fast wieder. Für Elli stellte es ein ziemliches Problem dar, zu telefonieren. Sie hatte einen Sprachfehler und war für nahezu jeden außerhalb ihrer engsten Familie kaum zu verstehen.
„Hi Süße“, begrüßte Olli sie. „Schickst Du mir einen von den drei Faultieren runter? Ich bin im Laden.“
„K...k...lar“, entgegnete sie schwerfällig.
Olli kam sich fast schäbig vor, dass er immer wieder solche Dinge von seiner kleinen Schwester verlangte, denn sie wurde von Marc und Chris gar nicht ernst genommen.
„Kannst Du vielleicht auch schon was Nettes für heute zusammenkochen, Süße?“, bat er leise.
Endlich hatte er die Keramiksicherung zwischen seinen Füßen gefunden, erhob sich und drehte sie nun ein.
„W...as?“, fragte sie nach.
Das Licht flackerte und unter der Decke entflammte eine Unzahl kleiner, alter Leuchtstoffröhren.
„Weiß nicht“, murmelte Olli und kniff die Lider zusammen. „Was Du magst, Süße.“
„O...ka....“, bestätigte sie.
Olli lächelte. „Gut, wenn es Essen gibt, ruf kurz...“
Das Gefühl, nicht mehr allein zu sein, erfüllte den jungen Mann. Es war wie ein eisiger Hauch, der über seinen Rücken strich. Sofort begann er wieder zu frösteln.
Das weiße Neonlicht schien weniger grell gegenüber den anderen Tagen.
Er kannte das Gefühl eigentlich. Oft war es so. Aber dieses Mal vermeinte er auch wirklich kalten Wind zu spüren, der über seine Haut strich und dafür sorgte, dass sich seine feinen, weichen Härchen auf den Armen elektrisiert aufrichteten.
Langsam wendete er sich um. Normal erwartete ihn nichts, nur ein leerer Hausflur. Dieses Mal aber war es anders. Obwohl er es nicht wollte, zuckte Olli zusammen.
Im gleichen Moment schalt er sich einen Narren. Das kleine Mädchen, was so unsicher und verloren hier, auf dem Flur stand, sah ihn aus verweinten, geröteten Augen an, ängstlich und dennoch hoffnungsvoll. Es war ein außergewöhnlich schönes Kind, blass zwar, aber zierlich, wie eine Elfe. Ihre dunklen Augen schienen das größte an ihr zu sein. Sie baten stumm, flehten um Hilfe und Nähe. Ihre dunkelbraunen Haare umrahmten ein filigranes, anmutiges Gesicht, die feinen Lippen besaßen die Farbe von Windrosen. Ihr kleiner, flachbrüstiger Leib, steckte in dem furchtbarsten Wollkleid, dass Olli je untergekommen war und der Anblick der dicken Strickstrümpfe, die sie mit Strumpfhaltern festgemacht hatte, schönten die Ausstattung nicht gerade. Dennoch hatte das Kind einen unsäglichen Zauber auf Olli. Sie konnte höchstens acht oder zehn Jahre alt sein.
Der junge Mann war sich nur zu bewusst, dass die Kleidung aus den dreißiger Jahren und das Mädchen eine Jüdin war. Er musste dazu weder den Davidsstern auf dem Oberarm betrachten, noch entgingen ihm die Würgemale an ihrem Hals.
Er trat zur Seite und machte eine einladende Handbewegung. „Komm rein, Kleines“, lächelte er.
Sie erwiderte einen Moment lang seinen Blick und zögerte. Dann huschte sie an ihm vorüber in das Innere der Buchhandlung.
„Was kann ich denn für Dich tun?“, fragte Olli sanft, legte dabei seine Jacke ab und hängte sie an dem Knauf der Hintertüre auf.
Die Kleine verschränkte die Hände hinter dem Rücken und sah ihn unter Wimpern überschatteten Lidern an, nur um dann nervös ihre Schuhspitzen zu betrachten.
Olli lachte leise. „Sieh Dich einfach um, mein Kleines“, schlug er vor und wuschelte ihr mit der Rechten durch die seidigen Haare. „Aber gestatte, dass ich meinen Laden sauber mache, während Du ein wenig stöberst.“
Sie sah ihn nun direkt an. Es war, als habe er damit einen Bann gebrochen, denn sie nickte eifrig und huschte an Kasse und Theke vorbei, die Stufen hinab und in den unübersichtlichen, engen Laden.
Olli sah ihr eine Weile zu, wie sie durch die Regalreihen schritt und sich fachmännisch die Buchrücken betrachtete, einiges von seinem Platz nahm, es aber wieder sauber und ordentlich zurückstellte. Er wusste, dass sie ein Geist war, stofflich zwar, aber dennoch nicht lebendig. Aber sie war nicht böse. Im Gegenteil vermittelte sie ein Gefühl engster Familie, einer geliebten, nahen Schwester sogar. Unwillkürlich verglich er sie mit seiner schwarzhaarigen Schwester Elli, obwohl das Geistermädchen wesentlich jünger war.
Mit einem guten und warmen Gefühl im Herzen wendete er sich ab und betrat Büro und Küche, um den Boiler anzustellen und warmes Wasser zu zapfen.
„Willst Du einen Tee, Schätzchen?“, rief er in den Laden hinein.
Eine sanfte, vollkommen wortlose Zustimmung manifestierte sich in seinem Herzen.
Er schmunzelte und nahm aus dem Hängeschrank drei Tassen. Er war sich nicht sicher, welcher seiner kleinen Brüder helfen kommen wollte, aber Tee zum aufwärmen brauchten sie alle hier. Honig und Minze lagerte er hier immer. Die trockenen Blätter gab er in die einzelnen Tasse und suchte sich während der Boiler das Wasser auf 100°C hoch heizte, Besen und Schrubber heraus.
Bevor er den Wassereimer befüllte, übergoss er den Tee und trat mit den Tassen in das Geschäft und stellte sie auf der Theke ab.
Die Kleine stand zwischen fast 100 Jahre alten Kinderbüchern und Jugendromanen. Mit großen Augen hielt sie ein besonders zerschlissenes Buch in Händen. Olli kannte es aus seiner Kindheit. Es war eine Geschichten und Spielsammlung aus dem beginnenden neunzehnten Jahrhundert. Das rote, gehwachste Leinencover mit den goldenen Verzierungen kannte er zu gut. Herzblättchens Zeitvertreib hieß es. An den Inhalt der Geschichten allerdings konnte sich Olli nicht mehr erinnern.
Elli hatte es als kleines Mädchen mehrfach gelesen und nach ihr niemand mehr. Nun fristete es sein Dasein in dem Regal.
Die Kleine berührte das Cover auf eine solch zärtliche Art, dass Olli keinen Zweifel daran hegte, dass ihr dieses Buch einst gehört hatte. Aber selbst sie hatte es sicher von ihrer Mutter vererbt bekommen. Langsam ging er die Stufen hinab und trat hinter ihr an das Buchregal.
„Die Geschichten sind schön, nicht wahr?“, fragte er sanft.
Sie sah zu ihm und lächelte versonnen. Dann nickte sie.
Vage Erinnerungsfetzen an eine Geschichte um ein paar Schlittschuhe aus der Sammlung tauchten wieder aus den Nebeln seiner Erinnerung auf.
Scheinbar erriet sie seine Gedanken, denn sie strahlte, als sei das ihre Lieblingsgeschichte.
Er beobachtete die leuchtenden Kinderaugen.
„Schlittschuhe?“, fragte er zusammenhangslos. In ihm erwachte eine vage Ahnung. „Hattest Du Dir welche zu Weihnachten gewünscht?“
Sie nickte. Aber mit der Bewegung wich alle Freude aus ihrem Gesicht.
Olli kniete sich vor ihr nieder, umarmte sie und zog sie auf seinen Oberschenke, auf dem sie bequem sitzen konnte, wie auf einem Hocker.
„Du hast sie nie bekommen, oder?“, fragte er leise, mitleidig.
Das Mädchen senkte weiter den Blick und lehnte vertrauensvoll ihren Kopf gegen seine Brust. Scheinbar spürte sie, dass er sie trösten wollte. Behutsam umfing er sie mit beiden Armen und drückte sie an sich.
Die Kleine krallte sich in seinen Pulli und verbarg ihr Gesichtchen in dem Stoff.
„Mein Schätzchen“, flüsterte er und kraulte behutsam ihren Nacken. „Weißt Du, was schöner ist, als das schönste Weihnachtsgeschenk?“
Sie schüttelte schwach den Kopf und kuschelte sich noch enger an ihn.
Er lachte leise. „Doch, Du weißt es ganz genau, Liebes. Es ist die Nähe und Liebe der Familie.“
Nun sah sie aus großen, feucht schimmernden Augen zu ihm auf. Behutsam strich er mit beiden Händen über ihre Wangen. „Ja, Kleines. Außer meinen vier Geschwistern habe ich auch niemand mehr. Großvater ist tot, Mutter auch und mein Vater...“, erzögerte kurz, was dem kleinen Mädchen aufzufallen schien, denn ihr Blick änderte sich zu gelindem Unverstand.
„... der ist fort und kommt hoffentlich nie wieder“, schloss Olli.
Sie beobachtete ihn aufmerksam, als er nach einer Weile weiter sprach. „Wir fünf haben nichts und sind nichts, dennoch hält uns der Wunsch für die anderen da zu sein, für immer zusammen. Verstehst Du?“
Zaghaft nickte sie.
„Damals, vor zehn Jahren, war unser Großvater das Herz der Familie, als alles auseinander zubrechen drohte. Er hat uns gezeigt, dass wir nur dann glücklich sind, wenn wir zusammen bleiben. Oft haben wir Streit miteinander, lästern übereinander und bekriegen uns im Kleinen, aber wir sind dennoch glücklich, dass wir zusammen sind, denn damit rutscht keiner ab und wir sind nie allein. Und trotzdem fehlt er mir so sehr., mein Opa.“
Offenbar fühlte sich die Häsin angesprochen, denn sie kam unter einem der Regale hervor und drängte sich an Ollis Bein.
Der junge Mann dachte an seinen Großvater und zum ersten Mal seit vier Jahren fühlte er sich so traurig und schwermütig, wie an dem Tag, als der alte Mann beerdigt wurde. Heute war es auf den Tag vier Jahre her.
Plötzlich spürte er die kleinen, unbeholfenen Kinderärmchen, die sich um seinen Nacken schlangen und ihn zärtlich drückten. Zugleich legten sie warme, alte Hände, Olli nur zu vertraut auf seine Schultern und drückten sanft zu.
Er schloss die Lider. Die Nähe seines Großvaters hatte er immer gefühlt, wenn er hier unten war. Nun schnürte ihm die Trauer fast die Kehle zu.
Als er die Lider hob, verwehte gerade die Kindergestalt in seinen Armen. Dennoch fühlte er ihre Nähe körperlich stark, hatte den Duft ihres Haares in der Nase und das Gewicht der alten Hände auf den Schultern. Sein Blick streifte das Schaufenster, in dem sich – durch die heruntergelassenen Rollläden - die Szenerie des Ladens wiederspiegelte. Er konnte sich selbst beobachten, einen zweiundzwanzig Jahre alten, recht muskulösen und großen Punk, verlottert einerseits, andererseits gepflegt gegen die Straßenratten; er fand die Spiegelung des Ladens, der Theke, der Kasse und der drei Tassen, in denen der Tee dampfte. Aber er sah auch die Kleine und seinen Großvater, Hand in Hand. Das Mädchen schmiegte sich an seinen Arm und lachte fröhlich, genau so, wie auch der alte Mann strahlte und mehr einem jungen Mann zu ähneln schien, der ziemliche Ähnlichkeit mit Oliver zeigte.
Olli beobachtete die Beiden. Sie schienen vollauf miteinander beschäftigt zu sein.
Ihm fiel auch auf, dass die Hintertüre aufschwang und Micha mit Chris eintrat. Die Zwillinge kamen um den Tresen herum und auf Olli zu. Offenbar sahen und spürten sie weder das Kind noch ihren Großvater.
„Hey Olli!“, rief Chris und warf einen Blick zu den Teetassen. „Woher wusstest Du, dass wir zu zweit kommen wollten?“
Der junge Mann richtete sich auf und ergriff das Buch des Mädchens.
„Intuition!“, spöttelte er und schlug die ersten Seiten auf.
In der sauberen Handschrift seines Großvaters stand eine Widmung auf dem Innencover.
Für meine Ruth, von Vater
„Familie“, flüsterte Olli und sah an die Stelle, wo zuvor die Geister noch gestanden hatten. 
Micha trat an seine Seite und strich sich seine langen, schwarzen Haare aus dem Gesicht. Behutsam schlang der Junge seine Arme um die Taille seines großen Bruders und schmiegte sich an seine Seite. Chris tat es ihm gleich. Dann sah er zu Olli hoch.
„Das alte Buch hast Du wieder ausgegraben?“
Olli nickte. „Das gehörte Ruth, der Halbschwester unserer Mutter, Chris“, erklärte er sanft. „Wir sollten es wieder mit nach oben nehmen. Es ist ein Teil unserer Familie.“
Befremdet blickte Chris seinen großen Bruder an, kassierte aber einen Rippenstoß von Micha.
Olli umarmte beide Jungen fest.
„Auch wenn ihr es nicht versteht“, sagte er leise, „es soll keine weitere einsame Eisnacht mehr erleben. Niemals mehr.“

 

(c) Tanja Meurer, 2008