Die mächtigen Glasfenster der Fertigungshalle
wurden von der Druckwelle aus den Rahmen gesprengt. Ein Feuerball breitete
sich im Zentrum des Backsteingebäudes aus. Flammenspeere fauchten in die
mittägliche Sommerhitze. Mit der Urgewalt dieser Explosion hob sich das
Dach. Die gewaltigen Metallplatten schleuderten glühend durch die Luft.
Einen Herzschlag später erschütterte eine zweite Detonation das Werk. Die
dicken Backsteinmauern brachen nach außen. Ziegel wurden zu tödlichen
Geschossen, die Tore, Fenster und Türen der umstehenden Lager und
Verwaltungsgebäude durchschlugen.
Die dritte Explosion riss die letzten Mauern ein.
Gewaltige Gesteinsbrocken wurden aus dem Erdreich in die Luft geschleudert.
Ein massives Stahlgerüst, was den Korpus eines schlanken Schiffes trug,
brach glühend in sich zusammen. Glühende Funken stoben in die flirrende
Luft. Eine Wolke aus Staub und Ruß wogte über dem Werksgelände. Leise
klirrend regneten feine Glassplitter auf das Kopfsteinpflaster nieder.
Die darauf folgende Stille wurde lediglich von dem
leisen Knacken überhitzten Metalls und brennendem Holz durchbrochen.
*
Feuerwehr, Lazarettskutschen, Journalisten und
Schaulustige versperrten die Straße zu der Werkshalle. Über alle Köpfe
hinweg sah Anabelle den gen Himmel ragenden Rammsporn des Schiffes. Ruß
überzog seine Außenhaut. Der Leib des Schiffes lag vermutlich zerschellt auf
dem Boden der Werkshalle.
Ein Schauer rann ihr über den Rücken. Ihr
Maschinenkörper konnte weder Hitze noch Kälte wahr nehmen. Dennoch sendete
ihre menschliche Seele diesen Impuls durch ihre Glieder. Instinktiv zog sie
die Schultern hoch und rieb sich die Arme.
Eine Hand berührte ihren Arm.
„Miss Talleyrand, Mr. Hailey erwartet Sie
bereits.“ Anabelle
sah zurück. Ihr Blick begegnete dem Sergeant Masters’. Blankes Entsetzen
stand in die Züge des blassen Mannes geschrieben. Sie senkte den Kopf und
nickte. „Ist Madame
Zaida schon anwesend?“, fragte Anabelle, während sie ihm folgte.
Masters deutete ein Nicken an. Er führte Anabelle
zu einem prunkvollen Gebäude, dessen Front zur Themse zeigte. Die Schäden an
den verputzten Außenwänden zeugten von der Gewalt der Explosion. Anabelles
Blick glitt an dem imposanten Bau hinauf. Ein Schmiedeeisenbalkon im ersten
Stock überkragte die gesamte Front. Er wurde von wuchtigen Säulen getragen.
Die breite Freitreppe führte zu kunstvoll bleiverglasten Türen. Auf einem
Marmorschild stand das Firmenlogo. Hier saß die Verwaltung der Erhardt &
Gelderlander Luftschiffswerft. Wortlos erklomm Anabelle die Stufen. Unter
ihren Stiefeln knirschten Glas und Steinsplitter. Eine Krankenschwester in
dunklem Kleid und Häubchen kümmerte sich in dem Foyer um verwundete
Personen. Anabelle schenkte ihnen wenig Aufmerksamkeit. Ihr Hauptaugenmerk
galt den gerahmten Werbeplakaten der Werft. Die Druckwelle hatte viele von
den Wänden gefegt. Auf dem Boden lagen Bilder des neuen Schiffstypen.
Anabelle blieb stehen und kniete nieder. Neugierig hob sie zwei Plakate auf
und betrachtete den verzierten, schlanken Rumpf der neuen Aetherschiffe.
Bisher beschränkte sich die Werft lediglich auf heliumbetriebene
Starrluftschiffe. Seit sie zum ersten Mal von dem Konzept des Himmelsseglers
in der Zeitung gelesen hatte, grübelte sie über die Technik hinter diesem
Wunderwerk. Anhand der im Vorfeld veröffentlichten Skizzen, baute sie in
theoretischen Schritten daran mit. Die Forschung an der neuen, eher
historischen Gestaltgebung irritierte und faszinierte Anabelle zutiefst. Mit
einer Art metallenem Wikingerschiff in die Luft zu schweben, erschien ihr
unmöglich. Die Vorstellung, damit die Wolken zu den Sternen zu durchbrechen,
konnte sie sich noch weniger vorstellen. Ihr ausgeprägter Verstand reichte
nicht aus, sich dazu logisch herleitbare Techniken einfallen zu lassen.
Sie rollte die Plakate ein und tippte sich
nachdenklich mit dem Rand gegen die Stirn.
„Mademoiselle Talleyrand?“, fragte Masters dicht
hinter ihr. Nervös fuhr er sich mit den Fingern durch das rote Haar. Sie
erhob sich.
„Monsieur Masters“, flüsterte sie, darauf bedacht keinen zufälligen Zuhörer
auf sich aufmerksam zu machen. „Haben Sie sich nie die Frage gestellt, wie
dieses Prinzip funktioniert und ob es für solch revolutionäre Technik nicht
reichlich Neider gibt?“
Sie strich sich mit einer Hand den Rock glatt und
klopfte den Staub und die Splitter aus Saum und Schleppe.
„Doch, durchaus“, erklärte der Sergeant. „Wollen
Sie andeuten, dass Erhardt & Gelderlander möglicherweise ihrer Technik
beraubt und aus dem Wettbewerb ausgebootet wurden?“
Anabelle sah an ihm vorbei, aus der geborstenen
Eingangstür. Gendarmerie trieb die Schaulustigen auseinander um die
Leichenwagen durchzulassen.
„Es wäre in jedem Fall eine einzukalkulierende
Möglichkeit, Sergeant“, entgegnete sie.
„Inspektor Hailey vermutet ähnliches, einen
Anschlag, keinen Unfall“, erklärte Masters. „Aber wie skrupellos müsste man
sein, um dafür ein Werk zu sprengen und hunderte Arbeiter zu töten?“
Anabelle reichte dem Sergeant ihre Hand. Masters
ließ gern zu, dass sie sich bei ihm unterhakte.
„Sind wir nicht zur Klärung hier, Sergeant
Masters?“
*
„Monsieur le Inspekteur“,
begrüßte Anabelle den stiernackigen Hailey. Seine massige Boxerstatur hob
sich neben der zierlichen Gestalt einer älteren Dame in bieder hellgrauem
Kostüm nahezu ungeheuerlich ab. Der Inspektor sah kurz von dem Tisch vor
sich auf. „Miss
Talleyrand!“, rief er. Offenbar blieb es bei dieser etwas mageren Begrüßung.
Anabelle hob eine Braue.
„Es freut mich, Sie wiederzusehen“, gab sie betont
pikiert zurück. Die Spitze prallte an Haileys dickfelliger Ost-Londonernatur
ab. „Milly Havelock
ist mein Name.“ Die Dame trat auf Anabelle zu. Allerdings standen ihr Tränen
in den Augen. „Ich bin Mr. Erhardts Sekretärin.“ Allein die Erwähnung dieses
Namens ließ sie aufschluchzen.
Anabelle ergriff ihre Hand und drückte sie leicht.
Die emotionale Art irritierte die Wissenschaftlerin.
„Anabelle de Talleyrand“, stellte sie sich knapp
vor. Rasch wendete
sich Miss Havelock ab und presste das Taschentuch gegen ihre dünnen Lippen.
Verunsichert durch dieses Verhalten blieb Anabelle in dem prachtvollen
Büroraum stehen und beobachtete sie.
Masters löste sich von Anabelles Arm und trat zu
der alten Dame hinüber. Langsam geleitete er sie zu einem schweren
Ledersessel. „Mr.
Masters …“, flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme. „Was soll nun aus uns
allen werden? Mr. Erhardt ist tot und Mr. Gelderlander …“ Sie schluchzte und
vergrub ihr Gesicht in den Händen.
Anabelle wusste, wie unhöflich und kalt ihr
Verhalten auf diese Frau wirken musste, konnte aber nichts daran ändern.
Bereits jetzt zog sie Schlüsse aus den Reaktionen Mrs. Havelocks. Die
Beziehung zwischen Mr. Erhardt und seiner Sekretärin schien nicht vollkommen
einwandfrei zu sein. ‚Erhardt tot?’, Anabelle legte die Stirn in Falten. Zu
ihm und Gelderlander wollte sie gerade eine Frage stellen als der Inspektor
sie zu sich winkte.
„Anabelle, das ist Ihr Gebiet“, rief Hailey.
Rasch wendete sie sich dem Inspektor zu. Er stand
über einen ausladenden Tisch geneigt, und stützte sich mit seinen gewaltigen
Fäusten auf der dunklen Platte ab. Vor ihm lagen unzählige, auseinander
gerollte Pläne und Bauanleitungen für das Schiff, sowie in Leder gefasste
Schriftstücke.
Anabelle ergriff eines jener Bücher, und schlug es an willkürlicher Stelle
auf. Inhaltlich fanden sich statische Berechnungen für den Rumpf des
Schiffes. Neugierig überflog sie einige Zeilen. Die Belastung, mit der
Erhard und sein Partner zu rechnen schienen, entsprach der Statik eines
Güterdampfers. Irritiert runzelte Anabelle die Stirn. Sollte das Schiff
nicht ausschließlich Passagiere transportieren? Nach der errechneten Statik
des Skeletts würde der Luftsegler mit hoher Wahrscheinlichkeit auch schwere
Last transportieren können.
„Haben Sie was gefunden?“, fragte Hailey.
Anabelle wiegte den Kopf. „Ich weiß nicht genau“,
murmelte sie. Nachdenklich legte sie das Buch ab, um in den Risszeichnungen
zu blättern. Laut Plänen und Grundrissen, sollte es drei Passagier- und ein
Aussichtsdeck geben. Die einfachen Kabinen besaßen mehr Platz, als eine
Hotelsuite. Dieser Komfort fehlte den gängigen Luftschiffen. Ebenso gab es
Appartements mit Salons, großen Bädern und Ankleidezimmern. Wozu solch eine
Verschwendung? Sie
griff nach dem nächsten Buch und blätterte es durch.
„Anleitungen zur Herstellung von
Leichtmetalllegierungen, die hoher Reibungshitze widerstehen können“,
murmelte sie. Ein Stahlskelett, die Außenhaut aus leichtem Metall und die
statischen Berechnungen für ein Schlachtschiff passten nicht zueinander.
Einige Eintragungen erschienen ihr fundiert, andere sinnlos.
„Gibt es eine Angebotssammlung oder ein
Auftragsbuch für die Innenausstattung?“, fragte sie mit einem Seiteblick zu
Hailey. Der Inspektor nickte. Mit einer Hand hob er einen Katalog auf, der
neben dem Tisch auf dem Boden stand. „Das hier, denke ich“, sagte er.
Anabelle schlug die ersten Seiten auf. Mit einem
Finger fuhr sie über das Register der einzubauenden Möbel, Lampen und
Sanitäranlagen.
„Haben wir das auch für die technischen Einbauten? Die müssten als Katalog
aufgenommen worden sein.“
Hailey hob die Schultern. „Da kann ich Ihnen nicht
helfen.“ Anabelle
nickte. „Mrs. Havelock?“, wendete sie sich an die Sekretärin.
Die alte Dame saß zusammengesunken in ihrem
Sessel. Erschrocken hob sie den Blick. Erst als sie Anabelle ihre ungeteilte
Aufmerksamkeit schenkte, sprach die junge Wissenschafterin weiter. „Gibt es
in Ihren Unterlagen Kataloge über die bereits eingebauten
Sonderherstellungen?“, fragte sie.
Die alte Dame erwiderte Anabelles Blick mit
vollkommenem Unverständnis.
„Ich rede von Belüftungssystemen, Verrohrungen,
Sanitäranlagen, Gasleitungen, Luftumwälzern, Heizungen,
Wasserwiederaufbereitung und ähnlichem.“
Mrs. Havelock schlug die Augen nieder. „Ich glaube
diese Bücher befanden sich zum Zeitpunkt des Unglücks in der
Maschinenhalle.“
Trotz der vorgeblichen Ahnungslosigkeit der alten Dame, fiel es Anabelle
schwer, ihr glauben zu schenken. ‚Wie praktisch!’, dachte sie. Ihrer Ansicht
nach war ein solcher Fall schier unmöglich. Diese Bücher dienten lediglich
der Ablage. Die Techniker arbeiteten mit Duplikaten und Wasserpausen.
Vorerst verschwieg sie ihre Gedanken.
„Sehr bedauerlich“, sagte sie.
Nach der Mimik Haileys zu urteilen ließ ihr
schauspielerisches Talent zu wünschen übrig.
„Ich brauche mehr Zeit, um all diese Unterlagen
gebührend zu prüfen. Deshalb würde ich mich gerne über Nacht einquartieren
und arbeiten“, erklärte Anabelle.
Hailey warf Mrs. Havelock einen kurzen Blick zu.
Die Mimik der alten Dame gefror.
„Weshalb?!“, verlangte sie zu wissen.
„Miss Talleyrand ist wissenschaftliche Beraterin
Schottland Yards, Madam“, erklärte er steif. „Ihre Prüfung deckt
möglicherweise mehr als einen Unfall auf.“
Die alte Dame zögerte.
„Ich kann es befehlen lassen“, vertraute Hailey
ihr wenig freundlich an. Anabelle beobachtete die Sekretärin. Hölzern nickte
sie. „Also gut, wie Sie wollen.“
Brüsk erhob sich Mrs. Havelock und schritt zu der
Bürotür. „Sie gestatten, dass ich Mr. Gelderlander telegraphisch
informiere?!“
„Sicher“, bestätigte Hailey. Die Sekretärin verließ das Zimmer. Anabelle
wies hinaus. „Wissen Sie, wo sich Madame Zaida befindet?“
*
Journalisten bedrängten
die Polizei mit ihren Fragen, während Fotographen ihre unhandlichen Apparate
abbauten. Auch
Anabelle wollte sich ein Bild über das Ausmaß der Zerstörung machen. Mit
raschen Schritten eilte sie in das Zentrum der Explosion. Der Anblick ließ
sie erneut schaudern. Riesige Teile des Steinbodens fehlten. Geschmolzenes
Metall verband sich mit Holz und Ziegeln. Ketten, Zahnräder und große
Platten der Dachabdeckung lagen auf der Erde verstreut. Das Skelett des
Schiffes glühte noch immer. Die darunter begrabenen Arbeiter mussten ein
grauenhaftes Ende genommen haben. Noch immer wurden Leichen geborgen.
Anabelle bezweifelte, dass irgendeine Person so nah des Explosionsherdes
überlebt haben konnte. Die Ausmaße der Zerstörung lagen jenseits jeder
Vorstellungskraft.
Anabelle schritt langsam voran. Vorsichtig, bedacht auf das immense Gewicht
ihres Maschinenkörpers, umging sie instabilere Stellen des Bodens. Sie
suchte Zaida. Mit einer Hand raffte sie die Schleppe ihres Kleides, um in
den Krater unter dem Wrack zu klettern.
Geröll und Schutt knirschte unter ihren Absätzen.
Ein Polizist hob kurz den Blick, wendete sich aber wieder ab, als er sie
erkannte. Wenige Schritte entfernt stand die schlanke, hochgewachsene
Angolanerin. Sie hielt in ihrer unbehandschuhten Hand ihren Stock mit dem
silbernen Rabenkopf. Behutsam rieb sie über das Metall. Langsam drehte sie
sich um ihre Achse. Es schien, als wolle sie sich einen Überblick
verschaffen. Zaida sah durch die Schleier der Wirklichkeit und den Filter
der Magie.
Vorsichtig trat Anabelle an ihre Seite und wartete geduldig, bis sich die
Aufmerksamkeit ihrer Freundin auf sie richtete.
„Wie viel weißt du von Hailey?“, fragte die
Zauberin leise.
„Pläne und Berichte habe ich mir angesehen und Mrs. Havelock kennen
gelernt“, entgegnete Anabelle.
„Deine Meinung?“ Zaidas Mimik verriet nichts von
ihren persönlichen Eindrücken.
„Sie ist dem Seniorpartner sehr ergeben“, murmelte
Anabelle. „Ihr missfällt die Prüfung der Unterlagen.“
„Wir sind Fremde, die unangenehme Fragen stellen
und den Ruf Erhardts beflecken könnten“, entgegnete Zaida.
„In jedem Fall.“ Anabelle straffte sich. „Anhand
der Unterlagen und dem Fehlen einzelner Dokumente möchte ich die ehrbaren
Absichten Mr. Erhardts ebenso in Frage stellen wie die von Mr.
Gelderlander.“ Zaida
streifte ihren Handschuh über und umklammerte den Stock fester. „Was hast du
gefunden?“
Kommentarlos entrollte Anabelle die Plakate, die sie aus der Eingangshalle
mit genommen hatte. Das silbrige Wikingerschiff schnitt auf einer
Illustration durch die Wolkendecke zu den Sternen. Auf der anderen
präsentierte es sich seriös als Luxusliner der Lüfte. Mit einer knappen
Kopfbewegung deutete sie zu dem Sporn, der über Ihnen in den Krampen hing.
„Anhand der Statik und der Inneneinrichtung würde
diese Konstruktion nicht starten können“, erklärte Anabelle ruhig. Sie sah
den leisen Zweifel in dem Blick ihrer Freundin. „Die Forschung ist hierfür
nicht weit genug. Zurzeit brauchen wir Heliumballons und Rotoren. Dieses
Schiff hat Segel. Wenn sich im Bauch nicht außergewöhnlich viel Gas für den
Antrieb befinden sollte, wird es nicht starten. Davon abgesehen fehlen ihm
die relevanten Rotoren, die es davor bewahren ins Trudeln zu kommen.“
„Dieses Schiff wird seit Monaten beworben“,
murmelte Zaida tonlos.
„Unser Weg zu den Sternen“, zitierte Anabelle.
Ihre Stimme troff vor Ironie. „Nein. Dieses Schiff ist Betrug.“
Zaida senkte den Blick. „Kannst du diese Theorie
beweisen?“ „Gib mir
Zeit, Pläne und Berichte zu studieren, um sie anschließend mit dem Wrack zu
vergleichen.“
*
Der Verdacht des Betruges
und der Veruntreuung von Forschungsgeldern verdichtete sich für Anabelle,
als Hailey von einem Besuch bei der Rotschild-Bank zurückkehrte. „Anabelle!“
rief er schon auf die Entfernung. „Sie hatten offenbar den richtigen
Riecher!“ Anabelle
hob den Blick. Sie kniete auf dem Boden, in ihren Händen ein Kupferzylinder
und Reste einer winzigen Kupferspule aus einer Taschenuhr. Sie trug
unterdessen den groben Hosenanzug eines Arbeiters und Handschuhe. Sergeant
Masters assistierte ihr. Er stand an einem Tisch und katalogisierte, was
Anabelle an Einzelteilen fand und sofort zuweisen konnte. Sie legte den
Zylinder ab und nickte dem jungen Mann zu. „Notieren Sie, Masters?“, bat sie
ihn. „Sicher,
Mademoiselle!“ „Was
haben Sie erfahren?“, wendete sie sich an den Inspektor, der atemlos neben
dem Tisch innehielt.
„Die Konten sind eingefroren worden. Aber die
Einlage war ziemlich gering“, keuchte er. „Allerdings wurden, laut den
Rothschilds, große Beträge an eine Firma nach Indien transferiert. Bei allen
anderen Unterlieferanten für dieses Projekt sind wiederum nur geringe
Anzahlungen geleistet worden.“ Er tupfte sich mit einem Taschentuch den
Schweiß von der Stirn. „Was konnten Sie in der Zeit finden?“
Anabelle deutete auf den Tisch und die Bücher
hinter sich. „Dieses Schiff sollte einen Verbrennungsmotor auf Basis von
Diethylether erhalten. Diese Idee ist gut. Die Energie, die aus diesem
hochexplosiven Stoff gewonnene wird, ist immens. Diese Zusammensetzung
entzündet sich bei 95°F .“ Sie strich sich eine Strähne aus dem Gesicht.
„Diethylether ist hochbrennbar und schwerer als Luft. Man kann sich
ausrechnen, dass ein Leck in einem der Versorgungstanks in Kombination mit
einem Zündfunkengeber tödlich endet.“
Hailey fuhr sich mit dem Handrücken über die
schweißnasse Stirn. Nachdenklich rieb er sich den Nasenrücken. Er überlegte.
Anabelle gewährte ihm die Zeit, seine eigenen Schlüsse zu ziehen. „Das ist
hier passiert?“ Sie
nickte. „Wie gut
lassen sich die Tanks manipulieren?“, fragte er nach einigen Sekunden.
Anabelle deutete auf die Kupferzylinder auf dem
Tisch. „Diese kleinen Spielzeuge hier hatten einen Zünder. Dafür dienten
wahrscheinlich billige Taschenuhren. Aus dem Schutthaufen habe ich kleine
Bestandteile eines Uhrwerks herausfiltern können. Ein Zeiger, ein
verschmortes Uhrblatt und eingeschmolzene Rädchen. Diese zündeten das hier
…“ Sie hob das Kupferrohr an. „Sie dienten als bewegliches Auflager unter
den Gastanks im Keller.“
Sie wendete sich zu einem gewaltigen Krater im
Boden. „Kommen Sie!“
Mit raschen Schritten erreichte sie ihn und sprang
hinein. Hailey blieb nichts anderes, als ihr zu folgen. Dicht hinter
Anabelle federte er in den schlecht beleuchteten Gewölbekeller.
„Licht kann man keines machen, nehme ich an“,
murmelte der Inspektor. Anabelle nickte. „Der süße Geruch lässt auf einen
Rest Äther schließen, Monsieur Hailey“, erklärte sie. „Halten Sie sich also
besser ein Taschentuch vor Ihr Gesicht.“
Der Inspektor presste beide Hände gegen Mund und
Nase. Anabelle betrachtete ihn spöttisch.
„Kommen Sie.“
Mit gebührender Vorsicht schritt Anabelle vor ihm
über Schutt und verkohlte Reste von Kisten.
„Warum sind Sie sich so sicher, dass die Fabrik
keinem neidischen Konkurrenten zum Opfer fiel?“, fragte er.
„Die Pläne sind undurchführbar. Seit ich von dem
Konzept gelesen habe, Monsieur, überlege ich mir, wie ich ein Schiff dieser
Art bauen würde.“
Sie blieb vor einem schwarz verbrannten Krater stehen.
„Anabelle, Sie sind nicht das Maß aller Dinge!“,
zischte Hailey ärgerlich.
Sie hob den Blick. Die Beleidigung prallte an ihr
ab. „Das weiß ich
durchaus. Allerdings ist mir auch bewusst, dass die Menschen an Bord Luft
zum Atmen und Wasser brauchen.“ Sie hob beide Hände. „Dazu würde ich die
Außenhülle vollständig schließen und eine Wasser- und
Luftwiederaufbereitungsanlage einbauen.“ Sie lachte auf. „Davon abgesehen,
wohin sollten die Menschen fliegen? Zum Mond?“, fragte sie spöttisch.
Hailey schwieg.
„Wenn Sie sich den Mond in der Sternwarte
betrachten, so können Sie nicht mehr erwarten, als eine Ansammlung von Staub
und Steinen. Wissen wir, ob wir dort atmen oder leben können?“ Sie wartete
seine Antwort nicht ab. „Nein!“ Nach einer Sekunde Zögerns schüttelte sie
den Kopf. „Die Idee ist reizvoll, ein Traum für jeden Ingenieur, Pionier und
Abenteurer, nicht für reiche Menschen, die es leid sind um die Welt zu
segeln.“ Die
Konsequenz aus Anabelles Worten erschütterte Hailey zutiefst.
„Dann starben all diese Menschen für nichts“,
flüsterte er tonlos.
„Wahrscheinlich.“ Anabelle wies auf einen
deformierten, zerplatzten Tank, unter dem verkohltes Holz lag. „Alle
Brennbarkeit und Explosivität wäre nicht so verheerend gewesen, wenn nicht
zusätzliches Brandmaterial hier gelagert worden wäre.“
Hailey schluckte hart. „Grauenhaft!“
„Zaida und Masters haben hier unten den vollkommen
zerfetzten Leib eines Menschen gefunden.“
„Der Initiator?“, vermutete Hailey.
„Oder das Opfer“, überlegte Anabelle. „Mrs.
Havelock sprach von Mr. Erhardt, der offenbar starb.“
„Laut ihrer Aussage ging er jeden Tag für mehrere
Stunden in die Fertigung, um selbst die Arbeiten zu überwachen“, führte er
aus „Erhardt war der leitende Ingenieur und vertraute offenbar nicht einmal
seinem jüngeren Partner die Geheimnisse dieser Erfindung an.“
„Er musste fürchten, dass Gelderlander seine
Konstruktion als Lüge enttarnt.“ Anabelle räusperte sich. „Wo ist Mr.
Gelderlander überhaupt?“
„Die Havelock konnte mir nur sagen, dass er
bereits seit einer Woche auf Geschäftsreise ist … in Delhi.“
„Sicher?“, fragte Anabelle misstrauisch nach.
„Haben Ihre Männer diese Spur schon überprüfen lassen?“
„Ja, aber mir fehlen die Ergebnisse“, gestand
Hailey. „Vielleicht
ist der Tote Monsieur Gelderlander.“ Nachdenklich wiegte Anabelle den Kopf.
„Warten wir bis heute Nacht. Sicher wird Mrs. Havelock weitergeben, dass ich
hier bleibe. Ich rechne in jedem Fall mit Besuch.“
„Kommen Sie allein klar?“, fragte Hailey. Sorge
klang in seinen Worten mit.
Mit einem Grinsen nickte Anabelle. „Sie wissen
doch: ich bin eine Maschine.“
*
Noch immer ragte der Sporn
über ihr auf. Seit mehreren Stunden war sie – bis auf wenige Bobbys, die
darauf achteten, dass kein Unbefugter das Gelände betrat – allein.
Im Licht von Karbidlampen und Fackeln las sie sich
die Unterlagen durch. Einige bemerkenswerte Punkte fielen ihr auf. Es gab
geringe Unterschiede im Strich von den technischen Rissen, den Details für
den Drechsler und den Darstellungen der Motoren, zu der Ausstattung der
Kabinen. Für Anabelle stand fest, dass an diesen Plänen unterschiedliche
Personen gearbeitet haben mussten. Stammte die Grundidee von Gelderlander –
oder einer anderen Person? Vielleicht einem unbedeutenden Ingenieur, der
vielleicht die Arbeit an dem Projekt aufgab?
Jemand räusperte sich hinter ihr. Ohne sich
umzudrehen oder den Blick von den Plänen zu nehmen fragte sie: „Monsieur
Erhardt, wie ich annehme?“
„Ja“, entgegnete der alte Mann knapp. Anabelle
drehte sich zu ihm um. Außerhalb des Lichtkreises erhob sich ein fast
konturloser Schatten. Lediglich der Lauf eines Gewehres hob sich schwach ab.
„Warum sind Sie zurück gekehrt?“, fragte sie
ruhig. „Ich kann
Ihnen meinen Schatz nicht ausliefern“, entgegnete er. Seine Tonlage klang
androgyn und weich, aber auch alt. „Sie wissen diese Pläne nicht zu
würdigen, Mademoiselle Talleyrand.“ Ein gefährlicher Unterton schlich sich
in seine Stimme. Die Schärfe darin umriss ein Quäntchen Wahnsinn.
„Was glaubten Sie, mit diesen Dokumenten zu
erreichen, Monsieur?“, fragte Anabelle leise. „Sie wissen, dass diese
Unterlagen ein Luftschloss beschreiben …“
„Woher kommt nur diese französische
Überheblichkeit?“, fragte er.
„Ich habe Wissen, keine Überheblichkeit“,
entgegnete Anabelle verärgert.
„Wissen?!“, zischte er. „Dieses Schiff ist ein
Meisterwerk. Die vorangegangenen Luftschiffe sind nichts im Vergleich
hierzu!“ „Die
bisherigen Bautypen sind in der Lage zu fliegen, sie bringen Ihnen und
Gelderlander Ruhm und Geld ein …“
„Schweigen Sie!“, donnerte er.
Anabelle wusste, dass sie mit einem Verrückten
sprach. Trotz allem konnte sie nicht schweigen. „Warum? Weshalb haben Sie
ein Projekt verfolgt, dass zum Scheitern verurteilt war?“
Erhardt schoss. Die Kugel fetzte Erdreich und
Stein aus dem Boden vor Anabelles Füßen. Erschrocken wich sie zurück, bis
sie gegen ihren Tisch stieß. Auf Einschüsse in ihrer Kautschukhaut konnte
sie gut verzichten. „Monsieur …“, begann sie, wurde aber von seinem
unartikulierten Aufschrei unterbrochen. Die Wachen wurden sicher gleich auf
ihn aufmerksam!
„Schweigen Sie!“, brüllte er. „Die Pläne meines Sohnes waren perfekt!“
Irritiert blinzelte Anabelle. Sohn? Wie hatte sie
die menschliche Seite aus ihrer Kalkulation heraus lassen können?! Es ging
Erhardt scheinbar nicht um Geld von Investoren.
„Die Differenzen in den Plänen“, murmelte sie.
„Monsieur, Sie haben die Arbeit ihres Sohnes fortgeführt?“
Die Milde in ihrer Stimme beruhigte Erhardt etwas.
„Ja“, flüsterte er. „Seine Idee war so brillant! Aber Gelderlander wollte
das Design bestimmen. Es sollte prachtvoller sein als alle Schiffe, die je
gebaut wurden.“ Er verstummte. Sein heiseres Schluchzen brach durch die
Stille zwischen ihnen. „Mein Sohn … Millys Sohn …“ Wieder versagte seine
Stimme. „Gelderlander hat sein Konzept ad absurdum geführt. Dieses Schiff
ist flugunfähig.“
Anabelle nickte. „Gelderlander wollte Subventionen und schnellen Profit.
Vermutlich ist er mit dem Geld geflohen.“
Stein knirschte unter Erhardts Schuhen. Er trat in
den Lichtkreis. Sein eingefallenes, fahles Gesicht sprach von Entbehrung und
Leid. Wirr hingen seine grauen Haare in die Stirn. Offenbar trug er seit
Tagen den gleichen Anzug und fand keine Zeit sich zu rasieren. Anabelles
Seele zog sich zusammen. Sie empfand Mitleid.
„Mein Sohn wurde – Dank Gelderlanders Habgier –
während eines Unfalls im Werk zu einem Krüppel. Wochen danach starb er an
den Folgen. Ein Leben für ein Leben!“
„Die zerfetzte Leiche war Gelderlander“, vermutete
Anabelle. „Ja“,
bestätigte Erhardt. Der Ingenieur sank ein Stück weit in sich zusammen. Das
Mitleid in Anabelle wuchs. Sie wusste, dass es für den alten Mann keine
Zukunft gab gab. Er war der Mörder von hundertfünfzig Arbeitern und seinem
Partner. Aber wie groß wäre das Ausmaß der Katastrophe, wenn dieses Schiff
je gestartet wäre. Ein Absturz, eine Explosion, gleichgültig welches
Szenario sie sich dafür setzte, würde weitaus mehr Opfer fordern. Das
Interesse an der Forschung und die Diskussion über Sinn und Unsinn der
Raumfahrt würde neu angefacht, ausgelöst durch das Fiasko des gestrigen
Tages. Irgendwann würde es den Menschen gelingen. Der Weg in das All war
ihnen sicher. „Ihr
Sohn wird seine Ehre und Anerkennung bekommen“, flüsterte Anabelle. „Auf
Basis seiner Technik können andere Wissenschaftler sein Werk fortführen.
Seine Idee wird nicht ungehört bleiben. Er teilt den Traum nach den Sternen
mit uns allen. Wenn die Zeit reif ist, ein Sternenschiff zu bauen, wird auch
er diese letzte Grenze durchbrechen.“
|