Der Todesengel

 

Das Licht wird schwächer. Es Dämmert. Mit jedem Herzschlag wird es schwerer, die Buchstaben vor meinen Augen zu erkennen. Selbst das Licht der Kerzen reicht nicht...

Der dumpfe Schlag der Bronzeglocke wehte mit dem kühlen Herbstwind zu mir hinauf und ruft monoton zum Gebet. Ein Geräusch, was ich im Lauf der Jahrzehnte zu hassen lernte.

Bin ich in meinem Glauben verwirrt? Nein. Ich trauere vermutlich nur meinem verlorenen Leben nach.

Müde erhebe ich mich von dem Holzschemel, der meinen Rücken vor nicht mehr fassbaren Jahren krümmte. Meine Augengläser fallen auf der Übersetzung der heiligen Schrift nieder, die ich schon so lange bearbeite. Unbewusst, ohne es noch als Handlung zu wollen, löschen meine faltigen Hände die Kerzen auf dem Pult. Ich höre meine eigenen Schritte schleifend und schwerfällig auf dem groben Steinboden, sehe meinen verkrümmten Schatten, hager, gebeugt, auf einen einfachen Holzstab gestützt.

Welch hochmütiger Gedankengang in dieser alten, leeren Hülle. Erfüllt mich dieser Anblick tatsächlich mit solchem Abscheu, solchem Hass? Trauere ich wirklich der stolzen Erscheinung, die ich in jungen Jahren war, nach? Ja, ich gestehe es mir ein. Ich hätte ein solch wundervolles Leben führen können...

Wohin haben meine Schritte mich gelenkt?

Was mache ich am Fenster?

Muss ich nicht hinab, um an der Abendandacht teil zu nehmen?

Meine Hände stützen sich schwer auf das steinerne Fensterbrett. Ich lehne mich ein wenig hinaus und sauge diese kühle, freie Luft ein. Sie riecht nach Regen. Die Dämmerung färbt den fahlen Himmel grau. Irgendwo, weit entfernt, heult ein Hund. Bestimmt eines der Tiere auf einem der Höfe in den Hügeln.

Sie bringen den Bauern nichts als Steine ein, kein Korn, aber sie sind auf ihre Weise frei.

Alles dort draußen, vor den Klostermauern ist frei. Aber trage ich nicht selbst die Schuld an meinem frei gewählten Gefängnis?

Müde senke ich den Blick und lausche dem Wind in den blattlosen Baumskeletten.

Irgendwo, weit unter mir ändert sich der Laut der Andachtsglocke, weicht den monotonen, murmelnden Stimmen, die den düsteren, kalten Raum der Kapelle hohl und unheilvoll erfüllen.

Fast wie ein Totengesang...

Leise, sanft, ungreifbar, mischt sich ein Rauschen unter die Geräusche... Das Rauschen zweier gewaltiger Flügel. Es kommt näher, wird lauter.

Meine Lider senken sich über meine schwachen Augen.

Ich lausche dem Rauschen der Schwingen, ganz versunken in dieses mächtige Geräusch.

Alles verblasst dagegen... Mein Herz schlägt ruhiger, gleichmäßig.

Als sich meine Lider heben haben die Nachtschatten den Schreibsaal erobert. Das Rauschen der Schwingen aber erfüllt nun diesen Raum.

Meine Rechte ergreift den Stock.

In meinem Rücken spüre ich Augen, die mich betrachten.

Schwerfällig drehe ich mich herum, der Dunkelheit von Angesicht zu Angesicht...

Nah vor mir steht eine Dame. Sie ist von solch sanfter, kühler Schönheit, daß mein Herz zu schmerzen beginnt. Nie zuvor war mir ein solches Geschöpf begegnet.

Sie muss von edlem Blut sein. Ihre weiße, makellose Haut erinnert an Seide, das lange, tief schwarze Haar weht um Ihren Leib. Man hat ihr weiße Perlen und Kristallsplitter hineingeflochten. Ihre Augen sind schwarze Perlen, seelenvoll, schimmernd, groß und den Sternenhimmel darin verborgen.

Eigenartig, diese Augen haben die Geburt der Welt gesehen und würden ihren Untergang beobachten.

Lippen, die die Farbe fast schwarzer Rosenblätter trugen, samtig und weich, lächelten schweigend.

Ihre zarter Leib wurde von schwarzgrüner Seide verhüllt; ein anliegendes Mieder aus Samt und Brokat, bestickt mit Perlen und Silberfäden.

Um ihren Nacken liegt sich eine filigrane Silberkette, an der etwas hing, einem Kreuz ähnlich, aber anders fremd und dem Glauben an das endgültige Reich näher...

Ihre Hand streckt sich mir in eleganter Haltung entgegen. Ohne mein Zutun lasse ich den Stock fallen und ergreife sie.

Was ist mit meinen Händen? Sie sind glatt, jung, kräftig... und ich kann die ihre durch die meine sehen.

Nein, ich muss nicht zu Boden sehen, um den verkrümmten, leblosen Leib eines uralten Mannes auf dem groben Stein liegend zu finden.

Ein Gefühl unendlichen Glücks, unendlicher Freiheit erfüllt mich, lässt mich vor Freude endlich lachen, laut, schallend, kraftvoll und frei.

Sie betrachtet mich stumm, ein weiches, liebevolles Lächeln auf ihren Rosenlippen, die Augen voll Güte.

Draußen höre ich aufgeregte Worte, die Glocken läuten, unter ihnen die Totenglocke. Aber es gibt nur noch sie. Ihre Augen, der weite, freie Himmel, den ich darin sehe und das rauschen ihrer mächtigen Schwingen.

 

(c) Tanja Meurer, 1997