Psyonics

Irgendwann schlief sie doch ein, denn die rothaarige Frau, die sie im Auftrage ihres Onkels geholt hatte, rüttelte sie aus traumlosem Dunst wach.
„Sind wir da?“ fragte Nanami und blinzelte. Von draußen fiel gelbliches Neonlicht herein. Zu gelb, um angenehm zu sein.
Ein Lächeln huschte über die vollen, dunklen Lippen der Dame. „Nein, Kleines,“ entgegnete sie. „Der Fahrer muß tanken. Ich wollte dich nur fragen, ob du hungrig bist, oder durstig?“
Weder das eine, noch das andere, dachte Nanami. Ihr gefiel nicht einmal der Gedanke, aussteigen zu müssen. Dort draußen war es kalt und naß und widerwärtig... Dennoch nickte sie aus irgendeinem wirren Impuls heraus.
Kodaiichi Minako nickte.
Diese dunklen, großen Augen waren Nanami so wohl vertraut, ebenso das freundliche, nichtssagende Lächeln, die schmalen, gepflegten Hände und der schwere Goldring, in den ein langer, ovaler Stein aus roter Jade gefaßt war. Kodaiichi-san war zwar der Rechtsbeistand von Nanamis Onkel, aber auch seine Rechte Hand, seine Vertraute... vielleicht mehr. Nanami wußte es nicht. So lang sie sich erinnern konnte, war immer Kodaiichi da gewesen. Die disziplinierte, elegante Mittvierzigerin sah noch immer genauso aus, wie vor zehn, zwölf oder fünfzehn Jahren. Manchmal glaubte Nanami, Kodaiichi altere nicht. Aber nun, wo sie Nanami so nah war, sich halb über sie neigte, bemerkte das Mädchen, daß die Zeit ihre Spuren in dem ruhigen, attraktiven Gesicht hinterlassen hatte.
„Dann komm, mein Schatz,“ sagte sie sanft.

„Offengestanden nein... „ Kim grinste. „Ganz schön dreist von dir!“
Luca wiegte den Kopf und betrachtete seinen eingebundenen Arm. Ihm ging es noch immer schlecht.
„Laß mich raten, du hast den Jungen nicht gefunden, richtig?“
Kim setzte sich in einen Sessel und legte seine Füße auf den Tisch, neben das Tablett mit der Kaffee- Kanne und den benutzten Tassen. Von seiner Fröhlichkeit war nichts mehr übrig. Er sah besorgt aus, wagte es nicht mal, Luca in die Augen zu blicken...
„Eigentlich hatte ich mir immer gedacht, daß meine Psy- Begabung dazu reicht jemanden ausfindig zu machen... Aber der Junge will nicht gefunden werden.“ Zaghaft hob der den Kopf und strich sich seine schwarzen Locken aus der hohen Stirn. „Ich mache mir Sorgen um ihn. Er wird keinen Platz haben, wo er die Nacht erbringen kann... Die Stadt ist ihm fremd. Es regnet, es ist kalt und dieses Viertel in dem du lebst, ist es nicht gerade sicher.“
„Ich weiß, was du meinst.“ Luca schloß die Augen. „Ich mache mir auch Sorgen um ihn. Er ist fremd hier und verängstigt. Er hat Angst und weiß nicht, wem er vertrauen kann, und wem nicht. Das kann ganz schön schief gehen...“ Er hob die Lider und rieb sich die Schläfen. „Ich versuche es auf meine Weise. Vielleicht kann er Geisteskräfte blocken, aber Magie? Vielleicht kann ich ihn mit ein wenig Zauberei aufspüren.“
Kim nahm die Füße vom Tisch und stützte die Ellenbogen auf die Knie. „Wie sicher ist das? Ich meine, jemanden mit deiner Magie zu finden?“
Erschöpft erhob sich Luca und hob die Brauen. Verdammt, dachte Kim, wie konnte sich Luca überhaupt noch auf den Beinen halten? Er sah so blaß und angegriffen aus, so unendlich ausgelaugt.
„Ich bin nicht sicher, ob ich die Konzentration aufbringen kann, aber ich werde es wenigstens versuchen.“
Lächelnd trat er um den Tisch herum und stützte sich mit seinem unverletzten Arm auf die Lehne des Sessels, in dem Kim saß. Der Vampir sah auf und nickte.
„Komm mit mir, Kim.“

Nanami lehnte mit dem Rücken an einer weiß gekachelten Wand, in Kopfhöhe abgesetzt mit einer geschmacklosen grau golden blauen Zierborte, gegenüber der Waschbecken in der Damentoilette und starrte ihr Spiegelbild an. Das unangenehme Neonlicht brannte in ihren Augen und weckte unangenehm stechende Kopfscherzen hinter ihrer Stirn. Das Medikament, daß ihr Kodaiichi injiziert hatte, wirkte nicht mehr. Nanami erinnerte sich gut daran, daß sie vor einem Jahr noch mindestens vierundzwanzig Stunden benommen oder sogar halb betäubt gewesen wäre. Aber heute... Kodaiichi hatte Nanami weniger injiziert als sonst und sie hatte dem Mädchen zugeblinzelt, ein so selten warmes und liebevolles Lächeln auf den Lippen.
Warum? Fragte sich das Mädchen. Warum, wenn sie nicht bezweckte, Nanami auf etwas hinweisen wollte.
Was erwartete Nanami in diesem kalten, scheußlichen Land?
Hinter der grauen, halb verglasten Türe, neben der sie an der Wand lehnte, hörte sie die Spülung von erst einer, dann zwei weiteren Toiletten. Das Mädchen verharrte reglos an ihrem Platz. Sie brauchte einige Sekunden zum Nachdenken, einige Sekunden ihre wirren Gedanken zu ordnen. Wenn sie in die moderne, billige Gaststätte zurückging, zu Kodaiichi, würde sie nicht mehr die Chance bekommen, die sie jetzt hatte. Sie ahnte, daß Kodaiichi oder der Chauffeur oder sonst jemand in der Begleitung der Anwältin, dem Mädchen etwas in den Tee oder den Kaffee, Nanami wußte nicht, was Kodaiichi ihr bestellt hatte, gemischt hatte. Wenn es Kodaiichi war, konnte es nicht schlimm sein. Aber was, wenn nicht mehr die Anwältin die Befehlsgewalt hatte, sondern einer der anderen Männer?
Die Türe zu den Toiletten wurde geöffnet und zwei Mädchen, die nicht viel älter als Nanami waren, kamen heraus, um sich vor die Spiegel zu stellen und ihre Haare zu kämmen, den Lippenstift frisch aufzutragen und leise über das blasse, japanische Mädchen an der Wand zu tuscheln.
Eine von ihnen, eine pummelige Rotblonde mit einem fast künstlich niedlichen Gesicht, blinzelte und sah über die Schulter, während sie ihren nicht mehr ganz modernen Rollkragenpulli zurecht zupfte und die rotbraunen Kordhosen mit den nach unten hin weiter werdenden Beinen glattstrich. Sie hatte ebenso glattes, dickes Haar wie Nanami, trug es aber in einem ausgedehnten dunkelblau samtenen Haartuff, der wohl einst gekraust war. Ihr Haar reichte, vermutete Nanami, bis zu den Hüften.
Plötzlich lächelte das Mädchen.
Die Türe neben Nanami schwang wieder auf und eine Frau um die vierzig oder fünfzig Jahre trat hinaus, sah kurz in den Spiegel, wich dem Blick der Mädchen aus und zog ein seltsam konservativ wirkendes Portemonnaie aus einer abgesteppten, schwarzbraunen Handtasche.
Sie hatte ihr Haar wohl nachblondiert oder aufgehellt, in engen, kleinen Dauerwellen, die am Kopf anlagen. Ihr Gesicht sah Nanami im Spiegel. Ein verbrauchtes, kleines, schmallippiges Gesicht, kleine, hübsche Augen, mit vielen Lachfalten aber auch tiefen, schweren Tränensäcken. Die Nase war das einzig scharfe und definierte, wenn auch kurz und klein, wie alles an ihr. Auch sie zog ihren dünnen Strickpulli zurecht und verließ dann die Damentoilette.
„Was ist los?“ fragte das Mädchen mit den Rotblonden Haaren.
Ihre etwas größere, schlankere Freundin drehte sich nun auch um. Sie war wirklich hübsch, aber so Oberflächlich.
Nanami sah beide einige Sekunden lang Wortlos an. Erst als die kleinere zu ihr hinüber ging und ihr die Hand auf die Schulter legte, senkte Nanami den Blick. „Nichts,“ antwortete sie in leicht eingefärbtem Deutsch. „Entschuldige, ich wollte euch nicht anstarren.“
Die Rotblonde schüttelte den Kopf. Ihr Parfum war billig und zu süß, dachte Nanami.
„Ist schon gut,“ antwortete sie. „Du siehst so blaß aus, irgendwie Krank. Geht es dir nicht gut?“
Nanami sah sie verwirrt an. „Krank?“ Ihre Worte, ihre Frage richtete sie an selbst. Sie stellte sich die Frage tatsächlich...
„Ja,“ antwortete sie leise. „Kann sein.“ Sie blickte auf, an dem Mädchen vorbei, in den Spiegel und sah wieder ihr eigenes Gesicht. Aber irgendwie klarer, schärfer. „Aber wenn,“ sagte sie leise zu den beiden Mädchen. „Bin ich es schon sehr lang.“
Die Blonde verzog die Lippen.
„Was ist das denn für eine Antwort?“
Ihre etwas kleinere Freundin winkte ab. „Laß sie doch!“
Nanami lächelte. „Vielleicht verstehst du es nicht, aber du hast mir geholfen.“
Ihre Hand berührte die Schulter des Mädchens. „Danke.“

Das flackernde Licht der Sirenen von Polizei und Krankenwagen verzerrten die Schatten und zerrissen die silbrigen Regenschleier immer wieder aufs neue. Die junge Frau zog die Kapuze über den Kopf und drehte sich um, weg von den Menschen in der Passage, den Jugendlichen. Die Skins waren getürmt, nachdem sie die Polizei kommen hörten und hatten den Bus in der Mitte der Straße stehen lassen. Sie vermutete, daß wenigstens der Große, dem sie ihre Faust durch die Visage gezogen hatte, ihr auflauern würde. Ein wenig kroch die Angst in ihr hoch, aber zugleich fühlte sie sich sicher in dem Schutz der Nacht und der behütenden schwärze ihrer Kleidung. Dennoch spürte sie, wie sie ihren Autoschlüssel fester griff, zwischen ihren Finger hindurch schob, und die Hand zur Faust ballte. Sie war bereit, sofort zuzuschlagen und ihrem Gegner wirklichen Schaden zuzufügen. Aber sie war ohnehin der Inbegriff all dessen, was die meisten normalen Menschen mieden. Jemand, der blaß war, sich seltsam in mittelalterliche Kostüme aus Seide oder Spitze und Samt kleidete, in Sachen, die die meisten nur erschreckte oder wunderte. Zudem trug sie verschiedene Symbole. Ein Isisauge, ein Ankh, ein Pentagramm... Kreuze vermied sie zwar, aber sie war ein Freak und fühlte sich wohl in ihrer Außenseiter- Position. Lächelnd legte sie den Kopf zurück und sah in den wolkenverhangenen Nachthimmel. Insgeheim war sie sehr froh, daß sie ihren Wagen in der Welritzstraße geparkt hatte. Bei dem Wetter wollte sie nicht unbedingt weit laufen. Ihr Mantelsaum war schon jetzt feucht und das schwarz samtene Schnürkleid im Renaissance- Stil, was sie darunter trug, wurde auch nicht besser davon. Das einzig negative war der Stau, der sich hinter dem Bus gebildet hatte. Für einen Moment überlegte sie sich, ob sie rückwärts aus der Einbahnstraße hinaus fahren sollte, schüttelte dann aber diese dumme Idee wieder ab. Sie hatte dafür schlechte Chancen, selbst jetzt, mitten in der Nacht. Noch war der Sedan Platz zu dicht befahren. Schließlich war das hier eine der Bundesstraßen, die durch die Wiesbadener Innenstadt führten. Nachdenklich sah sie sich um, und überlegte, wie sie am besten die Zeit rum bringen sollte, bis ein Abschleppwagen kam und den Bus aus der Straße zog.
Es war aber auch eine extrem dämliche Idee sich als Glatze nach „Klein- Ankara“ zu wagen. Wären die Jungs nicht so friedlich gewesen, sondern selbst gewalttätig, dann könnten die Kerle jetzt ihre Knochen einsammeln. Gewöhnlich kamen dann nämlich auch Schußwaffen zum Einsatz. Und eine Hand voll infantiler Skins hatte wenig Chancen gegen einen ganzen Straßenzug von rachsüchtigen Türken und Marokkanern...
Aus den Augenwinkeln bemerkte sie eine knappe Bewegung in einer Torfahrt und wirbelte herum. Für eine Sekunde glaubte sie, eine Schimmernde Glatze zu sehen... aber es war keiner der Skins. Der kleine, rothaarige Japaner drückte sich weiter in die Schatten des Treppenaufgangs, der halb in dem Torbau verborgen lag.
Sie sah sich kurz um, daß niemand sie beobachtete und tauchte selbst in die Schatten des Gebäudes.
Ryo lehnte an der Wand, gegenüber der Türklingeln, blaß, müde und zitternd.
„Du siehst ganz schön fertig aus,“ sagte sie leise und blieb stehen. „Was für einen Müll hast du dir denn gespritzt?!“
Ryo schüttelte den Kopf, konnte sich aber nicht mehr ausdrücken. Ihm war kalt, schwindelig und schlecht. Er hatte furchtbaren Hunger und Durst. Außerdem zitterten seine Knie und taten weh, wie wenn er Fieber hatte.
Unsicher machte er einen Schritt, immer noch gegen die Wand gelehnt, stolperte und wäre fast die Treppen hinab gestürzt.
Sein Geist vernebelte sich immer weiter und das nächste, was ihm bewußt wurde, war der Geruch von Weihrauch und Parfum. Er spürte rauhen Spitzenstoff und Samt und Arme, die sich um seine Taille schlangen. „Kann ich dich irgendwo absetzen?“ fragte die rauhe Stimme der jungen Frau, dicht neben seinem Ohr.
„Ich komme aus Japan,“ murmelte Ryo benommen.
„Klasse. Liegt leider nicht auf meinem Heimweg,“ entgegnete sie. „Stütz dich auf mich.“
Unbewußt befolgte Ryo ihre Worte.
„Du hast also keine Möglichkeit irgendwo unterzukommen?“
Er deutete ein Kopfschütteln an.
„Du hast Fieber, Kleiner,“ sagte sie leise. „Nicht daß du denkst, ich mache das immer...“
Kleiner? Hatte sie ihn eben Kleiner genannt? War sie nicht erheblich kleiner als er? Oh, was für ein irrer Gedanke! Er konnte sich kaum auf seine Schritte konzentrieren, dachte aber über so was nach?!
„... ich nehme sonst keine Jungs mit Heim, aber wenn ich dich nicht gerade bei einer Klinik abliefern soll, und ich denke, das wäre sicher nicht in deinem sinne, bleibt mir kaum eine andere Wahl.“
Ryo wollte sich über ihre Schlußfolgerung wundern, verwirrt sein, protestieren, aber schließlich mußte er einsehen, daß sie recht hatte, und, wenn es schon solche netten Samariter gab, die einem fraglos halfen, dann wäre es sicher dumm diese Hilfe abzulehnen. Und außerdem mußte er ihr ja nicht vertrauen. Schließlich konnte ja auch sie von der Organisation sein... Aber eine Klinik wäre definitiv schlecht, denn er hatte keinen Paß, und kein Geld. Schlimmer. Wenn sie versuchen wollten seine Verwandten zu kontaktieren... Nein! Dann war er tot... und Nanami auch.
Sie blickte sich nach links und rechts um, bevor sie ein paar Meter weiter mit Ryo vor einem roten Ford Fiesta stehen. Ihren Schlüssel hatte sie die ganze Zeit in der Faust gehalten und schloß nun die Türe auf der Beifahrerseite auf. Ryo stützte sich an der Karosse ab und wartete, bis sie ihm die Türe öffnete. Mit einem leisen Seufzen ließ er sich in den Sitz fallen.
Sie schloß die Türe hinter ihm und umrundete den Wagen, während sie zweifelnd nach vorne sah, dort hin, wo sich alles staute und weder der Krankenwagen noch die Polizei durchkamen.
Nachdenklich drehte sie ich um und begutachtete die dreißig, vierzig Meter, die sie im Rückwärtsgang zurücklegen mußte, wenn sie bald hier raus wollte.
„Okay... wozu bin ich über drei Jahre lang Fahrer gewesen?“
Geschickt steuerte sie den Wagen aus der Parklücke und fuhr zwei, drei Meter in die Einbahnstraße hinein, bevor sie recht unsanft den Rückwärtsgang einlegte und mit der Rechten Hand die Rückenlehne des Beifahrersitzes zu ergreifen. Sie blickte über die Schulter und trat das Gaspedal durch. Ryo erschrak über das Tempo, mit dem sie den Wagen zurücksetzte... Sicher zwar, aber definitiv zu schnell!
„Eben, in der Passage, sahst du noch ganz gesund aus. Durchgeweicht, aber gesund.“
Sie bremste den Wagen ein wenig ab, kurz bevor sie den Blinker nach rechts setzte und sich behutsam auf die Bundesstraße hinaus tastete.
„Hoffentlich haben mich jetzt nicht die Bullen gesehn. Würde sich nicht so gut machen, sich jetzt noch einige Stunden mit den grünen rum zu streiten. Dafür bin ich zu müde.“
Die Polizei, selbst wenn sie ihr Manöver bemerkten, ließen sie zufrieden. Und scheinbar hatte sie es auch nicht anders erwartet. Aber so entspannte sie ein wenig die Stimmung und enthob ihn eines Kommentars auf ihre Feststellungen.
Eigentlich, dachte Ryo, war sie sehr nett, rauh, offen, cool... und ziemlich hübsch, auch wenn sie sicher viel älter war als er... aber ja, sie gefiel ihm... und er hatte das Gefühl ihr vertrauen zu können. Mit diesem sicheren Gedanken schloß er die Augen und legte den Kopf zurück. Innerhalb von Sekunden schlief er fest.

Cloe saß in einem Gemeinschaftsraum, in einer Art Kinderheim... Kinderheim? Sie war sich nicht sicher, warum das hier so verdammt unverfänglich aussah, nach der Guerilla- Methode, mit der man sie aus ihrem Wohnheim holte. Eigentlich hatte es, dachte sie, wenn sie sich die winzigen Kameras ansah, die unter der Decke, recht gut verborgen hinter Gardinen, dem Fernseher und ähnlichen Haushaltsgegenständen angebracht waren, eher etwas von einem Jugend- Knast. Sie mochte das Haus nicht, zumal sie hier kommentarlos hingebracht worden war und nicht die Chance bekam, überhaupt irgend etwas zu irgendwem hätte sagen können. Ihr wurde nicht einmal verboten, zu reden. Sie bekam viel eher keine Möglichkeit, mit jemandem zu reden. Wenn sie jemanden sah, ging der ihr aus dem Weg, oder verschwand sofort in irgendeinem Zimmer. Klar, man hatte nicht ihr verboten andere anzusprechen, sondern den anderen verboten, mit ihr zu reden. Streng verboten, anscheinend. Das Essen nahm sie sogar mit anderen ein, in einem großen Saal... Aber hier gab es niemand, der auf sie reagierte, oder auf ihre Fragen antwortete. Dabei schien sie sogar eher zu den Älteren hier zu gehören.
Sie sah sich wieder nervös in diesem Raum um. Irgendwie war alles hier abstoßend kalt. Grauer PVC, weiß verputzte Wände, häßliche Stühle mit beigen Kunstledersitzen und –Rückenlehnen, die in Vierergruppen um hochbeinige, einfache, Lack versiegelte Tische standen. Über jedem Tisch hatte man karierte oder geblümte Kunststoffdecken gelegt und in kleinen, schmutzigen, verstaubten Vasen standen nicht weniger verstaubte, zerrupfte Kunststoffblumen.
Drei Stufen führten hinauf, zu einem Podest und damit zu einer Türe, die ebenso unbeeindruckend aussah, wie eigentlich alles hier. Sie war aus schmutzig weißen Kunststoff und hatte rote Plastik- Griffe. Auf einem dunkelbraunen Metallgestell, daß an einem Ziehharmonika- Arm in der Wand befestigt war, hatte man einen viel zu kleinen Fernseher angeschraubt, und auf einem uralten Kommodenschränkchen aus dunkelbraunem Holzstand ein nicht nennenswert weniger alter Videorecorder, ein Top- Lader... Genaugenommen ein Beta-Max- Gerät. Vor den Türen des Schrankes hing eine Kette mit Vorhängeschloß. Vermutlich, dachte Cloe spöttisch, hielten sie dort einen wahren „Schatz“ an alten Video- Filmen versteckt, den ihre Zöglinge nur bei besonders gutem Betragen vorgeführt bekamen.
Hier gab es drei doppelflügelige Fenster, die allerdings nicht nur verriegelt sondern auch vergittert waren und zudem schienen sich nur Lüftungsschlitze öffnen, wie Cloe bereits gesehen hatte. In einem Zeitschriftenständer standen verschiedene Magazine, mit denen sie nicht viel anfangen konnte. Es waren Deutschsprachige Magazine...
Sie war wohl auch in Deutschland, wie sie annahm. Als sie hier her gebracht wurde, saß sie im Inneren eines Kleinbusses, auf der Rückbank und das hinter geschwärzten Scheiben.
Aber das änderte nicht viel daran, daß sie Autos mit deutschen Kennzeichen sah, als sie hier, in der Auffahrt aus dem Bus ausstieg, Kleinbusse und Lkws mit deutschen Werbeaufdrucken von Tiefkühlfirmen, Molkereien und Obstgroßhandlungen. Außerdem sprachen viele hier fast ausschließlich deutsch.
Was zum Henker tat sie hier?! Und, bei der Gelegenheit, was sollte das alles überhaupt?
Besonders diese elende Überwachung!...
Die Türe öffnete sich und ein Junge, vielleicht siebzehn, oder achtzehn Jahre alt trat ein. Er hatte kurzes, rotblondes Haar und ein blasses, Sommersprossiges Gesicht. Auf dem langen, schlanken Nasenrücken trug er ein dünnes Brillengestell. Eigentlich, dachte Cloe, war er verdammt süß. Sein Gesicht war so zart und ebenmäßig, und die Augen so strahlend grün und offen und klar. Auch war er sehr schlank und groß.
Dennoch starrte Cloe ihn wütend an, weil auch er sicher kein Wort mit ihr reden wollte...
In diesem Punkt zumindest irrte sich.
„Hi, du bist Cloe, richtig?“
Das Mädchen blinzelte verwirrt und nickte. Zum einen sprach er französisch, zum anderen war er der Erste, der sie ansprach.
„Thomas ist mein Name.“ Er schloß die Türe hinter sich und setzte sich ihr gegenüber auf den Stuhl. „Ich bin da, wenn du fragen hast.“
Sie holte verärgert Luft um ihn unter einer Masse von Vorwürfen und Beschimpfungen zu begraben, aber er hob die Hand und lächelte dabei auf eine Art und weise, daß ihr die Knie weich wurden.
„Bevor du anfängst, laß mich dir erst mal alles hier zeigen und erklären, okay?“
Sie sah ihn einige Sekunden nur still an. Dann senkte sie den Blick. „War es notwendig, daß meine Freunde sterben mußten?“
Thomas sah sie kein bißchen überrascht an. „Ich glaube nicht, daß das hätte sein müssen. Sie haben wohl wieder welche von ihren perversen, unkontrollierbaren Bestien geschickt.“ In seine Augen schlich sich ein Hauch von Mitgefühl, als er Cloes große Augen sah, vorwurfsvoll, traurig, Augen, in denen die Tränen standen.
„Einige von uns sind Monster geworden, seit wir wissen, was wir mit unseren Fähigkeiten bewirken können. Einige sind halb wahnsinnig von der Macht, die sie in ihren Händen halten. Aber wir sind nicht alle so. Das hier ist eine Ausbildungsstätte für Talentierte, solche wie dich und mich. Aber keiner weiß, wie die, in denen ihre volle Kraft erwacht ist, wirklich darauf reagieren, da keiner von uns wirklich noch die Relation zu den normalen Menschen hat.“
„Was seid ihr?! Professor Xaviers Mutanten?“ fragte sie. Dabei bekamen ihre Worte einen unfreiwillig ernsten, bösen Beigeschmack.
„Nicht ganz,“ sagte Thomas. „Aber irgendwie stimmt der Vergleich zu den X- Men schon. Wir sind hier in einer Schule für Psy- Begabte.“
„Und welchen Zweck hat es, das Talent auszubilden,“ fragte sie und kam sich zugleich unsäglich dumm bei der Frage vor, zumal sie schon reichlich einschlägiger Filme und Comics gesehen und gelesen hatte.
„Wir wissen es nicht, nicht bis zu unserem ersten Einsatz. Aber dann werden wir auch nie wieder hier her zurückkehren... zumal hier nur wenige von uns sind. Der größte Teil der Kinder sind normale Menschen...“ Thomas verstummte und senkte den Blick, wobei er über den Rand seiner Brille zu den Kammeras hinauf schielte. Dann stand er auf und nahm sie bei der Hand.
Während er sie mit sich zog und die Stufen hinauf stürmte, stolperte er... Als sie ihm nah kam, um ihm aufzuhelfen, flüsterte er: „Sie machen aus uns unkontrollierbare Bestien... und dann schicken sie uns fort... in eine andere Welt, in eine andere Zeit. Dort sind wir wahrhaft unbezwingbar... Ich helfe dir, wenn du fliehen willst...“ Er sah ihr in die Augen. „Willst du zu einem Monster werden?“.

Nanami hatte in dem kleinen, rundlichen, deutschen Mädchen eine freundliche Hilfe gefunden, die ihr bereitwillig ein paar Wetterfestere und moderne Kleider gab, mit denen sie nicht so furchtbar auffiel. Außerdem bot ihr das Mädchen, daß sich ihr als Manuela vorstellte, an, mit ihr und ihrer Freundin Natascha und ihren Freunden weiter zu fahren. Manuela schien zu spüren, daß Nanami vor etwas Angst hatte und floh. Und sie fühlte wohl Nanamis Angst.
Aber ihre Freundin, Natascha, machte den Eindruck, eher Nanami hier lassen zu wollen. Manuela aber überzeugte Natascha nach einer kleinen Diskussion und dem Hinweis, daß es ihr Freund war, der den Wagenschlüssel hatte.
„Ich habe große Probleme,“ sagte Nanami leise und schlang die Arme um den Körper, wobei sie zu Boden Blickte. „Es kann sein, daß ich euch allen große Probleme bringen werde.“
Manuela schubste Natascha zur Seite und trat zu Nanami, packte sie an den Schultern und schüttele sie. „Hör mal,“ sagte sie. „Wir haben alle Probleme, aber wenn jemand Hilfe braucht, ist es doch scheiß egal, was die Konsequenz ist, wenn man dann hilft!“
Nanami sah ihr in die Augen und erkannte unter den Massen Make Up offene, klare, ernste Augen. Natascha fuhr herum und stürzte kommentarlos, wütend, aus dem Waschraum.
Ein wenig konsterniert verdrehte Manuela die Augen. „Natascha ist ne hohle Tussi. Die hat außer Klamotten und Musik nur noch Typen im Kopf. Scher dich nicht drum, was sie sagt. Der Wagen gehört meinem Freund und wenn der dich so verängstigt sieht, wird der dir auch gleich helfen wollen.“ Sie lachte leise. „Hey, wenn es Natascha und ihrem Typen nicht paßt können sie ja gerne hier bleiben und per Daumentaxi weiter fahren.“
„Aber...“
„Mir ist es egal, was du gemacht hast. Schlimm kann es ja nicht sein, denn du bist nicht der Typ, der echt wilde Sachen macht. Du hast sicher noch nicht mal Alkohol getrunken, geschweige denn Drogen genommen oder Sex gehabt.“ Wieder lächelte sie. „Du bist eher die Sorte Mädchen, die sehr lieb und brav und sanft sind, die Sorte, die man einfach nur beschützen will...“
Nanami schluchzte plötzlich und umarmte Manuela.
Das Mädchen umarmte sie ihrerseits und hielt sie einfach nur fest. „Bei mir bist du sicher.“

„Red‘ keinen Unsinn!“ knurrte Cloe. Aber trotz des eben gehörten, gleichgültig wie irrsinnig es klang, weckte auch ihre alten Ängste, aber verstärkte auch ihre Wut, ihr Mißtrauen.
Thomas neigte sich leicht zu ihr. „Still!“ wisperte er. „Noch habe ich ihr vertrauen!“
Er wendete sich von ihr ab und schloß die Türe des Aufenthaltsraumes hinter sich.
Scheinbar, dachte Cloe, als sie sah, daß er einen Schlüssel zu dem Raum aus der Tasche zog und abschloß, hatte er wirklich hier etwas zu sagen, wenn ihm die Heimleitung den Schlüssel anvertraute.
Entweder trug sie ihre Gedanken zu weit vor sich her, oder er laß tatsächlich ihre Gedanken.
Lächelnd sah er sie an und berührte sie an der Hand, damit sie ihm folgte. „Ich bin achtzehn,“ sagte er. „Ich bin zwar hier aufgewachsen, aber eigentlich müßte ich hier nicht mehr leben. Ich bin nicht nur hier, um meine Psy- Kräfte auszubilden, sondern lerne auch bei der Heimleitung.“
Cloe sah ihn fragend an. „Wie, du lernst bei der Heimleitung...?“
„Naja,“ Thomas zuckte die Schultern, während er neben ihr den Gang hinab schlenderte. „Was ich sagte. Ich lerne hier auch. Ich möchte irgendwann einmal hier in dem Heim arbeiten, nicht nur als Betreuer, sondern in der Heimleitung.“
Er sah zu den allgegenwärtigen Kameras unter der Decke hoch. Cloe folgte fast automatisch seinem Blick. „Ich verstehe.“ Dann sah sie sich kurz um. „Das Ding hier ist seltsam,“ murmelte sie. „Offiziell ein Kinderheim, zugleich eine Schule für Psyoniker...“ Sie schüttelte den Kopf. „Das kapiere ich nicht. Vor allem, was wollen die von mir? Ich bin nur ein einfacher Telekinet. Ich habe keine besonderen Fähigkeiten... Aber dafür haben sie meine Ziehfamilie getötet.“
„Was glaubst du, wie viele von diesen Kindern zu Weisen werden?!“ fragte Thomas ungerührt.
Cloe erschrak vor dem Gedanken, den er gerade bestätigte.
„Hör mal, Cloe, wir sollten lieber nicht so offen davon sprechen. Hier haben die Wände Ohren, Und in meiner Position ist es schwer.“
Cloe sah ihn kurz an und nickte, während sie sich die langen, offenen Haare aus den Augen strich und sie mit einer Kopfbewegung nach hinten warf. Sie konnte regelrecht Thomas‘ Blick auf sich spüren. Sie sah verstohlen aus den Augenwinkeln zu ihm und spürte selbst dieses seltsame Kribbeln überall in ihrem Körper, als krabbelten Tausende Ameisen unter ihrer Haut. Er betrachtete ziemlich offen ihre Gestalt, ließ seine Blicke ganz offen über ihren Körper streichen...
Es war ein schönes Gefühl. Sie spürte, daß er Gefallen an ihr fand, vom ersten Moment an, und auch sie mochte ihn... und seine Sorge um sie...
Aus den Augenwinkeln bemerkte sie eine Bewegung und erschrak, ohne einen wirklichen Grund zu haben... Scheinbar waren ihre Nerven wirklich zu überspannt... und ihr Herz tat zu weh. Daran konnte auch ein hübscher Junge nichts ändern...
Am Ende des Ganges, kurz vor einem weiteren Podest, der drei Stufen weit höher lag, als der Flur und zu dem eigentlichen Treppenhaus führte, stand ein kleines Mädchen...
Sie konnte höchstens sechs Jahre alt sein. Ein schmales, zartes Geschöpf, fein und blaß, fast wie eine Porzelanpuppe. Ihre langen, glatten Haare wirkten fast schon weiß, so hell blond waren sie... etwas, daß den Effekt des Ätherischen unterstrich. Ihre riesigen, traurigen, Augen schienen das einzige Dunkle an ihr zu sein. Zwei dunkelblau schimmernde, endlose Seen...
Wortlos wendete sie sich um und stieg die Treppe hinauf.
Cloe war stehen geblieben und sah dem Mädchen nach.
„Wer ist sie?“ fragte Cloe nach einigen Sekunden.
„Marianna heißt sie.“ Er überlegte einen Moment. „Sie ist schon sehr lang hier. Fast ihr ganzes Leben lang. Sie wurde hier als Neugeborene abgegeben. Da war ich elf, zwölf Jahre alt. Wir sind beide hier aufgewachsen.“
„Also kann es sein, daß eure Eltern noch leben?“ fragte Cloe vorsichtig. Sie hatte den Eindruck, daß, wenn sie dieses Thema überstrapazierte, ihm weh tat, oder ewige Fragen aufwirbelte, alte Wunden aufriß...
„Kann sein,“ antwortete er ausweichend. „Sie sind mir egal.“
Cloe nickte. „Ich bin die einzige meiner Familie, die noch lebt,“ sagte sie leise. „Meine Mutter starb bei einem schweren Verkehrsunfall, vor meiner Geburt. Man holte mich aus dem toten Leib von ihr... das war über einen Monat bevor ich hätte geboren werden sollen. Als mein Vater von dem Unfall erfuhr, dachte er, wir seien beide Tot. Er nahm sich am gleichen Tag das Leben. Meine Großeltern adoptierten mich und ich lebte die ersten vier Jahre bei ihnen, auf ihrem Bauernhof in Süd- Frankreich. Dann, bei einem schweren Unwetter, schlug der Blitz in unsere Scheune ein. Meine Großeltern und meine Tante versuchten alles, um das Feuer zu Löschen und das Haupthaus vor einem Übergriff zu schützen. Mein Großvater wurde von herabstürzenden Balken eingeklemmt und verbrannte. Ich hatte damals schon meine Fähigkeiten, aber ich konnte ihn nicht frei bekommen und schon gar nicht mit mir ins Freie. Meine Großmutter konnte zusammen mit meiner Tante den Hof nicht mehr aufbauen und bewirtschaften, zumal alles hoch verschuldet war, und so zogen sie mit mir nach Nime. Im folgenden Winter starb sie an einer schweren Lungenentzündung und meine Tante, die mit mir ganz in den Norden zog, nach Paris. Dort arbeitete sie in einer Chemiefabrik, bekam Krebs und starb ebenfalls... als ich neun war.“
Sie hatte sehr schnell gesprochen und stur zu Boden geblickt. Nach einer Weile spürte sie Thomas Hand auf ihrer Schulter.
„Alles um mich stirbt,“ sagte sie leise und schob die Ärmel ihres Strickpullis hoch. Thomas sah Dutzende feiner, langer Narben. „Leider gilt das nur für den Rest der Welt. Ich pack es einfach nicht, egal was ich anstelle.“
Sie grinste überzogen. „Glaub mir, ich kenne verdammt viele Psychologen mit dem Vornahmen. Seit dem ersten Selbstmordversuch schleppen mich alle immer zu verschiedenen Psychos... Frag nicht... Aber einige sind echt coole Typen.“
„Deine Vorgeschichte ist echt hart...“
„Hört sich an wie in einem schlechten Film, wie?“
Er schüttelte den Kopf, aber sie spürte, daß er ihr eher aus Mitleid und Faszination glauben wollte, als es wirklich tat... dabei stimmte es ja wirklich. Sie hatte nur eine Sache nicht erwähnt... Die, daß sie nicht das einzige Kind ihrer Eltern war, und die andere, ihre Zwillingsschwester auch noch lebte, irgendwo...
Aber sie wußte, daß wenigstens sie noch lebte. Wäre ihre Schwester auch tot, hätte sie es schon lange gespürt. Immerhin waren sie neun Jahre ununterbrochen zusammen gewesen und unzertrennlich, als habe sich eine Seele entschieden, zwei Körper zu bewohnen. Aber da ihre Schwester die selbe starke Befähigung hatte, nur nicht in Form von Telekinese, sondern Teleportation, würde sie den Teufel tun, und Delphine auch nur mit einem Wort erwähnen.
Auch nicht gegenüber des süßesten Jungen, der ihr seit langem begegnet war.

Minuten lang saß Luca reglos auf dem Fußboden, die Augen geschlossen, die Füße untergeschlagen. Sein linker Arm hing in einer Schlinge. Noch immer konnte er ihn nicht wieder richtig bewegen, was ihn ein wenig irritierte. Normal regenerierte sich sein Körper sehr einfach und schnell wieder. Aber derzeit geschah nichts. Im Gegenteil. Sein Arm schmerzte extrem stark. Dennoch gab er sich alle Mühe jeden Gedanken von seinem körperlichen Dasein fern zu halten und seinen Geist zu sammeln, zu konzentrieren und auf die Suche nach diesem Jungen zu schicken. Er versuchte sich wieder in Erinnerung zu rufen, wie er aussah, wie er roch, welche Gefühle der Junge in ihm auslöste, seine Körperwärme... seine Augen...
Rasend schnell brach er aus dem Gefängnis seines Körpers aus, verließ die Mauern, schoß hinauf in die Nacht... Die Stadt fiel unter ihm weg und wurde winzig, ein Meer aus kleinen, blinkenden Lichtern und schimmernd silbrig grauem Regen.
Er spürte für einen Moment nur Kälte... und dann ein sanftes zupfen, am Rande seines Bewußtseins. Vielleicht irrte er sich, aber es schadete auch nichts, wenn er dem Gefühl nachgab und folgte.
Rasend schnell fiel er zur Erde zurück und fand sich einen Herzschlag später inmitten eines Kampfes zwischen ein paar ausländischen Jungen und ein paar Skins. Aber nicht die hatten seine Aufmerksamkeit erregt. Am Ende einer schmalen Kino- Passage stand der junge Japaner neben einem jungen Türken...
„Hab ich dich!“

Luca gefiel es gar nicht, wie Kim fuhr... im Gegenteil. Der Vampir verhielt sich hinter dem Steuer nicht weniger Gnadenlos, als auf der Jagd. Rote Ampeln störten ihn genauso wenig, wie seine kurzen Abstecher in den Gegenverkehr, oder seine Angewohnheit, Einbahnstraßen -Schilder zu ignorieren.
Immerhin schaffte er es auf der kurzen Strecke zwischen der Blücherstraße und der Welritzstraße, den Wagen nicht in Schrott zu verwandeln, obwohl Luca öfter befürchtete, daß Kim die eine oder andere Kurve nicht schaffen würde.
„Heute hast du meinen Autoschlüssel zum letzten Mal bekommen!“ knurrte er und klammerte sich mit der rechten Hand erneut an dem Griff über der Beifahrertüre fest.
„Ich würde auch lieber einen besseren Wagen als diesen klapprigen Ascona fahren,“ versicherte Kim fröhlich.
Für einen Moment stellte sich Luca vor, welchen schaden Kim mit einem besseren, PS stärkeren Wagen anrichten konnte und stöhnte innerlich.
„Laß mal, normal würde ich dir nicht mal mehr ein Go- Kart anvertrauen, selbst wenn es mit Pedalenantrieb ist.“ Kim überholte einen Bus und wäre um ein Haar mit einem entgegenkommenden Mercedes kollidiert, hätte Luca nicht mit der rechten Hand ins Steuer gegriffen und den Wagen in letzter Sekunde wieder nach rechts gerissen.
„Oups...“
Luca schwieg nur zu der Aktion. Weder Kim, noch ihm konnte ein Unfall wirklich etwas anhaben, aber ihre Unsterblichkeit sollte genügend Verantwortungsbewußtsein ausbilden, anderen, die sterblich waren, nicht aus Unachtsamkeit den Tod zu bringen. Wortlos sah er aus dem Fenster und schloß die Augen.
„Hey, sei doch nicht sauer auf mich.“
Luca wendete den Kopf und sah ihn an. „Ich bin nicht sauer auf dich Kim. Ich habe nur Angst um mein Auto und den Rest der Welt.“
Nun war es Kim, der nichts mehr sagte. Er Bog auf den Bismarck- Ring ab und trat das Gaspedal durch.
„Wenn ich eine Anzeige kriege, oder ein Ticket, dann blechst du, Kim, klar?!“
„Willst du, daß wir den Jungen finden, oder nicht?!“ entgegnete Kim.
„Ist ja okay, ich mache mir doch auch Sorgen um ihn, Idiot!“ Luca sah ihn ärgerlich an. „Nur ist ihm nicht damit geholfen, wenn du uns vorher in einen Unfall verwickelst. Dann könnte er schon sonst wo sein, und vor allem darf ich dann dieser lästigen Polizistin noch mehr Fragen beantworten, auf die ich keine Antworten habe oder geben will.“
Kim blinzelte kurz und bog in die Welritzstraße, ohne auch nur den Blinker gesetzt zu haben. Der hinter ihnen fahrende Gold bremste ziemlich hart und hupte zweimal .
„Wo hast du eigentlich den Führerschein gemacht?“ fragte Luca spitz. „Oder hast du den Gewonnen?!“
Kim fuhr mit sechzig über eine Bodenwelle, die zur Verkehrsberuhigung diente. Die alten Stoßdämpfer des Asconas knirschten laut und schwangen noch einige Sekunden lang ausgiebig nach, bevor Kim hart bremsen mußte. Er stand als letzter Wagen in einer kleinen Staukolonne, deren Ende bis eben noch ein grün weißer Opel Omega der Wiesbadener Polizei gebildet hatte.
„Shit,“ murmelte Kim. „Ich schaue mal nach, was los ist...“
Hinter ihnen gingen die Lichter eines am Straßenrand geparkten Autos an und der Wagen schlängelte sich gekonnt auf die Straße, nur um dann mit Vollgas im Rückwärtsgang Kerzengerade aus der Einbahnstraße zu schießen.
„Das ist ein Spitzenfahrer,“ murmelte Luca. Kims Blicke durchbohrten ihn, aber er enthielt sich besser jeglichen Kommentars. Dann stieg er aus und sah sich kurz um. Auch Luca öffnete die Beifahrertüre. „Laß mir den Schlüssel da, falls ich den Wagen hier raus fahren muß.“
„Mit deinem Arm?“ fragte Kim und zog die brauen hoch.
„Gib schon her! Außerdem, mehr Schaden als du, kann ich auch nicht anrichten.“
Kim knurrte eine Antwort, die Luca nicht verstand, oder verstehen wollte und schubste den Schlüssel über die Motorhaube, aber so, daß der ohnehin verwitterte Lack noch ein paar Kratzer mehr bekam.
„Danke... Volltrottel!“

Während Kim sich unter die Schaulustigen mischte, ließ Luca seinen Wagen wieder an und setzte ihn erheblich behutsamer zurück und in die gerade erst frei gewordene Parklücke. Dafür, daß er seinen linken Arm und die Schulter nicht benutzen konnte, ging es verdammt gut. Er konnte sich leider nur nach den Außenspiegeln orientieren, aber solang, wie er schon Autos fuhr, war auch das kein Problem.
Er schaltete die Scheinwerfer herab und kurbelte das Fenster umständlich ein Stück weit herab, als die Scheiben zu beschlagen begannen. Draußen wurde der Regen deutlich stärker und die Kälte, die diese Spätsommernacht mit sich brachte, kroch ihm in die Glieder. Der Rollkragenpulli, den er trug, war bereits klamm, seit er in den Wagen gestiegen war. Kim hatte den Ascona sehr weit weg geparkt, als er von seiner ersten, erfolglosen Suche zurück kam. Er schloß wieder die Augen und legte den Kopf gegen die Nackenstütze.
Er ahnte, warum hier ein Polizeiwagen und ein Notarzt waren. Schließlich hatte er den Kampf zwischen den Skins und den türkischen Teenagern gesehen, und auch, daß die ausländischen Jungen sehr schnell und einfach zu Boden gingen. Einige von ihnen bluteten da schon sehr heftig..
Flackerndes Blaulicht drang durch seine geschlossenen Lider, und er Hörte, wie einer der Polizisten in seinen Wagen stieg und zurücksetzte. Ihm folgte der Krankenwagen. Luca öffnete die Augen und stieg aus dem Wagen, um den beiden Fahrzeugen nachzusehen. Als der Krankenwagen aus der Straße heraus war, winkte der zweite Polizeibeamte die Wagen, die sich stauten aus der Gasse heraus. Es war eine komplizierte Prozedur... und nachdem der letzte Wagen rückwärts aus der Straße heraus gefahren war, kam der uniformierte zu Luca.
„Wollen sie hier stehen bleiben, oder lieber fahren?“
Luca winkte ab. „Ich fahre, Moment gerade.“
Er stieg wieder ein und parkte den Ascona aus der Lücke aus und setzte zurück. Er konnte Kim aus der Entfernung sehen, als er noch einmal in die Welritzstraße blickte und suchte nach einem neuen Parkplatz. Hinter ihm, hörte er, wie ein LKW in die Straße einfuhr, ein Abschleppwagen, sah er im Rückspiegel.
Nun, dachte er, sanken alle Chancen diesen Jungen zu finden, auf Null... Bei so viel Polizei...?

Kim roch in dem Regen immer noch Blut, frisches Blut und Wut, Haß und Abscheu...
Viele Leute waren auf der Straße, mehr als sonst üblich, in dem lauten, wilden Viertel. Aber irgendwie war es ja auch normal, daß eine solche Attraktion nicht ohne Zuschauer blieb. Nur wenige waren so irre, in einem Straßenzug, einem Viertel, in dem Ausländer dominierten, mit Ausländern Krawall anzufangen, selbst wenn diese hier sich kaum wehrten. Vielleicht waren die Jungs nett und lieb, aber da gab es sicherlich einen Cousin, einen Bruder, einen Vater oder Onkel, der dafür keinen Humor hatte und wenn die jungen Deutschen noch einmal den Fehler machten, hier aufzutauchen, gab es sicher mehr, als nur ein paar aufgeplatzte Lippen und blaue Augen.
Er konnte diesen Rachegedanken gut verstehen. Das Gefühl, ein Außenseiter zu sein, als solcher behandelt zu werden, oder allein nur schon in einer Art Ghetto zu leben ließ ihn Schaudern. Und ihm war unverständlich, warum man ein Volk in den Himmel heben, und alle anderen degradieren konnte...?!
Das hatte ihn immer gestört, bei jedem Volk, daß so dachte.
Er konnte von seiner Position aus recht gut sehen, daß zwei Jungen im Krankenwagen saßen und verarztet wurden, während ein dritter auf einer Bahre lag. Scheinbar schien er schwer verletzt zu sein, aber das lag nur einfach daran, daß er ziemlich aus einer Wunde an der Stirn blutete. Die anderen waren bereits verarztet und sprachen jetzt mit dem älteren, großen, dicken Polizisten, der zwar nicht gerade glücklich über Zeit und Situation war, aber offensichtlich recht unvoreingenommen reagierte.
Ein Junge saß neben dem andern Polizisten in dem Omega und redete fast die ganze Zeit. Er war unverletzt und aufgeregt, außerdem stand er wohl unter Schock. In seinem Schoß lagen zwei Teile eines gelben Kunststoff- Handys. Die Schale war wohl gesplittert und der Akku lag da.
„...ja, er war richtig stark,“ sagte der Junge gerade. „Obwohl er mich gar nicht kannte, hat er mich beschützt. Er hat eigentlich nichts getan, und doch...“ Der Junge rang nach Luft und schlug die Augen nieder. Der Polizist nickte nur. „Immer mit der Ruhe, Junge. Du bist ja völlig fertig. Willst Du einen Schluck Wasser, oder einen Cola?“
Der Junge Türke nickte und schüttelte gleich wieder mit dem Kopf. „Und dann war da dieses Gruft- Mädchen.“
„Hey, langsam, du kannst mir auch alles in aller Ruhe erzählen. Jetzt beruhige dich doch erst mal.“
Scheinbar hörte der Junge gar nicht, was ihm der Polizist sagte. „Sie hat mir auch geholfen. Sie hat sich dem Typen einfach entgegengestellt und hat mich verteidigt...“
„Und wo sind die beiden hin?“
„Weiß ich nicht,“ antwortete er leise. „Sie ist in die Richtung gegangen.“ Er deutete Richtung Sedan Platz. „Ich glaube, er auch.“
„Und, gehörten die beiden irgendwie zusammen, Ümüt?“
Der Junge zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. „Ich glaube, sie kannten sich nicht. Aber das ist nicht sicher. Zu den Skins gehörten sie sicher nicht.“
„Du, der Abschleppwagen kommt wohl gleich. Tu mir einen Gefallen, und komm morgen auf das Revier. Schlaf dich ordentlich aus und sag‘ deinem Vater, daß ich ihn morgen früh mal anrufe.“
Der Junge nickte kurz. „Okay, ich sage es ihm, Herr Karstens.“
Er öffnete die Beifahrertüre und stieg aus.
„Ich kann dich auch heim fahren, Ümüt.“
Der Junge schüttelte den Kopf. „Danke, ich fahre mit meinem Cousin heim.“
„Dann grüße deine Mutter von mir.“
Der Polizist winkte Ümüt noch mal zu und schloß die Fahrertüre, um Rückwärts aus der Straße zu fahren.

Es regnete immer noch, als Ryo erwachte. Ihm war nicht richtig klar, was ihn geweckt hatte. Vielleicht war es ein Geräusch, oder... vielmehr das Fehlen von einem.
Er öffnete die Augen und sah die Junge Frau, die neben ihm auf dem Fahrersitz saß und in einem gelben, dünnen Buch schrieb, während sie immer wieder auf den Tachostand sah.
„Was machst du?“ fragte er leise. 
„Fahrtenbuch führen,“ sagte sie knapp. „Wie ich schon sagte, ich war Berufsfahrer. Die Kontrolle der gefahrenen Kilometer und der Tankkosten sind ein Überbleibsel aus dieser Zeit.“
Sie lächelte und hob entschuldigend die Schultern. „So chaotisch ich sonst bin, darin bin ich ein Pedant.“
„Dann sind wir angekommen?“ Ryo verfluchte die Schwäche, die man so einfach aus seiner Stimme heraus hören konnte. Sie nickte. „Ja, da vorne.“ Sie deutete irgendwo in die regnerische Nacht hinaus.
Er richtete sich in seinem Sitz ein wenig auf und rieb sich mit dem Handrücken über die Augen. Sein Blick glitt nach draußen. Die Straße war nicht besonders breit und ziemlich dunkel. Rechts von im stand ein niedriges Mehrfamilienhaus aus roten Mauerziegeln, danach kamen reichlich kleiner Einfamilienhäuser mit Gärten und Doppelhäuser. Auf der linken Seite, der Seite, auf der sie den Fiesta geparkt hatte, stand ein verrottetes, altes, weißes Eckhaus, und ein schmales, neueres Mehrfamilienhaus, danach folgten verschiedene Höfe und Einfamilienhäuser. „Wo wohnt du?“ fragte er.
Sie deutete auf das schmale gelb blau gestrichene Mehrfamilienhaus. „Da,“ sagte sie.
„Wo sind wir?“
„Könntest du vielleicht warten, bis wir oben sind?“ knurrte sie und öffnete die Fahrertüre. „In Mainz, genauer gesagt in einem der Vororte davon.,“ setzte sie hinzu.
Er nickte mühsam, mußte aber zugeben, daß er ehrlich gesagt keinen Dunst hatte, was und wo Mainz waren...
Sie raffte ihren Mantel hoch und den langen Rock, oder das Kleid, was sie darunter trug und stieg aus. Dabei zog sie ihr Portemonnaie aus der Seitentasche der Fahrertüre, ein Ausweisheftchen und einen ziemlich dicken Schlüsselbund, an dem ein seltsamer Holzanhänger baumelte. Ryo öffnete die Beifahrertüre, als sie ihre Seite abschoß. Kalter Regen fiel hinein und er begann automatisch zu frieren. Die Kälte schien ihm sogar in die Knochen zu Kriechen und ihn weiter zu schwächen... „Verdammt,“ wisperte er. Sicher ließen seine Medikamente nach... Aber, was war das gegen das, was seine kleine Schwester ertragen hatte, wenn es bis nach Japan drang, daß er seinen Clan verraten hatte?! Er mußte zu Nanami, wenn es nicht schon zu spät war! Sie würden ihr nichts tun... das wußte er sicher... ganz sicher...
Nein. Er wußte nichts sicher. Aber er hoffte darauf, daß ihr Talent für den Clan zu wichtig war, als daß man ihr etwas antat... und er hoffte auf Kodaiichi- san. Auf seinen Onkel war kein Verlaß. Nie...
Die junge Frau stand vor ihm. Ohne daß er es bemerkt hatte, hielt er ihre freie Hand fest in seinen Händen. Er zitterte und weinte.
„Komm mit mir, okay?“
Matt nickt er

Etwas berührte leicht Kims Schulter und er spürte Lucas Anwesenheit, seine Wärme.
„Er ist nicht mehr hier, hm?“
Kim schüttelte den Kopf. „Wenn nicht, hat er sich versteckt, und ihn hier zu finden, ist nicht gerade einfach.“
„Soll ich mich noch mal nach ihm auf die Suche machen?“
Kim schüttelte den Kopf. „Ich muß mit dem Jungen da drüben reden. Ich hatte da so ein Gefühl, als er von einem Gruft- Mädchen sprach. Ebenso, als der Wagen aus der Straße fuhr...Ich glaube, er ist bei ihr.“
Luca hob eine Braue. „Okay.“
„Bitte, bleib‘ du gerade hier, ich bin gleich wieder da.“

Als Kim wieder kam lächelte er triumphierend. „Darf ich von dir aus kurz telefonieren, Luca?“
Der Magier nickte.
„Wenn wir Glück haben, ist der Junge sicher bei einer guten Freundin von mir... uns,“ verbesserte er sich hastig und setzte ein Verschwörergrinsen auf, daß seine langen Eckzähne nicht zu übersehen waren.
Luca legte die Stirn in Falten und hob die Schultern. „Wer ist eigentlich dieser Junge?“
„Ümüt Karachmet,“ sagte Kim knapp.
Luca sah ihn an, hob die Schulter (die unverletzte rechte Schulter) und schüttelte den Kopf. „Komm, laß uns fahren, Geheimniskrämer.“ 
„Gib schon den Schlüssel,“ bat Kim.
„Ist nicht drin, Kim. Ich habe nicht noch mal Lust, auf etwas mehr als einem Kilometer mein ganzes Leben an mir vorbeiziehen zu sehen. Ich fahre. Und keine weitere Diskussion!“
Kim verzog die Lippen und grinste wieder. „Na gut. Hört sich fast so an, als wärest du fast wieder der Alte...“
Wortlos schüttelte Luca den Kopf.
Ihm ging es viel zu schlecht, um auch nur einen weiteren Gegenkommentar von sich zu geben. So schlecht, daß er bitter fror und seine Knie bereits wieder vor Schwäche zitterten. Heftig genug, daß er Angst hatte, Kim könne es bemerken. Aber er würde sich gut genug beherrschen können, um sich keine Blöße zu geben. Wenigstens bis er zu Hause war.

Ryo wußte nicht so recht, wie er zuletzt an einem Stück die Stufen in die erste Etage gekrochen war, nur, daß er sich auf das Mädchen gestützt hatte und sie ein oder zwei Mal ins Straucheln kam mit seinem Gewicht auf den Schultern. Er konnte sich auch sehr gut an die Helligkeit erinnern, an die Tatsache, daß sich die Steinstufen hinauf wendelten und es kein Geländer auf der Wandseite gab, aber er wäre nicht einmal in der Lage gewesen, sicher zu sagen, ob das Haus alt oder neu war.
Dann, als er den ersten, klaren Gedanken faßte, fand er sich auf einem grauen Schlafsofa, eine Steppdecke bis zum Hals hoch gezogen, neben sich eine Tasse... Automatisch griff er danach und stellte fest, daß die Tasse leer war. Sauber, aber leer. Auf dem billigen, schwarz gekachelten Wohnzimmertisch standen zwei Kerzenständer und darunter Zuckerspender, Salz- und Pfefferstreuer, Pfeffermühle und eine gläserne Bonboniere mit kleinen Bonbons in braunem Alu. Neben dem Tisch, vor dem gewaltigen Fenster, daß vom Boden bis knapp unter die Decke reichte, stand auf einem kleinen Sperrholz- Regal ein großer Komputermonitor, und versteckt, halb unter dem Tisch, ein Midi- Tower, auf dem sich ein uralter Drucker, ein recht moderner Flat- Bed- Scanner, die Tastatur und Mouse- Pad mit Mouse, stapelten.
Links von ihm, in der Zimmerecke stand ein Fernseher auf einem recht alten, unmodernen Fernsehtisch, ein Videorecorder darunter, und ganz unten Kaufvideos. Auf Höhe des Sofa- Kopfendes befand sich ein weiteres gewaltiges Fenster und ein großer Doppelkäfig. Im ersten Moment konnte er nicht sehen, ob sich überhaupt etwas darin befand. Vielleicht in den Häuschen...?
Dann sah er eine kleine, helle Schnauze, der zwei schwarze Augen folgten und ein mittelbrauner Rumpf. Das kurzhaarige Meerschweinchen schnüffelte in Ryos Richtung und fuhr herum, um eilig wieder in sein Häuschen zu verschwinden, als er sich aufrichtete.
Als sich Ryo aufsetzte, sah er einen dunklen Schatten in dem zweiten, oberen Haus und zwei glänzende Augen, die ihn ängstlich musterten.
Ryo stand schwerfällig auf und kniete sich vor die Käfige. Das Meerschweinchen unten kam wieder heraus und schnüffelte, um sich dann an dem Gitter seines Käfigs hochzuziehen und durchdringend zu quieken.
Jetzt verstand Ryo, warum die kleinen Kerle Meerschweinchen hießen. Sie hörten sich wirklich ein wenig wie junge Schweine an.
„Du hattest genug, Ichirou!“ rief die junge Frau aus dem Nebenraum.
Ryo sah in die Richtung, aus der die Stimme kam, vorbei an einem breiten, fünfstöckigen Hängeregal, in dem unzählige Videofilme standen, direkt in die Küche... wenigstens nahm er an, daß es die Küche war, denn er sah etwas, daß Waschmaschine oder Trockner sein konnte, und darauf in einem Gefäß, was immer es sein mochte, einige Schneebesen und zwei weiße Regale mit Nahrungsmitteln und Küchengeräten.
Er erhob sich... fast automatisch wurde ihm schwindelig und während er nach einem Halt tastete, begann sich zu allem übel auch noch sein Magen zu melden. Obgleich er fast nichts gegessen hatte, glaubte er, er müsse sich jede Sekunde übergeben. Keuchend klammerte er sich irgendwo fest und preßte die andere. Freie Hand gegen den Bauch.
Nach ein, zwei Sekunden legte sich der starke Brechreiz wieder... Dafür aber wurde es ihm erst richtig schwindelig und er glaubte fast, am Rande einer Ohnmacht zu balancieren.
Genaugenommen tat er das auch...
Dann war das Mädchen wieder bei ihm.
„Himmel, leg dich wieder hin!“
Er nickte schwach, was erneut seine Kopfschmerzen anstachelte, daß er Lichtblitze vor den Augen sah.
Mit ihrer Hilfe schaffte er es wieder auf das Sofa zurück. Kaum lag er, schloß er wieder die Augen und legte den Kopf zur Wand hin. Alles Licht tat höllisch weh in seinen Augen...
Wortlos deckte sie ihn wieder zu und sagte leise, sie werde ihm ein Kissen holen.
Er hob nicht mal mehr aus eigener Kraft den Kopf, als sie nach ein paar Sekunden mit einem weichen Daunenkissen zurück kam. Behutsam half sie ihm. Fast im gleichen Moment schlief er ein.

Es dauerte einige Minuten, bis er realisierte, daß es nicht mehr dunkel war... und die Geräusche um ihn herum...Geschirr klapperte, Schranktüren wurden geöffnet und geschlossen, die Waschmaschine lief, er hörte etwas, daß sich nach einem Wasserkocher anhörte, schritte, das Scharren der beiden Meerschweinchen in ihren Käfigen, den Verkehr draußen, Stimmen auf der Straße... Dennoch war es verhältnismäßig dunkel, was vermutlich an den herabgelassenen Rolläden lag.
Umständlich richtete er sich auf die Ellenbogen auf und versuchte die Müdigkeit abzuschütteln. Dennoch, einfach war es nicht, stellte er fest. Ein Teil seiner Kopfschmerzen hatten ihn aus seinem Traumlosen Schlaf heraus in die Wirklichkeit begleitet, aber die Übelkeit war fort. Ryo schwang die Beine vom Bett und stellte fest, daß er außer seiner Unterhose nichts mehr trug.
Mit einigem Schrecken sah er sich nach seinen Kleidern um, fand aber nicht mal seine Stiefel. Also griff er sich die Steppdecke und schlang sie sich um den Körper.
Behutsam setzte er seine nackten Füße auf die Fliesen, nur um festzustellen, daß sie verdammt kalt waren und er fast in der gleichen Sekunde zu frieren begann.
Aus den Augenwinkeln bemerkte er das kleine, dunkle Meerschweinchen, daß sich sofort in seine Hütte flüchtete. Ichirou, der dickere von den beiden, kam an das Gitter und begann wieder zu quieken.
Im gleichen Moment hörte er feste, schnelle Schritte. Die junge Frau kam um die Ecke und blieb erstaunt stehen.
„Du bist ja wach...“
Er nickte und wurde rot. Zugleich zog er sich seine Decke enger um die Schultern.
„Meine Sachen...“ begann er, wurde aber von ihr unterbrochen.
„Sind alle in der Maschine,“ sagte sie und deutete über die Schulter in die Küche hinein. „Aber du kannst Sachen von mir haben. Viel größer und breiter bist du auch nicht.“
Er sah sie ein wenig gequält und fragend an, dann ein wenig verärgert. „Ich trage doch keine Frauenkleider!“ rief er in einem Anflug von Ärger.
Grinsend ignorierte sie den Unterton. „Meine Lederhosen und eines meiner Schnürhemden sollten okay sein.“ Sie ergriff seine Hand und zog ihn hinter sich her.
„Was glaubst du eigentlich von mir?! Daß ich nur in langen Kleidern herum renne?!“
Wortlos musterte sie in ihrem ärmellosen, bodenlangen Kleid, daß nicht weniger historisch wirkte, als der Mantel, den sie in der vergangenen Nacht getragen hatte.
„Bist du dir sicher?“
Sie warf ihm einen vernichtenden Blick über die Schulter zu, während sie mit der Spitze ihres Stiefels die Türe am Ende des Flures aufstieß. Ryo bot sich ein durchaus chaotischer Anblick. Aber irgendwie hatte er nicht viel anderes erwartet. Auch hier gab es ein großes Fenster, daß vom Boden bis knapp unter die Decke reichte. Davor stand ein altmodischer, schwerer Schreibtisch, der irgendwie aber gut zu ihr und der Art sich zu kleiden paßte. Rechts und links davon erhoben sich Regale und Schränke, die das ganze Zimmer dominierten. Bücher, Comics, CDs und Unmengen von Videos bestimmten das Bild und unzählige Plüschtiere, die auf zwei von den Schränken saßen. Und überall lagen Zeichnungen herum, Papier und verschiedene Blöcke.
Jede frei Stelle an den Wänden war mit Postern zu Animes und Illustrationen bedeckt. Ein kurzer Blick in ihre Comicregale sagte Ryo, daß sie scheinbar ein wirklicher Manga- Fan war. Von den klassischen shojo- Mangas zu Shonen Ai und Shonen Mangas... Sie las alles, selbst die erotischen...Aber ebenso offensichtlich war, daß sie allem anderen Horror, Mystery und vielschitige, schwer verstänliche Unterhaltung libte. Von den „The Crow“- comics über „The Sandman“ zu den „House of Secrets“ hatte sie alles von DC Vertigo und Kitchen Sink Press.
Er erinnerte sich an das große Poster über dem Sofa. Er hatte den Stil als den Joshitaka Amanos erkannt, aber erst jetzt wurde ihm klar, daß das Bild zu der Sandman- Reihe zählte.
„Du zeichnest, bist ein Otaku und liebst alles Übersinnliche.“ Er lächelte. Zugleich glitt seine Decke von seinen Schultern.
„Was fasziniert dich daran so sehr?“
Sie öffnete den Schrank und holte einige Sachen heraus. Grinsend drehte sie sich um und warf ihm eine unglaublich schwere Motorradhose und ein weißes Leinenschnürhemd ins Gesicht.
„Bedecke deine Blöße, Kleiner!“
Erschrocken sah Ryo an sich herab und raffte schnell die Kleider zusammen.
„Glotz nicht so! Sieh weg!“ forderte er sie auf, worauf sie nicht reagierte.
„Du bist nicht der einzige halb- nackte Junge den ich sehe. Zudem bist du mir ein bißchen zu jung.“
Sie grinste. „Aber du hast einen hübschen Körper. Ein solches Modell hab ich selten.“
Ryos Wangen färbten sich rot, was ihn furchtbar ärgerte. Aber noch mehr ärgerte ihn die wenig gefühlvolle Art dieser Frau.
Er warf ihr wütende Blicke zu, die sie ignorierte... In ihren Augen leuchtete sanfter Spott.
„In fünf Minuten gibt’s Frühstück im Wohnzimmer, okay? Ich hoffe, du trinkst Kaffee. Bein Tee bin ich echt nicht der Held.“ Sie wollte gerade die Türe hinter sich schließen, drehte sich aber noch einmal um. „Ach ja, du kannst duschen, wenn du magst.“
Ryo sah über die Schulter und seufzte. „In fünf Minuten, wie?“
Anjuli sah ihn fragend an. „Seit wann braucht ein Mann mehr?!“
Ryo drehte sich zu ihr um. „Wenn es sein muß... aber weißt du, ich bin Japaner. Ein bißchen mehr...“ Er unterbrach sich und winkte ab. „Ich bin ja in Deutschland, bei den Unzivilisierten...“ Dabei grinste er freundlich.
Die junge Frau grinste. „Dafür mußt Du jetzt meinen Kaffee ertragen!“

Luca erwachte aus nervösen, unruhigen Träumen, die ein Kaleidoskop aus Erinnerungsfetzen in seinem Geist hinterließen, Schrecken, Angst... Schimmernde, funkelnde Spiegelscherben, die zu Boden fielen und zu feinem Staub pulverisierten.
Als er die Augen aufschlug, war es bereits heller Tag und er lag nackt auf seinem Bett. Sein Arm, seine Schulter und seine Brust waren noch immer bandagiert und am Fußende seines Bettes lagen seine Kleider zusammengeknüllt. Und ein Teil davon gehörte nicht ihm, sondern Kim. An die vergangene Nacht erinnerte er sich nur sehr partiell, nachdem er den Ascona nach Hause gefahren hatte. Zwischendurch fehlten ihm Erinnerungen. Dann glaubte er wieder Kims kalte Haut zu fühlen, die sich an seine schmiegte und leidenschaftliche Küsse.
Lächelnd schlug Luca die Augen nieder und drückte seinen Kopf in das weiche Daunenkissen.
Er spürte, wie viel besser es ihm bereits ging. Nach einigen Sekunden richtete er sich auf und legte den Verband ab. Von der Schußwunde war nichts mehr zu sehen. Aber, daß war ihm bereits klar, es kam nicht von seinen eigenen Selbstheilungsfähigkeiten. Diesmal hatte Kim ihm seine Gesundheit wiedergegeben. Seit dem vergangenen Abend, seit er den Drachen sah, der ihn rief, fehlte viel von seiner eigentlichen Kraft.
Er stand auf und zog sich an. Für eine Sekunde spielte er mit dem Gedanken Kim anzurufen, aber der Vampir würde jetzt sicher nicht wach sein, und unnötig gefährden mußte er Kim wirklich nicht. Aber er wollte auch nicht unbedingt hier sein, wenn eine nervige Polizistin hier auftauchte und ihm wieder Fragen stellte, die er nicht beantworten konnte oder wollte. Vor allem aber interessierte es ihn doch brennend, warum jemand mit aller Gewalt, und das Wörtlich, diesen unterkühlten, wilden jungen Vampir haben wollte. Kim war einer seiner wenigen engen Freunde, mit denen er mehr teilte als nur wenige gemeinsame Jahre. Kim begleitete ihn, genau wie Quentin, Justin und Anjuli durch alle Zeiten. Er kannte jeden einzelnen von ihnen besser, als seine Familie, war vertrauter und ihnen mehr zugetan als seinen Kindern, die er vor weit mehr als einem Jahrtausend verloren hatte. Er hatte sie bis heute alle behütet, immer, und gerade Kim brauchte ihn immer wieder. Um zu erfahren, wer nun den Vampir angriff, mußte er mit diesem Jungen reden... vielleicht konnte Luca ihm sogar helfen, in was auch immer er wohl eher unfreiwillig geraten war... Und vielleicht herausfinden, was einen Drachen bewegte, Äos zu verlassen und hier, auf die Erde zu kommen, um ihn, Lysander, den Magier, zu rufen.
Vermutlich hatten beide Vorfälle mehr miteinander gemein, als er offensichtlich wahrzunehmen im Stande war..
Kims Fähigkeiten... Psy... Anjuli!!!!!!
Kim hatte ihm, bevor er eingeschlafen war, verraten, daß dieser junge Japaner Anjuli in die Arme gelaufen war.
Anjuli... Luca warf die Schlafzimmertüre hinter sich zu und eilte den Flur entlang. Er mußte dringend mit Anjuli reden.

~ to be continued ~

 

(c) Tanja Meurer, 2001