Das raue Krächzen eines Raben zerriss die
nächtliche Stille. Einen Herzschlag später schlugen seine schwarzen Flügel
gegen das Fensterglas. Victoria fuhr aus ihren Laken auf. Schweiß perlte
über ihre Stirn. War es Teil ihres Traums? Die Bilder dessen – Feuer und
Blut – hielten sich hartnäckig am Rande ihres Bewusstseins. Sie
fortzublinzeln schien vollkommen Sinnlos. Dieser Traum … dieser verstörende
Traum! Schwarze Rabenfedern wirbelten noch immer durch ihren Geist. Immer
wieder sengten glühende Partikel durch das schwarz schillernde Gespinst. Der
Anblick war so grauenhaft! So lang sie zurückdenken konnte, hatte sie nichts
schlimmeres gesehen! Im ersten Moment wusste sie nicht einmal, welche Stadt
unter dieser Flammenwalze verging … bis sie die Türme der Westminster Abbey
und den gewaltigen, alten Tower zu erkennen glaubte. Das dunkle Band der
Themse war kaum noch zu erkennen. London brannte! Victoria schüttelte
sich. Londons Sicherheit stand gerade jetzt, während der europäischen
Revolution, auf dem Spiel. Trotz dem sah sie bisher keine solche Gefahr für
ihr geliebtes Reich. Scharfe Krallen fuhren über das Glas. Sie hörte, wie
sich klauen in das Holz gruben. Sie wollte auffahren. Bleischwer und
regungslos lagen ihre Hände auf der Decke in ihrem Schoß. Es kostete sie
alle Kraft, nur ihre Finger zu bewegen. Panik erreichte ihr Herz. Angst und
Hilflosigkeit zogen sich wie Fesseln um sie zusammen. Sie war machtlos gegen
ihre eigenen Gefühle! War das die Wirklichkeit? Eine leise Stimme
wisperte hinter ihrer Stirn, dass sie diese Situation unmöglich durchleben
konnte. Dieser Moment zählte zu den Mythen in das Reich der Märchen! Diese
Vorstellung half Victoria, ihre bleierne Angst abzustreifen. Trotzdem blieb
ein Hauch des unheimlichen Gefühls in ihrer Seele hängen. Nervös irrte
ihr Blick durch den dunklen Raum zu den verhängten Fenstern. In ihrem Herz
tobte noch immer unbestreitbare Furcht um ihr Reich … Am Rande ihrer
Wahrnehmung wisperten Stimmen, flüsterten von unabwendbarer Gefahr und
unaussprechlichem Grauen, das ihr geliebtes England zu überfallen drohte.
Entschlossen ballte Victoria die Fäuste. Mit einer raschen Bewegung schlug
sie ihre Decken zurück und schwang die Beine aus dem Bett. Sie musste sofort
mit ihrem Gemahl darüber sprechen. Selbst wenn er sie ein dummes Kind
schalt, diese Angst, tief in ihrer Seele kam nicht von ungefähr! In der
gleichen Sekunde nahm sie aus dem Augenwinkel eine zuckende Bewegungen in
den Schatten wahr! Atemlos hielt sie inne. Mit aller Willenskraft versuchte
sie, die Dunkelheit zu durchdringen. Es gelang ihr nicht, mehr als wage
Umrisse der Möbel wahr zu nehmen. Dennoch! Täuschen konnte sie sich nicht!
In ihrem Nacken stellten sich feine Härchen auf. Jemand beobachtete sie!
„Wer ist da?“ Es klang jämmerlich. So sehr sie sich mühte, ihrer Stimme
fehlte die Stärke, um einen Eindringling einzuschüchtern. Niemand
antwortete ihr. Die Stille begann in ihrer Ohren mit ihrem erhitzten Blut zu
rauschen. Es steigerte sich zu einem Tosen und Knistern … dem Feuersturm!
Erneut erwachten die Bilder ihres Traumes zu furchtbarem Leben. Die
Flammenwalzen verzehrten London … Es kostete sie alle Kraft die Starre, die
sie zu befallen drohte, zu überwinden. Aber mit dem Absinken ihrer Furcht,
nahm auch der Lärm der Stille ab. Zögernd erhob sie sich. Sie lauschte.
Weder von ihren Kindern noch dem Personal vernahm sie auch nur den
geringsten Laut. Auch der Vogel schien seine Bemühungen aufgegeben zu haben.
Nur das unheimliche Gefühl nicht allein zu sein, hielt sich vehement. Wie
spät musste es jetzt sein? Sie vermisste London, ihren Palast, das Leben …
Osburn House lag weit ab. Ihr Blick glitt durch den Raum. Dunstige
Finsternis ballte sich in den Ecken. Unsicher tastete sie nach ihrem
Morgenrock, der am Ende ihres Bettes lag und streifte ihn über ihr
Nachthemd. Auf dem hochflorigen Teppich verursachten ihre Schritte keinen
Laut. Eilig huschte sie zu einem der hohen Fenster und schob die schweren
Vorhänge auf. Wolken, gerade noch als Schatten zu erkennen, zogen über den
mondlosen Himmel und verschlangen das funkelnde Sternenlicht. Bäume und
Gartenanlagen des Landsitzes konnte sie kaum erkennen. Nervös gruben sich
Victorias Fingernägel in das Holz des Fensterbrettes. War sie allein? Fast
schien es ihr, als habe alles Leben sie verlassen. Eine eisige Hand schloss
sich um ihr Herz. Die plötzliche Angst raubte ihr den Atem. Mit aller
Kraft versuchte sie sich zu sammeln und die aufkeimende Panik zu verdrängen.
Sie senkte die Lider. Konzentriert atmete sie einige Male ein und aus, bevor
sie die Augen wieder zu öffnen wagte. Sie WAR nicht allein. Nebenan
schlummerte Louise, ihr jüngstes Töchterchen. Trotz allem beruhigte sie das
wissen nicht. Noch immer fehlte ihr jedwede Ruhe. Mit zusammengekniffenen
Lidern starrte sie hinaus in die Neumondnacht. Victoria suchte den Raben,
den sie gehört hatte. Stimmte die Legende der Towerraben doch? Sie fand
keine Zeit, diesen Gedanken weiter zu verfolgen. Ein eisiger Windhauch
strich um ihre nackten Füße. Kalte Spinnenfinger krochen über ihre
Wirbelsäule hinab. Etwas regte sich in ihrem Schlafgemach. Sie war nicht
allein! Ihr Blick huschte durch das schwach erhellte Zimmer, suchte
jeden Winkel nach einem Eindringling ab, versuchte alles unnatürliche zu
erfassen, als sie erneut durch das kehlige Krächzen eines Raben erschreckt
wurde. Sie fuhr herum und starrte nach draußen. Ihre Augen reichten beileibe
nicht aus. Trotzdem spürte sie, dass auch dort draußen etwas lauerte …
Die schwache, feuchte Berührung ihres Rückens ließ sie erstarren. Fast
schien es ihr, als wären all die Lagen Stoff und das dichte, lange Haar
nicht über ihrer Haut, um sie zu schützen. Klamme Finger krochen über ihren
Nacken und die Schulterblätter. Victoria fühlte, wie alles Blut aus ihren
Wangen wich und die kalte Angst sie erneut lähmte. Sie wollte schreien.
Gleichzeitig berührten die unsichtbaren Leichenfinger ihre Kehle und
erstickten jeden Laut. Sie wagte nicht zu Atmen. Deutlich spürte sie fünf
Finger, die ihren Hals betasteten. All ihre Aufmerksamkeit richtete sich nun
nach innen. Die Berührungen strichen weiter hinab, über ihre Schulter und
die Brust, bis sie über ihrem Herz zur Ruhe kamen. Ein Nagel ritzte ihre
Haut, drang tiefer … Sie wusste, dass ihr Gewebe nachgab, spürte das dünne
Tröpfchen Blut, was aus der winzigen Wunde drang … In dieser Sekunde
schlugen erneut die Rabenflügel gegen das Glas. Der scharfe, harte Schnabel
pickte gegen Glas und Holz. Sie schrie auf. Die Geisterfinger ließen von ihr
ab. Gleichzeitig drängte Victoria sich in die Ecke des Fensters, um sich
gegen den Angreifer zu schützen. Schatten ballten sich in ihrem Zimmer zu
gestaltlosen Monstern. Dünne Fäden der geronnenen Nacht schossen in ihre
Richtung, ohne sie jedoch zu erreichen. Kurz vor ihr fielen sie kraftlos zu
Boden. Ihr panischer Blick glitt zu dem Raben, der immer wieder mit aller
Kraft gegen das Fenster anflog. Seine Schwingen schlugen gegen die Scheibe.
Federn knickten ab. Der Kopf prallte zurück. Blut verschmierte das Glas.
Erneut nahm er Anlauf und prallte gegen das Hindernis. Sein Schnabel hackte
wie wahnsinnig auf den Rahmen ein. In den schwarzen Augen stand Angst.
Victoria glaubte, in einen Spiegel zu sehen. Das Tier empfand die gleiche
Panik. Intelligenz sprach aus dem Blick, aber auch kopflose Furcht. Der Rabe
wollte ihr nichts Böses! Sie raffte all ihren Mut zusammen und tastete nach
dem Fenstergriff. Erneut nahm das Tier Anlauf. In letzter Sekunde riss sie
den Fensterflügel auf. Kalte, salzige Luft wehte herein. Das erschöpfte Tier
schleuderte mit viel zu viel Schwung in das Zimmer. Unsanft schlug der Rabe
auf den Boden. Schwarze Federn wirbelten durch die Luft. Zugleich erklang
ein widerliches Knacken aus dem kleinen Körper. Die Schatten fielen voller
Gier über den Vogel her. Victoria wagte einen raschen Schritt in seine
Richtung. Doch das, was sie sah, ließ sie würgen. Der fast ausgeweidete
Rabe lag in seinem Blut. Entsetzt fuhr sie herum. Gerade rechtzeitig, um zu
sehen, wie der Neumondhimmel aufriss, um Feuer und Vernichtung zu speien.
*
Zaida saß reglos in ihrem Sessel vor dem
Kamin. Ihr Kopf lag in ungesundem Winkel auf der Brust. Sie regte sich
nicht. Fast schien es, als habe sie aufgehört zu atmen. Anais schauderte.
Sie kannte den Zustand bei ihrer Freundin. Obwohl sie schon Jahre bei der
schwarzen Hexe lebte, löste diese Starre bei ihr noch immer schwache Panik
aus. Zaidas Seele befand sich nicht in dem schönen, stolzen, schwarzen
Körper. Sie reiste in der Welt zwischen den Zeiten, hinter den Spiegeln.
Jedes Mal fürchtete Anais um ihre Freundin. Diese Art der Reise empfand
sie als vollkommen widernatürlich, zumal Ausspähung und Seelenwanderung
Zaida Kräfte raubten, die sie anderweitig dringender brauchte. Vorsichtig
trat Anais zu ihrer Freundin. Sie kniete neben Zaida nieder. In dieser Phase
eines Zaubers wagte sie nicht, die Hexe auch nur zu berühren. Aus dem
Augenwinkel bemerkte sie die schnelle Kopfbewegung von einem der beiden
Raben, die Zaida gehörten. Das Tier hockte auf dem Kaminsims, während der
andere aufmerksam aus dem Fenster der gedrungenen Stadtvilla in den
Hyde-Park sah. Beide bewachten ihre Herrin. Sie wussten, dass Anais für
Zaida keinerlei Gefahr bedeutete, zugleich maßen sie die Wissenschaftlerin
immer noch mit unverhohlener Abneigung. „Ich tue ihr nichts!“, zischte
Anais verärgert. Sie strich sich mit den Fingerspitzen durch ihre
aufgelösten, hellen Locken. Der größere der beiden Vögel sprang vom
Kaminsims und flatterte dicht an Anais’ Gesicht vorbei, um sich auf der
Lehne des Sessels das Gefieder zu putzen. „Manikongo!“, knurrte Anais
drohend. Der Rabe hielt in seiner Federpflege inne und betrachtete sie mit
spöttischem Blick. Er war Zaidas Wächter und ihr Schutzgeist. Offenbar
gefiel es ihm, Anais bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu reizen. Dennoch
übertrieb er seine Spiele nicht, wahrscheinlich um seine Herrin nicht zu
verärgern. „Irgendwann endest du noch im Topf“, erklärte Anais. „Nimm dir
an Songa ein Beispiel. Dein Bruder nimmt seine Arbeit wesentlich ernster!“
In den schwarzen Rabenaugen blitzet menschliche Wut auf. Manikongo klapperte
leise mit dem Schnabel. Wenig beeindruckt hob Anais eine Braue und sah
wieder zu ihrer Freundin. Zaidas schwarze Haut sah alt und verfallen aus.
Dieser Zustand zeigte die wahrhaftige Last aller Jahre, die auf ihren
Schultern lastete. „Wo bist du nur?“, fragte Anais besorgt. Ihre Hand
strich nahe Zaidas über die gepolsterte Lehne des Sessels. Plötzlich hob
sich die Brust der Hexe. Ihr Kopf fiel abrupt in den Nacken und sie rang
nach Atem. Sofort glättete sich Gesicht und Körper. Ihre Gestalt füllte sich
mit neuem Leben. Anais glaubte fast, dass ihr Gesicht bei jedem Atemzug
jünger und schöner aussah. „Zaida …“, begann Anais erleichtert. „Wir
erhalten gleich hohen Besuch“, unterbrach Zaida sie mit belegter,
unnatürlich rauer Stimme, während sie sich mit einer Hand über die Augen
fuhr. Anais sah durch die halb offene Salontüre in den Flur hinaus zu der
Pendeluhr. Es ging bereits auf Mitternacht zu. Aber sollte sie sich darüber
noch wundern? Einzig die Tatsache, dass Zaida ihr nicht mehr erzählte,
gefiel Anais nicht. Sie stand auf und strich sich den Rock glatt. „Wen
erwarten wir, Zaida?“, fragte sie. Songa krächzte. Sein Kopf ruckte zu
Zaida herum. Anais schenkte dem kleinen Raben einen kurzen, wissenden Blick.
Sie ahnte bereits, dass diese Person bereits an der Tür stand. Das Geräusch
der Glocke bestätigte sie nur. Während Zaida sich erhob, trat Anais auf
den Flur. Dielen knarrten unter ihrem Gewicht. So zierlich sie erschien, so
schwer war ihr Maschinenleib. Obwohl sie nicht viel mehr war als Schrauben,
Metall, Holz und Kautschuk, zog sich ihre Seele ärgerlich zusammen. „Ich
lasse mich überraschen“, knurrte sie missmutig.
*
Die schlanke, hochgewachsene Gestalt des
Prinzen Albert von Sachsen-Coburg und Gotha verschreckte Anais in der ersten
Sekunde vollständig. Sie kannte den Gatten der Königin von Bildern in den
Zeitungen und von Paraden, nicht aber so nah. Weder sie, noch Zaida waren
auf solch hohen Besuch eingerichtet und vorbereitet! Umso mehr zögerte sie,
ihn eintreten zu lassen. Auch ihm schien die Situation eher unangenehm zu
sein. Er hielt seinen Blick gesenkt, während seine Hände nervös mit seinen
weißen Handschuhen spielten. „Sie müssen Anais de Trouveille sein“, brach
er das unangenehme Schweigen. Seine Stimme klang leise und gehetzt.
Unverwandt starrte Anais den Prinz an. Sie war sich durchaus bewusst, dass
es weit mehr als unhöflich war, nicht zu antworten und sie alle
Anstandsregeln vergaß; zugleich verstand sie nicht, warum kein einfacher
Bote, oder zumindest ein Offizier entsendet wurde. „Darf ich eintreten?“,
fragte er mit einem charmanten Lächeln auf den Lippen. Sein Oberlippenbart
zuckte dennoch nervös. Etwas in seiner Stimme, vielleicht die
unterschwellige Angst, brach den Bann Anais’. „Verzeihen Sie, euer
Hoheit“, flüsterte sie und trat einen Schritt zurück, sodass er an ihr
vorüber in den warmen Flur treten konnte. Bevor sie die Tür schloss, strich
ihr Blick über die verlassene Straße. Nirgends konnte sie eine Kutsche
entdecken. Offensichtlich befand sich der Prinz inkognito. Anais zog
nachdenklich die Brauen zusammen, während sie sich Prinz Albert zuwendete.
Er legte seinen Mantel ab und blieb unschlüssig stehen. Anais deutete
nach rechts, zu dem beheizten Salon. „Nach Ihnen“, forderte sie ihn auf.
*
„Die Legende der Raben im Tower besagt“,
führte der Prinz leise aus, „dass die Monarchie und ganz Britannien
untergeht, wenn die Raben den Tower verlassen. Deshalb halten wir seit
Jahrhunderten Kolkraben in den Mauern.“ „Ist das nicht nur ein Mythos?“,
vergewisserte sich Anais ungläubig. Sie hielt ihre Hände im Schoß gefaltet
und betrachtete aufmerksam die Mimik Alberts. Der Prinz sah gequält zwischen
ihr und Zaida hin und her. Zaida saß vor Anais in ihrem Sessel. Nachdenklich
stützte sie ihre Schläfe mit den schlanken Fingern ab. Auch sie wartete
offensichtlich auf seine Antwort. „Bisher glaubte ich, es sei ein
Märchen, aber nachdem, was meiner Gemahlin gestern Nacht geschehen ist,
musste ich selbst nachprüfen, wie viel Wahrheitsgehalt sich in der
Geschichte verbirgt.“ Er legte eine Kunstpause ein. Nervös, leicht gereizt
beobachtete Anais ihn. Es schien ihr fast, als wolle er die Spannung
erhöhen, oder die düsteren Vorahnungen schüren. Als er weiter sprach,
zitterte allerdings seine Stimme. Betroffen begriff sie, wie schwer es ihm
fiel, eine solch unglaubliche Wahrheit darzulegen. „Im Tower fehlte einer
der Kolkraben“, erklärte er tonlos. „Es war ein ausgesprochen großes,
starkes Exemplar, wie mir der Rabenmeister versicherte.“ Sein Blick glitt
zu den beiden Raben Zaidas. Er deutete auf Manikongo. „Etwa so wie dieser
hier.“ Zaida nickte nachdenklich. „Sind nun nicht mehr ausreichend Raben
im Tower?“, fragte sie. „Doch“, entgegnete Albert leise. „Allerdings flog
jener Rabe bis zur Isle of Wrigth, nach Osburn House. Er wollte Victoria …
die Königin, warnen. Genau genommen rettete er ihr Leben und gab seines
dafür.“ Mit jedem Wort verlor seine Stimme an Kraft. Zaida wendete sich
Anais zu. In ihren Augen stand düsteres Wissen, die Ahnung von
unaussprechlicher Gefahr und die stumme Bitte um Hilfe. Still legte Anais
ihre bleiche Hand auf Zaidas Schulter und drückte vorsichtig. „Wenn Sie
mir keinen Glauben schenken, könnte ich es Ihnen nicht verdenken“, flüsterte
Albert mit gesenktem Haupt. „Es ist unglaublich.“ „Was genau ist eurer
Gemahlin widerfahren?“, erkundigte sich Zaida leise. „Ich kann nur wider
geben, was sie mir erzählte“, sagte er vorsichtig. „Sprecht ruhig. Ihr
befindet euch in Gesellschaft von zwei Frauen, denen das Übersinnliche
durchaus nicht fremd ist“, beruhigte Anais ihn. Im Gegensatz zu ihren Worten
fühlte sie sich überhaupt nicht von den unerklärlichen Mysterien der Welt
angezogen; viel mehr sah sie den Reiz in technischen Problemen. Dankbar
sah Albert sie an. „Meine Gemahlin wurde von unsichtbaren Geschöpfen
angegriffen, wie sie sich Ausdrückte: Schatten. Sie wurde von ihnen bedroht
und …“ Er brach ab. „Auch wenn wir uns nie persönlich vorstellig wurden, so
stehen Sie beide unter ausnehmend gutem Ruf bei Hofe. Ihre
Ermittlungsarbeiten, sowie Ihre Integrität und Ihre außergewöhnlichen
Befähigungen sind beispiellos in London. Das ist der Grund, weshalb ich mich
mit einem solch … bizarren Problem an Sie wende.“ Er verstummte. Der Blick
seiner hellen Augen nahm einen seltsamen Zug an. Er wirkte verklärt und
entsetzt zugleich. „Können Sie uns helfen?“, fragte er mit belegter
Stimme. Anais überlegte nicht lang. Ihr fiel sofort eine Lösung ein.
Mechanische Raben, die kaum von einem echten zu unterscheiden waren sollten
für eine Konstrukteurin ihrer Art das kleinste Problem darstellen. Diese
Geschöpfe brauchten lediglich eines: eine kleine Kammer für die
Antriebskraft. Um die Magie des Angreifers sollte sich Zaida kummern.
„Das sollte kein Problem darstellen“, erklärte Anais. „Wir brauchen
lediglich jenen Vogel, der das Leben unserer Königin rettete.“
*
Auf Zaidas Stirn perlten Schweißtropfen. Die
Hitze in der Werkstatt und die Kraft, die der Zauber abverlangte, schwächten
sie. Dennoch ließ ihre Konzentration nicht nach. Unter ihren Fingern lag der
zerschmetterte Kopf des mutigen Kolkraben. Das geringe Bisschen, was die
unsichtbaren Angreifer von ihm übrig gelassen hatten, reichte kaum noch, um
seine Seele zurück zu rufen. Manikongo saß auf dem Tisch neben seinem toten
Artgenossen. In den schwarzen Rabenaugen fand Anais tiefes Mitleid. Wenn sie
auch sonst kaum mit dem Zaubergeschöpf aus kam, so konnte sie seine Trauer
verstehen und fühlte mit ihm. Stumm arbeitet sie an dem Korpus des
metallenen Raben, feilte seine Füßchen zurecht und verfeinerte die schlanke,
gebogene Form seines Schnabels. Songa saß ihr bereitwillig Modell. Auch in
seinen Augen las sie Schmerz über den Verlust eines solch mutigen Tieres.
Aus dem Augenwinkel nahm sie Zaidas Bemühungen wahr, rief sich aber sofort
wieder zur Ordnung, um den Rohbau ihres Raben nicht zu gefährden. „Macht
euch keine Sorgen“, sagte sie leise zu Songa und Manikongo. „Zaida wird
seine Seele erreichen. Ein Held wie er ist für größere Aufgaben bestimmt.“
Songa hob den Blick. Auf seine stumme Art pflichtete er ihr bei. Der
plötzliche, heisere Schrei Manikongos ließ Anais zusammenfahren. Sie sah
sich nach ihrer Freundin um. Zaidas Mimik war eine Maske der Anstrengung,
vielleicht auch des Schmerzes. Anais strich mit den Fingerspitzen Rasch den
Metallstaub von dem Schnabel des Metallraben und spannte den großen Korpus
aus der Drehbank. Es war so weit. Zaida brauchte das Gefäß, um die Seele
umzufüllen. Songa flatterte auf und setzte sich nah seiner Herrin auf den
Rahmen einer riesigen Metallsäge. Behutsam legte Anais den Kupferraben
vor Zaida ab. Die Hexe stand mit einer zur Schale geformten Hand da und
wartete ab. Zwischen ihren Fingern glühte schwach blaues Licht. Anais
entriegelte den Schädel und Brustbehälter. Sie stellte sich auf die andere
Seite des Tisches, um die Fächer schnell genug zu schließen und anschließend
zu verschweißen. Aus Zaidas Faust troff das blaue Licht wie zäher Honig
in die beiden Kammern. Angespannt wartete Anais auf ein Zeichen ihrer
Freundin, um den Vogel zu verschließen. Zaidas Kiefer mahlten. Die
Anspannung verlieh ihrer Haut einen ungesund fahlen Schimmer. Wie sehr
musste sie sich auf ihre Arbeit konzentrieren, fragte sich Anais stumm. Sie
hielt eine flüchtige Seele komprimiert auf die wenigen Tropfen Lichts …
„Jetzt“, keuchte Zaida. Anais schlug beide Kammerdeckel zu und begann die
Klappen zu versiegeln. Eine geringe Menge des blauen Lichtes verlor sich vor
ihren Augen. Der Hauptteil allerdings befand sich in dem Korpus. Eilig
vollendete sie ihre Arbeit, sodass Zaida ihre Schutzsymbole in das Metall
ätzen und dem Vogel neues Leben verleihen konnte. Wie so oft arbeitete Anais
nebenbei an weiteren Details für das natürliche Aussehen des Tieres, fand
aber immer Zeit, Zaidas Handgriffe zu beobachten. Einige der winzigen
Symbole, die die Hexe eingravierte, waren ihr Fremd. „Was gibst du ihm an
unterschiedlichen Fähigkeiten?“, fragte sie interessiert. Zaida lachte
leise. Ihre dunkle Stimme strich durch den Raum, wie die Seelennebel zuvor.
„Er wird bei einem ähnlichen Angriff zurückverfolgen können, wer das Reich
stürzen will und ihm diese Ideen gründlich austreiben.“ Anerkennend hob
Anais die Brauen. „Damit wäre die Gefahr eines weiteren magischen Angriffs
gebannt.“ Zaida nickte, während sie dem Vogel über den nackten
Metallschädel strich. „Er wird Victoria nun ihr gesamtes Leben hindurch
dienen können.“ Sie wendete sich Anais zu. „Wir werden in jedem Fall von
unserem Freund hier noch sehr viel lesen und hören“, sagte sie
triumphierend.
*
Wenige Tage später saß Anais über
Konstruktionszeichnungen, als Zaida mit der Morgenausgabe der Times die
Werkstatt betrat. Ein seltsam erleichterter Zug lag um ihre vollen Lippen.
Sie lächelte. Songa flatterte ihr voraus. Er ließ sich auf Anais’ Schulter
nieder und begann sein Gefieder zu putzen. Auch Manikongo folgte seiner
Herrin. In seiner Haltung und den klugen Augen las Anais Stolz und Freude.
„Ihr drei seid ja bestens gelaunt“, lächelte sie. Wortlos legte Zaida
eine bereits zurechtgefaltete Seite auf dem Tisch ab. Anais schob sich den
Bleistift hinter ein Ohr und rückte ihre Arbeitsbrille zurecht. Mit einer
Hand angelte sie nach der Zeitung, während sie mit der anderen Songa
kraulte. Der Artikel, auf den Zaida anspielte, war nicht lang und auch
nicht sonderlich aufschlussreich. Er befasste sich mit dem Unfall eines
Ministers. Laut Angaben seiner Jagdaufseher solle er während er auf Vögel
schoss, von einem außergewöhnlich großen Kolkraben angegriffen worden sein,
der – trotz mehrerer Ladungen Schrot – keine Schramme davon getragen habe.
Der Minister jedoch sei von jenem Vogel geblendet worden. Anais legte die
Zeitung nieder. „Unser Rabe?“, fragte sie Zaida. Diese nickte. „Damit ist
die Königin vorerst wieder sicher“, lächelte sie zufrieden.
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