"Himmel, bin ich überspannt!" knurrte er. Schief grinsend setzte er hinzu: "Anjuli würde nun vermutlich sagen: nur weil du paranoid bist heißt es nicht, daß sie nicht wirklich hinter dir her sind."
Lysander schüttelte den Kopf und trat einen Schritt zurück, um sich wieder seiner Arbeit zuzuwenden...
Aus seinen Augenwinkeln gewahrte er eine Bewegung am äußeren Rand des Gartens, zu der eingestürzten Mauer hin, die das Gelände von dem einstmaligen Platz trennte, dem Zentralplatz des Labyrinthes.
Dann zuckte ein Blitz aus der Dämmerung, aus dem Nichts und zerriß die stickige Finsternis. Lysander tastete entsetzt nach eine der Fensterscheiben und drückte sie aus ihrem steinernen Rahmen. Der Lärm des brechenden Glases Weckte Justin und Lysanders Drachen augenblicklich und auch Anthea dämmerte langsam zurück in die Realität.
Lysander hatte sich auf die Fensterbank geschwungen und schob sich durch das Loch. Seine Blicke hafteten an dem Riß in der Wirklichkeit, der sich langsam vergrößerte...
Ganz in der Nähe huschte ein schmaler Schatten. Justins Hand schlug gegen den Fensterrahmen...
"Nein!!!!"
Überall erwachte das Haus...
Schreie, Kampflärm, das spürbare knistern von Magie... Irgendwo fremde Stimmen...
Die Hauptportale wurden aufgerissen und etliche Schatten stürzten hinaus in den Park.
Kopflose Panik!!!
"Wir werden angegriffen!!!!" brüllte jemand aus dem Haus.
In der Sekunde sprudelte frisches, schimmerndes Blut aus dem Riß... Dann platzte das Dimensionstor auf und es ergoß sich eine Unmenge Blut auf den steinigen Boden, und in dem Blut Leichenteile... Köpfe, Arme, Beine...
Entsetzensschreie erfüllten die dumpfe Luft und der überwältigende Gestank nach frischem Blut... Lysander spürte wie ihm sein Mageninhalt versuchte, den Hals hoch zu kriechen... zugleich erwachte in ihm die Sehnsucht nach Blut...
"Sie wagt es, mein Reich zu entweihen?!!!"
Zornig brüllte der Vampir auf. Dann fühlte er Anthea neben sich, die sich dich an ihn drängte, die Augen weit vor Schrecken und Schmerz. "Nicht... sieh nicht hin, Anthea," bat Justin und schob sich vorsichtig in ihr Sichtfeld, damit sie diese Perversion nicht sehen mußte.
Lysander krallte sich mit beiden Händen in den porösen Sandstein und zermalmte ihn zu Staub. Hektisch, aber auch hart, Stöße weise ging sein Atem, als sei er Meilen weit gerannt... Seine Augen folgten ganz bewußt dem winzigen Schatten, den er gewahrte, bevor sich der Dimensionsriß öffnete. "Anjuli!" keuchte er atemlos.
Eine junge Frau huschte durch die Lichtkegel, die aus den offenen Fenstern und Türen strahlten. Sie drängte in wilder Hektik einige zu neugierige zurück. Ihre Stimme überschlug sich, als sie zwei halbwüchsige Elfen an den Händen faßte und sie in das Haus zurückschob.
"Rein!!! Verdammt! Rein mit euch! Und verbarrikadiert eure Türen!!!!"
Lysander fluchte leise und stieß sich von dem Fensterbrett ab und ließ sich fallen.
Anthea schob sich an Justin vorbei... "Was tut er?!"
"Weg vom Fenster!" Justin ergriff Antheas Hand und zog sie mit sich. "Das ist erst der Anfang, fürchte ich!"
Lysanders Haut begann sich zu verfärben und seine Gestalt reckte sich, wuchs. Seine Kleider rissen über den gesamten Rücken und es entfalteten sich ungeheure schwarz gefiederte Schwingen, die seinen Fall in ein Schweben bremsten...
Insgeheim verfluchte er sich, das Schwert nicht bei sich zu tragen, aber vermutlich hätte er es bei seiner Rückverwandlung mit einem guten Teil seiner Kleider verloren...
Der Blutstrom versiegte zwar, aber der Riß schloß sich nicht...
Lysander konnte den Eishauch Giraselles fühlen. Sie fror seine Seele ein... Dann sah er Giraselles Henker aus dem Tor treten. Zwei Ghule krochen auf den steinigen Boden des Labyrinthes, Wesen, die schon längst näher dem Tod, denn dem eben standen. Leichenfresser, Geschöpfe der Finsternis. Ihre Leiber erinnerten an verwesende Leichen. Die Haut über ihren Schädeln war voller Ekzeme und brach an verschiedenen Stellen auf, blutigen, eitrigen Kratern gleich. Ihre Augen quollen aus den Höhlen, entzündet, blutunterlaufen... Ihre Münder waren gerissene schlitze, hinter denen sich faulende Zähne verbargen... Ihre Haare mußten mit der Kopfhaut in großen Placken abgefallen sein.... Einst wohl, waren es Elfen... heute, dachte Lysander entsetzt, Zerrbilder ihrer selbst. Einer von ihnen schleifte eine Frauenleiche an ihrem Fußgelenk hinter sich her... eine halb ausgeweidete Leiche, deren Brustkorb weit geöffnet, und die Rippen auseinander gebogen war... Ihr halbes Gesicht fehlte. Der andere hielt einen Arm zwischen seinen Zähnen... Anjuli sprang zurück und sah sich hektisch um. In ihrer Nähe lag ein trockener Ast, den sie ergriff und sich den beiden Ghoulen stellte.
Der erste, ihr nähere, richtete sich auf und spie den Arm aus. Im Vergleich zu der Jungen Frau war er ein Riesiges Ungetüm... Ihre Augen weiteten sich vor Schrecken. Lysander konnte sehen, wie weit sie sich wohl verschätzt hatte in der Größe und sicher auch in der Kraft ihrer Gegner.
"Verdammt is' der groß!" stöhnte sie und sah an dem Ghoul hoch, der sich zielstrebig auf sie zu bewegte. Sie schleuderte ihren Ast nach dem Ungeheuer und verfehlte ihn um Längen.
Lysander, seinerseits konnte ihr nur wenig Aufmerksamkeit schenken. Mit weit ausgebreiteten Flügeln stand fand er halt auf der Spitze einer einzeln stehenden Säule. Seine Finger zeichneten Symbole in die leere Luft. Die Lider halb gesenkt rief er Worte in die Finsternis, uralt und düster. Nach Sekunden begann die schwere Luft zwischen seinen Händen zu wabern, zu funkeln und glühte plötzlich weiß auf. Unter seinen Fingern wuchs knisternde Energie, Funken schlagende Elektrizität, die mit jeder Bewegung, jedem Wort an Gewalt und macht gewann.
Der zweite Ghoul ignorierte den Magier und richtete seine Aufmerksamkeit ebenfalls auf Anjuli.
Die Leiche, die er mit sich geschleift hatte, schleuderte er in Richtung der jungen Frau. Mit einem Schrei, der definitiv kein Kampfschrei war, sondern eher Ekel und Angst, warf sie sich zu Boden und rollte sich über die Schulter ab. Hinter ihr schlug der zerfetzte Körper gegen die Wand und zertrümmerte ein Fenster, in dem der Leichnam mit dem Kopf hängen blieb. Anjuli drehte sich lieber erst gar nicht um. Der Anblick, daß konnte sie schon dem widerlich nassen Geräusch und dem Klirren entnehmen, war sicher nicht das, was ihre Moral stärkte.
"Dämlicher Idiot! Triff mich doch!"
Die beiden Ghoule wendeten sich ihre träge zu. Anjuli packte einen Stein, der neben ihr auf dem Boden lag und warf ihn, bevor sie wieder auf die Füße sprang. Auch der Stein ging weit an den Ghoulen vorbei, was sie aber wenig verwunderte. Dann, in dem Moment, in dem Lysander seinen Zauber beendete, sprang sie zur Seite und warf sich flach auf den Boden. Dicht über ihr ging eine Welle unglaublicher Energie hinweg, die ihre kurzen Haare elektrisierte und ihr kribbelnde, leichte Schläge versetzte, die sich nicht wirklich angenehm anfühlten. Und mit dem Sturm, den der Blitzschlag über ihr auslöste, kam auch der Gestank nach verschmorender Haut und verbrannten Haares...
Erst nach einigen Sekunden wagte sie es, den Kopf zu heben und da hin zu sehen, wo eben noch die Ghoule gestanden hatten.
Einer von ihnen wurde wohl von der Gewalt des Zaubers umgeworfen und lag nun auf Armeslänge von Anjuli entfernt. Die Reste seines Haares brannten und schwarzes, zähes Blut quoll aus einer unglaublich großen Wunde auf seiner Rückseite. Anjuli rollte sich fort und sprang schleunigst auf die Füße.
Der zweite Ghoul stand reglos da, schwelend. Er beobachtete sie aus einem ihm übrig gebliebenen Auge, aus dem weißliche Flüssigkeit rann. Und sie erkannte, was ihn von allen Ghoulen, die ihr bis heute begegnet waren, unterschied. Er war vielleicht wahnsinnig, wie alle Ghoule, aber hinter diesem Wahnsinn brannte ein helles, gefährliches Feuer von Intelligenz und Wissen.
Das also war es, was sie die ganze Zeit hindurch wie unsichtbare Blicke in ihrem Rücken gefühlt hatte. Das machte ihn so gefährlich... Die Tatsache, daß er sich dessen, was er tat, bewußt war, es genoß und plante...
Anjuli bewegte sich Zähneknirschend zurück, ohne ihn aus den Augen zu lassen.
"Was bist du für ein Wesen?" flüsterte sie.
Über die grauenhaften Züge des Ghouls glitt etwas, daß er vermutlich Lächeln nennen wollte. Jemand, der es nicht liebt, antwortete seine Stimme klar und süß, als wäre er noch immer ein Elf, in ihrem Geist, wenn seine wahre Natur erkannt wird.
Anjuli senkte den kurz geschorenen Kopf und sah ihn von unten herauf an...
"Willst du es auf einen Kampf mit mir ankommen lassen?" fragte sie ihn herausfordernd.
Er lächelte noch immer boshaft. Dann schlug er mit seiner Klauenhand zu.
Justin hatte Anthea mit sich in das Treppenhaus gezogen und eilte mit ihr die Stufen hinab, gefolgt von Tomoya, der ebenfalls durch den Lärm erwacht war. Und, wie üblich als erster an Justins Seite stand, um seinem Freund beizustehen. Kampflärm drang aus den unteren Etagen. Justin wendete sich Tomoya zu. "Ich muß mich um die anderen unten kümmern."
Der Severin- Orc verstand sofort. Er nahm sie an der Hand und brachte sie von dem Treppenhaus in einen kleinen Seitengang der Villa, der unterhalb der Stufen lag. Hier war alles anders. Der gang war niedrig und eng, dunkel und feucht... als haben sie ein anderes Haus betreten... älter und wirklich beklemmend.. Hier schienen die Wände aus sich selbst heraus zu leuchteten. Aber Anthea bemerkte, daß dieses Leuchten von irgend etwas kam, daß wohl auf dem Stein wuchs... wie Schimmel oder Moos. Rechts und links zweigten Alkoven ab, niedrige Durchgänge...
"Komm," murmelte Tomoya und zog sie, weit vorgebeugt, durch eine Türe in einen kleinen, Fensterlosen Raum. Ihre angstvollen, großen Augen beobachteten ihn. Nach einer Weile erwiderte er ihren Blick und bemerkte ihre Pein und Scheu. Mit einer eleganten, kraftvollen Geste zog er sein Schwert, daß er halb unter seinen fließenden Gewändern verborgen trug. Eine seltsame, gebogene, einschneidige Waffe, die er in die rechte Faust nahm und die flache, linke Hand unter den Knauf legte. Kleine, metallene Anhänger klingelten leise, während er sich vor dem Mädchen wie ein lebendes Schutzschild aufbaute. Er Zeichnete mit der Klinge ein Symbol in die Luft, rief einige Worte und wendete sich zu Anthea um. Seine langen, schwarzen Haare fielen ihm über die Schultern, als er sich zu ihr hinab beugte. "Schutzzauber. Ich sichere den Raum mit heiliger Magie, Kind." Er Lächelte freundlich, was sie irgendwie nicht sicherer machte, zumal er dabei seine Unterkieferhauer bis zum Zahnfleisch freilegte. Diese Zwei, nach oben, über seine Oberlippe wachsenden Zähne trugen Gravuren, winzige Runen, ähnlich denen, die er auf einer Holzperlenkette, die er um den Hals trug, hatte.
Anthea zog die Decke enger um die Schultern und senkte den Blick. "Das alles ist wegen mir," wisperte sie. Tränen rannen über ihre Wangen. Tomoya schwieg dazu. Er ging durch den Raum, der vermutlich zu einem der abgesunkenen Häuser gehörte, über dem Justins Villa, sein Spital erbaut worden war.
Überall hängte Tomoya Amulette aus Papier auf, die er mit Schriftzeichen versah, Schriftzeichen mit seinem Blut geschrieben. Zuletzt nahm er seine Kette ab und hängte sie, ein Gebet murmelnd, an der Türe auf.
Schließlich setzte er sich im Schneidersitz auf den Boden, sein Schwert gezogen, blank auf den Knien und betete in einem lauten Singsang immer wieder die gleichen Zeilen herab.
Anthea verstand sie nicht den Worten nach, aber der Sinn... Er rief die Elemente und Urkräfte an, das Böse abzuwehren, sie zu behüten...
Anthea lehnte sich in eine Ecke des Raumes und schlug die Augen nieder. In ihr kämpfte die panische Angst vor Giraselle gegen die Gewißheit, daß völlig Fremde für sie ihr Leben ließen.
Weinend sank sie an der Wand hinab und kauerte sich zusammen.
Justin bot sich ein erschreckendes Bild, als er die große Eingangshalle betrat. Tote und verwundete in den bunten Farben der Zigeuner lagen auf dem Boden, und unter ihnen Männer in langen, weißen schürzen und Frauen, die geschnürte Kittel über ihren Kleidern trugen. Viele seiner Leute hatten mit bloßen Händen gegen ihre Angreifer gekämpft. Einige mit Skalpellen und allem, was in erreichbarer Nähe lag. Aber er zählte mit einem Flüchtigen Blick 20 Personen, die da lagen. Einige, weniger schwer verwundete kümmerten sich bereits um die schwer Verletzten.
Eine große, breite Menschenfrau ging schnellen Schrittes auf Justin zu. Sie hatte ihr langes, dunkelblondes Haar im Nacken zu einem Knoten gebunden und trug schwere, lederne Kleidung. Sie trug ein Binockel und in ihrem Gürtel Hammer und Messer.
"Justin, es sind nur noch vier, aber das sind keine normalen Männer" Justin sah sie kurz an, als erwarte er, daß sie weiter erzähle. Sie schloß sich ihm an. Vermutlich sind sie bereits tot, aber die geben nicht auf, bevor du sie nicht wirklich aus dem Leben befördert hast"
"Blutrausch," vermutete Justin und sah sich kurz um.
"Nein, sicher nicht, Justin..."
Sein Blick streifte wieder seine Begleiterin. "Was meinst du damit, Marlina?"
"Ein Berserker," sagte sie. "...kämpft solang aufrecht, bis er unter seinen Verletzungen zusammenbricht... und seine Wut richtet sich gegen alles. Diese handeln gezielt und sehr überlegt. Aber darüber hinaus gehen sie ganz normal zu Boden... Nur, selbst dann hören sie nicht auf. Sie sind hinterhältig und haben viele getötet, als sie bereits schwer verwundet auf dem Boden lagen."
Justin sah sie ernst an. "Kümmere du dich um alles hier, Marlina. Ich habe den Eindruck, daß wir heute Nacht keine ruhige Minute haben werden."
"Die wollen doch...."Marlina wurde in ihrem Redefluß sehr abrupt gestoppt, als eine Frauenleiche mit dem Schädel voran in das Fenster neben dem Hauptportal geschleudert wurde.
Marlina rollte wütend die Augen: "Hört das denn heute gar nicht auf?!" Sie griff nach dem Hammer in ihrer Gürtelschlaufe und wollte nach draußen stürmen, als Justin seine Hand nach ihr ausstreckte. "Warte. Bleib' du hier!!!!"
Er eilte zu dem Haupteingang hinüber und riß den schweren Holzriegel, mit dem die Türe verbarrikadiert war, aus der Verankerung. In der gleichen Sekunde schien sich die Luft aufzuladen und knisterte. Marlina eilte zu dem Fenster, in dem die Tote hing und sah, wie sich ein dicker Energiestrahl, fast doppelt mannshoch und breit, durch den Park pflügte und zwei riesige Ghoule durchschlug, um anschließend wenige Finger breit über Anjuli hinwegzugehen und im Nichts zu enden.
"Ihr Heiligen!!!" stieß sie aus. "Was sind das für Monster?!"
Justin öffnete einen der Türflügel... Gerade noch, um zu sehen, wie der Ghoul Anjulis Oberkörper aufriß...
"Verdammt!!!!" Lysander sprang von der Säule in die Luft und nutzte den Schwung, um seine Flügel vollständig auszubreiten und in Gleitflug zu gehen. Unter ihm stürzte Anjuli zu Boden... Aus ihren tiefen Wunden verlor sie innerhalb weniger Sekunden Unmengen Blut...
Der Ghoul wendete sich langsam um und sah hinauf zu Lysander. Lange Zeit starrte er ihn nur an. Vielleicht sein Fehler, dachte der Magier. Schweigend landete er auf einem schmalen Vorsprung und faltete seine mächtigen Schwingen ein.
Der Ghoul beobachtete ihn noch immer, bewegte sich aber rückwärts zurück zu dem Dimensionstor... Lysander verharrte reglos...
Dann, aus einem plötzlichen Impuls heraus fuhr der Ghoul herum und sah lange, schwarz schimmernde Klingen... Das letze, was er sah, bevor Anjuli ihm ihre Unterarmklinge durch den Hals rammte und ihm den Schädel vom Torso riß.
Justin sah Anjuli fallen. Dann, einen, zwei Herzschläge später wurde ihr Körper von einer unsichtbaren Kraft in die Luft gehoben. Ihre Wunden schimmerten rot... begannen zu Leuchten, weiß zu glühen...! Und während sie sich schlossen, begann eine Transformation. Ihre Augen öffneten sich weit, bis die Augenwinkel zu reißen drohten... Die Pupillen verdrehten sich nach oben, bis nur noch der weiße Augapfel existierte. Ein feines Netzwerk aus Horn legte sich darüber. Ihr Gesicht wurde schmaler, kantiger, verlor all Züge und entwickelte sich zu etwas konturlosem zurück, in dem einzig die Augen noch existierten... Die allerdings nichts Menschliches mehr besaßen. Ihre schwarzen Kleider verschmolzen mit ihrer Haut und zugleich verlor ihre Gestalt jegliches Geschlecht, wurde völlig geschlechtslos und undefinierbar. Dann verfärbte sie sich und wurde zu etwas schwarzem, öligem, daß ihren ganzen Körper einzuhüllen begann. Aus ihren Unterarmen wuchsen Klingen, so lang wie ihre ausgestreckten Arme... Klingen aus schimmerndem Horn. Zugleich bildeten sich aus ihren beiden Handrücken Dornen, drei Dornen, die sich über ihren Handrücken wölbten und damit die Klauenhände völlig ersetzen. Ihre kurzen, schwarzen Haare wuchsen und die einzelnen Strähnen begannen sich eigenständig zu bewegen, zu kriechen, wie Medusen- Haar!
Justin sog scharf die Luft ein. Er kannte diese Situation nur zu gut. Und er fürchtete sie.
Das Ding, zu dem Anjuli geworden war, wirbelte in einer geschmeidigen, lautlosen Bewegung auf die Füße und nahm eine Kauernde Position ein, zum Sprung bereit, die Waffen nervös nach dem Ghoul gereckt. Der Dämon in Anjuli sehnte sich nach der Todessekunde. Gierig, durstig... Wahnsinnig nach der dem Moment wenn eine Seele in die Unendlichkeit gesandt wurde...
Ihr schimmerndes Haar tastete wie Tentakel nach dem Ghoul, kamen ihm nah und zogen sich immer wieder zurück. Sie wollte seine Angst sehen, einen Herzschlag, bevor sie seine Seele trank...! Ihre Erregung stieg ständig, mit jedem Augenblick, den sie ihn mit ihren Stummen rufen lockte und zugleich zwang, noch nicht den Blick zu ihr zu wenden... Es war der Moment, indem er ihrem Locken nachgab, aber ihren Bann brach... Wie stark war dieser Ghoul...? Noch bevor er sich plötzlich zu ihr umwandte, wußte sie es... Ihr Instinkt war untrüglich, ihre Macht, Gedanken und Gefühle zu lesen... Zum ersten Mal war sie dankbar für die Fähigkeiten, die ihr Wirtskörper ihrer Macht beisteuerte... aus ihrer Position sprang sie in die Luft... Sie genoß den Augenblick seines absoluten Entsetzens, der Gewißheit, die sie in seinen Augen laß, daß sie, ihre Waffen direkt vor ihm, das Letzte sein würde, was er sah... Als die Unterarmklinge in seinen schwammigen Hals drang, und schwarzes Blut hervorquoll, ihr entgegen schwappte und sie benetzte, erlebte sie ein Gefühl der absoluten Befriedigung. In dem Moment trank sie in gierigen Zügen seine Seele. Als sie die Klinge durchzog und der Kopf herabfiel, in das klebrigen Bad aus Blut, Eingeweiden und Leichenteilen, war die Bestie, der Dämon, der sich in Anjuli verbarg, bereits gesättigt und bereit, sich zurückzuziehen.
Lysander wandte entsetzt den Kopf ab und barg das Gesicht in den schlanken Händen. Er haßte es, wenn Anjuli die Kontrolle über dieses Wesen verlor, mit dem sie sich den Körper teilte. Das, was dem Ghoul geschah, war selbst für solch ein Wesen eine zu harte und grausame Strafe. Jede Seele sollte eine zweite Chance erhalten. Aber dieses Wesen nahm jedem seiner Opfer diese Möglichkeit, wiedergeboren zu werden und noch einmal neu anzufangen. Das einzige, was ihn beruhigte, daß die zweite Seele in Anjuli den Dämonen im Griff hatte und die junge Frau immer rechtzeitig von dem Geschöpf befreite. Es gab andere Zeiten. Zeiten, in denen er und Justin mit aller Kraft gegen Dieses Ding kämpfen mußten, bevor es sich zurückzog und Anjuli wieder Herrin ihres Bewußtseins war. Er hob den Blick und sah Justin vor dem Eingang stehen. Ebenso angeekelt und entsetzt.
Wenn sie wieder Anjuli war, würde sie nicht mehr wissen, was sie getan hatte. Aber vielleicht war dieses Wesen in ihr der stärkste Verbündete gegen ein Geschöpf wie Giraselle.
Vorerst war es vorbei. Vorerst. Und er würde sicher über das, was Anjuli getan hatte, kein Wort verlieren... ebensowenig wie Justin... Immerhin gehörten sie drei untrennbar zusammen...
Im Morgengrauen brachte Tomoya das völlig erschöpfte Mädchen zurück, in den normalen Teil des Hauses. Sie schlief wieder tief und fest... Was vermutlich daran lag, daß er über ihr einen Zauber aussprach, der ihre Erinnerungen milderte. Er konnte sie nicht in diesem winzigen Raum halten, konnte ihr aber auch nicht die Entscheidung, die sie fällen mußte, abnehmen.
An diesem Morgen fand er das Labyrinth in heller Aufregung. Der Park war voll von Leuten, die sich auf dem vergleichsweise engen Raum drängten. Auch das Haus stand Kopf. Man hatte schon in der Nacht alle Leichen an der Stelle verbrannt, an der sich das Dimensionstor geöffnet hatte. Der Gestank von verbranntem Fleisch und Haar lag widerwärtig in der Luft. Aber das war nichts ungewöhnliches für die Leute, die hier lebten. Hier gab es keine Chance, jemand zu bestatten. Hier wurden die Toten verbrannt, schon um zu gewährleisten, daß sie nie wieder zurückkehrten. Aber der Gestank war dennoch barbarisch.
Anthea erwachte von dem Lärm, den Stimmen und dem Gestank.
Neben ihr saß eine blasse junge Frau, die sich über sie neigte. Vielleicht war es auch ein junger Mann, aber es kam nicht oft vor, daß jemand, der so schlank war, solch einen Busen haben könnte... Jedenfalls kein Mann. Also, beschloß Anthea, in ihrem gegenüber eine Frau zu vermuten.
Scheinbar schien Die Frau Antheas Gedanken erraten zu haben, denn ihre grauen Augen lächelten verschmitzt zu dem Mädchen in den Kissen herab.
Etwas, dachte Anthea, war seltsam an dieser Frau... Nicht nur dieses seltsame Binockel, mit den schmalen, metallenen Seitenbügeln, daß auf ihrer Nase saß... auch das so kurz geschorene, schwarze Haar und die Kleider die sie trug. Die schwarzen Hosen waren aus einem, ihr unbekannten, leichten, glatten Stoff, und sie hatten eine seltsame Form... Auch ihr Hemd war schwarz, hatte keine Ärmel und schien nur um ihren Nacken Halt zu finden... und dieses seltsame, schwere Metallverzierung, die senkrecht hoch reichte... Außerdem trug diese Frau einen Silberring in ihrem Nasenloch... und in den Ohren viele davon.
"Justin... Lysander!" Anthea fuhr aus den Kissen hoch. Vor ihren Augen kippte die ganze Perspektive, das Gesicht der Frau verzog sich, ein wenig und floß wieder zusammen. Sie spürte, wie sie wieder in die Kissen zurückfiel. Ihr Magen begann zu rebellieren. Der Gestank war einfach zu viel für sie. Behutsam legte Anjuli ihre Hand unter den Kopf des Mädchens und schüttelte die Kissen ein wenig auf.
"Justin und Lysander sind gerade bei den Aufräumungsarbeiten hier, im Haus," sagte sie gleichmütig. "Als Tomoya dich brachte, hast du noch fest geschlafen. Keiner wollte dich einfach so wecken. Aber du solltest auch nicht aufwachen und allein sein. Also bin ich hier."
Anjuli lächelte und verschränkte die Arme vor der Brust. "Wie wäre es mit Frühstück?" fragte sie. Anthea mußte sie wohl angesehen haben, als habe Anjuli sie gefragt, ob sie lebende Frösche und Spinnen essen wolle. Über die Lippen der jungen Frau zog sich ein breites Grinsen. "Ich verspreche dir auch, daß das Essen hier garantiert eine Katastrophe ist."
Anthea sah sie gezwungen mißtrauisch an... bevor sie in leises, kicherndes Lachen ausbrach.
Anjuli hob eine braue und versuchte sich selbst das Grinsen zu verkneifen... "Ah, die Junge Dame kann lachen..."
Anthea sah Anjuli verwirrt, immer noch kichernd an. Die Junge Frau streckte ihr die Zunge raus und drehte ihr eine lange Nase.
Nun brach Anthea in haltloses Lachen aus und schlug die Hände vor das Gesicht, als Anjuli anfing, sie einfach zu kitzeln. Beide balgten sich einige Sekunden lang auf dem Bett, bevor Anthea spontan ihre arme ausbreitete und Anjuli umarmte.
Die junge Frau erwiderte die Geste herzlich und lächelte in sich hinein.
Justin kniete auf dem Boden und sammelte die großen Glasscherben auf, die der Ghoul in der Nacht aus dem Rahmen geschlagen hatte. "Unmöglich gleich wieder neues Glas zu bekommen," knurrte er verärgert. "Müßt ihr denn immer so viel kaputt hauen?!"
"Ja," stimmten ihm einige seiner Freunde zu. Darunter auch Marlina und Tomoya, die ebenfalls damit beschäftigt waren, die Eingangshalle wieder annehmbar zu gestalten. Womit insbesondere die Blutflecken auf dem Marmor gemeint waren und die Wandteppiche und Gemälde...
Lysander sah über die Schulter zu seinem Freund, während er den letzten Nagel für die Schlaufe, in der der Türriegel saß, in das Holz schlug. "Das sagt der Richtige..." Er lächelte. "Naja, ich verspreche dir, ich komme für den Schaden auf."
Justin sah ihn an, als habe er was sehr dummes gesagt. "Du bist doch nicht der Auffassung, daß das der letzte Schaden war, den mein Haus genommen hat? Da kommt noch Ärger nach. Also streng dich gar nicht erst an."
Lysander sah zurück auf seine Arbeit. "Ist mir auch klar," murmelte er. "Es war keine gute Idee, Anthea hier her zu bringen."
Justin runzelte die Stirn und stand auf. Er legte die Scherben auf dem Fensterbrett ab und nahm sich einen Besen, um die Reste fort zu kehren.
"Sei nicht dumm. Hier hat sie wenigstens ein wenig Schutz. Nirgends, abgesehen von der Universität, ist die Konzentration von Magie so hoch, wie hier. Hier sind Priester und Magier, die Anthea schützen können und wollen. Hier kann sie wenigstens in Frieden zu einem Schluß kommen."
"Na, deine Vorstellung von Frieden ist echt schräg," rief Anjuli Kopfschüttelnd.
Beide Männer fuhren herum und sahen Anthea, die vor der jungen Frau stand, in einem von Anjulis langen, schwarzen Kleidern aus schwarzer Seide und Samt und Spitze.
Anjuli hatte ihre Arme um Anthea geschlungen und über ihrer Brust verschlungen. Lächelnd sah sie über die Schulter des Mädchens und blinzelte fröhlich ihren beiden Freunden zu.
"Eine Entscheidung..." murmelte Anthea und sah zu ihren Füßen hinab. "Wenn ich hier bleibe werden viele sterben. Hier und in meinem Clan... Gehe ich zurück, endet Giraselles grausames Spiel nie. Und ich kann mich nicht allein gegen sie wehren."
Justin stellte den Besen in die Ecke und setzte sich vor Anthea und Anjuli auf die Treppe.
"Allein bist du nicht, egal, welche Entscheidung du triffst."
"Ab...aber die Toten... dieses... Das, was aus dem Riß kam. Das waren Leichenteile!"
Anjuli setzte sich auf das Geländer und sah Anthea ernst an. Das Mädchen sah verzweifelt zu ihr und dann zu Justin und Lysander, der Marlina ihren Hämmer zurückgab.
"Schon oft hat sie das gemacht. In Städten, die uns nicht gerne aufnahmen, hat sie ein solches Gemetzel unter den Kindern angerichtet. Jeder, der sich ihr entgegenstellt, findet den Tod."
"Naja," sagte Anjuli. "Dann kann sie uns in dem Punkt wenigstens keine böse Überraschung bescheren."
Lysander lehnte sich mit den Ellenbogen auf das Geländer. "Anthea, ich habe die in der Annahme hier her gebracht, daß sich Giraselle hier nicht hinein wagt, aber ich glaubte auch, sie sei nichts weiter als eine Magierin, eine Hexe." Er senkte den Kopf kurz und sah dann Anjuli an. Da sie auf dem Geländer, etwas über ihm saß, mußte er zu ihr hoch blicken. Sie verzog die Lippen. "Wenn sie in der Lage ist, sich Menschen völlig zu unterwerfen, sie zu geistlosen Monstern zu machen, die bis zum Tot nicht aufgeben, und, wenn sie bereits Ghoule einsetzt, um uns einzuschüchtern, dann ist da sicher mehr dahinter."
Lysander sah sie ernst und still an.
"Justin und Lysander sind der Auffassung, daß sie kein Mensch, Elf, Orc, Oger, Zwerg oder Halbling ist. Nichts wenigstens, was hier in den Städten lebt. Oder, daß sie verdammt mächtig ist," setzte sie hinzu. Sie sah auf ihre Finger, die zwischen ihren Knien mit einem ihrer Ringe spielten. "Ich jedenfalls habe schon gestern den ganzen Tag etwas gefühlt, daß mich unruhig machte. Dem Gefühl bin ich bis hier her gefolgt."
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