Nebelsang

 

In der Luft irisierte der Klang gläserner Glocken oder einer Windharfe, sank ab und schlich sich wieder lockend, leise, an ihr Ohr. Fast schien es, als kämen die Laute aus dem Nichts. Diana war sich sicher, dass die Nebel dort draußen nach ihr riefen. Es war derselbe Laut, den sie sich immer vorstellte, wenn sie die Morgensonne durch Nebelfelder glühen sah und ihre Phantasie daraus Melodien zauberte. An diesem Ort war es tatsächlich so. Sie glaubte, dass das Licht wirklich Geräusche verursachte, wenn es sich in den feinen Wassertröpfchen brach. Ihre Neugier zerrte sie förmlich aus der Sicherheit des Gasthofes und dem Schutz ihrer Mutter, ihres Onkels und ihrer Schwestern hinaus. Der Klang führte sie aus ihrem einsamen Zimmer, die Stufen hinab - wobei sie sorgsam darauf achtete, dass niemand sie bemerkte, der unten, in der Schenke saß - über den Hof und die kurze Dorfstraße, hinaus in die nebelverhangenen Wälder. Hier erst schien es ihr, als könne sie plötzlich freier atmen, trotz der geringen Sicht und der eigentlich unheimlichen Atmosphäre.

Sie verengte die Augen zu schmalen Schlitzen und starrte in die bleichen Schwaden zwischen den Bäumen, deren Stämme nichts weiter als fahl dunkle Silhouetten waren. Das schwindende Sonnenlicht besaß keine Kraft mehr, sich gegen die Nebel zur Wehr zu setzen.

Aber kam diese unwirkliche Stimmung nur aus dem letzten Aufbegehren des Sommers gegen den Winter?

Unter ihren Füßen spürte sie die Steine, die Wurzeln, das Geröll, und die Kälte, die der Boden bereits ausstrahlte, während die Luft immer noch etwas von ihrem süßen Duft nach Früchten und Heu mit sich trug.

Diana trat an den Stamm eines Baumes heran und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Ihr Blick verlor sich in den leicht flackernden Nebeln und folgte dem feinen Lockruf, der nicht aufhören wollte. Dieser Ort besaß für das verträumte Mädchen einen ganz besonderen Zauber. Er regte – mehr denn je – ihre Phantasie an, aber zugleich auch ihre tiefsten Ängste. Aber dürfte sich eine Dreizehnjährige noch vor irgendetwas fürchten? Ihre Zwillingsschwester Jacky hätte sie jetzt wieder damit aufgezogen. Aber sie liebte dieses Gefühl, etwas zu entdecken und zugleich eine Gänsehaut dabei zu bekommen, weil sie auf den Spuren von etwas Fremden war, das sie nur in ihren Träumen zu definieren wusste.

Fast ohne es zu bemerken, verglich sie den Ruf wieder mit dieser zauberhaften, dennoch morbiden Stimmung.

Sie sah zu Boden. Die roten, goldenen und braunen Blätter unter ihren Schuhen, der ganze, schmale Waldpfad, war verschunden unter einer dichten, undurchdringlichen Nebelschicht. Sie konnte nicht einmal mehr ihre Füße sehen.

Ein leichter Schauer rann über ihren Rücken.

In den Duft des Herbstes hatte sich ein weiterer, frischer, dennoch leicht stechender Hauch gemischt. Der laue Wind trugen ihn zu ihr und umwehte sie damit. Obgleich sie die schwachen Nuancen als Modergeruch schimmelnder Blüten einordnen konnte, mochte sie ihn gerne. Vielleicht gab es hier doch noch ein Haus, inmitten der Wälder und sie nahm einen Garten dort wahr!

Diana, Jacky und Anjouli hatten noch lange nicht alle Wege und Landstriche dieses vergessenen walisischen Ortes entdeckt, seit sie vor einer halben Woche hier angekommen waren.

Vielleicht fand sie ja etwas besonderes, etwas, dass sie erzählen konnte, ohne es erfinden zu müssen! Sie wollte endlich mal ihre Zwillingsschwester übertrumpfen können und ihr beweisen, dass sie mutig war, auf eigene Faust Dinge erforschen und entdecken konnte, ohne ihre Hilfe zu brauchen!

Diana lächelte entschlossen. Vielleicht würde sie damit sogar ihren Onkel Luca beeindrucken können!

Still löste sie sich von dem Stamm und folgte dem Geruch ein Stück weit über den Weg.

Die Nebel tanzten fast wie in Kristallen gefangenes Sonnenlicht vor ihr her, nahmen manchmal Formen an, die wie Kugeln aussahen, dann auseinander stoben und sich wieder zu koboldhaften, verwachsenen Geschöpfen zusammenzogen und ein Stück des Weges vor ihr herwehten, nur um sich dann wieder zu verändern und zu anderen Geschöpfen zu werden, feenhafter, zierlich und schön.

Der Geruch nach Blumen und Moder änderte sich jedes Mal um einige Nuancen mit der Verwandlung des Nebels zu einem neuen Wesen.

Dann federte eine der Gestalten hinauf, durch die bereits stark entlaubten Äste und riss Blätter herab.

Diana faszinierte der Anblick so sehr, wie er sie erschreckte. Waren diese Wesen wirklich?

Sie konnte es sich kaum vorstellen, aber dennoch war es wohl so, denn das Laub regnete auf sie herab und versank auf Höhe ihrer Knie in einem milchig weißen, aus sich heraus glühenden Nebelsee. Farne und Büsche hoben ihre Kronen noch aus der gleichmäßigen Fläche, aber Diana konnte den unteren Teil ihrer Beine gar nicht mehr sehen, ja nicht einmal sagen, über welchen Grund ihre Füße bislang gegangen waren, denn selbst diesen Laut schien der dichte Bodennebel zu verschlucken. Es fühlte sich auch nicht mehr nach trockenen Blätter und Geröll an, sondern eher weich, fast etwas schwammig, wie Moos auf modrigen Ästen. Sie fuhr zusammen. Nun überfiel die Angst sie doch! Nie hätte sie allein so weit durch einen - ihr fremden - Wald gehen dürfen!

War es denn eine große Entfernung bis zum Gasthof, in dem ihre Familie wartete? Sie sah sich vorsichtig um. Der Nebel stieg weiter an, verschlang die Stämme der Bäume, alle Büsche und Farne. Anders als zuvor schien ihr nun die Atmosphäre schwer und erstickend! Sie spürte die eisige Faust der Angst, die ihr schwaches Herz zu zerdrücken versuchte. Dann hörte sie einen anderen Laut aus dem feinen Glockenton heraus, das Brechen von Ästen, das Rauschen des Herbstlaubes und einen dumpfen Laut, das Auftreffen eines schweren, dennoch weichen Körpers auf dem schwammigen Untergrund. Sie spürte sogar wie der Boden unter ihren Füßen durch das Gewicht leicht erbebte.

Das war der Moment, an dem Dianas Verstand von glühender Panik überschwemmt wurde und das Kind losstürmte.

Sie wusste nicht wohin sie lief, konnte es sich auch nicht mehr aussuchen, denn das, was gerade herabgefallen war, musste sich hinter ihr befinden! Sie hörte seine schweren Schritte, das Beben in dem weichen, federnden Boden und das schwere, kurzatmige Keuchen, aber auch einen anderen Laut, der ihr zusätzliche Kraft verlieh, schneller zu werden, ungeachtet der Flechten, die nach ihren Füßen griffen und sie aufzuhalten versuchten, der Äste, die sich nach ihrem Haar herabneigten und danach griffen und der Wurzeln, die sich um ihre Beine schlangen! Es klang als zerrissen Stoffe und Fleisch, brächen Knochen unter gewaltiger Kraftanstrengung. Sie entwickelte eine ungeheure Stärke, die weit über alles hinaus reichte, was Jacky je zustande brachte. Einmal glaubte sie, sogar mitten in einen Baum hineinzurennen, der plötzlich aus den Nebeln auftauchte, aber sie stieß ihre Hände instinktiv nach vorne und der Stamm zersplitterte in glimmende Späne.

Nichts schien sie noch aufhalten zu können! Für einen Moment spürte Diana ein unglaubliches Gefühl von Glück und Stärke, Macht und einem Hauch von Wissen, dass sie mehr als ein einfaches Menschenmädchen war, aber dieses Gefühl versank sehr schnell in kläglicher Angst und brennender Panik, als sie bemerkte, dass das, was sie wohl eben alles getan hatte, seinen Tribut zollte. Von einem Herzschlag zum nächsten, fühlte sie sich müde, erschöpft und spürte nun wie sehr ihre Lungen schmerzten und pfiffen. Sie hatte den Eindruck brennende Luft zu atmen und spürte den gewaltigen Druck in ihrem Brustkorb. Ihr Herz hämmerte mit weitaus mehr Gewalt, als es gut für sie war. Sie spürte, dass sie sich überanstrengt hatte und nun unweigerlich ein Zusammenbruch folgen musste. Den Schmerzen in ihrer Brust nach zu urteilen, war es sogar wahrscheinlicher, dass sie schlicht sterben würde. Aber war das Ding hinter ihr, nicht auch ihr sicherer Tod?! Sie besaß nicht mehr die Kraft, darüber zu lachen, aber mit dieser Erkenntnis begann ihr Verstand wieder klar genug zu arbeiten. Was sollte sie tun? Es gab kein Entkommen mehr!

Schwächer und langsamer, unkontrollierter, taumelte sie voran und strauchelte immer wieder, fing sich aber ab. Hinter ihr hörte sie noch immer das Wesen, was rücksichtslos durch Büsche und Äste brach. Aber scheinbar war seine Größe ein Hindernis für ihn, überlegte sie und tauchte unter einem niedrig hängenden Ast hindurch. Vielleicht war das ihre – wenn auch geringe – Chance, ihm doch noch zu entrinnen! Für einen winzigen Moment hatte sie tatsächlich erwogen, sich vielleicht irgendwo zu verbergen. Sie sah nicht wohin sie lief, er auch nicht. Aber im Gegensatz zu Diana schien er sie zu wittern, fast wie ein Werwolf!

Der Gedanke gefror zu einer Falle, in die sie sich selbst hineinbegeben würde, um nie wieder hinaus zu kommen.

Wenn sie ihren Gegner doch nur kennen würde! Ein greller Schmerz in ihrer Brust ließ sie taumeln. Sie fühlte, wie ihr Herz aussetzte und sich erstickende Finsternis um sie zusammenzog. Doch ihr Wille war stark genug, sich am Leben festzuklammern. Sie wollte nicht sterben! Mit aller Kraft drängte den Schwächeanfall zurück. Innerlich wusste sie, dass sie ihre Grenzen bereits erreicht, wenn nicht sogar überschritten hatte. Aber das half ihr nun auch nicht weiter. Sie musste laufen, rennen, wollte sie je ihre Mutter und ihre Schwestern wieder sehen; oder ihren Onkel Luca, der Mann, für den sie schwärmte.

Hinter ihr brach dieses Wesen durch das Geäst und riss die dichten Nebel auseinander. Diana fuhr entsetzt herum. Sie musste sehen, wer ihr Gegner war! Wenigstens das sollte ihr vergönnt sein! Mit diesem Wissen würde sie besser und klüger handeln können; wenn das Ding ihr die Chance dazu ließ!

Als sie sich herumdrehte, trat ihr Fuß ins Leere. Sie spürte, wie ihre Schuhspitze an Geröll und Wurzeln abglitt und sie das Gleichgewicht verlor. Mit wild rudernden Armen kämpfte sie gegen den Sturz, wobei die Welt um sie herum erneut in Nebeln versank. Seltsamerweise empfand sie keine Angst, als sie stürzte, selbst nicht einmal, als ihre Nägel über morsches Holz kratzten und abbrachen. Der Schmerz und die eisige Luft an den blutigen Fingerkuppen, nahm sie kaum wahr. Aus den Nebelmeeren, die über ihr zusammenschlugen, reckte sich plötzlich ein Arm, um sie aufzufangen, dann noch einer und immer mehr; schließlich Hunderte. Sie fiel durch Hände, die sie streiften, ihre Kleider griffen, um sie zu halten, ihre Haut streichelten oder zerkratzten. Aber nichts und niemand schien in der Lage zu sein, ihren Fall aufzuhalten!

Diana machte sich gar keine Illusionen mehr darüber, dass sie an einem Ort jenseits der Wirklichkeit, vermutlich jenseits des Lebens sein musste. Irgendwo lag sicher ihr Körper, entweder tot - und sie war auf dem Weg in die Hölle - oder sie hatte das Bewusstsein verloren und zugleich den schrecklichsten Alptraum ihres Lebens.

In der Situation war sie hilflos…

Stumm, aber mit fast wissenschaftlichem Interesse verfolgte sie ihren schier endlosen Sturz hinab. Die Hände, die sich ihr entgegen streckten waren die von Kindern, klein und puppig, oder knochig dünn. Aber ihr wurde bewusst, dass die Meisten spitzenbesetzte, fingerlose Handschuhe in schmutzigem Weiß trugen und pastellene Ärmel zu umrüschten Handgelenken verliefen. Einmal sah sie sogar Tierpfoten in Kleidern.

Doch dem Gedankengang konnte sich nicht mehr folgen, denn plötzlich schlug sie mit dem Rücken und dem Kopf auf.

Ihr Bewusstsein versank in einem rotgoldenen Licht, dem ein samten schwarzer Nachhimmel nachdrängte und wirbelnden Blättern, die sich auf ihren geschundenen Leib nieder legten. Das letzte, was Diana noch mitbekam, bevor die Ohnmacht sich um ihren Geist legte, war die klare, kühle Herbstluft und das schönste Mädchengesicht, was sie je gesehen hatte.



Der beißende Geruch reinen Ammoniaks weckte sie sehr rasch wieder, aber auch eine Unmasse rauer Spitzen, die kalt und feucht über ihrem Gesicht lagen.

Keuchend richtete sie sich auf und riss das feuchte Taschentuch von Stirn und Nase weg.

Ihr Gegenüber zuckte erschrocken zusammen. Es war das selbe Gesicht, dass sie als Letztes wahrgenommen hatte, bevor sich die Ohnmacht um ihren Geist gelegt hatte.

Diana fuhr sich über die Augen. Das Mädchen ihr gegenüber musste im gleichen Alter sein, vielleicht ein Jahr älter oder jünger. Rote Zöpfe lagen über ihren Schultern und gelocktes Pony fiel in ihre klaren, grünen Augen. Sie hatte fast elfenhaft fein geschnittene Gesichtszüge und eine Haut, deren Farbe an Porzellan erinnerte. Was Diana allerdings irritierte, waren Kleid und Schnürstiefel, die sie jederzeit eher in einem Modekatalog des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts erwartet hätte. Das Mädchen sah sie still an, die blassen Lippen zu einem scheuen Lächeln geöffnet.

Sie deutete nun auf Diana. „Geht es dir gut?“, fragte sie leise. Ihre Stimme klang wie der Laut einer Glasharfe, das Klingen der Wassertropfen im Nebel.

Für einen winzigen Moment glaubte Diana, dass Locken, den Ruf, zu vernehmen, der sie hier her geleitet hatte. Mit einem Lidschlag verscheuchte sie den Gedanken und schob ihn an den Rand ihres Bewusstseins.

„Geht es dir gut?“, wiederholte das Mädchen ihre Frage.

Diana schauderte erneut, mahnte sich dann aber zur Vorsicht und überlegte kurz. Sie lauschte in sich nach, ob sie Schmerzen hatte, ihr Herz weh tat, ihre Lungen noch brannten, ihre Knie- und Fußgelenke sich wieder entspannt hatten, oder ihr Rücken schmerzte. Aber bis auf den starken Ammoniak-Gestank, der sich in ihre Nase geätzt hatte, fiel ihr nichts Außergewöhnliches auf. Ihr ging es richtig gut. Sie lächelte. „Ja, danke.“

Ihr Gegenüber erwiderte nun das Lächeln genauso optimistisch und fröhlich.

„Das ist gut“, entgegnete das Mädchen.

Diana streckte sich im Sitzen. Tatsächlich war es ihr seit Jahren nicht besser gegangen, und das völlig ohne Medikamente und die endlosen Kuren, die ewigen Reisen und das unstete Hin- und Hersiedeln ihrer Mutter, damit Dianas Herz nicht überlastet würde.

Eigentlich, darin war sich Diana fast sicher, hätten sie gar nicht so oft an andere Orte umziehen müssen. Das Mädchen wusste nicht einmal wo sie und Jacky geboren worden waren. Aber jedes Mal, wenn sie entsprechende Fragen stellte, schlug ihre Mutter zu, statt eine Antwort zu geben. Jacky hatte es sich zum Hobby gemacht, ihre Mutter so zur Weißglut zu treiben. Sie reizte absichtlich den labilen Frieden, bis er kippte. Nur wenn Onkel Luca da war, benamen sich die Schwestern und nur dann war es ruhig und erträglich zu Hause; wo immer dieses „ZUHAUSE“ dann gerade war. Er half meistens bei den Umzügen, tat das, was Mutter nicht im Stande war, zu erledigen. Er packte mit den Mädchen, kümmerte sich um die kleine Anjouli, die eher im Weg war, mit ihren drei Jahren, fuhr den Umzugswagen und trug mit den Mädchen die Kartons in das neue Haus. Aber all das war so weit fort.

Irgendwo, an einem fernen Ort, jenseits dieses Mädchens, waren ihre Mutter und ihre Schwestern in dem Gasthof, in der Obhut ihres Onkels. War es überhaupt ein Ort? Gab es sie denn noch?

„Diana, du stellst die falschen Thesen auf“, sagte das Mädchen ruhig.

Erschrocken hob Diana den Kopf und sah sie an. „Habe ich ausgesprochen, was ich gedacht habe?“, fragte sie leise.

Das Mädchen schüttelte sachte den Kopf, sodass sich ihre Zöpfe kaum auf der rüschenüberfrachteten Bluse bewegten.

„Nein, aber ich will dir gleich die Karten offen auf den Tisch legen“, begann sie ernst. Dabei stand sie auf und streckte Diana ihre blasse schmale Hand entgegen.

„Ich habe dich nicht gerettet sondern gerufen.“

Das junge Mädchen zögerte kurz, bevor sie die Finger ergriff und sich auf die Füße ziehen ließ. Diana war überrascht, wie viel Kraft in dem zarten Körper ihres Gegenübers ruhte, zumal sie für ihr Alter sehr groß war und das rothaarige Mädchen fast um einen Kopf überragte.

„Was meinst du damit?“, fragte Diana, obgleich sie die Antwort kannte.

„Das weißt du“, entgegnete das Mädchen, wobei ein feines Lächeln um ihre Lippen spielte.

„Die Stimme im Nebel, das warst du, oder?“, fragte sie dennoch, wobei sie sich mit der Hand durch ihre langen braunen Locken strich und mit angeekeltem Blick ein paar feine Äste und trockenes Laub heraus fischte.

„Ja. Ich bin Celina.“

Scheinbar erwartete sie eine Reaktion von Diana, ein Erkennen oder etwas anderes, aber das junge Mädchen wusste nicht, wer Celina war, und warum sie nun reagieren sollte.

„Hallo“, lächelte Diana nun und drückte herzlich die schmale Hand Celinas.

Überrascht - im positivsten Sinne - erwiderte Celina die Geste.

„Du weißt wirklich nichts, oder?“, versicherte sie sich noch einmal.

Diana zuckte mit den Schultern.

Die feinen Porzellanlippen Celinas zuckten kurz und ihr klarer Blick verschleierte sich. Es schien Diana fast, als verlöre sich der Blick des Mädchens an ihrer Gestalt, als überlege sie etwas sehr wichtiges.

Dann folgte sie ihren Augen und sah sie an sich herab. Ihre Hosen waren zerrissen und staubig, die Turnschuhe machten den Eindruck, als wäre sie durch Glassplitter gerannt und ihr gestreifter Rolli reichte nicht mehr zum Schuhe putzen.

Verlegen hob sie den Blick zu ihrer rothaarigen Freundin und fühlte sich schäbig und schlecht.

Celinas Augen hatte sich wieder geklärt. Sie lächelte, dieses Mal herzlich und freundlich.

„Ich glaube ich zeige dir zuerst mein Reich, meine Welt, der Ort an dem ich die Herrin bin, und erkläre dir dann, warum ich dich zu mir rief.“

Diana konnte kaum verhindern, dass Celina ihre Vorfreude bemerkte.

Das, was geschah, waren reale Träume für Diana. Ihre Phantasie hatte sich manifestiert.

Allerdings verwirrte sie etwas an Celina; etwas an diesen grünen Augen. Die Tiefe vielleicht, die Tatsache, dass es nicht die Augen und der Blick eines Kindes war, oder die Ähnlichkeiten zu Lucas Augen?

Zumindest war der Blick dieser Smaragdaugen zugleich das Fenster in eine andere Welt. Zu gerne würde sie Celina lauschen und ihr folgen. Im Moment gab es nichts, was ihr wichtiger erschien, als ihrer Freundin nahe zu sein. Dieses Mädchen, obgleich Diana sie nicht kannte, stand ihr aus unerfindlichen Gründen näher als Jacky, die sonst eine so enge Verbindung zu ihr hegte.

Umso genauer folgten ihre Blicke auch der zarten Hand, die eine ausgreifende Bewegung machte und dem Raum, dem Nichts, in dem sie sich wohl bis eben befunden haben mussten, ein eigenes Gesicht verlieh.

Vermutlich waren dort die ganze Zeit Himmel und Erde, aber Diana hatte sie nicht bemerkt. Über ihr funkelten in unsäglicher Weite Millionen von Sternen, die sich wie gleißende Lichter in absoluter Finsternis verloren. Ein fahler, voller Mond stand weit entfernt und fast unwirklich für Dianas Bewusstsein inmitten der Sterne. Sein Licht gereichte nur dazu, die Silhouetten der kahlen Herbstbäume abzuheben. Es waren schwarze Skelettfinger, die sich in die Nacht erhoben, fast wie betende, flehende Menschen, die in der Zeitlosigkeit erstarrt und von der Welt vergessen worden waren. Sie sahen nach knienden Erwachsenen aus, die ihre betenden Hände gen Gott hoben, aber nie erhört wurden, während die gefallenen Blätter zu den Füßen der Mädchen, verloren Träumen waren, braun und mürbe geworden, vergessen und für immer verloren.

Diana sah Celina an und fröstelte. Sie konnte ihre Finger nicht aus der Hand ihrer Freundin lösen. Das blasse Mädchen hielt sie mit eiserner Kraft fest.

Für einen winzigen Moment erschütterte Diana der Gedankengang, dem sie bis eben gefolgt war. Aber als Celina zu ihrer Bestätigung nickte, wurde sie ruhig. Warum, begriff sie nicht, denn das wäre normal der Moment, in dem ihre Ängste wieder hätten erwachen müssen. Aber fast schien es, als würde die Berührung Celinas alle Ängste ersticken können. Es war der Blick dieser uralten Augen, in denen sich Äonen wiederspiegelten, Ängste, Schmerzen, Wahnsinn, Wissen. Diana schien es, als würde sich in dem Grün der Nachthimmel in all seiner fremden Unendlichkeit wiederspiegeln. Zum ersten Mal erfuhr Diana eine Weite und Freiheit, die ihr bislang nicht bewusst war. Die Welt, so wie sie sie kannte, war ein Ort voller Grenzen. Das Ausmaß dessen unterschied sich zwar, aber irgendwo endete alles. Nur der Blick dieser Augen und die Aussicht auf die Unendlichkeit, gaben ihr Sicherheit und Vertauen, denn sie spürte, dass es ihrer eigenen Natur ähnlicher war, als alles was sie bislang kennen lernen konnte.

Celina drückte sanft ihre Hand.

„Ich bin das Chaos in der Ordnung, der Traum und der Alptraum, die Unsicherheit des Geistes und die Wirrung des Lebens. Ich bin das Kind, das unberechenbar ist.“

Sie machte eine weitere Handbewegung nach vorne und Diana folgte ihr.

Bunte Lichter erhellten die Nacht, flackernde Kerzen hinter farbigem Glas und hinter feinen, transparenten Stoffen. Das Lachen von Kindern lag in der Luft, der Duft von gebrannten Mandeln und Zimtäpfeln. Die Musik einer Dampforgel und das metallene Rasseln von Ketten erscholl, bevor sich vor Diana das Bild einer Kirmes kristallisierte, wie Nebel waberte und schließlich an Gestalt gewann. Der bislang freie Platz, die unendliche Ebene, war plötzlich ein bunter, wimmelnder Jahrmarkt, aus dessen Mitte sich weit über alle Baumwipfel ein Riesenrad erhob, ganz aus Holz, beleuchtet mit geisterhaft flackernden, kleinen Laternchen, die an den Gondeln pendelten und die Streben säumten. Bunte Zeltbahnen, bemalte Wagen, große Kettenkarusselle und Schiffsschaukeln ließen Dianas Blick kaum ruhen. Inmitten all dieser Attraktionen, die ihr nur von uralten Fotographien des neunzehnten Jahrhunderts bekannt waren, stand sie neben Celina, umströmt von kindlich unkoordiniertem Leben. Kleine Wesen, wuselten um sie herum, Menschen, genauso wie aufrecht gehende Tiere, Füchse, die Kniehosen, lange Wollsocken und kleine Wamse trugen, oder Kätzchen, die weiße Seidenkleidchen, Strohhütchen und seidene Bänder um die Taille hatten. Auch fand Diana Elfen, Zwergenkinder, Trolle, Gnome und blumenhafte Geschöpfe. Einige etwas rüpelhaftere Jungen führten die Fahrgeschäfte, blafften manchmal die Kinder an, wenn sie sich beim Ein- oder Aussteigen nicht eilten und setzten die schwerfälligen Mechaniken in Gang.

Diana begegnete Celinas Blick. Das rothaarige Mädchen hielt nun die Augen ihrer Freundin fest.

„Das ist mein Reich“, sagte sie ruhig.

„Hier ist es schön“, flüsterte Diana. Sie spürte, wie ihr Stück um Stück die Erinnerungen an ihre Schwestern entglitten. Sie fühlte nur noch die Hände ihrer Mutter, die zeitweise brennende Spuren auf ihren Wangen hinterließen.

Diana seufzte leise und schob den Gedanken von sich. Ihre Blicke glitten dabei über Celina.

Die Mimik des Mädchens war noch immer genauso ernst, wie zuvor.

„Bei dir ist es wichtig, dass du deine Erinnerungen behältst, Diana. Du musst immer daran denken, dass sie es war, die dich mir wegnehmen wollte.“ In Celinas Stimme schwang ein leiser, hysterischer Unterton mit. „Du warst von Anfang an mir versprochen …“

Diana sah hoch. „Wovon redest Du?“

„Von deiner Mutter, die dich mir immer vorenthalten hat.“

Diana hob die Brauen, ergriff aber mit der freien Hand die andere Hand Celinas. Sie wusste nicht, ob sie wirklich wissen wollte, warum das Mädchen unbedingt sie wollte, aber es war richtig, dass sie nun hier war, an diesem Ort. Celina brauchte sie und Diana hatte gar keinen Wunsch mehr, nach Hause zurückzukehren.

Die Musik der Dampforgel ging ihr zu sehr durch die Glieder, bewegte sie dazu, mit ihrer liebsten Freundin durch diese Welt der Kinder zu tanzen. Ihr Kopf legte sich in den Nacken und sie ließ sich von den Lauten tragen, bewegte sich im Kreis mit Celina. Das Universum drehte sich um sie, die kalte Nachluft wirbelte die bunten Zeltfarben auf und die Blätter, die Träume der Eltern und der Kinder.

Schwach hörte sie die Stimme Celinas, die sie begeleitete, die ihr Kraft gab, den Schritt zu wagen, ihr alle Kräfte zu schenken und immer bei ihr zu bleiben. Sie befand sich in einem Taumel vollkommenen Glücks. In ihr erwachte helles Lachen. Sie gestattete sich dieser Freude freien Lauf zu lassen. Alles war plötzlich so unendlich und frei!

Celinas Gelächter mischte sich in das ihres. Darin war etwas unendlich Dunkles, verletzend Einsames, Trauriges, ein Hauch des Wahnsinns, aber auch kindliche Reinheit. Diana zog sie im Tanz eng an sich und drückte sie zärtlich. Dann blieb sie stehen, von einer Sekunde zu anderen, unvermittelt, denn unter all den Kindern stand ein Mann, ein Erwachsner. Er hatte gewaltige schwarze Flügel und schwarzes Haar. Seine grünen Augen waren die selben, die auch Celina hatte, nur fand sich darin viel mehr Ruhe und Gelassenheit. Seine Hosen waren nicht weniger zerrissen als die Dianas, sein Hemd Fetzen, die an seinem Leib herab hingen, dennoch tat all das seiner majestätischen Gestalt keinen Abbruch.

„Luca!“, rief Diana. 

Sie wunderte sich nicht wirklich, dass Celina ebenfalls seinen Namen genannt hatte, im gleichen Augenblick sogar. Nur hatte die Stimme ihrer Freundin einen ganz anderen Klang, nicht überrascht, sondern viel mehr wütend.

Die Musik und der Jahrmarkt gefroren mitten in der Bewegung zu vollkommener Reglosigkeit. Diana spürte, dass dies der Moment zwischen den Zeiten war, die vollkommene Zeitlosigkeit, Anfang und Ende zugleich.

„Celina, gib mir meine Nichte wieder“, bat der schwarze Engel schlicht. Er hob seine Hand und hielt sie Diana entgegen.

Das bleiche Mädchen senkte nur traurig die Lieder. „Nimm mir nicht, was mir versprochen wurde, Bruder.“

Diana sah fragend zu Celina herab.

„Bruder?“, fragte sie. Ihre Stimme klang hohl.

Celina hob nun den Kopf. Ihre Gestalt veränderte sich geringfügig. Sie streckte sich etwas in ihrem pastellenen Kleid, das rote Haar verfärbte sich nachtschwarz und gewaltige Schwingen brachen aus ihrem Rücken, in denen alle Farben des Regenbogens zu einem wirren, chaotischen Wirbel verschmolzen und zu etwas Neuem, Bizarrem geboren wurden, fremd, und mit menschlichem Verstand nicht mehr zu erfassen.

„Ich habe vor Jahrhunderten deiner Mutter die Fähigkeit gegeben, aus dem Chaos Magie zu weben, einem Menschen die Macht verliehen zu tun, was den Menschen verboten ist. Dafür versprach sie mir das erste Leben aus ihrem Leib. Du bist dieses Kind, was im Zeichen meines Reiches geboren wurde. Seither flieht sie vor mir. Nun aber bist du von selbst zu mir gekommen, Diana. Du bist mehr als all deine Schwestern ein Teil meiner Seele, denn in dir lebt die gleiche naive Macht, das Chaos zu beherrschen und es neu zu formen, um ihm dann seinen Willen zu lassen und neue Gestalt zu finden.“

Verwirrt sah Diana Celina in die Augen. Der Blick machte sie wahnsinnig. Sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Hilfesuchend wendete sie sich zu Luca, ihrem Onkel, der wohlweißlich so wenig menschlich war wie Celina und sie selbst.

„Warst du der, der mir durch die Nebel folgte?“, fragte sie, während sie ihre Augen über seine zerrissene Kleidung gleiten ließ.

Er nickte und hielt ihr weiterhin seine Hand entgegen.

„Dein Platz ist an der Seite deiner Schwestern und bei mir“, sagte er leise.

Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie wollte nicht wieder zurück. Hier war ihr Platz, bei Celina, ihrer Freundin.

„Was sind wir, Onkel Luca?“, fragte Diana heiser. Tränen erstickten ihre Stimme.

„Seraphin, schwarze Engel, Dämonen, Götter, was immer du willst, aber kein Teil dieser Welt.“, erklärte er ruhig. Die Tatsache, dass er so kühl und gefasst war, machte es Diana schwer, ihm in gewohnter Weise zu vertrauen. Dennoch löste sie ihre Hände von Celinas und machte einen Schritt auf ihn zu.

„Sie hat dich verlassen, aus Angst!“, rief Celina kalt. „Deine Mutter ist fort. Frage Luca. Er ist euer Schutzgeist gewesen und er hat versagt. Nun ist sie fort, hat dich und alle anderen allein gelassen, aus Angst, dass ich mich an ihr räche, sie töte!“

Diana sah sie entsetzt an, dann Luca, der unmerklich nickte.

Ihr Herz raste plötzlich wieder schmerzhaft. Es kam ihr vor, als bohrten sich eiserne Haken in ihre Seele und verankerten sie hier, an diesem Ort.

Sie setzte noch einen Fuß in seine Richtung und keuchte plötzlich vor Schmerz. Weißglühend rann ihr Blut durch ihre Adern und versengte alles in ihr, während sie in die Knie sank. Celina blieb reglos, das spürte sie. Einzig Luca bewegte sich. Der kalte Lufthauch, als er neben ihr auf die Knie ging, um sie aufzufangen, berührte sie, und es schien ihr wie tausend Messerklingen. Ihr geliebter Onkel war nicht mehr Teil ihres Lebens. Er stellte etwas dar, was gegen Celinas und ihre Überzeugung sprach. Das Ruhige, Hoffnungsvolle in ihm war es, was sie abstieß. Mit einem irren Schrei fuhr sie zurück. Es wunderte sie gar nicht, dass sie von Regenbogenfedern umgeben war, die ihren Leib wärmten, genauso wenig verwirrte es sie, dass sie ein Kleid wie Celinas trug und das in den milden, nebelverhangenen, traurigen Farben des Herbstes schimmerte. Sie gehörte nicht zu den Menschen, nicht zu ihrer Mutter und ihren Schwestern. Ihr Weg war Celinas Weg. Sie war ein Teil des Chaos, in dem sie sich befand. Luca und ihre Mutter waren wie die skelettierten Bäume, die um die Kinder und ihre eigenen verlorenen Träume weinten. Ruhig erhob sie sich und sah zu ihrem Onkel.

„Kehre zurück zu meinen Schwestern und meiner Mutter“, sagte sie, und ihre Stimme klang dumpf, drohend und fremd in ihren eigenen Ohren. „Beschütze sie vor mir, das scheint ja deine Aufgabe zu sein. Bewahre sie gut, denn mein Weg ist dieser hier! Wenn wir uns wieder sehen, sind wir Gegner!“

Macht durchflutete sie. Sie wusste, dass Luca sie nicht gegen ihren Willen mit sich nehmen konnte.

Aufrecht und stolz ging sie zurück zu Celina. Ihre Schritte fühlten sich leichtfüßig und frei an. Stumm lehnte sie ihre Stirn gegen die ihrer Freundin, Tante, was immer Celina wirklich war.

Hier war ihr Zuhause, das wusste sie nun. Sie schloss die Augen und lauschte auf ihre Herzschläge, ihre und Celinas.

Still harrte sie aus, bis die Schritte Lucas verklungen und die laute Umgebung des Jahrmarktes sie wieder umfangen hatte. Das war keine Nacht für Schutzgötter, nicht in der Welt des Chaos, nicht in der Welt der Kinder, und schon gar nicht in der Samhain-Nacht.

 

(c) Tanja Meurer, 2009