Wärme mein Herz

 

Anabelle hob Mantel und Röcke an, um sich vor der Toten nieder zu knien. Auf den ersten Blick nahm sie an, dass es sich um eine sehr einfache und arme Frau handelte. All ihre Kleider trug sie in Schichten übereinander. Es war die praktikabelste Weise, sein Hab und Gut mit sich zu führen, wenn man keinen festen Wohnsitz hatte. Die schmutzige Haut und das wirre Haar belegten ihre Annahme. Anabelle hob die Finger der Toten und zog ihr die schmutzigen Handschuhe aus. Unter den Fingernägeln saß der Straßendreck fest, in dem sie lebte. Vorsichtig schob Anabelle die kalten Lippen auseinander. Seltsamerweise waren ihre Zähne makellos und weiß.
Sie näherte sich dem Gesicht der Frau. In dem momentanen Zustand konnte sie nicht einmal das vage Alter einschätzen. Dazu wirkte das Antlitz zu maskenhaft. Obwohl sie die typischen Anzeichen von Erfrierungen aufwies, konnte sie nicht daran gestorben sein. Sie lag nicht wie eine Schlafende im Schnee. Viel mehr gewann Anabelle den Eindruck, die Tote habe Angst gehabt. Sie roch an den Lippen der Leiche. Weder Tabak noch Alkohol ließen sich identifizieren. Diese Unstimmigkeiten notierte sie sich geistig und hoffte aud das Ergebnis der gerichtsmedizinischen Untersuchung.
Langsam setzte sie sich wieder auf.
„Seltsam, nicht wahr?“, fragte Inspektor Hailey. Seine Stimme klang undeutlich. Gegen die irrsinnige Kälte trug er seinen Schal um Nacken und Mund geschlungen. Der Bowler saß tief in seiner Stirn. Bis auf seine prominente Nase verschwand das markante Relief seines Kopfes in den Schatten seiner Winterkleidung. Anabelle ließ ihren Blick über die vom Schnee befreiten Wege des Hyde Parks gleiten, während sie nickte. „Haben Sie noch Fußspuren sichern können, Monsieur le Inspekteur?“, fragte sie.
Er schwieg, beobachtete sie einen Moment lang, schüttelte aber schließlich verdrossen den Kopf. „Dazu war es zu windig. Die Leiche selbst lag halb unter dem Schnee, als wir gerufen wurden.“
Anabelle seufzte. „Quel dommage!“ Hailey sah sie fragend an. „Schade“, wiederholte sie in akzentgeprgtem Englisch. Ihr Blick glitt wieder von der Toten fort zu den Pasanten. „Wer hat die arme Frau gefunden?“, fragte sie ihn.
„Kinder, die hier herum getobt sind“, entgegnete er. „Die armen Dinger sitzen nun im Revier.“
„Ausgerechnet Kinder“, flüsterte Anabelle. Ihr Blick verlor sich bei den wenigen Schaulustigen. Nahezu niemand sah sich das unfreiwillige Spektakel an. Nahezu jeder mied freiwillig die Winterkälte. Ausnahmsweise gab es für die Bobbies nichts zu tun. Selbst die Reporter blieben aus. Anabelle kam dieser Umstand mehr als ungewöhnlich vor. Allerdings entsprach dieser Todesfall in nichts der Norm. Die Frau entstammte sicher dem Eastend. Anhand ihrer billigen Erscheinung war sie an einem Ort wie diesem, am Rande des Hydeparks in Mayfair undenkbar. Sie stammte nicht von hier.
„Äußere Verletzungen gibt es keine; zumindest nicht nach dem ersten Eindruck“, sagte Hailey in ihre Gedanken hinein.
Anabelle erhob sich. „Das wird die Untersuchung zeigen, Monsieur le Inspekteur“, murmelte sie nachdenklich. Mit beiden Händen schüttelte sie den Schnee aus ihrem Rock. Obwohl ihr normalerweise die Kälte wenig ausmachte, knirschten ihre Gelenke. Wie stark mussten die Temperaturen gesunken sein, dass Hydraulik und Maschinenfett einfroren? Wenn sie nicht sehr bald in einen geheizten Raum kam, würde früher oder später auch die umstehenden Polizisten mitbekommen, dass ihr Körper aus Metall und Schläuchen bestand. Sie sah sich nervös nach Zaida um. Die schlanke Gestalt der angolanischen Magierin hob sich gegen den farblosen Himmel ab. Reglos stand sie auf de Weg. Über ihr schwebte einer ihrer beiden Raben. Anabelle stellte lieber keine Vermutungen an, um welchen es sich handeln mochte. Die angespannte, konzentrierte Haltung ihrer Freundin verriet ihr allerdings, dass sie etwas entdeckt haben musste. Hailey regte sich neben Anabelle. „Hatte ich recht?“, fragte er in ihre Beobachtungen hinein. Anabelle wiegte den Kopf und sah ihn an. „Ich denke.“
„Sir?“, fragte Sergeant Masters, der sich leise seinem Vorgesetzten genährt hatte. „Können wir die Tote abtransportieren lassen?“
Dünstwölkchen stiegen von seinen Lippen auf.
Hailey zog den Schal von seinem Gesicht. Die Hitze, die sein massiger Körper verströmte, wurde zu feinem Nebel, der sich unter der Krempe seines Hutes staute. Offenbar schwitzte der Polizist unter seinen Kleidern. Anabelle hob eine Braue. Er wies zur Straße. „Holt den Leichenwagen hier herein. Ich will nicht, dass die Tote durch die Gegend getragen wird. Das könnte in Mayfair nur Probleme bedeuten.“
„Verstehe, Sir, falsche Gegend“, fasste Masters zusammen. Der zierliche Mann wendete sich dem Tor zu und winkte dem Kutscher. Offensichtlich schien der Mann froh zu sein, sich wieder bewegen zu dürfen. Sein Pferd hingegen ging extrem steifbeinig. Insgeheim beschloss Anabelle, zu Hause die Außentemperatur zu messen. Solch eine Kälte kannte sie bislang nur von ihren wenigen Besuchen in St. Petersburg und Moskau. Sie besaß kein Wärme-Kälte-Empfinden, was ihr jede Einschätzung unmöglich machte. Aber die meisten Menschen um sie herum vermummten sich bis zu den Augen. Sie mutmaßte, dass dieser Winter wohl der kälteste seit Gründung des britischen Empires war.
Eine Böe wirbelte lockeren Schnee in die Luft. Für einen winzigen Moment glaubte Anabelle eine darin verborgene Monstrosität zu erkennen. Doch die Schleier aus Eisstaub legten sich sofort wieder. Beunruhigt sah sie zu Zaida. Sie versuchte, ihren Blick einzufangen. Die Aufmerksamkeit ihrer Freundin richtete sich allerdings ausschließlich auf jene Stelle, an der die leichte Schneeverwehung Gestalt angenommen hatte. Anabelle wendete sich zu Hailey um. Normalerweise sah der Polizist selten die Auswirkungen solcher Phänomene. Dieses Mal spürte er sie. Offenbar bildete sie sich diese Erscheinung nicht ein. Die abstoßend hässliche Boxervisage Haileys verzerrte sich vor Anstrengung. Anabelle sah, wie Schweiß aus seinen Poren trat und sein Gesicht mit einer schimmernden Schicht überzog. Seine kleinen Schweinsaugen weiteten sich. Anabelle fuhr herum. Im gleichen Moment raste eine unbeschreibliche Scheußlichkeit auf sie zu! Anabelle wich in einer fließenden Bewegung zurück. Sie fühlte wie Hailey seine Arme um ihre Taille schlang und sie instinktiv herumwirbelte. Eine orkanartige Böe erfasste sie und schleuderte beide zu Boden. Sie brachen durch den Eisüberzogenen Schnee. Wuchtig schlug sie auf. Das metallene Echo aus ihrem Torso sprach von ihrem harten Sturz. Hailey stöhnte gequält auf. Erschrocken sah sie zu ihm. Anabelle kam glücklicherweise nicht direkt auf ihrem Freund, dem Inspektor, auf. Mit ihren 240 Pfund Gewicht würde sie seine Knochen versehentlich zertrümmern. Er rollte sich auf die Seite. Die Frage, ob sie ihn verletzt hatte, verschob sie auf einen anderen Zeitpunkt. Erneut wirbelte Schnee auf. Dieses Mal sah sie sich einer undurchdringbaren Wand aus Eiskristallen gegenüber, die in flirrender Bewegung waren. Angriffslustig senkte sie den Kopf und ballte beide Fäuste. Sie wusste, wie wenige Chancen sie mit ihren körperlichen Attributen gegen ein Geschöpf aus inkonsistenter Nässe und Kälte hatte. Dennoch versuchte sie, alle Klauen und Sporne in ihrem Körper zu aktivieren. Was normal eine Angelegenheit des puren Willens war, scheiterte heute. Das feine Knacken der dünnen Eisschicht verriet ihr, dass just in diesem Moment alle Triebfedern ihrer körpereigenen Waffen einfroren. Entsetzt hob sie den Blick. Vor ihr baute sich etwas Gewaltiges, Massiges auf. Ein riesiger Schädel pendelte auf einem stiernackigen Hals. Leere Augenhöhlen starrten zu ihr herab. Das Maul klaffte auf und entblößte fingerlange Reißzähne. Eiseskälte schlug ihr entgegen. Mehr ärgerlich als entsetzt presste sie ihre Kiefer aufeinander. Schleier der Schneeflocken wehten zu ihr. Es schien, als berührten hunderte tastender Finger ihr Gesicht. Der Wind ähnelte eher einer Art Flüssigkeit, die sich überall hin auszubreiten vermochte! Winzige Flocken krochen unter ihre Kleider. Einen Herzschlag später gruben sich tausend Klauen und Zähne in ihre künstliche Haut. Obwohl Anabelle eine Maschine war, tat es weh. Sie kniff die Augen zusammen und ballte ihre Fäuste. Instinktiv zog sie sich weiter zurück. Sie schlang die Arme um ihren Leib. Die Geste war überflüssig. So konnte sie sich nicht vor den Zugriffen des Eindringlings zu schützen. Offenbar tastete das Wesen sie ab und suchte nach Informationen über ihre Schwachpunkte. Anabelle schrie auf, als die Eisfinger über ihre Herzplatte krochen, hinter der die Essenz der einst lebenden Frau brodelte. Unwillkürlich aktivierte sie damit die unaussprechliche, unangetastete Magie, mit der ihre Seele in die Maschine transferiert wurde. Der innere Schutzmechanismus erwachte zu funkensprühendem Leben. Von Stirn, Händen und Füßen strömte Hitze. Sie wusste, dass etwas vollkommen unmögliches geschah. Blut, mit Magie vermischt rann über ihre Nase und ihr rechtes Auge. Rote Tropfen sammelten sich im Schnee. Ihre Schuhe füllten sich mit heißer Feuchtigkeit. Gleichzeitig bildete sich um sie herum eine Sphäre aus vielfarbigem Licht, dass an die Kristallfacetten erinnerte, in denen ihre Seele einst gefangen war. Der Angriff verebbte einen Lidschlag danach. Anabelle taumelte zurück. Sie hob den Blick. Das Wesen überragte sie um fast das doppelte ihrer Körperlänge. Der Schnee, aus dem es bestand, befand sich in zielloser Fluktuation. Sie konnte keine festen Formen mehr ausmachen. Der Schädel neigte sich. Einen Moment später riss es das Maul auf. Eine Orkanböe traf sie. Anabelle stemmte sich mit aller Kraft dagegen. Die Sphäre um sie flackerte. Sie spürte, wie das Magiegewebe schwächer wurde. Binnen Sekundenbruchteilen würde es in sich zusammen brechen. Sie konnte diesem Geschöpf nichts entgegen setzen! Einzig ihr stählerner Leib würde sie schützen!
„Zaida!“, schrie sie verzweifelt.
Anabelle riss beide Arme hoch und ballte ihre Hände zu Fäusten.
Schwach konnte sie die schwarze Magierin ausmachen. Sie hob sich kaum von ihrer Umgebung ab. Die Reglosigkeit ihrer Gestalt sagte Anabelle, dass Zaida auf ihre Weise bereits Kämpfte. Wärme berührte sie. Die Nähe eines unsichtbaren, menschlichen Körpers strich leise an ihr vorüber … Zwei schwarze Schemen schossen aus dem Himmel herab. Federn stoben auf. Stumm brüllte das Monster seinen Hass heraus Orkanböen bildeten unkontrollierbare Windhosen. Schnee wirbelte zu undurchdringlichen Schleiern auf. Messerklingen aus Kälte jagten durch den Sturm. Zaidas rauchige, dunkle Stimme donnerte über den Orkan hinweg. Sie wob Zauber, veränderte die Energie, die ihren Körper und ihr Wesen durchströmte, zu einer neuen Form. Anabelles Herz schlug schneller. Das Spektakel wahrer, starker Magie berührte die Seele in der Maschine zutiefst. Sie hob den Blick. Das Winterwesen bäumte sich gegen Zaidas Macht, während die beiden gewaltigen Kolkraben erneut herab stießen. In ihrer Mitte flammte ein rotgoldener Flammenball auf. Je näher sie dem Geschöpf kamen, desto stärker schmolz die Feuerkugel den Schnee zu winzigen, schimmernden Tropfen, die sofort in der arktischen Kälte zu Eiskristallen gefroren. Weidwund heulte das Wesen auf und zerfiel zu weißen Flocken, die herabrieselten.


*


Anabelle saß vor dem Kamin in Zaidas Salon. Die Wärme des Feuers reichte kaum, ihre gefrorene Mechanik wieder anzutauen. Trotz der Anwesenheit Haileys, der sich offenbar bei dem Sturz verletzt hatte, fand sie die Gelegenheit, sich kurzfristig die Schäden an ihrem Körper anzusehen.
Das Resümee gefiel ihr gar nicht. Von unzähligen Rissen und Schnitten in ihrer künstlichen Haut ganz abgesehen, waren etliche Hydraulikleitungen beschädigt. Die Kälte hatte den Federn und Zahnrädern in ihren Gelenken geschadet. Teilweise erlahmten ihre Bewegungen sofort wieder. Alle Gelenke knirschten von Eisablagerungen und Nässe. Aber schlimmer als das war der Sprung in ihrer Herzplatte. Der nahezu unzerstörbare Kristall sah trüb aus. Feine Sprünge spannten sich von der Mitte bis zu dem Messingrahmen, der sie in ihre Briust einfasste. Das nebulös wogende blaue Gas im Zentrum ihres Körpers waren der Antrieb und zugleich Essenz der zentralen Gehirnsteuerung. Sollte die Platte zerbersten, würde Anabelle sterben. Wenn Hailey endlich ging, fand sie Zeit, den Körper zu wechseln!
Der Beamte saß relativ unglücklich in dem dunkelroten Kanapee an der Südwand. Er suchte zurzeit den Abstand zu Anabelle. Seine massige Boxer-Gestalt wirkte deplaziert inmitten der zierlichen Neorokoko-Möbel. Er passte gar nicht in die gehobene gesellschaft. Sein ungelenkes, hilfloses Verhalten gegenüber Zaida verriet seine Herkunft genauso effektiv wie sein starker Ostlondon-Akzent. Insgesamt verströmte er die Brutalität der Welt, aus der er stammte. Obwohl sie Hailey unterdessen sogar mochte, missfiel ihr, wiesehr er Zaidas Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Sie verband sein verletztes Gelenk und bewirtete ihn mit Tee.
„Wenn Sie Schnaps oder Gin haben, Madame, ist mir das eigentlich lieber“, gestand Hailey.
Anabelle warf ihrer Freundin einen flehenden Blick zu. Zaidas spöttisches Lächeln enthüllte ihre Gedanken über Hailey. Sie nahm ihn in dieser Hinsicht nicht ernst.
„Gin bekommen Sie in den Bars im Eastend, Monsieur Hailey“, knurrte Anabelle. „Hier sollten Sie vielleicht ein wenig auf die Etikette achten.“
Vor einem Jahr hätte sie ihm ungefiltert an den Kopf geworfen, was sie tatsächlich von seinem starken Alkoholkonsum hielt. Unterdessen nannte sie ihn allerdings einen Freund, auch wenn diese Beziehung auf wackligen Beinen Stand. Seither vermied sie es, ihn allzu offen zu provozieren.
„Nach dem, was da passiert ist“, murmelte er, „wäre mir eine Flasche Gin noch zu wenig.“ Seine Stimme klang dumpf. Als sich Anabelle vollends zu ihm umdrehte, bemerkte sie, dass sein Blick sich in den Flammen des Kamins verlor. Eine Welle von Mitleid überschwemmte ihr Herz.
„Monsieur Hailey?“, fragte sie vorsichtig, wobei sie sich erhob und zu ihm trat. Langsam, als fiele es ihm besonders schwer seinen Blick von den prasselnden Flammen zu lösen, hob er den Kopf. Müdigkeit sprach aus seinen kleinen, rot geränderten Augen. „Miss Anabelle, was war das?“, fragte er hilflos. Sie schluckte. Eine Antwort darauf blieb sie ihm schuldig.
Zaida zog sich einen Stuhl heran. „Ich möchte vermuten, dass dieses Wesen eine Art Eisdämon ist. Vermutlich liegt hierin auch begründet, warum die Londoner das Gefühl haben, in Sibirien zu leben.“
Hailey sah sie an. „Sie meinen, die Kälte hat etwas mit diesem“, er zögerte. Offenbar fand er kein passendes Synonym für den Grund seiner Hilflosigkeit. „… Ding zu tun?“
Zaida nickte sachte. „Für genauere Definition müsste ich recherchieren.“
Annabelle beobachtete ihre Freundin einige Sekunden lang, bevor sie den Blick durch das Zimmer gleiten ließ. Die verwaiste Vogelstange, auf der sonst Songa und Manikongo hockten verdeutlichte ihr, dass Zaida nicht den Hauch einer Ahnung besaß, was sie gerade angegriffen hatte.
Beide Raben spielten für die Angolanerin Scouts. Vielleicht würden sie mit ihren außergewöhnlichen Fähigkeiten das Winterwesen ausfindig machen und seine Gewohnheiten erklären können. Langsam schritt Anabelle zu dem Fenster, durch dass sie über die stille Straße in den Hyde Park sehen konnte. Der Fundort der Toten lag keine drei Minuten Fußweg von hier entfernt. Für Anabelle bestand wenig Zweifel daran, dass die Frau von jenem Wesen ermordet wurde. Warum entging dieses Geschöpf Zaidas täglicher Suche nach Gestalt gewordenen Mythen?
Feuchtigkeit kondensierte an der Scheibe. In den Ecken kristallisierten die feinen Tröpfchen bereits zu Eis.
„Wie kalt ist es unterdessen?“, fragte sie, ohne eine Person direkt anzusprechen.
„Heute früh waren es -22°F“, antwortete Hailey. „Wie weit die Temperaturen nun abgesunken sind, weiß ich nicht.“
Anabelle nickte. Ihr Blick verlor sich jenseits der Parkumfriedung. In den letzten Wochen nahmen wurde es mit jedem Tag etwas kälter. Sie kannte solch ein Wetter weder aus London, noch aus Paris. Ihr Körper war nicht darauf ausgelegt. Sie wendete sich ab. „Wann geriet der Winter so aus dem Gleichgewicht?“
Zaida führte ihre zierliche Teetasse zu den Lippen, verharrte aber in der Bewegung. „Ich glaube vor etwa zwei Monaten.“
Anabelle setzte sich wieder an den Kamin. Sie überlegte einige Sekunden. Gab es einen Termin, der vielleicht eine besondere, magische Nacht ankündigte?
Ihr vielen nur die Rauhnächte ein. Die Zeit zwischen dem 21. Dezember und dem 1. Januar galten als die Zeit des Todes oder der Ruhe. In jener Nacht sollte Odins wilde Jagd statt finden, ebenso wie die Legende Frau Holles genau auf diese zwölf Tage fiel. Unbewusst fuhr sie sich mit dem Daumen über die Unterlippe. Nach einer Weile nagte sie darauf herum. In der Zeitspanne existierte – Dank der höheren Mondrotation zur Erde und er Sonne - eine Art Stunden- und Tagesüberstand, der sich rein astronomisch auf die letzten eineinhalb Dezemberwochen festlegte. In etlichen Kulturen bedingte sich daraus das Weihnachts- beziehungsweise Julfest. Konnte es hierbei vorkommen, dass dunkle Geister einen Weg auf die Erde fanden, wie es in der Samhainnacht üblich war?
„Was vermutest du?“, fragte Zaida in ihre Gedanken.
Anabelle zuckte zusammen. Sie sah zu ihrer Freundin. „Ich versuche gerade eine Verbindung zwischen den Vorkommnissen und den jeweiligen Mythen über die Rauhnächte herzustellen“, erklärte sie abwesend.
Hailey hob seine unverletzte Hand. „Verzeihung, meine Damen, ich will mich dabei nicht weiter einmischen.“
Er erhob sich.
Anabelle sah ihn vorwurfsvoll an. „Monsieur!“, ereiferte sie sich. „Erst ziehen Sie uns zu diesem Fall hinzu und dann wollen Sie sich an der Überlegung nicht beteiligen?“
„Im Augenblick ist die Tote eine erfrorene Frau, die unglücklicherweise im Hyde-Park gefunden wurde …“
„Sind denn in den vergangenen Tagen ähnliche Vorkommnisse aktenkundig geworden?“, unterbrach Zaida ihn.
Hailey zuckte mit den Schultern. „Mir sind keine zu Ohren gekommen“, gab er zurück.
„Wäre es zu viel verlangt“, fragte Zaida, „wenn Sie entsprechende Nachforschungen betreiben könnten, Hailey?“ Sie ließ sich in ihrem Stuhl sinken, während sie ihn ansah. Er runzelte die Stirn.
„Ich bin nicht Ihr persönlicher Lakai, Madame!“, zischte er, wobei er bereits die Hand um die Klinke legte und herab drückte. „Einen guten Tag!“


*


Offenkundig störten ihn die unterschiedlichen gesellschaftlichen Stellungen. Wahrscheinlich missfiel ihm besonders Zaidas Rang als Agentin Ihrer Majestät, der Königin Victoria. Sie bewegte sich auf einem Terrain, dass von Männern dominiert wurde und besaß weitaus mehr Macht und Einfluss als ein einfacher Inspektor der Metropolitan Police. Anabelle kannte seine verborgenen Gefühle für ihre Freundin. Durch die Nähe und die ständige Zusammenarbeit entstand zwischen Hailey und Zaida eine sehr enge Bindung. Von Seiten der Magierin war es tiefes Vertrauen, der raubeinige Beamte aber liebte sie. Außerhalb dergesellschaftlichen Grenzen trennten sie auch die ethnischen Unterschiede. Eine schwarze Frau zu lieben und zu ehelichen, wäre undenkbar in London. Trotzdem machten ihn seine Gefühle empfänglich für die unterschiedlichen Nuancen von Zaidas Stimmungen. Doch so empfindlich reagierte er selten.
Anabelle sah ihm nach, bis er ihr Sichtfeld verlassen hatte. Eine halbe Minute später schlug die Eingangstür zu.
„Du hast ihn beleidigt“, fasste sie seinen desolaten Gemütszustand in Worte. Zaida nickte. „Anders kann man seine Dickfelligkeit kaum durchdringen.“ In einer fließenden Bewegung erhob sie sich und trat an das Fenster. „Es tut mir jedes Mal leid, ihn so zu verletzen, um die Positionen erneut festlegen zu müssen“, gestand sie. „Er ist schließlich ein sehr enger Freund.“
Anabelle folgte ihr. Sie lehnte sich in den Rahmen und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie knirschten bedenklich. An eine flüssige Bewegung war nicht zu denken. Sie wollte nicht weiter Haileys Reaktion diskutieren. „Was hältst du von der Theorie?“
„Die Rauhnächte?“, fragte Zaida überflüssigerweise, während sie sich mit beiden Händen auf das Fensterbrett stützte.
„Genau.“
Zaida feuchtete ihre Lippen an. „Deine Vermutung dürfte zutreffen. Der Kälteeinbruch begann nach Samhain. In der Nacht des 31. Oktober muss etwas die Grenzen hier her überschritten haben. Vielleicht brauchte es Zeit, um sich zu etablieren, möglicherweise ernährt es sich von dem Leben der Erfrorenen. In jedem Fall erreicht es gerade den Höhepunkt seiner Macht. Sie sah Anabelle aus dem Augenwinkel an. Die vergangene Nacht war die erste Rauhnacht. Der 21. Dezember ist der Tag mit der längsten Nachtphase.“
Anabelle nickte knapp. „Aber was ist das für ein Wesen?“
„Ich habe keine Ahnung“, gestand Zaida. „In jedem Fall ist es mächtig und lauert auf Leben.“
„Und“, fügte Anabelle betonend hinzu. „Es kann mich vollständig lahm legen.“
Erschrocken richtete Zaida sich auf. „Was meinst du?“
Wortlos öffnete Anabelle ihren Hausmantel.


*


Das Kaminfeuer warf zuckende Schatten an Wände und Decke. Die bizarren Muster zwei bewegter Körper huschten wie die Negative von Irrlichtern über die Tapete. Zaidas warme Finger lagen auf der Kautschukhaut Anabelles. Sie befestigte die Anschlüsse des Transformators in der maschinellen Wirbelsäule. Mit einer Zange zog sie die Muttern enger.
„Wie lang brauchst du, diesen Körper zu reparieren?“, fragte sie besorgt.
Anabelle zuckte die Schultern. Vorsichtig wendete sie den Kopf. Ihr Blick traf Zaidas. Das Licht des Feuers tanzte unruhig in ihren Augen. Die Angolanerin ragte um weit mehr als einen Kopf über Anabelle auf. Ständige Sorge und Nähe waren ihr Schlüssel zu Anabelles Herz.
Langsam wendete sie sich zu Zaida um. „Du musst dir keine Sorgen machen. Ich werde meine Seele in einen anderen Körper übertragen.“
Zaidas Lippen zuckten. Sie sah an Anabelle vorbei. An der Werkstattwand standen drei ungenutzte Automatenkörper, die ihrem wie Zwillinge glichen. Alle wog weitaus weniger. Allerdings besaßen sie kaum ausreichende Abwehrmechanismen und Waffen. Trotzdem glaubte sie, dass ihr dieses Mal die schwere Hülle, die ihrer Seele eine Gestalt gab, nur hinderlich sein würde. Er blockierte den Fluss ihrer eigenen Magie. Vorhin, als ihre persönliche Abwehr sich über das schwere Stahlskelett hinaus behauptete, begann sie aus all den Stellen zu Bluten, die damals während des ersten Seelenübertrags als Zugängen - zauberische Tore - dienten. Gegen dieses Geschöpf halfen weder Klinge und noch Blei.
Sie hob die Finger zu Zaidas Wange. „Mit den Leibern dort“, sie machte eine Kopfbewegung, „kann ich dir dieses Mal viel besser zur Seite stehen.“


*


Der Übertrag ihrer Seele in einen anderen Leib ließ in Anabelle etwas gefrieren. Die Situation, sowie die Empfindung vollständiger Hilflosigkeit, widerstrebten ihr bereits im Vorfeld. Überdies wusste sie, dass sie mit jedem Körperwechsel winzige Stücke ihrer Persönlichkeit und ihrer Erinnerungen verlor. So sehr sie an der Sicherheit dieser auf Magie und Elektrizität basierenden Maschine arbeitete, so wenig konnte sie verhindern, dass sich jedes Mal ein Hauch der alten Anabelle verflüchtigte. Gegenüber Zaida klang sie selbstsicher, wenn sie über diesen Transfer sprach, allerdings bohrte schon von der ersten Sekunde an tiefe Angst in Anabelle. Ihr war bekannt, wie das Ergebnis einer Seelenlosen Maschine aussah. Schließlich verlor sich ihre Schwester Anais vollständig in den beständigen, teilweise vollkommen ungeschützten Wechseln der Körper. Möglicherweise bedeutete es Anais nichts, aber Anabelle fand viele gute Gründe für ihre konstanten Existenz. Ihre Freunde, ihre Arbeit, das wunderbare Leben an Zaidas Seite, der Reiz des Abenteuers und die Anerkennung als vollständiger Mensch waren nur wenige Punkte, die ihr Leben lebenswert gestalteten. Besonders schwer wog die Sicherheit und Zuneigung, die ihr Zaida gewährte. Vielleicht lag darin auch die Relevanz für sie, bei jedem Transfer auf Zaidas unbedingte Anwesenheit zu bestehen. Die Gewissheit nicht allein zu sein und Zaidas Nähe zu spüren, bedeutete Anabelle alles. Praktischerweise konnte sie ihre abnehmende Beweglichkeit als Vorwand nutzen, um Zaida zu bitten, auch jetzt die Schläuche an beiden Körpern anzuschließen und die kupferne Apparatur zu bedienen.
Während die blau schimmernde Flüssigkeit, das Gas, oder was immer ihren Stahlleib betrieb, über die zischenden, bebenden Schläuche aus ihre heraus in einen Kessel gesogen und über ein feines Glasfiltersystem zu dem Prismenkristall in dem Aluminiumkörper gepumpt wurde, glaubte Anabelle, einschlafen zu müssen. Das Leben floss aus dem schweren Stahlkoloss heraus. All das ging quälend langsam von statten. Nach einer uneinschätzbaren Zeitspanne glaubte sie fast, sie müsse sterben. In ihren Gliedern machte sich bleierne Mattigkeit breit, die bis in ihren Verstand kroch und sich dort in dumper erschöpfung niederschlug. Anabelles schwindender Geist funktionierte träger. Die Essenz ihres Daseins wurde aus ihr heraus gesogen. Wie konnte man überhaupt mit Willenskraft einen solchen Leib antreiben? War nicht ein einzelnes Fingerglied bereits zu schwer? Seit ihrem physischen Tod brachte diese Empfindung die blanke Todesangst in ihr zurück. Aus einem unerfindlichen Grund sträubte sie sich auch dieses Mal wieder gegen den Körperwechsel. Zaida war bei ihr, half ihr und stärkte ihr Bewusstsein auf ihre warme, sanfte, mysteriöse Weise.
Wie auch sonst bei jedem der – zugegeben seltenen Transferaktionen – wob sich Zaidas Seele in Anabelles, berührte ihr ganzes Wesen und begleitete sie auf ihrem Weg. In dieser kurzen Phase der Todesangst, bis zu Zaidas Zugriff, litt Anabelle. Danach wärmte ihre außergewöhnliche, machtvolle Freundin ihre kälter werdende, angstvolle Seele und brachte ihr erholsamen, friedvollen Schlaf.


*


Am kommenden Morgen stand Anabelle in ihrer Werkstatt unter dem Dach der Villa. Schnee lag auf den Deckenfenster, sodass sie nur im Schein der Lampen arbeiten konnte. Goldenes Licht fing sich im Gebälk über ihrem Kopf und reflektierte auf der schweren Kranvorrichtung, mit der sie ihren Stahlkörper dicht über dem Boden aufgehängt hatte. Seufzend betrachtete Anabelle die defekte Hülle. Die Kunsthaut lag zusammengerollt auf der Werkbank. Vermutlich konnte sie damit nichts mehr anfangen. Sie sah keinen Sinn darin, die Risse zu stopfen. Wahrscheinlich war es klüger, einer anderen Maschine das vorgeblich menschliche Aussehen zu nehmen. Obwohl sie das Gewicht des Körpers hasste, wusste sie die immensen Vorteile eines unangreifbaren Leibes zu schätzen. Doch das war nur der vordergründigste Punkt. Wenn sie ehrlich zu sich war, lag der eigentliche Grund wesentlich tiefer. Sie erwachte nach ihrem physischen Tod in dieser Gestalt. Ihre Schwester hatte ihr das Aussehen und die Attribute einer Kämpferin gegeben. Gleichgültig wie sehr Anabelle Anais für den Mord an ihre und die Zerstörung all ihrer Lebensträume hasste, sie verband auf paradoxe Weise auch ihre Rückkehr damit. Sie würde diesen Körper reparieren, komme was wolle!
Nachdem sie eine gute Stunde damit zugebracht hatte, die äußeren Extremitäten auszubauen, Kabel zu ersetzen und Schläuche in warmem Wasser einzulegen, konnte sie sich um die Gelenkkugeln kümmern. Eine eigenartig raue Patina machte es ihr fast unmöglich, den leblosen Arm zu bewegen. Das Metall knirschte, als habe es sich über die Gelenkpfanne hinaus ausgedehnt. Feines, weißes Mehl rieselte auf die hölzerne Arbeitsplatte. Mit zusammengezogenen Brauen tippte Anabelle den Abrieb auf und roch daran. Sie nahm nichts wahr. Mit einer Stahlbürste machte sie sich daran, diese sonderbaren Korrosionsspuren zu entfernen. Nachdem sie die Gliedmaßen anschließend mit Sandpapier poliert und im Anschluss gefettet hatte, funktionierte das System auch wieder. Trotzdem schien sich daran etwas verändert zu haben. Erneut drehte sie die Ellenbogenkugel und überdehnte das Gelenk. Es ließ sich bereits jetzt schon nicht nennenswert leichter bewegen als am Vortag. Langsam drehte sie es und hielt es gegen das Licht. Der feine Kabelschacht, der Unter- und Oberarm verband und die Ketten- und Federwerke bediente, war vollkommen zugesetzt. Diese weiße Patina legte ihre Glieder lahm. Anabelle ließ den Arm verärgert auf den Tisch fallen. Sie suchte sich Pfeilen und Drähte aus einer Schublade, um sich an die mühselige Reinigung zu machen. Während dessen überlegte sie sich, auf welchem Weg dieses Pulver sich so effektiv abgesetzt haben konnte. Die einzig logische Möglichkeit waren die undichten Hautlappen über den Gelenken und die ungeschützten Laufschienen ihrer Sporne, Messer und Bolzen. Nach einer Weile ließ sie den Metallarm wieder sinken.
Eilig krempelte sie den Ärmel ihres Hemdes auf und untersuchte den Kautschuk an ihrem Aluminiumarm. Über dem Ellenbogen saß die verräterische Überlappung der beiden Gliedmaßen. Sie konnte nicht riskieren, dass sie ein weiteres Mal lahm gelegt wurde. Ohne länger zu überlegen, erhitzte sie das Material und fügte es nahtlos zusammen. Ihr war vollkommen gleichgültig, ob man die dunklen Lötspuren sah, oder nicht. Die musste sich keinem anderen nackt präsentieren.
Annabelle überlegte. Wenn sie dem Schnee, oder was immer sich darin absetzte, keine Gelegenheit bot, in ihren Körper einzudringen, wäre es leicht, dem Monster stand zu halten.
Aber wie konnte man einem solchen Wesen nah kommen, um es zu verwunden, oder gar zu besiegen? Letztlich war es körperlos. Während sich dieser Gedanke in ihrem Gehirn manifestierte, nahm bereits eine Lösung Gestalt an: Wenn man die Seele eines sterbenden Menschen in einen Maschinenkörper bannen konnte, wieso nicht auch ein solches Wesen?
Auf der Grundlage konnte sie einen Plan entwickeln. Ihre zuvor schlechte Laune wich einer ungeahnten Euphorie. Fröhlich pfiff sie vor sich hin.
Als Zaida anklopfte, war sie noch nicht ganz fertig.
„Ja?“, fragte Anabelle.
Zaida vermied es, einzutreten. „Sergeant Masters bittet uns, umgehend in die Leichenhalle zu kommen“, sagte sie ruhig. „Hast du Zeit dafür?“
Anbelle krempelte die Ärmel ihres Hemdes herab und klopfte sich den Staub von den wollenen Hosen. „Entrée!“, rief sie.
Während sie sich Weste und Jackett überzog, trat Zaida ein. Sie musterte Anabelle kritisch. „Du willst deine Arbeitskleidung anbehalten?“, fragte sie. Ihre Brauen zogen sich zweifelnd zusammen. „Ich halte es für …“
„Unziemlich, ich weiß!“, fiel Anabelle ihr ins Wort.
„Provokant“, beendete Zaida ihren Satz ungerührt.
„Machst du dir sorgen um mich?“, fragte Anabelle lächelnd. Daraufhin schwieg Zaida. Lediglich ihre Braue zuckte missbilligend hoch. ‚Wie sehr sie doch eine Dame ist!’, dachte Anabelle. Diese elitäre, etwas snobistische Eleganz und der Standesdünkel verliehen Zaida einen besonderen Zauber der Unantastbarkeit. Anabelle wusste, dass sie mit ihrer Freundin in keiner Weise mithalten konnte. Sie fühlte sich wie ein Kind, ein Mädchen an Zaidas Seite. Trotzdem forcierte sie den Unterschied zwischen ihnen. Die Spannung, die daraus entstand, glich einem Spiel ohne Sieger oder Verlierer, aber mit einem besonderen, fast erotischen Schauer.
Lachend fasste Anabelle ihre Freundin in der Taille. Mit einem Ruck zog sie die Angolanerin an sich und wagte einige sehr unmoralisch Tanzschritte, wobei sie sich gegen Zaidas Bein drängte.
Mit einem ärgerlichen Blick schob die Magierin sie von sich.
„Bitte!“, sagte sie streng. „Das mag ich nicht!“
Anabelle ließ sich von der kühlen Abweisung nicht irritieren. „Ich weiß“, verriet sie. „Das ändert aber nichts an meiner herrlichen Stimmung.“
Zaida legte den Kopf schräg. Neugierde flammte in ihren Augen auf.
„Ich weiß jetzt, wie ich meinen Körper gegen dieses Wesen schützen kann und dieses Geschöpf einfangen kann!“


*


Masters saß im Salon, nah des Feuers. Er wirkte nicht weniger deplaziert als Hailey den Tag zuvor. Der schlanke, rothaarige Mann fühlte sich offenbar in seinem einfachen Wollanzug gar nicht wohl. Unruhig rutschte er auf dem Kanapee umher, während er seine Baskenmütze zwischen den Fingern knautschte. Masters Verfassung besserte sich kaum, als er Anabelle in ihrem Hosenanzug sah. Zu seiner Unsicherheit, die sicher von den schlechten Nachrichten die er zu überbringen hatte, herrührte, kam noch seine persönliche Nervosität hinzu, die sich auf Anabelles unmoralische Erscheinung bezog. „Monsieur Masters?“, forderte sie ihn auf. „Mademoiselle Talleyrand“, begrüßte er sie steif, wobei er den Blick gesenkt hielt.
„Hat Monsieur Hailey Sie geschickt?“, fragte Anabelle.
Der Bobby sah zu Zaida. Offensichtlich wusste sie bereits, worum es ging. „Alors, raus mit der Sprache?“, forderte Anabelle ihn harsch auf.
„Die Leiche der Frau …“ er brach ab. Anabelle spannte sich erschrocken. „Was ist mit ihr?!“
„Sie ist erwacht“, murmelte er dumpf.


*


Womit Anabelle gerechnet hatte, konnte sie im Nachhinein nicht mehr genau sagen. In jedem Fall entsprach es nicht der Grausamkeit der Realität. Das Bild in der Leichenhalle entsprach eher einem Horrorszenario. Unter dem Tonnengewölbe flackerte ein einzelnes, noch nicht zertrümmertes Gaslicht. Blutspritzer bedeckten die ehemals weiß gekachelten Wände bis unter die Decke. Aus einem Rohr in der Wand troff Wasser. Leichenteile lagen zwischen den Splittern von Kacheln und Bahren. Zerfetzte Tücher bedeckten einen Teil der Toten. Mit Urgewalt musste die Leiche ihr Vernichtungswerk verrichtet haben. Solch rohe Brutalität kannte Anabelle nur von belebten Maschinen. Ihr Körper wäre hierzu in der Lage, aber ein Mensch …?
Masters keuchte. Offenbar kannte er diesen Zustand noch nicht. Rasch wendete er sich ab. Zaida trat einen Schritt tiefer in den Raum, wobei sie darauf achtete, dass ihre Schleppe nicht über den Boden schliff. Sie sog die Luft tief ein.
„Sergeant?“, sprach sie ihn an. Masters Gesicht hatte alle Farbe verloren. Er würgte. Mit einer Hand vor den Lippen wich er etwas zurück. „Was?“, ächzte er. Anabelle sah ihm an, dass ihm der Anblick nahe ging. Er zitterte am ganzen Körper. Seine hellen Augen erfassten das schreckliche Bild und verinnerlichten es.
Behutsam drehte sie ihn an den Schultern zur Treppe. Er wich in den Gang zurück und lehnte sich mit beiden Händen gegen die Wand. Würgend übergab er sich.
„Anabelle“, bat Zaida. „Sorgst du bitte dafür, dass er den Gashahn abdreht?“
„Monsieur Masters?“, fragte sie leise. „Können Sie vielleicht …?“
Er nickte qualvoll, während er sich bebend von der Wand abstieß. Auf unsicheren Beinen wankte er in die Dunkelheit des Ganges.
„Zaida!“ Anabelle wendete sich zu ihrer Freundin. „Wo ist sie?!“ Mit einer Handbewegung wies sie in den Raum. „Ich sehe hier nur Tote.“
Die Angolanerin sah sich schweigend um. Anabelle folgte ihrem Blick. Bei all dem Blut musste dieses Wesen wohl lebende Menschen zerfetzt haben.
„Was für ein Geschöpf ist das?“, fragte Anabelle leise. In ihrer Stimme schwang das Entsetzen mit, was sie empfand.
„Eine Untote“, entgegnete sie. „Ich kann sie noch immer hier spüren.“
„Sie ist noch da?!“, rief Anabelle aufgebracht. Zaida nickte. Sie hob ihre Hände, wobei sie die Innenflächen nach oben drehte. Sachte blies sie darüber. Silbrige Partikel flirrten durch die Luft. Wo zuvor nichts war, wurden schemenhaft Gestalten sichtbar. Ihre Gesichter waren ausdruckslos, oder verwirrt. Aus leeren Augenhöhlen starrten sie Zaida an. Anhand ihrer Kleidung konnte Anabelle sie als Ärzte und Bobbies erkennen. Sie schauderte. Offenbar sammelten sich dieserorts die Seelen jener, die durch die Untote gerade erst zerfetzt worden waren. Zaida hob ihre Hand. Mit einer leichten Bewegung zeichnete sie ein Symbol in die Luft. Die Seelen verloren langsam ihre Form und Konsistenz, bevor sie sich in fahles Licht auflösten. Lediglich das silberne Flirren hing noch einige Sekunden in der Mitte der Halle. Erleichtertes Seufzen erfüllte den Raum.
Im gleichen Moment erlosch das Licht unter der Decke vollständig.
Auch die Gefahr einer Gasexplosion war nun eliminiert. Anabelle schritt tiefer in den Raum, wobei sie vorsichtig mit der Schuhspitze voran tastete, um keine Beweise zu zerstören.
„Wo ist sie, Zaida?“


*


Ihre Frage erübrigte sich, als aus einer Ecke zwischen zertrümmerten Möbeln ein unartikuliertes Knurren drang. Erschrocken spannte sich Anabelle. Ihre Augen besaßen leider nicht die Fähigkeit die Dunkelheit zu durchdringen. Automatisch machte sie sich bereit, zu kämpfen. Selbst mit dem leichten Aluminiumkörper stellte sie noch eine ernstzunehmende Gegnerin für die Untote dar.
„Sei vorsichtig!“ warnte Zaida, die sich einige Schritte zurück zog.
„Ich brauche Licht, Zaida“, bat Anabelle.
Einen Herzschlag später flammte goldene Helligkeit durch den Raum. Der Schein erinnerte an eine Fackel, obwohl er ungleich stärker war. Anabelle liebte das wärmende Licht ihrer Freundin. Es durchdrang ihren anorganischen Körper und verlieh ihm Leben.
An der Grausamkeit der Szenerie änderte es allerdings nichts. Trotzdem schien es sich in irgendeiner Weise auszuwirken. Anabelle stieg über die Toten hinweg. Vorsichtig spähte sie an den Trümmern eines Instrumententischs vorbei in eine Ecke. Im Schatten kauerte die Frau aus dem Hyde Park. Sie zitterte am ganzen Leib. Strähnig hingen ihre ungewaschenen braunen Locken in ihr schmutziges Gesicht. Sie trug nichts mehr. Schützend hielt sie sich die Fetzen eines Unterkleides vor den ausgezehrten Leib. Ihre Augen weiteten sich vor Angst, als Anabelle sich über sie neigte. Mit einem kehligen Aufschrei stieß sie ihre Hände nach vorne. In einer fließenden Bewegung wich Anabelle ihr aus. Sofort raffte die Untote ihren Schutz, der ihr bis zu den Schenkeln herab gefallen war, auf. Der Blick, mit dem sie Anabelle fixierte, änderte sich. Aus Angst erwuchsen Abscheu und Wut. Wie eine Furie sprang sie auf und verkrallte ihre blutigen Finger in Anabelles Jacke. Mit der anderen Hand packte sie ihre Kehle. Anabelle wich nicht aus. Unsanft ergriff sie die Arme der Frau und drückte sie mit einiger Gewalt zurück. Dank der Hydraulik in ihrem Leib gelang es ihr ohne Schwierigkeiten. Die Nägel der Toten kratzten über ihre Kunsthaut, ohne sie zu durchdringen. Verzweifelt stöhnte die Frau. Aus unerfindlichem Grund empfand Anabelle Mitleid für sie.
„Beruhigen Sie sich, Mademoiselle“, flüsterte sie, als habe sie es mit einem Menschen zu tun. Sie erwartete keine Reaktion, außer einem erneuten Handgemenge. Doch dass Gegenteil trat ein. Die Abwehr der Frau erschlaffte. Aus geweiteten Augen starrte sie Anabelle an. Ihre Mimik wandelte sich zu Irritation. Ihre Lippen klafften auseinander. Anabelle erkannte den geschwollenen Stumpf einer herausgetrennten Zunge. Sie begriff, dass diese Frau nie wieder sprechen konnte, gleichgültig ob sie lebte oder untot war. Mit beiden Händen strich ihr das Wesen über den Oberkörper. Erschrocken fuhr Anabelle zurück, als die Frau ihre Brüste ertastete.
Im gleichen Moment erkannte sie tiefe Erleichterung in dem Gesicht der Frau. Sie ließ sich gegen Anabelles Schulter sinken und schloss die Augen. Zögernd legte Anabelle ihre Arme um das elende Geschöpf.
„Zaida“, murmelte sie. „Was ist mit ihr?“
Die Magierin trat zu Anabelle. „Sie ist irritiert, hat Angst und weiß nicht, wo sie sich befindet“, entgegnete Zaida leise.
„Dann ist sie nicht böse?“, fragte Anabelle zögernd.
Zaida schüttelte nur den Kopf.


*


Während Zaida zusammen mit Masters die alarmierten Polizisten begleitete, um an der Situation vielleicht noch etwas zu retten, oder zumindest Hailey die bizarre Situation darzulegen, kümmerte Anabelle sich um die Frau. Das namenlose Wesen schrak zusammen, sobald sie ein Geräusch vernahm. Offenbar funktionierten ihre Sinne unerwartet gut. Möglicherweise waren sie auch einfach übersensibilisiert. Anabelle, der im Lauf der letzten Jahre sehr viel Mysteriöses begegnet war, nahm die Situation vorläufig erst einmal hin. Dennoch fühlte sie sich unwohl in der Gegenwart eines Geschöpfes, dass sie nicht einzuschätzen vermochte.
Ihr war vollkommen schleierhaft, was sie mit einer eigentlich toten Frau anfangen sollte, die auf den ersten Mann, der ihr begegnete, mit Zähnen und Klauen los ging. Sie war eine Gefahr für sich und andere. Dieses Geschöpf schien nur noch die Qualen ihrer eigenen Psyche wahr zu nehmen. Ihr Handeln wurde von ihren Instinkten gesteuert. In Anabelles Augen war diese Frau labil, was sie umso gefährlicher machte. Durch die mangelnden körperlichen Empfindungen fielen auf sie weder Ermüdungserscheinungen zurück, noch besaß sie die zweifelhafte Fähigkeit Schmerzen zu fühlen. Auf unangenehme Weise erinnerte dieses Wesen Anabelle an sich selbst. Für sie stellte sich die Frage, ob diese Frau früher oder später zerfiel, wie es Leichen für gewöhnlich taten. Allerdings schien sie zu atmen. Anabelle war sich also nicht sicher, ob das Blut in ihren Adern nicht noch zirkulierte. Andererseits bemerkte sie die eisige Kälte, die von ihrem neuen Schützling ausging. Bei diesen Temperaturen konnte sie nicht mehr leben! Auf paradoxe eise tat sie Anabelle Leid.
Sie suchte in der Leichenhalle nach einem Kleid oder zumindest einem Mantel, der nicht über und über blutverspritzt war. Leider fand sie nichts. Anabelle entdeckte zwar die Kleider der Frau, aber sie waren nichts weiter als schmutzige Fetzen, die ihr die Polizeiärzte vom Leib geschnitten haben mussten. Trotzdem erzielte sie eine bizarre Wirkung bei der Frau. Als sie ihrer Kleidung gewahr wurde, begann sie unartikuliert zu kreischen. Im gleichen Moment sprang sie aus ihrer Ecke hervor und grub ihre Klauen in den blutigen Brei einer Männerbrust. Wie eine Wahnsinnige stieß sie ihre Fäuste immer wieder in den zerfetzten Torso. Blut und Gewebe spritzten auf. Anabelle fuhr zusammen und starrte sie entsetzt an. Was ging in dieser Frau nur vor sich? Der unversöhnliche Hass gegen den Mann war unverkennbar …
Anabelle warf die Fetzen von sich, nahm ihren Mantel von den Schultern und legte ihn beruhigend über ihre Arme. Das Wesen wehrte sich in der ersten Sekunde, bis sie endlich Anabelles Nähe wahrnahm. In der blassen Mimik rangen Angst, Entsetzen und Hass gegeneinander. Ihr Gesicht verzerrte sich zu einer abscheulichen Grimmasse. Die großen hellgrauen Augen füllten sich mit Tränen, während ihre vollen, blassen Lippen Worte bildeten, die sie mit dem Zungenstumpf nicht mehr aussprechen konnte. Ihre blutgetränkten Hände pressten sich gegen Anabelles Brust. Bebend vergrub sich dieses Wesen in ihren Armen.
„Was hat man dir nur angetan“, wisperte Anabelle.


*


Wie Anabelle das Mädchen, denn nichts anderes war ihr neuer Schützling, bis nach Mayfair gebracht hatte, ohne dass es zu unangenehmen Fragen seitens des Droschkers kam, oder die junge Frau aus irgendeinem Grund die Fassung verlor, grenzte an ein Wunder. Hailey würde toben, wenn seine Täterin nicht in der Leichenhalle präsent war. Schlimmer noch, er würde Zaida beschuldigen eine Mörderin zu beherbergen. Nachdem sie Anabelle vor einigen Jahren bereits unter ihren Schutz stellte, fand Hailey immer einen Vorwand der Magierin Vorwürfe zu machen. In diesem Fall lag sogar ein reeller Grund vor.
Anabelle brachte die Frau zuerst in das Badezimmer, um sie zu reinigen. Während sie ihr half sich zu waschen, erkannte sie auch den Grund der Extremsituation in der Leichenhalle. Bereits getrocknetes, hartes Sperma verklebte ihren Schoß und ihren Oberkörper. Schaudernd wusch Anabelle es ab. Das Mädchen saß peinlich berührt in der Wanne. Offensichtlich starb sie fast vor Scham. Anabelle verlor kein Wort darüber. Sie wusste einfach nicht, wie sie ihr helfen sollte, dieser Situation entgegen zu treten. Egal wie leid es ihr tat und wie sehr sie die Männer, die eine Leiche schändeten, hasste, sie konnte es nicht ausdrücken. So setzte sie ihre Arbeit schweigend fort und ließ das Mädchen im Anschluss ein heißes Bad nehmen.
Schließlich hüllte sie ihren Schützling in eines ihrer Kleider und einen gefütterten Hausmantel. Seitdem die junge Frau dem heißen Wasser entstiegen war, schien sie zu frieren. Selbst ein Platz am Kamin half ihr nicht. Sie bebte am ganzen Leib. Anabelle kochte ihr Tee und brachte weitere Decken. Mit jeder Minute die verstrich, fühlte sich ihr Schützling offenbar elender. Langsam fragte Anabelle sich, wie klug es war, ein zuvor vermutlich erfrorenes Wesen in heißem Wasser zu reinigen. Vermutlich hatte sie ihr keinen Gefallen getan. Zugleich ging eine weitere Wandlung mit dem Mädchen vor sich. Sie schien nach und nach zu erwachen. Aus dem rein instinktiv gesteuerten Wesen wurde ein denkender, eigenständig handelnder Mensch. Obwohl sie nicht reden konnte, sprachen ihre großen Augen und die lebendige Mimik eine ganz eigene, bewegte Sprache. Auf ihre fast charmant mädchenhafte Weise bedankte sie sich mit einem Kopfnicken und dem niederschlagen der Lider für den Tee, lächelte wenn sie um etwas bat, nickte oder schüttelte den Kopf.
Für Anabelle ging von der jungen Frau eine starke Faszination aus. Sie vermutete, dass es Zaida damals wohl nicht anders erging, als sie Anabelle aufnahm.
Sie beobachtete das Mädchen. Die Art wie sie die Tasse hielt, sich bewegte, die natürliche Selbstverständlichkeit in der sie das Bad nutzte und sich in Mieder und Kleid Anabelles schnürte, sprach dafür, dass sie keine Frau aus der Unterschicht war. Anabelle revidierte ihre Meinung. Nur war ihr schleierhaft, wie sich ein Mensch auf diese Art verlieren konnte.
Sie beschloss, das Mädchen etwas auszufragen.
Trotz beschwerlicher Konversation, erfuhr Anabelle, dass ihr Schützling offenbar aus dem russischen Zarenreich stammte und des Lesens und Schreibens mächtig war. Mit zitternden, frostblauen Händen notierte sie ihren Namen. Er lautete Jewa. Anabelle vermutete, dass es sich hierbei um eine russische Form von Eva handeln mochte.
Jedenfalls verstand Jewa englisch, offenbar sogar französisch. Anabelle verfiel mehrfach in ihre Heimatsprache, um zu testen, wie gebildet das Mädchen tatsächlich war.
Allerdings wurde Jewa immer müder und schwächer. Schließlich bereitete Anabelle ihr in einem Gästezimmer das Bett vor und wärmte es im Vorfeld mit einer heißen Bettflasche.
Mit Sorge im Herzen, deckte sie die junge Frau zu und ließ sie allein in dem geheizten Zimmer zurück. Nachdenklich kehrte Anabelle auf ihren Dachboden zurück, um sich abzulenken und Fortschritte mit ihrem Körper zu erzielen.


*


Wenn Anabelle ehrlich zu sich war, kam ihr der rasche Weg hinauf eher wie eine Flucht vor. Sie fühlte sich schäbig gegenüber Jewa, von Zaida, die sich vermutlich mit aller Vehemenz gegenüber Hailey rechtfertigen musste, ganz zu schweigen. Umso erleichterter war sie, als die Klauen der beiden Raben an der Dachluke den Schnee herab kratzten.
Anabelle griff nach der Stange und stemmte das winzige Bullauge auf. Songa, der kleinere der beiden Raben ließ sich nach innen fallen und breitete im letzten Moment die Flügel aus, um elegant die Wärme als Auftrieb zu nutzen. Er glitt über die Werkbank und ließ sich auf der Schulter des in Ketten hängenden Stahlkörpers nieder. Manikongo folgte ihm, wobei er sich bereits auf dem Fußboden den Schnee und das Eis aus dem Gefieder schüttelte.
„Zaida ist noch bei Monsieur Hailey“, erklärte Anabelle überflüssigerweise. Die Raben nahmen Zugriff auf das Bewusstsein der Magierin. Sie waren ihre Vertrauten. Es gab keine Sekunde, in der sie nicht den Aufenthaltsort ihrer Meisterin kannten.
Songas kluge Augen ruhten auf Anabelle. Obwohl er sicher bereit war, seine Ergebnisse darzulegen, ließ er seinem Bruder den Vortritt.
Manikongo stieß sich vom Boden ab und flatterte zur Werkbank auf.
„Gefunden!“, krächzte er.
„Was?“, fragte Anabelle. „Meinst du dieses Wesen?“
Manikongos Kopf zuckte zu seinem Bruder herum. Die Aufforderung stand eine Weile im Raum. Anabelle wischte sich ihre öligen Finger an einem Lappen ab. „Alors quoi?“, fragte sie, wiederholte aber in für die Raben verständlichem Englisch: „Nun, was ist?“
„Es ist unbeschreiblich“, begann Songa in zusammenhängenden Worten. „Sie ist die manifestierte Kälte, die nach einer neuen Hülle sucht. Du würdest sagen: Vampir, aber sie ernährt sich wie ein Kixi von Seelen. Im Gegensatz zu Zaida töten Kälte und Entsetzen die Opfer.“
Anabelle schluckte. „War die Tote Opfer oder Täter?“, fragte sie.
„Beides“, krächzte Manikongo.
„Zuerst wohl Opfer und schließlich Täter, um leben zu können“, vermutete Anabelle.
Songa nickte. „Das Wesen kam aus ihr?“, fragte sie ihn.
„Ja und nein“, entgegnete er. „Es ist gestaltlos, nimmt sich aber einen Wirtskörper, den es unter seiner Kontrolle hält.
„Was erklärt, warum Jewa noch immer irritiert ist, aber ihre Persönlichkeit wandelt“, überlegte Anabelle halblaut. „Nur was passiert mit dem Wirtskörper, wenn der Geist ihn verlässt? Zerfällt er?“
Manikongos Kopfschütteln beruhigte Anabelle im ersten Moment. „Sie geht selbst auf Jagd!“, sagte er.
„So kann sie die Kälte in sich immer wieder ersticken.“
„Verdammt“, murmelte Anabelle. „Kann sie Zaida gefährlich werde?“
Das folgende Schweigen beider Raben machte Anabelle Angst.
„Was ist mit der …“ sie überlegte, welche Bezeichnung die passende für ein Geschöpf wie das war, was Jewa als Wirt missbraucht hatte. „Was ist mit der Mutter?“
Das Wort passte nicht, umschrieb aber die Basis am ehesten.
„Sie wechselt die Körper. Offensichtlich gefällt ihr keiner davon. Alle zu schwach. Ihre Macht steigt täglich. Sie tötet offen“, erklärte Songa.
Anabelle ergriff ihren Gehrock und riss die Bodentür auf.
„Ich muss mit Zaida und Jewa reden!“


*


Anabelle polterte ohne Vorwarnung in Jewas Zimmer. Die junge Frau lag in den Kissen, die Decke bis über den Kopf hoch gezogen, unter etlichen Wollschals und in der Hitze eines Sommertages in Kairo. Zumindest kam Anabelle es so vor. Der Kamin strahle unsägliche Wärme aus. Zudem umklammerte sie mit beiden Armen die kupferne Bettflasche. Offenbar entging ihr Anabelles rüdes Eindringen nicht. Ihre Lider flatterten. Obwohl sie bei Bewusstsein war, befand sie sich nah des Deliriums. Blasser als zuvor, die Lippen und Finger blau gefroren, lag sie da. Schweiß stand auf ihrer Stirn. Anabelle vergaß alles, weswegen sie hier her kam. Besorgt kniete sie neben Jewa nieder. „Ich hole einen Arzt“, flüsterte sie, wobei sie vollkommen verdrängte, dass sie eine Untote vor sich hatte. Jewas Finger schossen in dem Moment vor und schlossen sich um eines der metallenen Handgelenke. Anabelle wusste nicht, ob sie es mit einem Angriff zu tun hatte, oder mit einem stummen Hilferuf.
In der ersten Sekunde versuchte sie, Jewas Finger zu lösen, gab aber rasch auf. Die junge Frau suchte Anabelles Nähe.
Vorsichtig setzte sie sich auf den Rand des Bettes. Jewa drängte sich an ihren Körper.
Sie sog richtiggehend die Wärme in dem Metall auf. Jewa schloss zufrieden die Augen. Ihre Haut wärmte sich etwas, verlor aber gleich wieder an Farbe. Erschrocken sah sie zu Anabelle hoch.
„Aus mir kannst du keine Wäre ziehen“, erklärte Anabelle leise. „Ich bin eine Maschine, kein Mensch. Mich kannst du nicht aussaugen oder unterkühlen, weil ich nichts fühle.“
Die hellen Augen Jewas weiteten sich. Sie begriff nur langsam, was Anabelle sagte.
Hoffnungslos schloss sie die Lider. Ihr Kopf rollte zur Seite. Tränen rannen über ihre Wangen.
„Du brauchst die Wärme eines menschlichen Körpers, um zu leben“, mutmaßte Anabelle.
Jewa nickte verkrampft. Sie rollte sich zusammen.
„Du stirbst, wenn du keine Körperwärme entziehen kannst?“
Ihr Kopf bewegte sich einmal ruckartig.
„Mit der Wärme nimmst du ihnen ihr Leben, ihren Atem, ihre Seele und ihr Sein.“
Über Jewas Lippen kam ein verzweifelter, unartikulierter Laut. Obwohl er weder Zustimmung noch Ablehnung bedeutete, sah sich Anabelle bestätigt. Behutsam strich sie Jewa durch das Haar. „Zaida würde dich nicht sterben lassen. Darin bin ich mir sicher“, sagte sie langsam. „Dazu sind wir uns zu ähnlich. Allein deshalb werde ich versuchen, etwas zu unternehmen.“


*


Anabelle eilte über die Straße und winkte einer Droschke. Von den beiden Raben begleitete Songa sie hoch oben in den dichten Wolken. Ihr Haar löste sich aus ihrer Steckfrisur und wehte bereits in langen, blonden Strähnen hinter ihr her. Der Mantel stand offen. Sie hielt ihren Schal noch in der Hand. Spätestens an dem Hosenanzug würde Zaida sich stören. Anabelle fand nur keine Zeit mehr, sich noch umzuziehen. Mehrere Fahrzeuge ignorierten sie – wie sie annahm - wegen ihres Aufzuges.
Als endlich eine Droschke hielt, rief sie dem Droschker zu: „Great Scottland Yard, Nummer 4, Whitehall Place!“


*


Offensichtlich nahm der Kutscher seinen Auftrag sehr ernst, denn er fuhr, als sei ihm ein Geist auf den Fersen.
Anabelle nutzte die Chance, sich vollständig anzukleiden und wenigstens den Eindruck zu vermitteln, ihr sei so kalt, wie allen anderen Menschen. Nach sehr kurzer Zeit und einigen ihr zu eng genommenen Kurven, erreichten sie das Revier der Metropoliten Police. Anabelle zahlte den Droschker aus und eilte die Stufen des Haupteingangs hinauf. Als sie ihre Finger nach dem Türknauf ausstreckte, schwang einer der Türflügel zurück. Hailey schlug seinen Mantelkragen hoch und schlang seinen Schal mehrfach um den Hals. Er zitterte bereits, bevor ihn die kalten Böen trafen.
Zaida ging hinter ihm. Sie verabschiedete sich mit einem knappen Nicken von Sergeant Masters, dessen Gesicht nicht nennenswert mehr Farbe aufwies, als der Schnee selbst.
„Zaida!“, rief Anabelle.
Ihre Freundin schob sich an Hailey vorüber. „Ich weiß es bereits“, entgegnete sie. Mit einem Blick in den Himmel, zu Songa, verdeutlichte sie Anabelle ihre Worte.
Hailey hob eine Braue. „Ich will einen Schuldigen für den Tod von drei Polizeiärzten und zwei Bobbies der City Police!“, knurrte er Anabelle an. Er hob sein gebrochenes Handgelenk. „Sie schulden mir etwas, Miss Anabelle!“
Irritiert sah sie ihn an. „Einen Schuldigen?“, wiederholte sie verwirrt.
„Das untote Weib sollten Sie sich schleunigst vom Hals schaffen und mir ihren Kadaver bringen“, drohte er. „Dieses Gemetzel im Leichenschauhaus kann ich keinem meiner Vorgesetzten erklären. Verstanden?!“
Anabelle sah ihn trotzig an. „Einen Schuldigen?! Ich will lieber nicht den Grund nennen, weswegen Jewa die Männer so zugerichtet hat!“, fauchte sie.
Haileys Augenbrauen zogen sich im Schatten seines Hutes zusammen. „Wie bitte?“, fragte er gefährlich leise.
Anabelle ballte die Fäuste. Die sture Borniertheit dieses Ostlondoners ärgerte sie maßlos! „Ich weiß nicht wer von Ihren Männern so ein entartetes Geschöpf ist, dass sich an einer vermeintlich toten Frau vergeht, aber er hat es verdient so zu sterben, verstanden?!“
Ihre Stimme überschlug sich. Entsetzt prallte Hailey zurück. „Das ist nicht Ihr Ernst, Anabelle!“
„Mir war es selten ernster!“, entgegnete sie.
„Können Sie das beweisen?“, fragte er. Aus seiner Stimme hörte sie, wie er um Fassung rang.
„Non, Monsieur. Die Beweise und die unendliche Scham Jewas haben wir vorhin abgewaschen!“
Zaidas steinern zornige Miene zeigte, wie betroffen sie wirklich war. Anabelle verstand ihre Freundin und las aus ihren Augen den Wunsch, Jewa zu beschützen. Trotzdem huschte ihr Blick wieder zu Hailey, der sich schnaubend den Schal von den Lippen herab zog. „Was gedenken Sie nun zu unternehmen, Monsieur le Inspekteur?“, fragte Anabelle lauernd.
„Ich untersuche den Fall“, lenkte er ein. Seine Wut war offenbar nicht verraucht, aber er respektierte Anabelle ausreichend, um ihre Worte für voll zu nehmen. Sie sah ihn an. „Vielen Dank, Monsieur Hailey.“


*


Zaida kniete in selber Position neben Jewas Bett wie Anabelle zuvor. Aus ihren Fingern rann geschmolzenes Sonnenlicht. Die Hitze, die von ihr ausging schienen die Essenz von fast vier Jahrhunderten Leben zu sein. Jewa atmete schwer und röchelnd, während sie diese besondere Hitze Zaidas in sich aufsog. Nach einer ganzen Weile rollte ihr Kopf zur Seite. Anhand ihrer ruhigen Atemzüge schlief sie.
Anabelle löste sich aus dem Türrahmen. „Wie können wir dieses Wesen, was ihr das angetan hat, aufhalten und zerstören?“, fragte sie. Ihre Stimme klang gepresst.
Zaida erhob sich. „Dir liegt viel an unserer kleinen Russin?“, fragte sie.
Anabelle senkte den Kopf. Sie zögerte mit der Antwort. In den Worten ihrer Freundin schwang eine weitere – für sie sehr spezielle - Frage mit: Liebst du mich? Bis heute fehlten ihr die passenden Worte darauf. Die Gefühle lagen in Anabelles Herz verborgen. Sie verehrte und vertraute Zaida. Es gab für sie keinen Zweifel an ihren wahrhaftigen Gefühlen für ihre Freundin, aber aussprechen konnte sie es nicht.
„Schon“, flüsterte sie. Anabelle löste sich widerwillig aus dem Türrahmen und wendete sich ab. „Zaida, wir haben andere Probleme als Sympathien zu diskutieren.“


*


Der Maschinenkörper, an dem Anabelle forciert arbeitete, ähnelte dem ihren. Er wog nicht viel und sah vollständig menschlich aus.
Die Haut lag eingeschlagen in sauberen Leinenstoff auf dem Schreibtisch. In einer Hutschachtel lag die zusammengerollte Haarpracht. Konzentriert feilte Anabelle an einem Schlitz in dem Ellenbogengelenk. Für sie gab es nicht nennenswert schlimmeres, als einer solchen Konstruktion Schaden zuzufügen. Dennoch sah sie keine andere Chance, um irgendeine greifbare Möglichkeit gegen dieses Winterwesen zu bekommen. Der Körper würde dem Eisgeschöpf kaum stand halten können. Wenn sie dieses Wesen dazu verleitete, in die Maschine zu fahren, konnten sie diese freie Seele gefangen setzen. Mit einigem Widerwillen opferte Anabelle einen ihrer Austauschkörper. Während sie die Kabel und Drähte durch die Gelenkkugel zog, klopfte Zaida an der Tür.
„Komm herein!“, rief Anabelle. Sie drehte zwei Kupferstränge ineinander und schob die Umhüllung darüber.
Zaida trat ein. Sie sah müde aus. Strähnen ihres lagen Haars lagen offen über Schultern und Rücken. Offenbar fand Zaida noch nicht eimal die Zeit, sich umzuziehen. Sie trug noch das silbergraue Kleid, in dem sie Leichenhalle und Scottland Yard besucht hatte. Anabelle sah zu der Dachluke. Die graue Morgendämmerung zog über die Stadt.
„Du hast noch nicht geschlafen?“, fragte sie überrascht. Zaida hob eine Braue, schwieg aber.
„Setz’ dich“, forderte Anablle sie auf. Rasch löste sie die Gelenkkugel aus der Schraubzwinge, klemmte sich ihr Werkzeug unter den Arm und griff in einen Holzkasten. Sie sortierte sich eine Reihe kleiner, sehr labiler Schrauben heraus und steckte sie in die Hosentasche.
„Ich habe noch eine Weile an der Maschine zu tun, Zaida. Leg dich am besten hin.“
Die Magierin seufzte. „Ich habe mit Jewa gesprochen.“
Anabelle sah sie nicht an, sondern hielt den Blick konzentriert auf das Gelenk gerichtet. „Erzähl bitte“, sagte sie. „Und entschuldige, dass ich weiter arbeite. Der Körper muss rasch einsatzfähig sein.“
„Ich weiß“, entgegnete Zaida. Ihre Stimme klang zu Tode erschöpft. Müde ließ sie sich in den Stuhl vor dem Schreibtisch sinken. Unangenehmes Schweigen entstand. Verwirrt sah Anabelle sich um. Zaidas Augenlider flackerten schwach. Sie schien einzuschlafen.
Eilig erhob sich Anabelle, um Zaida eine ihrer Wolldecken, die sie für die Automatenteile nutzte, um sie vor Staub zu schützen, überzulegen. Die Magierin schreckte hoch. „Entschuldige, Liebes“, flüsterte sie. Anabelle kniete besorgt vor ihr nieder, ergriff Zaidas Hände und drückte sie behutsam. „Ich mache mir Sorgen um dich“, flüsterte sie. „Du reizt deine Kräfte bis an ihren Rand aus. Bitte ruh’ dich aus.“
Vorsichtige löste Zaida ihre Finger aus Anabelles. Langam strich sie ihr über Wange und Haar. „Hör mir bitte erst zu“, bat sie.
Anabelle nickte widerstrebend.
„Jewa teilte mir mit, dass sie aus Sibirien stammte. Offenbar war sie eine der wenigen Frauen, die in einem Gefangenenlager ihr Leben fristeten …“
„Was hat sie verbrochen?“, unterbrach Anabelle Zaida ungläubig, woraufhin sie einen strengen Blick erntete. Dennoch antwortete die Magierin. „Ich vermute, dass sie ein aus dem Adel stammendes Mitglied einer Bewegung gegen Alexander II. war. Das würde einiges erklären. Sie selbst schweigt sich dahingehend aus.“
Anabelle nickte schwer. „Also eine politische Gefangene.“
„Wenn du es so willst, ja“, bestätigte Zaida leise.
„Wie kam sie an …“
„Lass mich bitte weiter erzählen, Anabelle“, bat Zaida matt.
Ohne auf eine Reaktion zu warten, sprach sie weiter: „Sie brach im Winter 1870 aus …“ Sie unterbrach sich. „Möglicherweise hat ihr auch jemand dabei geholfen. Dahingehend habe ich sie nicht genau verstanden.“ Sie fuhr sich mit der Hand über die Augen. „Wie dem auch sei. Auf ihrem Weg zurück in ihren Palast muss sie der Kälte erlegen sein. Wie sie beschrieb, war dieser Winter schrecklicher als je zuvor. Sie schlief irgendwo ein und erwachte in der furchtbaren Situation, in der sie jetzt ist. Jewa begenete diesem Geschöpf allerdings unter anderen Umständen, als wir.“
„Das heißt?“, fragte Anabelle angespannt.
„Sie begegnete Jewa nicht als Monster, sondern als Frau. Dieses Geschöpf ist eine Verführerin. Sie lockt ihre Opfer mit Erlösung, Wärme und Schlaf. Jewa erlag ihr. Sie wurde zu ihrem Wirtskörper. Nur zu besonderen Situationen löst sich dieses Wesen aus Jewa heraus.“
„Warum also jetzt?“, fragte Anabelle nachdenklich.
„Hast du dir das Mädchen angesehen?“, fragte Zaida. „Sie ist verbraucht und vor der Zeit gealtert. Mit einem solchen Wirtskörper kannst du nicht das jagen, was du brauchst.“
Anabelle schauderte. „Schrecklich. Sie hat also Jewa ausgelaugt und von sich gestoßen?“
Zaida nickte verbissen. „Der Körper war ihr offenbar nicht mehr ausreichend. Davon abgesehen schien es mir, als wäre Jewas Persönlichkeit früher oder später ohnehin erwacht, womit ein Kampf um den Körper entbrannt wäre. Warum sollte sie sich also noch auf ein solch erfolgloses Vorhaben einlassen? Sie würde nichts gewinnen.“
„Sie hat Jewa also für die Jagd benutzt“, überlegte Anebelle. „Ich denke, diesem Wesen ist es gleichgültig, ob sie Männer- oder Frauenseelen frisst, oder?“
Zaida nickte schwach. „Deswegen Jewas äußerliche Armut. Wenn sie sich vekauft, kann ihre Meisterin schlemmen.“
Wut kochte in Anabelle hoch. „Oh!“, schnaubte sie. „Wenn ich dieses Ding zu fassen bekomme …!“
„Du wirst nichts dergleichen tun!“, fuhr Zaida auf. „In einem Zweikampf bist du unterlegen!“
Zornig funkelte Anabelle ihre Freundin an. „Ach?!“
Zaida ergriff ihre Hände. „Wir werden sie besiegen“, flüsterte die Magierin. „Wir: du, Jewa und ich.“
Noch immer brodelte der altbekannte Jähzorn in Anabelle. Sie ballte die Fäuste, wobei sie Zaida ihre Finger entzog. Die Magierin griff behutsam nach. „Liebes …“ Sie zog Anabelle mit sanfter Gewalt zu sich und schlang ihre Arme um sie.
„Anabelle“, murmelte sie.
Die Ruhe, die Zaida verströmte, ergriff Anabelles aufgewühltes Herz. Alle zärtlichen Gefühle ihrer Freundin rannen in sie, sammelten sich in ihrer Seele und verströmten die Wärme, die Zaida zu eigen war.
„Ich habe meinen Teil der Arbeit vorbereitet“, flüsterte Zaida. „Auf Basis dessen, was Hailey mir sagte, bin ich nun sicher, dass sie wieder versuchen wird einen starken, schönen und jungen Körper für sich zu gewinnen, der besonders reizvoll für Männer und Frauen ist.“
„Gab es neue Opfer?“, fragte Anabelle leise in den Stoff ihres Kleides hinein. Die Wärme und der Duft von Zaidas Körper tat ihr gut. Wiesehr sie doch ihre Freundin liebte … Sie schlang ihre Arme um die Magierin. Zärtlich strichen schlanke Finger Anabelles Nacken hinauf. Obwohl sie diese Berührungen eigentlich nicht spüren konnte, empfand sie die langen Fingernägel, die sie fast nicht berührten, aber die einzelnen Härchen an ihrem Hals ertasteten, als unsagbar erregend. Einzig Zaida erweckte menschliche Empfindungen in ihrem Maschinenleib. Dicht neben ihrem Ohr wisperte die Magierin: „Heute stand in der Zeitung, dass man fünf junge Frauen, fast noch Kinder, erfroren in ihren Zimmer fand. Sie gehörten ausschließlich der höheren Gesellschaft an, weswegen Hailey und ich beauftragt wurden. Die Königin vermutet etwas Nichtmenschliches dahinter.“
„Das trifft den Kern“, murmelte Anabelle, die sich selbst zur Ordnung rufen musste, um nicht ihrer Sehnsucht nachzugeben. „Was plant ihr beiden?“
Zaida seufzte enttäuscht, als sich Anabelle ein Stück weit von ihr löste. „Dein Plan und meiner lassen sich hervorragend verbinden.“
Anabelle sah ihr in die Augen. „Raconter … Erzähl’“, bat sie aufgeregt.
„Ich will sie anlocken“, beagnn Zaida. „Dazu brauche ich dich und Jewa.“
Anabelle wies auf den Körper in den Schlingen. „Ich bin an der Vorbereitung für eine Art Gefängnis. Um sie anzulocken, müsste ich meine Seele dort hinein transferieren. Wenn ich mit allem fertig bin, wird das Ding mir nicht mehr ähnlich sehen. Du müsstest den Seelenwechsel vollziehen. Wenn du es tust, habe ich keine Angst, den Köder zu mimen …“ Sie flatterte und verfiel zwischendurch in ihre Heimatsprache. Zaida lächelte. Nervös fügte Anabelle hinzu: „Aber wie soll ich meinen verfluchten französischen Akzent eindämmen?“
Zaida strich ihr über die Wange. Sie lächelte. „Vor ein paar Tagen kam eine Einladung zu einem Kostüm und Maskenball zu Heilig Abend bei Mrs. Dalloway. Eigentlich sollte der Abend uns gehören. Es war meine Überraschung für dich, insbesondere weil du die alte Dame auch sehr magst …“
Anabelle grinste unverschämt. „Das ist richtig.“
Sie fuhr sich mit der Hand durch das Haar. Mrs. Dalloway gehörte zu den wenigen eingeweihhten Menschen, die Anabelles Geheimnis teilten und sich kein Bisschen an ihrem Maschinenkörper störten. In ihrem Stadthaus trafen sich die Damen und Herren der Gesellschaft, deren Ruf eher verruckt war. Anabelle fühlte sich bei ihr wohl und sicher.
„Was hast du mit ihr ausgetüftelt?“
Zaida lächelte. „Du, Jewa und ich werden dort erscheinen. Du musst besonders auffällig und blendend schön sein. Jewa wird den ihr zugedachten Part zur Genüge ausfüllen.“
„Aber wieso bist du so sicher, dass sich dieses Ding ausgerechnet dort anschickt zu jagen?“
Zaida lächelte geringschätzig. „Weil sie sich mit mir messen will und ich keinen Zweifel daran gelassen habe, dort zu erscheinen. Songa und Manikongo werden sie zusätzlich locken.“
Anabelle zog zweifelnd die Stirn in Falten. „Was macht dich so sicher?“
„Mrs. Dalloway hatte mir eine Nachricht zukommen lassen, in der sie mir von einem ihr empfohlen Gast berichtete.“ Sie zögerte kurz. „Gräfin Madalena Jewa Petrowna.“


*


Anabelle fühlte sich schrecklich nackt und ausgeliefert. Sie saß neben Jewa in einer Mietkutsche des königlichen Marstalls. Wie die junge Russin trug sie ein auffälliges, grünschillerndes Seidenkleid, was die Grenzen des guten Geschmacks Lügen strafte. Allein der Ausschnitt reichte so weit herab, dass sich ihr kleiner Busen wie pralle Kunstäpfel daraus erhob. Pfauenfedern und blau-grün schimmernde Kristalle zierten den fließenden Rock und die lange Schleppe. Auch die silberne Vogelmaske war nicht anders dekoriert. Lange, dunkelbraune Locken zwirbelten sich über ihrem Pelzmantel und krochen unter den Kragen. Ihre Augen besaßen die Farbe von Haselnüssen. Auf ihren künstlichen Lippen schimmerte ein unnatürliches, aufdringliches Rot. Sie fühlte sich als Fremde in einem ihr bekannten Körper. So sah sie normalerweise nicht aus. Sie empfand sich auch nicht als gute Schauspielerin.
In einer anderen Situation würde Anabelle diesen Abend mit allen Sinnen genießen. Doch die Vorzeichen sprachen in jeder Hinsicht dagegen. Allein die Offenkundigkeit, mit der sich dieser weibliche Dämon – oder was immer dieses Eisgeschöpf auch sein mochte – Zaida entgegen stellte, gab Anabelle zu denken. Wie berechtigt war eine solche Überheblichkeit?
Sie konnte Zaidas Macht problemfrei einschätzen. Die Kraft des Feuers und der Erde ruhten in der Seele ihrer Freudin. Die Hitze der Sonne, sowie das gesammelte Wissen eines Jahrtausende alten Reiches einten sich in der Magierin. Trotzdem stellte sich dieser Eisdämon ihr freiwillig und dazu noch so ungewöhnlich plump in den Weg? Aus dem Augenwinkel beobachtete sie Jewa, die sich in ihren Pelz vergrub. Von ihren hellen Augen sah Anabelle Dank der Maske nahezu gar nichts. Die Russin verbarge sich in einer Woge aus Schweigen und Fell. Sie schien ein Stück weit in die Schatten gerückt zu sein.
Woher kam der plötzliche Verdacht gegen ihren Schützling? Anabelle sah eigentlich keinen Grund, Jewa zu misstrauen. Trotzdem tat sie es. Verhielt es sich bei ihr in gleichem Maß wie damals bei Anabelle? Reichte es aus, dem Meister nah zu sein, um wieder unter den falschen Einfluss zu gelangen?
Ihr Blick strich zu Zaida, die sie ihrerseits beobachtete. Bislang vermied ihre Freundin die Maske. Ihr Gesicht blieb ungeschützt. Sie hüllte sich in diskrete Zurückhaltung. Verhalten und Kostüm passten sich einander an. Dennoch strahlte ihre Persönlichkeit über das fahlweiße Kleid und die simple Perlenkette wie ein Leuchtfeuer. Anabelle zweifelte keine Sekunde daran, dass jeder Zaidas Gegenwart bemerken und bewundern würde. Die weiß behandschuhten Hände der Magierin spielten mit einem Prisma, das in dem Zentrum eines Pentagramms saß. Automatisch erwachten bei Anabelle ungute Erinnerungen. Dieses Ding war ihr Seelenkristall. Noch mehr beunruhigte sie die leichte Nervosität ihrer Freundin. Trotzdem schwieg sie. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als auf Zaida und ihre Konstruktion zu vertrauen.


*


Mrs. Dalloway führte Anabelle und Jewa in den üppig geschmückten Festsaal ihres Hauses. Der prächtige Raum stellte eine römische Tempelanlage dar. Allerdings wusste Anabelle nicht so genau, in welcher Epoche sie sich befanden.
Unter der prunkvollen Glasdecke und den schönen, grazilen Ornamenten mediteraner Länder tümmelte sich bereits die lasterhafte Gesellschaft Londons. In seichtem Zigarettendunst wogten Leiber, deren Kleider nicht weniger anzüglich waren, als die Jewas und Anabelles. Arabische Haremsdamen, gehüllt in einen Gazehauch von Nichts, geschmückt mit Diamanten und Gold schwebten neben feschen Kossacken einher. Als dralle Schankmaiden verkleidete Dienerinnen, die nur zu bereitwillig ihren Busen der Öfentlichkeit dar boten, huschten zwischen gleichermaßen offenherzigen Königinnen, Feen und Nixen umher, boten Wein aus tönernen Karaffen an und verteilten süßes, in Rum eingelegtes Obst dazu. Gladiatoren traten ein. Anabelle erkannte zu ihrem Schrecken Haileys eingebundenes Handgelenk. Der Beamte überspielte seine Unsicherheit mit dem reichlichen Genuss von Wein. Im ersten Moment wusste sie nicht, ob sie lachen oder peinlich berührt reagieren sollte. Einerseits bot der muskulöse Körper des Polizisten einen reizvollen Anblick für die meisten Damen, andererseits empfand sie seine nackten, behaarten Schenkel als Ekelerregend. Er stand unter Druck, wie Zaida erklärt hatte. Ihm blieb nichts anderes übrig, als alle Register ihm zur Verfügung stehender Mittel zu ziehen. Zundindest konnte er sich nicht über das rege Interesse verschiedener Damen beschweren. Seine Maske verhüllte seine hässliche Boxernase und das kantige, breite Kinn. Aber in wenigen Stunden würde die Stimmung sicher so ausgelassen sein, dass es den interessierten Frauen gleich war, wie er aussah.
Jewa klammerte sich ängstlich an Anabelles Arm. Die Masse der Männer beunruhigte sie zutiefst. Wenn sie die Wahl gehabt hätte, zu Hause zu bleiben, wäre sie sicher nicht mitgekommen, vermutete Anabelle. Hier musste Jewa sich all ihren inneren Ängsten stellen und die Haltung wahren. Allerdings verstand Anabelle auch, weshalb Zaida solchen Wert auf Jewas Gegenwart legte. Die junge Russin würde ihre Gegnerin als erste erkennen. Selbst wenn sie unter ihre Kontrolle geriet, war sie der ideale Indiaktor.
Mrs. Dalloway führte Anabelle und Jewa durch den Raum, um sie weiteren ihrer Gäste vorzustellen. Während die alte Dame sprach, glitt Anabelles Blick an den beiden Damen hoch, die ihnen gegenüber standen. Sie gehörten zu einem der Künstlersalons an, die seit einer Weile aus dem Boden sprießten. Eine von ihnen war eine hagere Mittvierzigerin, deren graues Haar kunstvoll hochgesteckt und mit Kämmen trappiert wurde. Obwohl sie weder einen Strich zeichnen, noch eine Zeile zu dichten vermochte, nannte sie sich selbst gerne Mentorin und Muse verschiedener namenhafter Personen. Die junge Frau in ihrer Begleitung besaß etwas unbeholfen freundliches. Sie zählte eher zu jenen überbegabten, aber vollkommen uncharismatischen Menschen, die all ihr Sein in ihren Werken zu bündeln vermochten. Jewa entspannte sich etwas, während die beiden Frauen und Mrs. Dalloway miteinander plauderten. Anabelle sah sich diskret nach Zaida um. Ihre Freundin war einem der Diener in ein privates Separet gefolgt, nachdem sie ihren Mantel abgelegt hatte. Der Kutscher und sein Stallbusrsche schleppten sich zu diesem Zeitpunkt mit einer Kiste ab. Anabelle wusste, dass sich darin ihr schwerer Stahlleib befand. Es stand außer Frage, was Zaida gerade tat. Dennoch fühlte sich Anabelle ungeschützt. In solchem Aufzug widerstrebte es ihr wahrlich, von Männern gesehen zu werden. Leider folgten ihr unzählige Blicke. Sie sehnte sich nach der Sicherheit ihrer Dachkammer!
Eine Bedienstete blieb neben Anabelle stehen.
„Darf ich Ihnen etwas anbieten?“, fragte sie. Ihre Stimme klang aufgesetzt freundlich. Vermutlich war das Mädchen einfach nur froh, wenn dieser Abend vorüber ging, ohne dass sie ihre Ehre einbüßte.
„Nein, vielen Dank“, wehrte Anabelle ab, neigte sich aber zu Jewa. „Möchtest du einen Schluck Wein?“
Die junge Frau nickte scheu. Ihr Blick haftete an der drallen Gestalt des Dienstmädchens. Anabelle vermutete, dass ihr das Blut in die Wangen geschossen wäre, wenn Jewas Körper dazu noch im Stande gewesen wäre. Die Schankmaid reichte Jewa Wein in einem Tonbecher und lächelte freundlich, bevor sie sich aus der Gruppe von Frauen löste.
Musik klang aus einer Ecke des Saals. Es handelte sich um frivole italienische Schanklieder. Anabelle, die die Einladung nicht gelesen hatte, begriff, dass das Thema des Festes wohl eine märchenhafte Mischung des Decamerone und der Erzählungen von Tausend und einer Nacht sein sollten.
Der Griff Jewas um ihren Arm verstärkte sich von einem Moment zum anderen. Sie sah ihre Freundin an. Das Mädchen bebte am ganzen Leib. Eine flirrende Aura von Kälte umgab ihren zierlichen Körper. Anabelle bemerkte, wie der Tonbecher in ihren Fingern von einer feinen Schicht Raureif überzogen wurde. Das Gefäß entglitt ihren Fingern. Mitten in der Luft, während der Wein heraus schwappte, hielt es an. Im gleichen Moment setzte die junge Künstlerin zu einem erschrockenen Ausruf an, als die Zeit endgültig gefror.


*


Anabelle wagte nicht, sich umzudrehen. Hinter sich hörte sie eine Person durch den Raum schreiten. Im Rahmen ihres Blickwinkels erkannte sie die reglosen Frauen. Mrs. Dalloways Gesicht war eine Maske des Lachens, während die anderen beiden eher erschrocken wirkten. Der Rauch in dem Raum erstarrte zu grauen Wolken, die in einer Momentaufnahme festgehalten wurden. Reif überzog die bemalten Wände und die marmornen Säulen. Eiskristalle zogen sich anmutig über die Stählträger, die die gläserne Decke trugen. Eishauch durchschnitt den Raum. Schwach erkannte Anabelle den Schatten einer weiblichen Gestalt hinter sich. Den Umrissen nach, war die Frau nackt. Das, was sie fälschlich für hohe Absätze gehalten hatte, waren eisüberzogene Füße.
Jewa bebte am ganzen Leib. Sie klammerte sich an Anabelle fest. Mit Zaida hatte sie besprochen, in eine Art todesähnliche Starre zu verfallen, was ihr problemfrei möglich war. Vor ihren Lippen entstanden keine verräterischen Dunstwolken von ihrem Atem. Ihr Körper verströmte keine Wärme. Jewa verkroch sich wimmernd. Sie umschlang Anabelles Taille und presste das Gesicht gegen ihre Brust. Einen Herzschlag lang fühlte Anabelle nur die Angst ihres Schützlings, aber auch das Tier, was sich in ihr aufbäumte. Der Moment zog sich zu einer Ewigkeit. In diesem leichten Körper nahm sie die Ströme des Übernatürlichen und der Magie weitaus stärker wahr. Hinter ihr richtete sich ein Monstrum auf. Sie sah es nicht, fühlte aber, wie es den menschlichen Leib, den sie okkupiert hatte, zerstörte und heraus quoll. Das Wesen lauerte, suchte nach einem passenden Opfer. Wenn Zaida recht hatte, würde es genau auf die Angst Jewas reagieren und sich den Körper erobern, den das Mädchen als Deckung nutzte. Der Schluss war so schrecklich einfach, dass nahezu alles an dieser These nicht funktionieren mochte, dachte Anabelle. Was, wenn dieses Wesen spürte, dass sie eine Maschine war? Wie schrecklich konnte es für all die anderen Männer und Frauen hier enden, wenn das Wesen sich über andere her machte, oder im falschen Moment aus dem Leib ausbrach? Warum, überlegte Anabelle, würde es sich besonders für ihre Seele interessieren? Zaida sagte ihr, dass die Magie und die Macht, die sich hinter Anabelle verbarg als anziehend empfinden würde, aber dem Leib garantiert nicht zu wiederstehen vermochte. Anabelle zweifelte die Theorie in dieser Sekunde an. Hier gab es mindestens hundert Frauen von ausgesuchter Schönheit.
‚Aber nicht eine von ihnen ist schon einmal gestorben und dennoch zurück gekehrt’, wisperte Zaidas Stimme in Anabelles Kopf.
Just in diesem Moment berührte die eiseskälte Anabelles Rücken und stürzte sie in kaltes Vergessen.


*


Feuer und Eis stritten um sie. Anabelle spürte Zaidas Gegenwart. Die Zauber der Angolanerin brachen sich ihre Bahn. Sie bot alles auf, zu dem sie fähig war. Das Feuer der Sonne selbst sengte herab. Hitze, die Macht der Erde und das wilde Meer an der Küste verstärkten ihre Fähigkeiten. Zaida kämpfte um Anabelle. Sie spürte, wie ihre Freundin der Verzweiflung nahe war und dennoch nicht aufgab. Das Ringen um ihre Seele begann. Was immer geschehen würde. Anabelle vertraute dem machtvollen alten Kixi, der Zauberkönigin und der einzigen wahren Liebe ihres Lebens.


*


Die Finsternis um Anabelle lichtete sich erst wirklich, als sie die gellenden Schreie aus dem Festsaal hörte. Sie saß in einem Sessel des Separets, in dem ihr bekannten Stahlkörper, der in dem verstaubten Arbeitsanzug steckte. Lange, goldblonde Locken fluteten über ihren Oberkörper in ihren Schoß. Der Transfer musste also gut gegangen sein. Allerdings fühlte sie sich noch erschöpfter und innerlich erstarrt. Ewtas von dem Eiswesen musste ihre Seele berührt und vergiftet haben. Irrsinnige Kälte brannte sich gleißend durch ihr inneres. Keuchend krümmte sie sich zusammen. Die Kristallplatte in ihrer Brust knackte leise. Ein scharfer Schmerz durchtrennte für einen Augebnblick ihren Bewusstseinsfaden.

*


Zaida, Hailey und Jewa knieten über ihr. Der Beamte rollte gerade seinen Mantel unter Anabelles Kopf zusammen und stemmte sie keuchend ein Stück weit hoch. Sie fühlte gar nichts. Nur eine leise Freude, dass es den Menschen, die ihr nah standen, gut ging, erwachte in ihrer Brust. Sie fühlte sich müde, erschöpft und alt. Der Transfer und vor allem die Berührung des Eiswesens mussten ihr viele Lebensjahre geraubt haben. Langsam hob sie eine Hand und strich sich über die Stirn.
„Alles in Ordnung, Mademoisellechen?“, fragte Hailey sanft.
Sie betrachtete ihn aus dem Augenwinkel und lächelte gequält. „Oui, schon“, murmelte sie. „Trotzdem fühle ich mich, als wäre alles ohne mich von statten genangen … und auf sehr seltsame Weise bin ich nicht ganz vollständig.“
Zaida atmete tief durch und senkte die Lider. „Das war mein Fehler, Anabelle. Ich war zu langsam. Deine und ihre Seele haben sich überschnitten. Es ging nur um den Bruchteil einer Sekunde. Aber dieser Moment reichte aus um …“
„Was ist mit ihr geschehen?“, fragte Anabelle. Sie war sicher, nicht alles hören zu wollen, was Zaida bezüglich des Unfalls zu erzählen hatte. Das jedoch interessierte sie brennend.
„Du hattest recht. Als sie sich aus dieser Hülle befreien wollte, hat sie sich in einem für sie fremden, unbeweglichen Leib eingeschlossen. Es war sehr gut, dass du die Drähte gelöst und die Gliedmaße auf diesem Weg kurzgeschlossen hast.“
Anabelle lächelte matt. „Das war ein lächerlicher Kampf.“
Zaida schwieg dazu. Ohne ein weiteres Wort darüber zu verlieren, winkte sie Hailey. „Würden Sie Anabelle den Gefallen tun und für sie ein Kleid aus unserer Kutsche holen?“
Der Inspektor sah an sich herab. „So?“, fragte er und deutete an seinem Kostüm herab. Jewa nickte bedeutungsschwer, erhob sich und führte ihn auffallend selbstsicher zur Tür.


*


Zaida half Anabelle, sich umzuziehen. Während sie ihr Mieder schnürte, schwieg sie.
„Was ist wirklich passiert?“, fragte Anabelle. „Du siehst erschöpft aus, ich war bewusstlos. Das eine wie das andere weisen auf einen harten Kampf hin.“
„Ich habe gekämpft“, flüsterte Zaida. „All mein Feuer war notwendig, um dich zu mir zurück zu holen, Anabelle.“
Anabelle fuhr herum. „Ich war tot?“
Zaida nickte schwach.
„Deswegen fehlt ein Teil meiner Seele“, flüsterte Anabelle entsetzt.
„Ich konnte dich nicht gehen lassen. Sie hat dich in ihr Eisreich gerissen und ich habe dich an mich gebunden. Nun fließt mein Leben in dir.“
„Was hast du …“ Anabelle wollte es eigentlich nicht wissen. Einerseits war sie wütend über Zaidas kalkulierbare Risiken, andererseits spürte sie nun mehr denn je, wie sehr Zaida sie liebte. Wortlos umklammerte sie ihre Freundin und vergrub sich an ihrer Brust. Zaida drückte sie fest and sich und küsste ihr Haar. Nach einer viel zu kurzen Ewigkeit drückte die Magierin sie von sich und drehte sie um. Allerdings hakte sie das Mieder wieder auf. Ihr warmer Atem berührte Anabelles Haut. Weiche Lippen strichen über ihren Hals, während Zaidas Finger unter das Chemisette glitten und behutsam ihre Brüste streichelten. Anabelle legte ihren Hals frei und schmiegte sich an Zaida.
„Ich liebe dich“, hauchte sie.


(c) Tanja Meurer, 2011