Roter Staub Leseprobe
 
20.08.1870 – Delhi, Bahnhof

Jeevan stand auf dem staubigen Bahnsteig zwischen Bauern, Händlern und englischen Truppen. Straßenkinder verkauften, was sie gerade von Karren oder dem Markt gestohlen hatten, weiter. Ein paar Mädchen, jünger als damals Aditi und er, boten sich Händlern und Soldaten an. Immer wieder trieben Aufseher und englische Ordnungshüter sie auseinander. Aber dieser Bahnhof war die Lebensader Delhis. Sie existierten nur, weil es den starken Austausch von Menschen und Geld gab. Die Symbiose, die das Dampfzeitalter und die Armut miteinander eingingen war schrecklich, aber unaufhaltsam. Der Anblick armer, geächteter Menschen, denen niemand eine Chance gab, versetzte ihm immer wieder einen Stich. Vor vielleicht vierzehn Jahren dachte Jeevan vollkommen anders darüber. Sein Leben ordnete sich der Vorgaben seiner Kaste unter. Er musste – zugunsten seiner Arbeit als Spion für seinen Cousin – als Boy und Diener für die Anglis arbeiten. Die Jahre unter britischer Herrschaft und in der ständigen Gegenwart Christopher Cumberlands, der ihm Freund, Weggefährte und Vertrauter war, schmolz sein Kastendenken vollständig. Er ertappte sich oft Worte mit Paria zu wechseln und sich dabei überhaupt nicht schlecht zu fühlen. Manchmal half er bei einfachen Handgriffen, oder dort, wo seine Kraft erbeten wurde. Sein Geburtsrecht war das eines Kshatriya, eines Adeligen. Doch die Sepoyaufstände, die ein letztes Aufbegehren des Adels gegen die Besatzungsmacht waren und der offenkundige Untergang Indiens unter Herrschaft der Anglis, lehrten ihn schmerzhaft und blutig.
In den ersten Monaten, die Jeevan dem Freigeist Christopher diente, gerannen für den englischen Offizier zur Hölle. Mit dem Starrsinn des Adels und der Vorgabe seiner Rolle als Diener, in der er für Nana Sahib spionierte, stieß er immer wieder gegen Christophers Eigensinn. Vielleicht war es der Geduld des Anglis zuzuschreiben, dass Jeevan eine andere Sicht auf Indiens Kultur gewann, möglicherweise aber auch seinen eigenen Erfahrungen.
Ihm fielen diese Chancen zu, nicht aber den armen Straßenkindern in Delhi. Er ertappte sich dabei, eines der Mädchen, ein hübsches, vielleicht achtjähriges Ding, zu offen anzustarren. Das Kind erwiderte seinen Blick und kam mit wiegenden Hüften auf ihn zu. All das Weibliche, was sie auszustrahlen versuchte, verging an ihrer zierlichen Gestalt, um die ihr staubiger Sari schlackerte. Sie wirkte auf ihn wie ein Imitat der Straßenmädchen, von denen sie zweifelsfrei abstammte. Sein Blick glitt zu Aditi, die in ihrer Tigergestalt reglos neben ihm stand. Vage erinnerte sich Jeevan daran, dass Aditi in ihrer ersten Nacht auch kaum weiblicher aussah. Viel mehr stand ihm das folgende Desaster ihrer Hochzeitsnacht vor Augen. Sie waren beide Kinder, die mit ihren Körpern wenig bis gar nichts anzufangen wussten.
Das Mädchen blieb vor Jeevan stehen. In ihren fast schwarzen Mandelaugen glomm Interesse. Allerdings glaubte Jeevan in erster Linie die Freunde an seinem Geld zu sehen. Ihr herzförmiges Gesicht schimmerte unter ihren filzigen, schwarzen Locken von ihrem Schweiß. Rasch befeuchtete sie ihre rissigen, vollen Lippen mit der Zunge. Jeevan war nicht bereit irgendwie auf sie zu reagieren. Sanft strich er Aditi über den pelzigen, großen Kopf. Der Tiger grollte leise. Das Geräusch klang, als läge alle Verachtung für das Kind darin.
Das Mädchen ignorierte Aditi. Mit einer Hand strich sie über ihren nicht vorhandenen Busen und die knabenhaft schmalen Hüften. Jeevan begegnete ihrem lebhaften Blick. In einigen Jahren würden die dunklen Augen nur noch stumpf aus einem verbrauchten Gesicht starren. Das widersinnige Spiel, was sie nun trieb, verschlang alle Straßenkinder.
„Sahib“, lächelte sie und wiegte ungeschickt ihre Hüften.
„Meinst du nicht, dass du für diese Arbeit zu Jung bist?“, fragte Jeevan kühl, obwohl ihm klar war, dass dieses Mädchen bereits mehr Kontakt mit dem anderen Geschlecht geschlossen hatte, als er in den siebenundzwanzig Jahren seines Lebens.
„Ich bin jung, hübsch und …“, begann sie.
„Du bist dumm!“, fiel Jeevan ihr brüsk ins Wort. „Ein Kind kann einem Mann nie geben, was er braucht!“
Die Augen des Mädchens verengten sich. „Ach ja?!“, zischte sie. „Ich kann alles was ein Mann von mir wünscht!“
Die Überheblichkeit in ihrer Stimme stieß Jeevan fast mehr ab, als der Inhalt ihrer Worte. Offensichtlich gefiel sich dieses Kind in der Rolle der Verführerin, die sie noch nicht sein konnte.
„Mag sein“, erwiderte er. „Trotzdem sollst du dich nicht anbieten und einem anderen für Geld unterwerfen.“
Seine Stimme nahm den unwillkürlich herablassenden Tonfall des Adeligen an.
Sie zuckte zusammen, bevor sie einen Schritt zurück wich.
Jeevan sprach unbeirrt weiter.
„Selbst ein Paria würde dich nicht mehr zur Frau nehmen und in seinem Haus dulden!“ Er wusste, wiesehr er sie erschreckte. Seine Worte waren Ohrfeigen. Das Kind stolperte nach hinten.
„Du wirst selbst unter deinesgleichen nichts sein. Eine wirkliche Kurtisane wirst du nie!“
Tränen schimmerten in ihren Augen. Sie presste wütend die Lippen aufeinander. Jeevans Gegenwart schien ihr gar nicht mehr zuzusagen.
„Schwein!“, schrie sie mit hoher, überschnappender Stimme, bevor sie herum fuhr und in den drängenden Massen verschwand, die aus den Zügen und in die Züge strebten.
„Warst du nicht zu hart zu ihr?“, fragte Christopher leise hinter Jeevan. Der Leutnant drehte sich seinem Freund zu und musterte das hübsche Gesicht seines Offiziers. Christophers helle Augen blieben ernst, auch wenn ein Lächeln auf seinen Lippen lag. Sein schmales, jugendliches Gesicht strahlte die gleiche Strenge aus, mit der Jeevan das Kind verscheucht hatte.
Jeevan hob eine Braue und schüttelte den Kopf. „Nein. Vielleicht überlegt sie sich, was sie tut und nimmt einen anderen Weg. Jetzt ist sie jung genug dazu. In drei oder vier Jahren gibt es kein Zurück für sie.“
„Was, wenn sie zur Hurerei gezwungen wird?“, gab Christopher zu bedenken und zog eine Zigarette aus seinem Silberetui.
Jeevan fing Christophers Blick wieder ein. „Du hast mir auch gezeigt, dass ich mich aus der Vormundschaft befreien konnte. Sie wird es auch können.“
„Du warst dreizehn, sie ist weitaus jünger“, sagte Christopher leise.
„Das ist eine Grundsatzdiskussion, die wir an anderer Stelle weiter führen sollten“, unterbrach ihn Jeevan brüsk.
Christopher hob eine Braue. Jeevan war jünger als der Anglis und ihm seit zwei Jahren vorgesetzt. Er hasste es, wenn Christopher die Führung zu übernehmen begann; schlimmer: wenn er in der Öffentlichkeit auf Jeevans Vergangenheit zu sprechen kam. Jeevan fühlte sich selten sicher, wenn Christopher ihre Vergangenheit während des Sepoy-Aufstandes ansprach. Zu viele Ohren belauschten sehr private Themen. Möglicherweise – so fürchtete Jeevan - sollte diese Angst das Schicksal eines Spions sein.
„Hier, dein Billet“, wechselte Christopher das Thema. Er reichte Jeevan die graue Karte aus fester Pappe.
Jeevan nahm sie an sich und steckte sie, ohne darauf zu schauen in die Innentasche seiner Uniformjacke. Sein Blick glitt erneut über den Bahnsteig zu den Lokomotiven. Einige standen bereits unter Dampf. Sie warteten auf die letzten Fahrgäste, oder auf den Abschluss des Ladevorgangs. Ihr Zug wartete am anderen Ende der Abfahrtshalle. Im Gegensatz zu den großen Linien, die nach Bombay, Kalkutta oder Chennai fuhren, war dieser Zug klein und unscheinbar. Trotzdem wäre ihm jede andere Strecke lieber gewesen als die Fahrt nach Kanpur.
Mit gemischten Gefühlen löste er sich und schob sich durch die Menschenmassen, die die Bahnsteige und Gleise bevölkerten. Das Leben um ihn wog bis heute nicht die Tote auf, die er in jenen Tagen sah. Christopher folgte ihm schwerfällig. Jeevan spürte sein zögern und die Schwere, die sich in seinen Freund und Gefährten eingeschlichen hatte. Er wendete sich Christopher zu und wartete, bis der Anglis zu ihm aufgeschlossen hatte. Selten ging er so schleppend.
Behutsam legte Jeevan ihm die Hand auf den Unterarm und drückte sanft. Christopher schenkte ihm ein müdes Lächeln, was nicht in der Lage war, die hellblauen Augen zu erreichen. Dennoch schien er dankbar für die geringe Geste.
Langsam und schweigend schritten sie nebeneinander zu ihrem Zug. Bis zur Abfahrt blieb ihnen noch eine quälende Stunde Zeit. Für einen winzigen Moment spielte Jeevan mit dem Gedanken, Generalmajor Wymer zu informieren, dass sie den Auftrag nicht ausführen konnten. Allerdings fiel seine Wahl nicht zufällig auf Christopher und Jeevan. Ihre Kenntnis von Stadt und Umland waren relevant für die Ausführung des Auftrages. Jeevan rieb sich die Schläfen.
Schwache Schmerzen zogen sich bis zu seinen Augen. Er sah zu dem Zug hinüber. Die Lokomotive mit dem roten Heizkessel unterschied sich von nicht zu ihren Schwestern. Dennoch schien das Metall mit Blut bestrichen zu sein …
Schaudernd sah Jeevan fort.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte Christopher.
Jeevan nickte. Vermutlich glaubte Chris ihm keine Sekunde. Dennoch sprach er den Inder kein weiteres Mal darauf an.
Als sie den Zug bestigen, blieben nicht nur die Bettelkindern und der Lärm hinter ihnen zurück. Erstickend heiß empfing sie der Wagon. Die Wände atmeten sauerstofffreie Hitze aus. In der Luft lag der Geruch nach Leder, Holz und Metall. Alles schien zu schwitzen. Sogar der Lack löste sich an den Tür- und Fensterrahmen. Aditi knurrte unwillig.
Jeevan schloss die Tür des Abteils, die zu dem Bahnsteig wies, schob aber das Fenster herunter. Ein schwacher Lufthauch drang in den Wagon. Das Armoma von Früchten und Blumen mischte sich mit den Gerüchen des Zuges. Schweigend verstaute Jeevan seine Ausrüstung und legte die Uniformjacke ab. Sein Hemd klebte an seiner Haut. Die Hitze war selbst für ihn kaum mehr zu ertragen! Seufzend ließ er sich in die Polster sinken. Dicht vor seinen Füßen ließ sich Aditi zu Boden sinken. Ihre Haltung verriet, dass sie in Ruhe gelassen werden wollte. Christopher nahm Jeevan gegenüber Platz. Mit einem Taschentuch tupfte er sich die wenigen Schweißtropfen von der Stirn, bevor er die Beine übereinander schlug und sich zurück lehnte. Jeevan gelang es nicht, sich zu entspannen. Er senkte die Lider und beobachtete seinen Freund unter seinen dunklen Wimpern.
„Worüber denkst du nach?“, fragte Christopher leise.
Jeevan senkte den Blick. „Ich versuche weitestgehend an nichts zu denken“, erklärte er halblaut.
Verständnisvoll nickte Christopher. Offenbar wusste auch er nicht, was er sagen sollte.
Jeevan presste die Lippen aufeinander und schloss die Augen …
*

Hinter seinen Lidern sah er wieder die blutverschmierten Wände und Fenster des Bibighar. Der Geruch all der toten Frauen und Kinder drang in seine Nase. Auf den Fliesen lag ein zerhacktes Stück Fleisch, was möglicherweise zu einem Arm oder Bein gehörte. Knochenstücke klebten in halb geronnenem Blut fest. Zwischen zertrümmerten Tongefäßen lagen die dunkel getränkten Fetzen von Kleidern und Haarreste, an denen Teile der Kopfhaut hingen.
In Jeevans Kopf begann der Schmerz zu dröhnen. Ihm wurde schlecht. Mit zitternden Fingern strich er sich durch das lange Haar.
Plötzlich spürte er Christophers Hand auf seiner Schulter und das gleichmäßige Holpern des Zuges auf den Schienen.
Erschrocken fuhr er zusammen. Gleichzeitig riss er die Augen auf. Die Welt um ihn kippte mit einer Welle Übelkeit und stechenden Schmerzen in seinen Augen, die von unerträglicher Helligkeit in diffuses Grau einer nahen Ohnmacht drifteten. Während er sein Blut in den Ohren rauschen hörte, versuchte er sich mit aller Macht zu fangen, um nicht auch noch die Besinnung zu verlieren. Mit einiger Mühe gelang es ihm. Allerdings spürte er zugleich, wie alle Wärme aus seinem Körper wich. Kalter Schweiß überzog seine Haut. Knie und Hände bebten. Jeevan bezweifelte, dass er in irgendeiner Weise aufstehen konnte, ohne gleich den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Während die zähe Ohnmacht langsam wich, hörte er unter dem zischenden Lärm Chris’ sanfte Stimme, die in Englisch auf ihn einredete. Der Inhalt der Worte ging verloren, aber die Wärme und Liebe nahm er deutlich wahr.
Dennoch wollte er sich nicht die Blöße geben, Christophers Nähe zu nutzen. Er wusste nicht, ob die Scheiben zu Flur und Außentür verhängt wurden.
Der Anglis ging offenbar nicht davon aus. Seine Gegenwart allein half Jeevan. Langsam hob er die Lider und atmete gezwungen ruhig und flach.
Sein Blutdruck senkte sich wieder. Der heftige Schlag seines Herzens erschütterte ihn trotzdem.
Kühlere Luft wehte herein und trug Russpartikel der Lokomotive mit sich.
„Geht es wieder?“, fragte Chris leise.
Jeevan spürte, dass ihm die Kraft zum Sprechen fehlte. Langsam nickte er.
Der bittere Geschmack von Galle lag auf seiner Zunge.
„Du hast geträumt“, vermutete Chris.
Jeevan nickte erneut.
„Kanpur?“, fragte der Anglis.
„Ja“, hauchte Jeevan. Seine Stimme klang fremd und schwach in seinen Ohren. „Das Bibighar.“
Chris rechnete offensichtlich mit keiner anderen Antwort. Er nickte nur wissend.
In seine Augen trat ein mitleidiger Funke, den Jeevan hasste. Ärgerlich fuhr er sich mit beiden Händen durch das Gesicht. Seine Erschöpfung ließ nach. Die Luft half ihm, wieder zur Besinnung zu kommen.
„Bin ich dir zu nah …“, begann Christopher, verstummte aber. Rasch fuhr er herum und sah zu der Abteiltür.
Jeevan folgte Chris’ Blick. Ein schwacher Hauch von Gefahr lag in der Luft. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, dass Aditis Ohren zuckten und sie sich unauffällig umbettete. Die ‚Reaktion wirkte zufällig, brachte den Tiger aber in eine perfekte Angriffsposition, sollte jemand durch die Tür kommen.
Misstrauisch kniff Jeevan die Lider zusammen. Unauffällig tastete er über den Griff seines Revolvers.
Jenseits des Flures zogen die ausgedörrten Felder an den Fenstern vorüber. Der eintönige Anblick wirkte auf Jeevan ermüdend. Sand, Steppe, dürre Bäume und einige verstreute Höfe. Das Dorf war eines von vielen in Zentralindien, die nie auf einer Karte geführt wurden. Die Häuser waren Baracken, die Zäune versteinerte Äste, verbunden mit Seil oder Darm. Offenbar öffnete jemand ein Fenster, auf dem sich das sengende Sonnenlicht brach. Jeevan senkte die Lider und ließ seine Blicke schweifen. Das unterernährte Vieh sah nicht weniger erschöpft aus, als die staubigen, hageren Bauern, denen es gehörte. Dennoch störte ihn etwas an dem Anblick, auch wenn er es im ersten Moment nicht genau sagen konnte.
Sein Blick glitt zu den Fenstern auf der Flussseite. Der Ganges führte wenig Wasser. Die brackige Flüssigkeit wälzte Zäh durch ihr ausgefranstes Bett. Ein Tierkadaver lag am Ufer. Es sah nach einer Ziege aus. Raubtiere hatten sie bereits ausgeweidet. Das Gedärm lag in der Sonne, während ihr blutiger Kadaver Aasfresser anzog …
Jeevan richtete sich auf. Sein Blick haftete an dem toten Tier, das der Zug nur schwerfällig passierte.
Das Blut war rot, nicht schwarz, die Innereien sozusagen frisch, nicht verdörrt oder in Verwesung begriffen.
Von einem Moment zum anderen begriff er, was ihn irritierte! Diese Bauernbaracken hatten keine Fenster! Die Erfindung gab es lediglich in größeren und reicheren Städten!
Worauf brach sich das Licht sonst?! Eine schreckliche Ahnung erwachte in Jeevan, als er die Reflektion mit dem ausgeweideten Tier in Verbindung brachte!
Salvengeschütze rissen auf diese immense Entfernung vergleichbare Wunden. Fieberhaft arbeitete sein Gehirn die ihm bekannten Typen durch. Auf Anhieb fielen ihm die englische Ager, das amerikanische Vandenburgh-Salvengeschütz und die französische Mitraileuse ein. Ein Nock-Gewehr schloss er aus.
Gesetzt den Fall, seine Vermutungen trafen zu, dann konnte dies ein Hinterhalt auf den Zug sein. Zu einem nicht unerheblichen Teil stammten die Fahrgäste aus England oder zählten zu der britischen Armee.
Langsam erhob er sich. Aus der Bewegung ergriff Jeevan sein Gewehr und entsicherte es. Beinah automatisch suchte er Deckung neben der Schiebetür zum Gang.
„Was ist?“, fragte Christopher angespannt.
Aus dem Augenwinkel bemerkte Jeevan, wie die Hand seines Freundes unter der Uniformjacke nach seinem Revolver tastete.
„Möglicherweise eine Falle“, murmelte Jeevan. Sein Blick glitt über den Gang, in dem sich etliche Anglis, aber auch indische Händler drängten. Der Platz hier war sehr begrenzt. Wenn das wirklich der Lauf eines Salvengeschützes war, gab es für diese Männer und Frauen keinen Schutz.
Christopher bezog gegenüber Jeevan Position und spähte in die andere Richtung.
„Was hast du gesehen?“, fragte er leise.
„Eine Reflektion auf Metall und …“
Deutlich sichtbar brach sich Licht auf Stahl.
Jeevan zog die Schiebetür auf.
„Runter!“, schrie er und brachte die Waffe in Anschlag.
Ihm war vollkommen klar, dass die Enfield nicht die passende Reichweite besaß, um Schaden anzurichten.
Allerdings blieb ihm keine Möglichkeit, weiter darüber nachzudenken. Glas-, Holz- und Metallsplitter barsten aus den umliegenden Kabinen. Kugeln zerfetzten Holz und Metall, als wäre es Papier. Querschläger und Schrapnelle rasten in irrsinniger Geschwindigkeit durch die Luft.
Jeevan duckte sich unter die Sichtlinie des Fensters und wartete die erste Salve ab. Christopher zeigte sich weniger vorsichtig. Er reckte den Kopf kurz, um die Lage zu erfassen, bevor auch er rasch Deckung nahm.
Panik griff um sich. Hysterische Schreie mischten sich mit dem entfernten, gleichmäßigen Rattern des Gewehres.
Kugeln zerfetzten Stoff und bohrten sich tief in menschliches Fleisch. Einige Passagiere stemmten sich unter den Verwundeten oder Sterbenden hoch, um fortzulaufen. Ihre Kopflose Panik brachte ihnen lediglich den Tod. Menschen schrien vor Angst und Pein. Der Wagon glich einem Hexenkessel. In der Luft lag ein feiner roter Schleier, der sich mit dem Gestank nach Metall, Blut und Feuer vermischte.
„Unten bleiben!“, donnerte Jeevan und legte erneut an. Er gab eine kurze Salve ab. Passagiere duckten sich und verschränkten die Arme über dem Kopf, um Gesicht und Augen zu schützen.
Auch Christopher schoss. Allerdings erreichten ihre Kugeln nicht annähernd auch nur die Ausläufer des Dorfes.
„Das bringt so nichts!“, rief Christopher.
„Wir werden langsamer!“, schrie eine Frau, die aus dem Fenster des Flurs spähte. Sie zog sofort den Kopf wieder ein, als der Zug erneut unter Feuer geriet.
„Ich muss näher heran!“, sagte Christopher. Seine Stimme klang fest.
„Versprich mir, dass du vorsichtig bist!“, verlangte Jeevan.
Christopher lächelte und strich sich eine blonde Locke unter seine Mütze. Zugleich dehnte sich seine hellblaue Iris aus und nahm die vollständige Pupille ein. Mit der Veränderung schien sich sein Leib zu dehnen. Die helle Haut verlor nahezu alle Farbe. Gleichzeitig verlor sein Leib an Konsistenz. Wenig mehr als ein schwach erkennbarer Nebel, durchdrang er Jeevans Leib. Der Duft seines Haars und seiner Haut hafteten für einen Moment an Jeevan, bevor sich Christophers Präsenz verlor.
Tief in sich betete Jeevan, dass Christopher einen kühlen Kopf behalten und Damians Unbeherrschtheit keinen Schlupfwinkel bieten würde.
Aditi erhob sich vom Boden und spannte ihre Muskeln. Jeevan sah sie alarmiert an.
„Sag’ es“, bat sie. In ihrer tiefen, rauen Stimme brannte ein unwahrscheinliches Feuer. Er kannte den tief sitzenden Hass Aditis. „Gib mir deinen Auftrag!“, forderte sie ihn nachdrücklich auf.
Jeevan sah über ihr hinweg zu dem Gangesufer. Der Zug stand bereits fast. Seine Gedanken rasten. Wahrscheinlich warteten auch auf dieser Seite Rebellen, verborgen in der Flusssenke. Wer immer sie unter Feuer nahm, schoss sie wie Tontauben ab. In seiner Deckung schob er sich zu dem Zugfenster und spähte vorsichtig hinaus. Aditi beobachtete ihn.
Jeevan legte die Hand um den Türknauf und drehte ihn langsam. Aditi spannte sich erneut.
Der Zug rollte aus.
„Ich muss wissen, ob der Heizer und der Zugführer noch an Bord sind“, sagte er leise.
„Gemacht!“, entgegnete Aditi kehlig.

(c) Tanja Meurer, 2011