Nachtzauber Leseprobe
 
Teil 1
1. Gaslicht

Gaslampen verströmten von verschiedenen Seiten ihr weiches, goldenes Lich. Dennoch bildeten sich kleine Enklaven aus Schatten und vollkommener Finsternis zwischen den stählernen Säulen, die die schwach hinterleuchtete Glaskuppeldecke trugen. Die Zwischenräume der Träger hatte jemand mit wuchtigen Registratur- und Aktenschränken, die vermutlich als Raumteilung dienten, aufgefüllt. Das flackernde Licht gaukelte dem Betrachter vor, dass etwas in der Dunkelheit zwischen dem schäbigen Mobiliar lauerte. Manchmal zuckten rasche Bewegungen in den Schatten, dann huschte etwas über den schäbigen Perserteppich, und wenn man genau lauschte, hörte man sogar das leide kratzen winziger Krallen auf den Ebenholzdielen.
Mäuse in einem Polizeirevier?
Kim saß wenig entspannt auf dem unbequemen Holstuhl, dessen Polster man offensichtlich mit Absicht entfernt hatte, es möglichen Straftätern nicht zu bequem zu machen.
Dennoch nahm er die kalte, unbequeme Sitzfläche kaum wahr.
Er neigte den Kopf, als er unter dem Schreibtisch, an dem er saß, erneut und nun wesentlich näher leise Kratzgeräusche wahrnahm.
Natürlich war da nichts. Vermutlich waren seine Nerven einfach zu angespannt.
Er atmete tief durch, schloss kurz die Augen und hielt die Luft an, die nach kaltem Pfeifenrauch und Staub schmeckte, bevor er sie wieder ausstieß.
Langsam hob er die Lider und legte den Kopf in den Nacken. Für eine ganze Weile betrachtete er die Glaskuppel über seinem Kopf. An der Umfassung hatte sich der Tragwerkskünstler alle Mühe gegeben, Stahl, Eisen und Kupfer so zu verwenden, dass sich die Materialien wie Blätter, Ranken und Geäst in die farbigen Glasplatten und gemalten Muster einpassten. Der Effekt war außergewöhnlich. Über Kim spannte sich eine vielleicht zehn auf zehn Meter weite Decke, aber Kim sah direkt durch Baumwipfel in einen klaren, Abendhimmel. Architekt und Künstler mussten wahre Meister der Illusion gewesen sein, um solch ein Werk zu schaffen. Kim erkannte es neidlos an, bedauerte aber, dass diese Decke ausgerechnet ein Polizeirevier zierte. Vermutlich gab es hier niemand, der die Ästhetik und die Arbeit dieser Decke zu schätzen wusste.
Dieses Haus mutete an ein Jugendstilschlösschen an und musste einem reichen Mann gehört haben, jemand, der sich Glasarbeiten dieser Art auch leisten konnte.
Zum ersten Mal vergaß er seine Anspannung und widmete sich einer genauere Betrachtung des Raumes.
Leider konnte Kim von den vollflächigen, Eisengefassten Fenstern nichts mehr sehen. Jemand hatte die fadenscheinigen, grünen Samtvollären zugezogen. Staub hing in der Luft und überzog alle Möbel und Stoffe mit einem matten, erstickend grauen Schleier. Winzige Flöckchen tanzten im matten Gaslicht, dass durch Schmutzverkrustete Glasballons schien.
Tief in seinem Herzen bedauerte Kim das heruntergekommene Gebäude, dachte aber zugleich an sein eigenes Heim und spürte einen tiefen Stich in seinem Herzen, denn es sah noch weitaus schlimmer aus.
Das Licht flackerte, als jemand in der Etage über der Glasdecke entlang ging. Scheinbar hatte diese Person den elfengleichen Gang eines Rhinozerosses oder schlicht Übergewicht. Die Uniformierten, die er bislang gesehen hatte, waren umsichtig genug, sich behutsam zu bewegen, um dem schönen Haus so wenig Schaden zuzufügen, wie es nur ging.
Nachdem man ihn auf das Revier gebracht hatte, saß er allein in dem Raum, noch immer vom Regen durchweicht, in Handschellen und blutüberströmt.
Die Polizei verlangte seiner Geduld viel ab. Wahrscheinlich war es auch eine Taktik. Er hatte gelesen, dass es Verhöre gab, die unter furchtbarsten Bedingungen über Tage gehen konnten. Die Vigilanten bekamen wenig, oder gar keinen Schlaf und wurden mit ihren grundlegendsten Bedürfnissen erpresst, bis sie gestanden, gleich ob sie schuldig oder unschuldig waren. Davor allerdings fürchtete er sich weniger. Lediglich das Blut an Manschetten und Hemd, Hose und Schuhen rief tiefen Ekel in ihm hervor. Der Geruch und das widerliche Gefühl, zu spüren, wie es auf seiner Haut langsam trocknete, machten ihm sehr zu schaffen.
Erneut atmete er tief durch und fokussierte seine Sinne auf den Regen, der gegen die Glasscheiben schlug und das Ticken der mächtigen Pendeluhr, die an der Südwand stand. Er warf einen kurzen Blick auf das goldverzierte Ziffernblatt und sah den Stundenzeiger, der bereites die Hälfte zur ersten Stunde des neuen Morgens überschritten hatte.
Wie lang er sich wohl noch gedulden musste, bis endlich ein entsprechend Beamter sich seiner annahm? Kim rechnete nicht damit, dass andere außer den einfachen uniformierten Polizeikräften, in dieser unwirtlichen Oktobernacht Dienst taten.
Nervös sah er zu der doppelflügeigen Eingangstüre
Er spürte, dass ihm die Zeit knapp wurde. Für wenige Sekunden wog er den Gedanken ab, ob es klug wäre, nicht einfach die Handschellen zu sprengen und sich schleunigst aus dem Staub zu machen, schob die Idee aber sofort wieder von sich. Er handelte im Auftrag. Sein Dienstherr würde ihn früher oder später hier heraus holen, schon weil Kims Wissen viel zu brisant war, um für andere Ohren bestimmt zu sein.
Dennoch war er von seiner eigenen Überzeugungstaktik nicht überzeugt. Wer sollte ihm schon glauben? Was war er mehr als ein verarmter Adeliger aus Preußen, der sich sein Brot als zweitklassiger Künstler verdiente und dessen Geheimnisse besser unentdeckt blieben?
Vielleicht würde er gar keine Hilfe bekommen, keine Unterstützung. Vermutlich gab es - bis auf Walter und Madeleine, seine einzigen wirklichen Freunde und Verbündete - keinen den es interessierte, was aus einem seltsamen Geschöpf wie ihm wurde.
Die Situation, in der er sich befand, gefiel ihm gar nicht, besonders weil er sich nicht selbst hineinmanövriert hatte.
Wahrscheinlich lag es an ihm zu beweisen, dass er nichts mit dem Tod des Obersts zu tun hatte, in dessen Begleitung man ihn mehrfach an allen möglichen öffentlichen Plätzen gesehen hatte.
Nachdenklich ließ Kim noch einmal die letzten Tage Revue passieren.

Anfang Oktober erreichte ihn ein Brief, förmlich und höflich, mit der Anfrage – die fast einem Befehl glich - auf die Dienste Kims in seiner Aufgabe als Portraitmaler. Das allein wäre kein Grund zum Misstrauen gewesen, gab es doch immer noch etliche Adelige, die ihren Maitressen auf diesem Weg eine Aufmerksamkeit zukommen lassen wollten. Aber dennoch war etwas an Form und Ausdruck, auch der Wahl des Mediums - eines neutralen Bogens, beschrieben mit einer Schreibmaschine, das den Maler abstieß. Sein „Gönner“ war sich offenbar sehr sicher, dass er Kims Zusage bekam. Weniger das Angebot eines unerhört hohen Honorars, als vielmehr die Anzahlung von rund 1.500 Reichsmark, ein Zugbillet nach Wiesbaden, in die Kurresidenz Wilhelm II. und eine Reservierung im teuersten Hotel der Stadt, reizten ihn. Zusätzlich regte sich aber auch die unabdingbare Neugier, die Kim selten in seinem Leben Glück beschieden hatte.
Welches Abenteuer verbarg sich für ihn in Wiesbaden?
Während er die ganze Angelegenheit in Ruhe überdachte, fand er immer weniger Gründe, die sein Misstrauen stützten. Besonders reizten ihn die lang entbehrten Privilegien seines Adelsstandes zu nutzen. Hier, in den halb verfallenen Mauern seines Stammschlosses lebte er vor den Augen der Nachbarn und im Schatten der wirtschaftlich aufstrebenden Bergbaustädte wie ein Eremit. Für ihn war die Zeit zu Ende des 18. Jahrhunderts stehen geblieben. Die wenigen Male, die er sein Heim verlassen hatte, nutzte er nur, um sich andernorts zu verstecken.
So lange schon lebte er allein, ohne Dienerschaft und ohne Verwandte, die wenigstens geringe Sorge um ihn trugen.
Aus dem schmerzvollen Gefühl des Selbstmitleides und der Vereinsamung heraus fasste er den Entschluss zuzusagen.
Dennoch hätte ihn die Vernunft warnen sollen.
Gegenwärtig fragte er sich, warum er alle Vorsicht außer Acht gelassen und das dumpfe, bohrende Gefühl der Gefahr verdrängt hatte.
An jenem Tag schob er alle dunklen Warnungen von sich. Er wollte schlimmstenfalls an eine Falle sein einstmaligen Gefährte und heutigen Nemesis Saurva glauben. Selbst dann hatte er gute Chancen, mit heiler Haut und etwas mehr Geld au der Geschichte herauszukommen. Und – auch wenn er es ungern zugab – er freute sich sogar darauf, seinen hochadeligen Gegner aus Persien wiederzusehen.
Kim lockte die Gefahr. Das „Spiel“ zog ihn magisch an. Vielleicht konnte er neue Grenzen stecken. Außerdem hegte Kim die Hoffnung auf den Dialog zu Saurva.
Wie sehr hatte sich Kim in diesen Gedanken verrannt, und wie schwer wog seine Enttäuschung, als er bemerkte...

Er unterbrach seinen Gedankengängen, als sich jemand räusperte. Ein schales Gefühl von Leere und Hoffnungslosigkeit blieb zurück, dass sich plötzlich in ungerechten Ärger verwandelte. Er konnte nicht verhindern, dass seine Augen aussprachen, was er lieber nicht laut aussprach, als er seinen Blick dem Eingang zuwendete.
„So gedankenverloren?“, fragte ein fast unscheinbar kleiner, schlanker Mann, der vermutlich in den mittleren Jahren war mit einem leisen Unterton von Spott. Anhand seiner tiefen, ruhigen Stimmlage, hätte Kim zumindest eine etwas beeindruckendere Erscheinung erwartet, aber dieser Polizist – Kim nahm den Beruf bei dem Fremden einfach an – reichte dem Maler gerade bis zur Brust. Kims Gegenüber war eine elegante Erscheinung, gekleidet in Anzug und Gehrock, wobei er immer noch seine silbergrauen Glace-Handschuhe, die er sich offenbar gerade ausgezogen hatte, in den Fingern hielt. Er trug sein weißes Haar ungewöhnlich lang, fast bis zu den Schultern, einen wenig auffälligen Oberlippenbart und gekürzte Kotletten, eigentlich sehr ungewöhnlich in einer Zeit, in der nahezu alle Männer dem Vorbild von Wilhelm II. und Bismarck folgten.
Der Mann trug einen eleganten Stock in den Händen. Kim fiel auf, dass die Kleider, die der Polizist trug, bereits Gebrauchsspuren vom Vortag oder dem Abend aufwiesen. Allerdings bemerkte er auch, dass Hosenbeine und Gamaschen trocken waren. Der Beamte konnte nicht von draußen herein gekommen sein.
Vielleicht lebte der Mann hier. Aber warum hatte er sich so viel Zeit gelassen, hier her zu kommen?
„Verzeihen Sie mir“, entgegnete Kim immer noch verärgert. Er wollte seinen Tonfall gar nicht ändern, schließlich saß er bereits seit längerer Zeit in absolut unwürdiger Weise hier.
„Habe ich Sie in wichtigen Überlegungen gestört?“, fragte der Beamte mit deutlicher Ironie in der Stimme.
Kim ignorierte den überheblich-boshaften Tonfall, bevor er sich doch noch dazu hinreißen ließ, seine Fesseln zu sprengen, um den Polizisten damit zu erdrosseln.
Der Beamte trat tiefer in den Raum und ließ die Türe einen Spalt weit offen stehen. Einen Moment später trat ein weiterer Mann ein, genauso schlank, nur fast zwei Köpfe größer als der Polizist. Er war jung, vielleicht Ende Zwanzig und sah nicht weniger außergewöhnlich aus, als sein älterer Kollege.
Er trug eine runde Brille, hinter deren Gläsern er aus sanften, grünen Augen auf Kim herab sah. Sein glatt rasiertes Gesicht hatte etwas trügerisch weibliches, wenig maskulin, ein Aussehen, was nicht dem Schönheitsideal der Zeit entsprach. Sein schwarzes Haar musste lang sein wie das einer Frau – was für die Gesellschaft nah an einen Skandal grenzte, wie Kim aus eigener leidvoller Erfahrung wusste. Etwas in diesem Mann brachte aber bei Kim etwas zum Klingen. Es schien ihm, als erinnere sich seine Seele an etwas, das lange vergessen sein sollte.
Kim schob die Gedanken von sich. Der momentane Zeitpunkt war denkbar ungünstig für solch private Überlegungen.

Der junge Polizist schloss die Türe hinter sich, während der ältere langsam auf den Schriebtisch zuschritt und dann stehen blieb.
„Mein Name ist Meinhard“, stellte er sich vor. „Gerichtsrat Meinhard.“
Kim hob erstaunt die Brauen. Ein Gerichtsrat, kein Polizist? War das nicht ein normales Revier? Viel eher hätte er noch mit einem Offizier gerechnet, weil sein vermeintliches Opfer Oberst im kaiserlichen Militär war, sogar unter den direkten Diensten Wilhelms II.
„Gerichtsrat?“, fragte er vorsichtig nach.
Meinhard ignorierte Kims Verwunderung und fuhr fort:
„Dieser junge Herr“, er wendete sich halb seinem Kollegen zu, der an seine Seite getreten war, „ist mein Sekretär Luca Veraldis.“
Die leichte Verneigung des jungen Mannes nahm Kim nur am Rande wahr. Vielmehr lenkte ihn wieder ein Anflug von Erkennen ab. Der Name Veraldis wollte Erinnerungen wecken, die aber nicht klarer vor seinen Augen wurden, sondern sich viel eher einem Zugriff entzogen. Er kannte diese sanften Augen und das Gesicht, konnte aber nicht sagen woher.
Schließlich gab er auf. Irgendwann würde es ihm wieder einfallen.
„Unsere uniformierten Kollegen fanden Papiere in ihrer Brieftasche, die Sie als Konstantin Immanuel Maximilian Wiegand aus Dortmund ausweisen. Ist das richtig?“
Kim nickte auf diese Frage hin nur.
„Herr Wiegand, in Ihren Papieren - genaugenommen einem Brief - steht, dass sie als Maler nach Wiesbaden gebeten wurden, um einen Auftrag zu übernehmen. Stimmt das?“
„Ja, Herr Gerichtsrat“, bestätigte er.
Ein freundliches Lächeln huschte über die Lippen Meinhards. Er wendete sich von Kim ab.
„Veraldis?“, fragte er.
Der junge Mann setzte sich wortlos hinter den Schreibtisch und zog einen kleinen Schlüssel aus der Innentasche seines Rockes, um eine kleine Reiseschreibmaschine hervorzuholen. Routiniert spannte er etwas Papier ein.
Kim erschien es seltsam, dass der junge Mann nicht mitnotierte. Einmal hatte er gesehen, welche Kraft notwendig war, die Tasten zu drücken. Er wollte sich kaum vorstellen, dass Veraldis diese Kraft entwickeln konnte und nicht hinter dem gesprochenen Wort zurück blieb. Aber vielleicht schrieb er sich auch nur mit, was er für wichtig erachtete.
In seiner so weit entfernten Jugend hatte auch er einen Privatsekretär, der ihm alle Arbeiten in der Form abnahm. Aber scheinbar hatte sich viel in der Arbeitsweise dieser Männer geändert.
Veraldis begann mit flinken Fingern die Tasten zu bedienen. Und er hatte einen wirklich leichten und schnellen Anschlag. Kim konnte mit den Maschinen nicht umgehen. Im Gegenteil. Er war froh, wenn er jedweder Form von technisierter Bürokratie entging.
Meinhard stellte sich hinter seinem Sekretär auf. Er überflog, was der junge Mann geschrieben hatte.
„Genau, Luca, schreiben Sie aber als Anrede nicht Herr sondern Graf.“
Aus der Mimik des jungen Sekretärs war kein bisschen Überraschung herauszulesen, als er es mit der Maschine hinzufügte. Er nahm es als gegeben hin, wenngleich Kim sich nicht vorstellen konnte, dass jemand anhand seines mitgenommenen Äußeren erwarten würde, dass er von Adel war.
Kim sah an sich herab. Er hatte noch immer seinen eleganten Abendanzug an, aber sein langes Haar hing ihm in unansehnlichen, klammen Strähnen in die Stirn, klebte an seinem Nacken und quoll in unordentlichen Locken aus dem schwarzen Seidenband.
Gamaschen und Hemd waren blutverschmiert und schmutzig und grau vom Straßendreck. Am liebsten hätte Kim geschrieen. Er wollte sich einfach nur noch reinigen und schlafen, bis zum nächsten Abend.
Aber das rückte in weite Ferne, denn er stand unter Mordverdacht. An der Seite eines ausgeweideten Leichnams von der Polizei aufgegriffen zu werden, war so gut wie ein offenes Geständnis.
„Nun, Herr Graf“, forderte Meinhard ihn auf. „Bitte, erzählen Sie den Abend und die Nacht aus Ihrer Sicht.“
Kim hob eine Braue. „Steht nicht bereits für Sie fest, dass ich Oberst Reichenberg umgebracht habe?“
Eigentlich wollte er zynisch klingen, verfehlte aber vollkommen sein Ziel. Selbst in seinen Ohren waren die Worte lächerlich. Dennoch hielt er seine Handgelenke hoch und blickte zu den Handschellen herab.
Der junge Sekretär sah über den Rand seiner Brille zu den Fesseln und erhob sich von seinem Platz, genauso selbstverständlich, wie er nach der Schreibmaschine gegriffen hatte. Wortlos, wie bisher immer, trat er zu Kim und zog einen weiteren Schlüssel hervor, um die Fesseln aufzuschließen.
Kim beobachtete ihn genau. Er hätte schwören können, dass der Schlüssel weder in Größe, noch in Form passen würde. Dennoch sprangen die Handschellen auf.
Erstaunt sah Kim auf seine Gelenke herab, dann hob er den Blick und begegnete den Augen des Sekretärs. Er hatte das Gefühl, dass Veraldis seinen Blick genauso fixieren wollte.
Die Vertrautheit nahm kurz formen an, aber der Gedanke, vielleicht die Lösung, entwich ihm, bevor er ihn festhalten konnte. Kim spürte, wie sein schroffes, abweisendes Verhalten schmolz. Wenn dieser Mann doch nur einmal spräche! Kim wollte seine Stimme hören. Vielleicht würde er sich dann erinnern können!
Aber der französische Name implizierte, dass er wegen eines starken Akzentes schwieg.
„Vielen Dank“, flüsterte Kim.
In seiner Stimme schwang tief empfundene Dankbarkeit mit. Er spürte eine Woge von Vertrauen und Wärme, die ihn überflutete. In diesem Moment gab es nichts, was Veraldis nicht bedenkenlos anvertraut hätte.
In den Augen des Franzosen erwachte ein ermutigendes Funkeln, dann allerdings unterbrach er den Blickkontakt und setzte sich wieder hinter seine Schreibmaschine.
Kim strich sich das Haar aus der Stirn und fuhr sich – seinem Geschmack nach zu nervös – durch das lange Haar.
Meinhard ließ sich auf die Kante des Tisches nieder, zu entspannt, anhand der Situation, dass er einen Mord aufzuklären hatte.
Vermutlich wollte er Kim in Sicherheit wiegen und ihm Vertrauen zu implizieren, damit er sich an irgendeinem Punkt seiner Erzählung verraten würde.
Argwöhnisch betrachtete Kim den Gerichtsrat.
„Nun, Graf, beginnen Sie.“
Der Maler straffte die Schultern und setzte sich gerade auf.
„Meine Ausführungen beginnen weit vor der Nacht des Mordes“, erklärte er. „genaugenommen vor zehn Tagen, beim Eintreffen des Briefes, den sie bei mir fanden. Der Absender war Anton von Kleist. Aufgrund dieses Schriftstückes verließ ich erst meinen Stammsitz und kam hier her.“
Meinhard lächelte. „Sie werden wohl am Besten einschätzen können, wo Sie mit Ihrer Erzählung anfangen wollen.“
Er unterbrach sich kurz. „Luca, bitte klingeln sie, damit man uns Tee zubereitet.“
Sein Blick glitt zu Kim. „Tee ist Ihnen doch recht, Graf?“
Kim musste lächeln. Die Methode kam ihm vertraut vor. Er spürte immer mehr den harten Sitz unter sich und wusste schon jetzt, dass er in einem unangenehmen Wechsel von Komfort und Folter hin- und hergerissen werden sollte.
Veraldis erhob sich und verließ kurz den Raum. Kims feine Sinne nahmen wahr, dass er mit einem anderen Mann sprach, aber Worte waren zu leise, um etwas zu verstehen.
Sein Interesse an Veraldis stieg immer weiter. In ihm erwachte sogar der Wunsch, seine Nähe zu haben. Dieser Mann, er würde ihm in Erinnerung bleiben, immer, selbst, wenn er dieses Gebäude verließ und nie mehr wieder an diesen Ort zurückkehren würde; was er im Übrigen sehr hoffte.
Als Veraldis zurückkehrte, nickte ihm Meinhard zu. Stumm ließ sich der junge Mann nieder und wartete darauf, dass Kim mit seiner Erzählung begann.

(c) Tanja Meurer, 2009