Helle Sonnenstrahlen durchfluteten den gläsernen Wald und brachen sich in den Kristallblättern. Tanzende Lichter wurden auf den blassgrünen Boden geworfen und setzten dort das Farbenspiel fort, das den Himmel eindrucksvoll aufleuchten ließ. Wie kleine Vögel schwebten sie von Ast zu Ast. Der Horizont war violett und die feinen Wolken hatten satte Gelbtöne, durchmischt von orange und karmesinrot. Skurrile wirkende Tiere und Waldgeister begleiteten Kims Weg, als er zu den Bäumen hinüber lief und in das bunte Farbenmeer eintauchte. Eine Fee huschte vor ihm her. Ihre Flügel gaben ein leichtes Summen von sich. Aufgeregt schwebte sie einen Moment in der Luft und deutete dann zu einer Baumgruppe hinüber. „Dort hinten ist es!“, sagte sie. Rotgoldenes Haar hing ihr wirr ins Gesicht. „So etwas ist noch nie passiert…“, wisperte ein Gnom, der sich schwer atmend an einen der kristallenen Stämme lehnte. Neben ihm kam ein rollender Stein zum Stillstand. Er hatte kein Gesicht, doch ein leises Brummen verriet seine Zustimmung. „Es ist einfach runter gefallen!“, mischten sich nun andere Stimmen in das Gespräch ein. „Schrecklich, es tut mir Leid.“ „Man muss doch etwas unternehmen.“ Kim ignorierte die weiteren Kommentare der Bewohner Assjahs und ging an der Fee vorbei. Er musste selbst sehen, wie schlimm es das Sonnenhörnchen erwischt hatte, nachdem es von den hohen Kristallbäumen gestürzt war. Nachdenklich blickte er nach oben. Er konnte die Wipfel der Bäume nur erahnen, doch wusste er, dass die höchsten von ihnen fast dreißig Meter maßen. Ein mulmiges Gefühl beschlich ihn, als er das Wesen zwischen den Wurzeln entdeckte. Ein zusammengekauertes Bündel lag halb verborgen im Gras. Das rotbraune Fell war struppig und zerzaust. Von dem kleinen goldenen Horn ging nur ein schwaches Schimmern aus. Eines der langen Ohren zuckte ein wenig. Ganz schwach konnte er erkennen, wie sich der Rücken hob und senkte. Es atmete. Ein Stein fiel Kim vom Herzen, als er sich niederkniete. Das Sonnenhörnchen hatte den Sturz überlebt. Behutsam ließ er seine Finger durch das warme Fell gleiten. Es war weich. Zum ersten Mal berührte er eines dieser scheuen Geschöpfe! Nie hätte er sich erträumt einem dieser scheuen Wesen so nahe zu sein. Eine Freundschaft mit diesen zierlichen Geschöpfen glich einem Wunder, denn noch nie hatte ein Sonnenhörnchen einen Menschen oder ein anderes Wesen als Freund akzeptiert. Das kleine Geschöpf mit den Flughäuten zwischen den Gliedmaßen reagierte nicht auf seine Berührungen. Vielleicht hatte es sich etwas gebrochen. Oder es war in einen tiefen Schlaf gefallen. Unsicher blickte er den Stamm hinauf und entdeckte andere seiner Art. Sie hockten auf den unteren Ästen und lugten aus großen, schwarzen Knopfaugen hinter einigen Blättern hervor. „Was machen wir jetzt?“, fragte die Fee leise. „Wir Erdgnome könnten ihn heilen, wenn er sich verletzt hat“, schlug ein verhutzeltes Männchen vor, das sich vom Baum löste und näher kam. Kim machte ihm Platz und beobachtete, wie er das Sonnenhörnchen untersuchte. „Es hat Glück im Unglück gehabt“, sinnierte er und hob einen Hinterlauf etwas an. „Hier hat es sich das Bein aufgeschlagen, aber ansonsten haben Gras und Moos den Sturz gedämpft.“ „Das ist gut“, murmelte Kim. Der Gnom nickt, legte eine Hand auf den Hinterlauf und schloss sinnierend die Augen. Er murmelte leise etwas vor sich hin, dann zog er seine Finger zurück. Die Verletzung verschwand wie von Geisterhand und Kim konnte gerade noch sehen, wie das Fell nachwuchs. „Das sollte genügen“, schloss er und sah zu Kim. „Aber es ist sehr schwach“ „Dann braucht es Nahrung, um wieder zu Kräften zu kommen.“ „Was frisst es denn?“, fragte der Erdgnom. Kim seufzte. Er warf einen kurzen Blick auf das bewusstlose Wesen, dann hob er es schließlich hoch. Ein Raunen ging durch die Menge. Die Sonnenhörnchen sprangen nervös im Geäst herum und begannen leise zu Keckern. „Ich bringe es erst einmal zum Waldrand. Dort gibt es genug Licht für Regenbögen.“ „Regenbögen?“, fragte ein katzengroßes Wesen, das sich bisher hinter dem rollenden Stein verborgen hatte. Rot glühende Augen musterten Kim. „Sonnenhörnchen ernähren sich davon Regenbögen, deswegen sind sie auf den Kristallbäumen zu Hause.“ Er hob leicht das Kinn und deutete damit nach oben. „Was sollten sie dort oben sonst fressen?“ „Die kann man essen?“, fragte die Fee und schwirrte wieder nach oben. „Wir baden lediglich darin.“ „Egal wie – bringst du mir bitte einige Kristallblätter. Ich brauche sie, um ihn zu füttern.“ „Ein Wesen, das Regenbögen frisst…“, grummelte der Gnom leise vor sich hin, nachdem sie den Waldrand erreicht hatten. Kim machte es sich mit dem kleinen Fellbündel im Arm auf dem Boden bequem und strich immer wieder über den Rücken des Sonnenhörnchens. Er empfand immer noch ein unwirkliches Gefühl dem kleinen Geschöpf so nahe zu sein. Bisher hatte er sie nur aus der Ferne beobachten können. Er sah erneut zu den Bäumen zurück. Er sah die anderen Sonnenhörnchen sehen, die nervös von Ast zu Ast sprangen. Sie schienen in Sorge um ihren kleinen Gefährten zu sein. Kurz darauf brachte ihm die kleine Fee einige Kristallblätter. „Was machst du jetzt?“, fragte sie und setzte sich auf seine Schulter. „Pass auf!“ Kim hob das Blatt, betrachtete für einen Moment die feinen silbrigen Äderchen und hielt es dann ins Licht. Winzige, bunte Lichter tanzten um ihn herum, über die Wiese und die vielen Wesen, die ihn umringten. Die anderen Geschöpfe wichen staunend zurück. Einige versuchten sogar die bunten Lichtflecken zu fangen. „Wie schön“, murmelte die Fee. „Das kitzelt“, fügte ein Stein hinzu und rollte kichernd zur Seite. Es dauerte einen Moment, bis Kim herausgefunden hatte, wie er das Blatt drehen musste, um das Sonnenhörnchen damit zu füttern, doch schließlich gelang es ihm. Kaum berührten die ersten das Horn des Wesens wurden sie eingesogen und verschwanden. Das Horn des kleinen Wesens absorbierte einen Regenbogen nach dem anderen. Bald waren kaum noch Lichter übrig und Kim nahm das nächste Blatt zur Hand, wiederholte die ungewöhnliche Fütterung. Nach fast einer halben Stunde zeigten sich die ersten Erfolge - das Wesen in seinem Schoß wurde kräftiger. Fell und Horn glänzten wieder. Endlich regte sich das Wesen in seinem Schoß. Ein paar Mal zuckten die Ohren, dann schlug es die Augen auf. Erschrocken starrte es erst die anwesenden Kreaturen an, dann fixierte es Kim. Er wusste nicht wie lange sie sich ansahen. Kim versank in den intelligenten Augen. Es kam ihm vor, als würde das kleine Wesen direkt in seine Seele blicken und genau erkennen, wem es gegenüberstand. Ein Schauer kroch Kim über den Rücken. Keine einzige Kreatur hier wusste, dass er Assjah erschaffen hatte. Die Feenwiese, der Kristallwald, die vielen Geschöpfe – all das entstammte seinen Träumen, die er jede Nacht besuchte. Er wollte sich nicht einmal in seinen dunkelsten Fantasien ausmalen, was geschehen würde, wenn sie erkannten, dass er ihr Gott war. Das Sonnenhörnchen erhob sich schließlich und sprang von Kims Beinen. Die anderen Bewohner der Wiese wichen zurück, ob aus Angst oder aus Respekt, konnte Kim nicht beurteilen. Es sah sich kurz um, dann berührte es mit seinem goldenen Horn Kims Finger, die immer noch ein Kristallblatt umklammerten. Ein leichtes Kribbeln durchlief ihn. Noch bevor Kim die Überraschung abschütteln und etwas sagen konnte, wandte es sich ab und lief zurück zu den Bäumen. „Danke!“, rief Kim ihm mit einem breiten Lächeln hinterher. „Was hat es getan?“, fragte die Fee. „Mir seine Freundschaft angeboten“, erwiderte Kim. Sein Herz hüpfte. Ein Raunen ging durch die Menge. Niemand hatte bisher Freundschaft mit den Sonnenhörnchen geschlossen. Und mir versprochen mein Geheimnis für sich zu behalten, fügte Kim in Gedanken hinzu. Dankbar beobachtete er wie das Sonnenhörnchen auf den Baum zurückkletterte und im kristallenen Geäst verschwand. ~Ende~ |
(c) 2011 Juliane Seidel |