Das Gewicht einer Seele Leseprobe
 

 

Prolog

„Rühme dich nicht des morgigen Tages; denn du weißt nicht, was heute sich begeben mag!“
Altes Testament, Sprüche, Kapitel 27 / Vers 1


Der Querschläger riss Putz und feine Holzsplitter neben Anabelles Wange aus der Wand. Geistesgegenwärtig warf sie sich zu Boden und nahm Deckung hinter dem noch immer offen stehenden Planschrank.
War sie nicht allein in der Villa? Bis eben hörte sie nichts, nur das Prasseln der Flammen im Kamin, die rasend schnell Papier und Transparent zerfraßen.
Ihr Herz schlug hart und schnell in ihrer Brust. Noch immer sah und hörte sie nichts. Wer war der Angreifer?!
Sie vernahm den Auswurf der Hülse, als ihr Gegner das Gewehr durch lud. Erschrocken spähte sie zu ihrem Schreibtisch, auf dem Aktentasche und Revolver lagen. Sie verfluchte sich für ihre mangelnde Vorsicht! Ausgerechnet jetzt!
Allerdings folgte kein weiterer Schuss. Anabelle lauschte angestrengt. Suchte er sie? Vielleicht glaubte er, sie bereits getroffen zu haben! Sie hielt die Luft an. Wahrscheinlich wartete er darauf, dass sie sich durch eine unvorsichtige Bewegung verriet. Sekunden verstrichen, in denen sie nichts hörte. Ihr Gegner bewegte sich lautlos. Umso mehr achtete sie auf die flackernden Schatten auf den Dielen. Es war ihre einzige Chance ihn auszumachen. Die enervierende Stille, die lediglich von dem Knistern des Feuers durchbrochen wurde, machte sie wahnsinnig!
Ihr Herz pochte unter der Anspannung lauter und härter. Sie fühlte, wie sie unter den Schlägen, die ihr Blut durch ihre Adern pumpten, erbebte. Mühsam zwang sie sich zur Ruhe. Ihre Blicke tasteten erneut über den Boden. Sie fand keinen verräterischen Schatten. In diesem Moment hörte sie, wie die Tür der Villa aufgeschlossen wurde. Der Hall von hohen Ansätzen brach sich an den Wänden des Windfangs.
‚Anais!’, schoss es ihr durch den Kopf. Nur ihre Schwester und ihr Schwager besaßen Schlüssel zu diesem Gebäude. Vielleicht war das ihre Rettung; oder Anais’ Tod.
Der Gedanke entsetzte sie. Ihre Zwillingsschwester stand ihr näher als jeder andere Mensch. Sie konnte nicht Anais’ Leben opfern, um ihr eigenes zu retten!
Anabelles Blick tastete über den Boden und die getäfelten Wände. Gab es keinen Hinweis, ob dieses Wesen noch hier war, oder was er tat?! Sehnsüchtig sah sie zu ihrer Waffe, die doch in erreichbarer Nähe lag! Sie konnte aufspringen und den Revolver ergreifen, musste nur sofort wieder Deckung nehmen! Tournüre und Schleppe ihres Kleides behinderten sie vielleicht, aber wenn sie Glück hatte …
Dumpf schlug das schwere Gewehr auf den Boden.
Anais hielt den Atem an. Sie wusste, dass sie ihre Chance vertan hatte. Gleichzeitig spannte ihr Gegner den Hahn einer weiteren Waffe. Er ließ ihr keine Gelegenheit! Anabelle erhob sich auf Hände und Knie, um sich vorsichtig zu orientieren.
Für einen winzigen Moment fragte sich Anabelle, wie sie sich aus dieser Situation heraus manövrieren konnte.
Vielleicht war es für sie zu spät, nicht aber für ihre Schwester!
„Anais!“, rief sie, so laut sie konnte. „Verschwinde!“
Ein Schuss löste sich. Die Kugel bohrte sich durch die Schrankwand, hinter der sie sich verbarg. Anabelle presste sich – so gut es mit der Tournüre ging - in die Ecke. Das Geschoss bohrte sich durch das Holz an ihrer Seite. Als sie die grauen Rauchfäden gewahrte, wusste sie, dass es unausweichlich zu spät war, um sich zu schützen. Trotz allem zuckte sie zusammen. Salzsäure spritzte aus der aufgeplatzten Patronenkammer über sie! Der Schmerz sengte über ihren Arm und das Schulterblatt. Der Gestank verätzten Stoffs und schwelendes Fleisches mischte sich in den Geruch des Kaminfeuers.
Panisch versuchte sie, den säuregetränkten Stoff von ihrer Haut zu reißen. Ein weiterer Schuss löste sich. In der gleichen Sekunde merkte sie, dass sie alle Vorsicht fallen gelassen hatte und ihm Angriffsfläche bot.
Anabelle spürte, wie das Geschoss Jacke, Bluse und Mieder durchdrang, um in ihrem Körper aufzuplatzen. Schmerzen, wie Anabelle sie nie zuvor ertragen musste, explodierten in ihren Eingeweiden. Flüssiges Feuer sengte durch ihre Nervenbahnen und flutete ihren Verstand. Für Sekunden sah sie blendend weißes Licht, bevor sie in die Dunkelheit ihres Büros zurück stürzte. Sie glaubte in einen finsteren, endlosen Schacht gesogen zu werden. Qualvoll klammerte sie sich an der Reflektion des Kaminfeuers auf den Dielen fest. Licht konnte sie zurück führen, verhindern, dass die schwarzen, klebrigen Spinnweben ihrer Ohnmacht sie ergriffen und zurück rissen. In dieser – für sie nicht mehr fassbaren – Zeitspanne konzentrierten sich all ihre Sinne nur noch auf ihren Körper und das jämmerliche bisschen Leben. Schleichend fand ihr Bewusstsein in die Wirklichkeit zurück. Der Preis dafür war hoch. Ihr Leib brannte! Die Schmerzen steigerten sich zur Agonie. Sie krümmte sich bebend zusammen, um die Qualen erträglicher zu machen. Zwischen ihren Fingern sickerte säurehaltiges Blut. Längstenfalls blieb ihr eine knappe Stunde, bevor sie an ihren inneren Verletzungen starb. Ihr Leben rann aus der Bauchwunde auf den Boden. Was die Kugel bei ihrer Explosion nicht zerfetzen konnte, vernichtete die Chemikalie. Ihr Mund füllte sich mit bittersalziger Flüssigkeit. Im ersten Moment konnte sie nicht einordnen, was sie auf ihrer Zunge schmeckte, bis ihr klar wurde, dass es Galle und Blut sein mussten. Anabelle wusste, dass sie starb.
‚Wie paradox’, dachte sie humorlos. ‚Sie starb durch eine von ihr selbst kreierten Waffe.’
Verzweifelt rief sie sich zur Ordnung. Ihre eiserne Willensstärke und die Jahre in entsagungsvoller Disziplin sorgten für ein Aufwallen ihres Zornes. Sie weigerte sich dagegen, einfach aufzugeben! Sie war eine Wissenschaftlerin, eine Professorin und sie kannte das Geheimnis des Lebens. In ihren Händen lag der Lebensfunke selbst! Sie konnte noch nicht gehen! Es war viel zu früh dafür!
Eine Hand presste sie gegen die offene Bauchwunde, während sie versuchte, sich mit der anderen hoch zu stemmen. Alle verbleibende Kraft, die sie in ihrer verzweifelten Wut zu haben glaubte, verrauchte in vollständiger Erschöpfung. Sie blieb zusammengekrümmt auf dem Boden liegen. Ihr Blick kroch über die Dielen an dem Tisch hinauf.
Zumindest gelang es ihr zuvor die Pläne zu vernichten. Trotzdem lagen noch ein paar Berichte und Bauanleitungen in ihrer Tasche. Mit dem schwachen Anflug von Schrecken realisierte sie, dass der Besitz dieser wenigen Papiere bereits ausreichen konnte, die Hölle auf die Erde herauf zu beschwören. Ihre Hand kroch kraftlos über den Boden. Sie versuchte, ihre Finger zu heben. Alles lag so nah bei ihr und dennoch in unerreichbarer Ferne.
Anabelles Geist driftete ab. In ihrem Gehirn manifestierte sich der Gedanke, wieso sie sich das Wissen über die Zauberkunst nicht genauer eingeprägt hatte. In ihrer jetzigen Situation wäre es hilfreich. Kannte sie nicht die Formeln? Ihre Hand streckte sich weiter. Was wollte sie bewirken? Ihr Verstand verwirrte sich, je mehr sie ihre Kräfte darauf verschwendete. Schwach fielen ihre Finger auf das Holz zurück und blieben liegen. Sie sah die roten Spuren ihrer Hand auf den Dielen. Der Anblick nahm ihr die letzte Hoffnung etwas zu bewirken. Anabelle musste sich eingestehen, dass sie in allen Punkten gescheitert war. Hoffnungslosigkeit und Kälte breitete sich in ihr aus. Sie begann zu frieren. Das war der Anfang vom Ende …

Mit zusammengebissenen Zähnen versuchte sie ihren Gegner auszumachen. Ihr Blick verschleierte sich immer wieder. Sie konnte zwischen den Schatten des Zimmers und möglichen Personen nichts mehr aus machen. Das zuvor schwache Licht des Kamins erhellte den Rand ihres Sichtfeldes in unerträglichem Maß. Anabelle spürte, wie ihre Augen tränten. Sie kniff die Lider zusammen, hob sie aber gleich wieder, in der Hoffnung nun mehr zu sehen. Schwach erkannte sie den Schatten einer Person, die sich über die Tischplatte neigte und in etwas blätterte. Ihre Bauanleitungen!
Schrecken elektrisierte ihre schmerzenden Nerven und sengte erneut durch ihren Körper. Wer war es? Ihr Assistent?! Ihr Schwager vielleicht? … oder einer ihrer Schüler, der zu neugierig wurde?! Sie musste es wissen! Sie verdrehte sich unter ungeheuren Schmerzen. Ihr Blick irrte über den Boden, zwischen den Tischbeinen und den Stühlen hindurch. Das Licht des Kamins, in dem ihr verfluchtes Lebenswerk brannte, reichte bis zu der verglasten Türe und hinüber zu ihrem Labor und der Werkstatt. Nichts!
Wo war er nur? Ihre Augen suchten den Schreibtisch. Sie verdrehte die Pupillen, bis gleißender Schmerz Bahnen durch ihren Schädel zog. Das Bild verschwamm vor ihren Augen. Anabelle senkte die Lider.
Stufen und Dielen knackten unter ungeheurem Gewicht. Jemand ging betont langsam über den Flur. Anais konnte es nicht sein! War es ein weiterer Gegner? Anabelle öffnete stöhnend die Augen. Die Realität verzerrte sich. Sie glaubte leise, kleine Schritte zu hören. Sie vermischten sich mit dem betäubenden Rauschen ihres eigenen Blutes. Unter dem infernalischen Lärm vernahm sie ein immer wiederkehrendes, scharfes Kreischen. Es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis sie das Geräusch als unfertige Mechanik erkannte. Erneut elektrisierte ihr Körper. Entsetzen ergriff sie. Anabelle riss sie die Augen auf. Ihr Blick irrte panisch über den Boden und verfing sich an einer dunkelgrünen Schleppe über einer Tournüre. Unter dem Saum des schmalen Rockes blitzten hellgrüne Schnürstiefeletten. Langsam umrundete die Frau den Schreibtisch. Ihr Leib musste zwei oder drei Zentner wiegen. Anabelle hörte das alte Holz ächzen!
„Hier!“, hörte sie eine kühle Männerstimme. Seine Worte wurden von einem harten Akzent begleitet. Die Person war ihr fremd.
Anabelle versuchte zu erkennen, was geschah. Ihre Gegner bewegten sich geschickt am Rande von Anabelles Sichtfeld. Letztendlich gab die Fremde ihr Versteckspiel auf. Sie trat in das Licht des Kamins. Sie war zierlich und klein. Ihre Kleidung zeichnete sie als Dame der Gesellschaft aus. Das flackernde Licht fing manchmal eine hellblonde Locke ein. Dennoch blieb die Helligkeit nie lang genug, um einen Eindruck ihres Gesichtes zu gewinnen. Letzten Endes fesselte Anabelle auch mehr das Säuregewehr in den kleinen Händen der Fremden. Fast gemächlich wendete die Frau ihr den Rücken zu. Die Seide der Schleppe strich über Anabelles Hand. Die Gestalt der Dame in Grün widersprach vollkommen dem immensen Gewicht. Anabelle konnte den Gedanken nicht mehr ganz ergreifen und ihn zu Ende denken. Sie nahm nur noch Eindrücke auf, ohne sie umzusetzen.
Die Fremde legte ihr Gewehr nieder, schob Anabelles Revolver von sich und nahm die Aktentasche hoch. Sie durchsuchte jedes Fach, bevor sie die Mappe von sich schleuderte. Wütend fuhr sie herum. Blonde Locken wirbelten unter dem Hut auf. Anabelle erkannte das schöne Gesicht, was sich nun gut sichtbar im Feuerschein zu ihr wendete nicht. Dennoch schien es ihr vertraut. Sie fand nicht die Chance, darüber nachzudenken. Die fein geschwungenen Brauen zogen sich über großen, dunklen Augen düster zusammen. Die Fremde presste wütend ihre vollen Lippen aufeinander.
Anabelle empfand widersinnige Bewunderung angesichts der Perfektion, mit der das Gesicht dieser puppenhaften Maschine ausgestaltet wurde. Alles an diesem Geschöpf wirkte lebendig und natürlich; alles, bis auf das metallene Schaben der ungefetteten Gelenke. War dieses Wesen ein Kind ihrer Schöpfung?

Der hasserfüllte Blick der Schönheit vernichtete Anabelles Bewunderung.
Eine Welle unerträglichen Schmerzes nahm ihr den Atem und betäubte ihre Sinne. Die Wirklichkeit verschwamm hinter gnädigen Nebeln. Sie keuchte und krümmte sich auf dem Boden. Unter ihrem Körper tränkten sich die Dielen mit ihrem Leben. Dennoch fühlte sie ihren stummen Triumph in sich. Dieses Wesen war ihr Geschöpf. Trotzdem würde alle Perfektion nicht darüber hinweg täuschen, dass sie eine leblose Hülle war! Die Formeln und das Verfahren für die Übertragung einer Seele in eine Maschine brannten im Kamin zu Asche!
Plötzlich fühlte sie sich an der Kehle ein geringes Stück vom Boden hochgerissen!
Unglaublich betäubende Leichtigkeit ergriff sie. Alles Gewicht ihrer Sorgen und ihres Lebens wichen aus ihr zurück. Erneut verzerrte sich die Wirklichkeit vor ihren Augen. Verfremdet sah sie das Gesicht der Puppe vor sich. Die Maschine hielt etwas Funkelndes hoch. Der goldene Metallrahmen war in Form eines Pentagramms geschmiedet. In den Spitzen schimmerten transparente Edelsteinplatten. Mehr erkannte sie nicht. Trotzdem wusste sie, dass magische Symbole eingearbeitet worden waren. Zentrisch befand sich ein faustgroßer blauer Diamant. Dieses Gerät war eine Replik ihres Seelenauges. Jemand hatte es nach ihren Plänen gebaut; jenen Aufzeichnungen, die im Kamin brannten! Der schwache Hauch von Schrecken schwappte in ihr ermattetes Bewusstsein.
Die Puppe presste das Pentagramm über Anabelles linkes Auge. Es tat weh, ohne dass Anabelle die Art des Schmerzes noch beschreiben konnte. Der Druck fühlte sich dumpf an. Farbige Schemen verzerrten sich zu einem bizarren Kaleidoskop. Ihr Geist brach ein. Sie spürte, wie die Willenskraft, die sie bisher am Leben gehalten hatte, von dem einskalten Feuer des Seelenkristalls angesogen wurde. Sie spürte, wie sich ihr Herz zu einem Stein zusammenkrampfte. Aus ihrer Lunge presste sich aller Atem. Das Gefühl zu ersticken rann in die Gewissheit, zu verbluten. Schmerzen betäubten den Rest ihres Verstandes. Der Tanz der Lichtflecken wurde schwächer, ferner …
Sie spürte nichts mehr. Ihr Körper versagte jedweden Dienst. Spinnenfinger ihres eigenen Todes zuckten durch ihre Eingeweide. Eine unmenschliche Stimme wisperte am Rande ihrer Wahrnehmung Worte, die sie nicht mehr recht zuordnen konnte. Die Essenz dessen sickerte in ihren Verstand und vermischte sich mit den Eindrücken ihres langsamen Todes.

„Rühme dich nicht des morgigen Tages; denn du weißt nicht, was heute sich begeben mag!“

(c) Tanja Meurer, 2011