"Mord ohne Leiche" von Tanja Meurer

Part 1

Genre: Steampunk, Mystery, Drama

 

Ihr ganzer Körper elektrisierte, als seine Faust dicht neben ihrem Gesicht nassen Putz aus der Mauer sprengte.
Instinktiv zog sie den Kopf zwischen die Schultern. Allerdings konnte sie sich kaum regen. Sein immenses Gewicht verhinderte, dass sie sich in Sicherheit bringen konnte.
Er presste sie noch fester gegen die Wand.
Sie wagte nicht zu atmen.
Betont langsam zog er die Hand zurück. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie das tiefe Loch, was er hinterlassen hatte.
Einen Augenblick lang setzte ihr Herz aus.
Das konnte nicht sein. Niemand besaß so viel Kraft, um das Mauerwerk mit der bloßen Faust zu zertrümmern.
Was war das für ein Wesen?
Alles in ihr drängte sie zur Flucht. Sie musste fort, bevor er mit ihr das Gleiche tat. Aber wie? Sie konnte sich kein bisschen bewegen.
Ihre Angst fand neue Nahrung. Glühende Hitze rann durch ihre Adern. Sie spannte sich. Nackte Panik kroch in ihr Herz. Die nachfolgende Woge spülte ihren Verstand vollständig fort.
Sie schrie, trat, so weit er und ihre Schichten Röcke es zuließen, wand sich, doch er drängte sie nur noch weiter in die Wand.
Der Druck auf ihrer Brust wurde unerträglich. Atem … Er erstickte sie. War es das, was er wollte?
Hitze schoss in ihren Kopf. In ihren Schläfen spürte sie das Pochen ihres Blutes.
Sie erstickte …
Einen Herzschlag später verschwand der Druck.
Schmerzhaft strömte die feuchtkalte Nachtluft in ihre Lungen. Hustend sank sie nach vorn. Mit zitternden Knien taumelte sie. Ihre Beine konnten sie nicht mehr tragen. Keuchend sank sie in die Knie.
Sie lebte, aber er hatte ihr alle Kraft geraubt.
Tränen rannen über ihre Wangen.
Wo war er?
Mühsam hob sie den Blick.
Mit einem einzigen Schritt stand er wieder vor ihr. Seine behandschuhten Hände griffen nach ihr.
„Bitte nicht …“ Ihre Stimme brach.
Seine Finger schwebten dicht vor ihrem Gesicht.
Er schwieg.
Ihr wurde schwindelig. Ein hohes, helles Pfeifen setzte ein. Die Ränder der Wirklichkeit zerfaserten.
Doch bevor die gnädige Ohnmacht sie umfing, packte er sie unter den Armen und riss sie auf die Füße.
Ein entsetzter Schrei entrang sich ihrer Brust.
Einen Moment später verlor sie den Bodenkontakt. Hilflos pendelten ihre Beine über dem Boden. Er hielt sie, als habe sie die Leichtigkeit einer Puppe. War er überhaupt ein Mensch?
Alles an ihm sprach dagegen – seine Kraft, sein Gewicht … Er war riesig, weitaus größer, als alle anderen Männer. Sie versteifte sich instinktiv.
Was hatte er vor?
In ihre Angst mischte sich neue Unsicherheit. Vorsichtig hob sie den Blick. Unter seinem regennassen Hut konnte sie kein Gesicht ausmachen, nur konturlose Schwärze.
Ihr Herz setzte aus.
Eine Täuschung? - Es gab keine Menschen ohne Gesicht.
Sie kniff die Lider zusammen. Ihre Augen täuschen sie. Dunkelheit und Regen mochten das bewirken.
Hier, zwischen all den Hinterhöfen und Werkstätten gab es kaum Licht.
Blinzelnd spähte sie wieder in sein Gesicht.
Nichts. Es gab kein Gesicht.
Was – um alles in der Welt – war das?
Er zog sie näher an sich.
Tropfen perlten von der Filzkrempe in ihr Gesicht. Die Nässe mischte sich mit ihren Tränen.
Aus der Schwärze lösten sich nebulöse Fetzen und trieben auf sie zu …
Sie zog den Kopf zwischen die Schultern.
Ausweichen, bevor diese Dinge sie berührten.
Um was auch immer es sich handelte, sie wollte damit nicht in Berührung kommen. Es fühlte sich wie der Tod an, nur schlimmer.
Woher dieser Gedanke kam, wusste sie nicht. Er ließ sich nicht mehr verdrängen.
Ein dunkler Nebelfinger tastete nach ihrem Gesicht, strich behutsam über ihre Haut. Die Berührung fühlte sich dumpf an, benebelnd, oder lag es an ihrer Haut? Die Nerven schienen nichts mehr wahr zu nehmen.
Wimmernd, zitternd folgten ihre Blicke der Schwärze, die rauchig auseinander faserte. Panik überrollte sie mit aller Macht. Sie Schrie.
Der Dunst reizte ihre Kehle, stieg ihr in die Nase und zog in ihre Augen. Einen Moment lang fühlte es sich an, als stünde sie in dem beißenden Qualm eines Kaminfeuers, doch das Gefühl ebbte ab. Die betäubende Dunkelheit lähmte ihren Widerstand, ihre Gefühle. Langsam tastete sich das Wesen in sie. Am Rand ihres benommenen Geistes vernahm sie das Knarren von Holz und eisenbeschlagene Räder auf dem Pflaster. Hufe … In das Schnauben eines Pferdes mischte sich eine atemlos raue Stimme. Worte, die ihren Sinn verloren.
Rettete jemand ihr Leben oder bildete sie sich das ein?
Sie würgte. Etwas in ihrer Kehle gab nach. Salzig Nässe rann über ihre Zunge in den Hals.
Benommen würgte sie. Das Rauschen in ihren Ohren nahm zu, verschlang die rauchigen Worte.
Was sagte die Person? Was …? Sie versuchte sich zu konzentrieren.
Warum rettete sie diese Person nicht … oder war er ein Komplize?
Ihr Herz krampfte sich zusammen.
Die Todesmüdigkeit kehrte zurück, überschwemmte ihren Verstand. Farbige Lichtflecken flackerten hinter ihren Lidern. Sie starb …
Ein Ruck ging durch den Stahlgriff ihres Peinigers. Die Finger lockerten sich.
Ihr Verstand klärte sich etwas. Das Rauschen sank herab.
„Mann Gottes, was tun Sie denn da mit der Fr…?“ Der Mann keuchte. „Großer Gott …“
Ein scharfes, metallenes Schaben erklang. Das Geräusch reichte, um ihren Verstand zu zerfetzen.
Wimmernd sackte sie unter dem Druck zusammen. Aber er ließ sie nicht los. Hilflos hing sie in seinem Griff.
Das Pferd wieherte. Hufschlag hallte von den Wänden zurück. Rasche Schritte entfernten sich.
Das war ihr Ende.
Sie nahm weit entfernte Erinnerungsfetzen wahr, die an ihr vorüber trieben.
Ihre Vergangenheit?
Sie wusste es nicht mehr.
Wer war das verkrüppelte Mädchen?
Wem gehörte das Pferd und die Kinderkutsche?
Wer träumte diese … Träume?


*


Anabelle betrachtete nachdenklich ihren defekten Stahlkörper, der seit einem Jahr in den Ketten des Deckenkrans hing. Bislang hatte er jedem Versuch widerstanden, sich vernünftig reparieren zu lassen. Das Zusammentreffen mit Jewas ehemaliger Meisterin – die irrsinnige Kälte und die Ablagerungen in den Gliedmaßen - waren der Technik nicht gut bekommen.
„Merde.“ Sie trat ein paar Schritte zurück, bis sie mit dem Rücken gegen die Wand des Dachbodens stieß. Sie ließ den Korpus nicht aus den Augen. Was stimmte damit nicht?
Es gab kein einziges Teil, was sie nicht auseinandergebaut und gründlich gereinigt hatte.
Wenn sie die Gelenke testete, funktionierten sie einwandfrei, aber sobald Zaida ihre Seele in die Maschine übertrug, fühlte es sich fremd an, als bewege sie sich durch Wasser oder zähen Sirup.
Sie kniff die Augen zusammen. Oft veränderte ein Blickpunktwechsel die Perspektive. In weitem Bogen umrundete sie den Körper. Nein, leider auch dieses Mal nicht.
„Zut alors!“
Was übersah sie?
Erneut umrundete sie den Maschinenleib. Schließlich lehnte sie sich gegen die Tür.
Alles war doch in Ordnung. Alles, bis auf die Kristallplatte, hinter der sich die Essenz ihrer Seele befand. Die feinen Spinnrisse ließen sich nicht abdichten.
Lag es daran?
Möglich – wahrscheinlich sogar. Solang sie die Platte nicht austauschte, würde sie kaum die erforderliche Kraft aufbringen, den Leib anzutreiben.
Die Tür stieß in ihren Rücken.
Wer störte jetzt wieder? Sie trat zur Seite. Jewa spähte in die Dachkammer. Ihrer Mimik nach zu schließen, schien auch sie verärgert zu sein. Jedes Mal, wenn sie sich von Zaida ungerecht behandelt fühlte, flüchtete sie sich zu Anabelle. Sie saß für eine Weile hier und beobachtete einfach nur. Das beruhigte sie.
Ein Gespräch mit ihr war nicht möglich. Jewa wurde vor Jahren die Zunge herausgeschnitten. Dennoch half es offenbar, wenn Jewa sich einfach nur in den für sie vermutlich vollkommen unverständlichen Handgriffen verlor. Nach einer Weile ging sie zumeist wieder, wie sie kam.
Sie störte nicht, saß nicht im Weg, eine durchaus angenehme Person.
In den vergangenen Tagen, eigentlich den ganzen Dezember hindurch, passierte es immer wieder.
Warum nur? Zweifellos handelte es sich um Eifersucht.
Seit Jewa unter Zaidas Dach lebte, lag eine besondere Spannung in der Luft, die sich verdichtete.
Am vergangenen Adventswochenende war es schon schlimm, aber heute?
In Jewas Mimik lag Spannung, aber auch etwas anderes. Anabelle kniff die Augen zusammen. Sie wirkte gekränkt.
„Was ist passiert?“ Anabelle konnte ihre Sorge nicht ganz verbergen.
Jewa zog die Tür hinter sich zu, blieb aber stehen. Aller Ärger wich. Sie seufzte.
Anabelle wies zum Schreibtisch. „Schreib auf, was los ist, in Ordnung?“
Jewa nickte. Rasch notierte sie etwas. Anabelle las mit:
John Brown ist gerade gekommen. Er verlangte, nur mit Zaida zu reden. Misstraut er uns beiden?
„Brown? Der persönliche Diener von Victoria?“
Sie nickte verbissen.
Das klang nicht gut. Die Königin musste einen wichtigen Auftrag haben, wenn sie John Brown, ihren ständigen Schatten, entsandte. Andererseits schloss er Jewa aus. Das konnte nur bedeuten, dass der Auftrag streng geheim und nur von Zaida zu bearbeiten war.
In Anabelle zog sich alles zusammen. Die Essenz ihrer Seele ballte und krümmte sich. Nun blieb abzuwarten, ob Zaida ihr etwas davon erzählen würde. In vielen Fällen dürfte sie nicht darüber reden, egal wie schwer es ihr viel.
Obwohl Anabelle wusste, dass ihre Freundin nicht aus freien Stücken schwieg, fühlte es sich falsch an. Schließlich teilten sie ein wesentlich intensiveres, intimeres Geheimnis. Diese Heimlichkeiten kamen Misstrauen gleich.
Ärgerlich ballte sie die Fäuste.
Nein, Zaida konnte nichts dafür. Wenn man es ihr erlaubte, teilte sie die Last des Wissens gern, bevor ihr die Bürde zu schwer wurde. Der Gedanke half ein wenig. Mühsam rang sie sich zu einem Lächeln durch.
„Lass ihn, Jewa. Wenn Zaida uns beide einweihen darf, wird sie das.“
Trotz allem lastete Bitterkeit in der Vorstellung. Warum ausgerechnet jetzt? Es ging auf Weihnachten zu. Auf diese eigentlich ruhige Zeit freuten sie sich doch alle drei.
Der Gedanke brannte. Anabelle spürte die bittere Wut, die sich manifestierte.
Jewa wandte sich ihr zu und umarmte sie.
Diese Geste brauchte Anabelle. Leider kam sie von der falschen Frau. Trotz allem tat Jewas Berührung gut. Sie drückte die zierliche Russin an sich.
„Warten wir ab, mon ami. Vielleicht machen wir beide uns umsonst verrückt.“
Sie ließ Jewa los, um sich ihrer Arbeit zuzuwenden.
„Bleib ruhig hier. Zaida meldet sich schon, wenn sie etwas zu sagen hat.“
Resigniert ließ sich Jewa in den gepolsterten Sessel sinken und nickte. Glücklich wirkte sie nicht.
Anabelle wandte sich ab. Arbeit half gegen alle revoltierenden Empfindungen - immer.
Sie trat an das Konstrukt heran, ließ die Aufhängung herab und griff nach einem Stemmeisen.
Wenn sie schon nichts mehr mit der Platte anfangen konnte, so ließ sich sicher etwas daraus abbrechen. Ein Splitter ihrer Herzplatte wäre sicher ein sehr persönliches Weihnachtsgeschenk für Zaida. Damit überreichte sie ihr einen winzigen Teil ihrer Seele.


*


„Annabelle?“ Zaida klopft sacht an die Tür. „Hast du einen Moment Zeit?“
Nicht ausgerechnet jetzt. Gequält stöhnte sie. Anabelle warf einen Blick auf ihre Taschenuhr, die auf der Arbeitsplatte lag. Erst vier Uhr? Tee gab es doch frühestens in einer Stunde, wenn Jewa ihn nicht vergas.
Sie würde kaum dara denken. Das kleine Russenmädchen saß in ihrem Bürostuhl und schlief fest.
Sie schob Diamantfeile und Bohrer in den Werkzeuggürtel über ihrer Lederschürze, nahm den kleinen, blau verfärbten Splitter vom Tisch und schlug ihn in einen öligen Lappen ein. Zaida sollte ihr Weihnachtsgeschenk nicht vorzeitig sehen. Mit einem Blick überprüfte sie, ob die restlichen Gegenstände, die sie zur Herstellung der Kette brauchte, möglichst unverfänglich wirkten.
Nein, nicht wirklich. Die Fassung aus Zahnrädchen, die wie Schmetterlingsflügel übereinander verlötet waren, lagen prominent im weg. Leder war das Kupfer noch zu warm, um es einfach einzustecken. Vorsichtig drapierte sie eine Schachtel mit Schrauben und eine weitere mit Muttern davor.
Zufrieden trat sie zurück, öffnete dann aber mit gespielt finsterer Mine.
Zaida wich instinktiv einen Schritt zurück.
„Hailey wartet unten. Kannst du dich um ihn kümmern?“
Hailey, war Brown bereits gegeangen?
Fragend beobachtete Anabelle ihre Freundin.
„Wann ist der Inspekteur gekommen?“
Zaidas Schultern sanken. Ihr stolze haltung schmolz tiefer Erschöpfung.
„Als Brown ging, kam Hailey mit seinem Auftrag an.“
Einmal ein Fest ohne Inspektor und Königin, das war, was Ababelle sich gewünscht hatte. Nun drangen beide auf sie ein. Als habe Zaida ihre Gedanken gelesen, senkte sie den Blick.
Das Licht der Werkstatt schimmerte auf ihren schwarzen Wangen. Sie schien sich unwohl zu fühlen.
„Du trägst Reisekleidung, mon cher?“
Zaida atmete tief durch. Sie straffte sich. „Über Brown kam das Anliegen der Königin, eine Aufforderung, mich bis zum Ende der Woche bei Lady Fortesque einzufinden. Die alte Dame muss wohl …“ Einen Moment zögerte sie. Dachte sie sich eine vertretbare Version der Wahrheit aus? „Die Lady hat ein paar schwer lösbare Probleme, die ich beseitigen soll.“
Anabelles Essenz zog sich zusammen. „Du allein, nehme ich an?“
Zaida nickte traurig. „Leider ja, Liebes.“
„Wann hattest du mir vor, davon zu erzählen?“
„Eigentlich gleich nachdem Brown ging. Hailey kam leider dazwischen.“ Sie griff nach Anabelles Händen. „Ich will diese Reise eigentlich gar nicht antreten.“
Das Gefühl von Hitze und Tränen strömte durch ihre Essenz. „Dann lass es, Zaida.“
Schmerzlich schüttelte die Magierin den Kopf. „Gegen einen königlichen Befehl kann ich nicht aufbegehren.“
Enttäuschung kroch betäubend durch Anabelles metallenen Körper. Normalerweise fiel es ihr nicht so schwer, Zaida für eine Weile ziehen zu lassen. Aber jetzt? Sie wollte die Nähe ihrer Freundin nicht missen, schon gar nicht in dieser Zeit, der Zeit der Geister und der wilden Jagd.
Und da war mehr, Angst. Das Gefühl von lauernder Gefahr, die sich in der Tageshelligkeit verbarg, offen, und doch unterschwellig. „Geh nicht, bitte.“
„Mir wird nichts passieren, Liebes“, flüsterte Zaida.
Sorge um eine mächtige, alte Magierin wie Zaida? Eigentlich lächerlich angesichts der Tatsache, dass es kein Wesen gab, was der Macht der Sonne, der Erde und des Landes, aus dem sie stammte, wiederstehen konnte. Trotzdem ließ sich diese unterschwellige Angst nicht vertreiben.
Resigniert nickte sie.
Sanfte Finger strichen über ihre Wange, tasteten nach ihren Lippen … Anabelle hob den Blick.
Zaida zog sie an sich. Die Wärme ihres Körpers war sogar für sie spürbar.
Seufzend lehnte sie sich an ihre Freundin. „Ich kümmere mich um Haileys Probleme, versprochen, Zaida.“
„Danke, Liebes.“
Zaida lehnte ihre Stirn gegen Anabelles. Tränen schimmerten in ihren schwarzen Augen.
Sie wollte nicht fort. Anabelle begriff, dass sich alles in Zaida dagegen wehrte, schlimmer noch, dass ihr Verhalten es der Magierin fast unmöglich machte, zu gehen.
Sie schlang ihre Arme um den Nacken Zaidas und reckte sich, um diese weichen, dunklen Lippen zu küssen.
„Mach dir keine Sorgen, Zaida.“


*


„Wir haben also ein Verbrechen ohne Opfer?“
Hailey schnaubte abfällig. Mit vorgeschobenem Unterkiefer und dem regennassen Bowler, von dessen Krempe das Wasser auf seinen Mantel troff, wirkte der Inspektor eher wie eine wütende Bulldoge. Kommentarlos nahm er Pfeife und Tabakbeutel aus der Manteltasche. Seine Fingerkuppen waren gelb von dem häufigen Rauchen. Er roch auch leicht nach Bierhalle. Wahrscheinlich hatte ihn Masters aus einem der Ostlondoner Etablissements an den Tatort geholt.
Anabelle schüttelte den Kopf. „Monsieur le Inspekteur, Sie können mich gern die ganze Droschkenfahrt anschweigen, aber ich werde Ihnen am Tatort kaum von Nutzen sein, wenn Sie mir keine Details geben.“
Er knirschte mit den Zähnen, ließ sich aber nicht beim Stopfen seiner Pfeife störten.
Seufzend sah sie aus dem Fenster.
London im Regen und das direkt vor Weihnachten. Im Vergangenen Jahr knechtete der eisigste Winter seit Menschengedenken diese Stadt und jetzt? Es war frühlingshaft warm, mehr als 55°F. Die aufgeweichten Böden beschmutzte die Kleidung. Alles versank grau in Grau mit den verrußten Hauswänden, dem schlammigen Fluss und farblosen Menschen.
Eine bizarre Art der Depression lag in den Gesichtern der Leute. London war Regen gewohnt, aber ausgerechnet zu dieser Zeit?
Rauch breitete sich sacht in der beengten Kabine aus.
„Wir haben keine Leiche aber alle Anzeichen für ein Verbrechen.“
Überrascht hob Anabelle die Brauen. Hailey befand sich in einer miserablen Verfassung. Es war nicht klug, mit einem geschliffenen Kommentar zu antworten.
„Wie muss ich mir das vorstellen?“
Er wandte sich ihr zu. Feuchte Wärme mischte sich mit dem Geruch nach Tabak und Bier. Er hatte seit einer Weile nicht mehr gebadet.
Nachdenklich rieb er sich über das Kinn. „Na ja, wie soll ich das sagen?“
„Mit Worten, Ihre Gedanken kann ich leider nicht lesen.“
Er runzelte die Stirn. „Anabelle, bitte …“
Sie senkte den Blick. „Entschuldigen Sie bitte, ich bin in keiner guten Verfassung.“
In seinem Blick änderte sich etwas. Mit freundlicher Milde tätschelte er ihren Arm. „Ich verstehe Sie, Anabelle. Ich bin der Meinung, dass das ein Fall für Zaida wäre, aber sie ist abberufen worden. Also hängt es an Ihnen und mir, dieses Geheimnis zu lösen.“
Seine Gefühle für Zaida lagen offen. Nie zuvor offenbarte sich Hailey so ungeschützt. Einerseits machte sie dieses Gefühl zu Gegnern, andererseits aber auch zu Verbündeten.
Anabelle lächelte schmerzlich. Sie beide empfanden Liebe zu Zaida. Ihnen beiden war es unmöglich, diese Gefühle offen auszuleben. Für Hailey gab es eine unüberwindbare gesellschaftliche und ethische Kluft. Er liebte sie aus der Ferne. Anders Anabelle. Sie lebte mit Zaida zusammen, als gleichberechtigte Partner, aber nur in geschäftlichem Sinn. Ihre Gefühle füreinander mussten sie beide geheim halten.
Obwohl sie nie darüber gesprochen hatte, wusste Hailey davon. Vielleicht war es seinem Gespür zuzuschreiben, vielleicht seiner gut verborgenen Sensibilität. Er behütete dieses Geheimnis, obwohl es ihm wie ein Dolch in den Eingeweiden brennen musste.
Freunde und Feinde auf ewig. In ihrer momentanen Situation war er ihr Halt, ein Freund, den sie nicht immer begriff.
„Wir lösen es, Monsieur le Inspekteur.“


*


Seit sie aus der Droschke gestiegen und das kurze Stück über glitschiges Kopfsteinpflaster gegangen waren, spürte sie die Blicke der Menschen. Sie standen auf den schmalen Gehsteigen, sahen aus Fenstern. Einige folgten ihr, Männer in groben Kleidern, verschützt von der Arbeit und ihrer Lebensweise. Selbst Hailey wirkte an einem Ort wie diesem wie ein Gentleman.
Enge, schlammige Gassen führten zwischen hoch aufragenden, schmutzigen Häuserzeilen hindurch. Die grauen Wände schienen sich über ihr zusammenzuneigen, bis sich die Giebel berührten. Fenster, kaum mehr als Schießscharten ließen kein Licht in die zellenartigen Wohnungen.
Der Regen hatte sich in feinen Niesel aufgelöst. Feuchtigkeit kroch durch ihre Handschuhe. Anabelle schlug den Kragen ihres Mantels hoch, während sie Hailey durch eine finstere Torfahrt in einen schmutzigen Hinterhof folgte. Die trostlose Hoffnungslosigkeit des Eastends legte sich erstickend auf ihr Gemüt.
Die schweigende Prozession Neugieriger wurde von uniformierten Polizisten aufgehalten.
Erleichtert atmete sie auf. Obwohl von diesen Menschen kaum Gefahr ausging, entspannte sich Anabelle, als sie sich unter dem ihr bekannten Klientel befand. Wie viel einfacher war es doch, mit Männern aus Haileys oder Masters’ Gesellschaftsschicht zu sprechen. Obgleich beide Männer aus einfachen Verhältnissen stammten und beide keine ausreichende Schulbildung genossen hatten, war ihnen eine vollkommen natürliche Intelligenz zu eigen, mit der sie alle Eindrücke ihrer Umwelt in sich aufsogen und umsetzten. Im Rahmen ihrer eigenen Erfahrungen waren sie gebildet, vielleicht sogar weise. Die einfachen Arbeiter, Tagelöhner und Handwerker besaßen eine sehr stumpfe, für Anabelle beinah debile Form der Aufnahmefähigkeit. Den Meisten war keinerlei eigene Meinung abzuringen, weswegen sich gerade hier ein idealer Nährboden für Gewerkschaftler und Kommunisten befand. Die Ideologien wurden nicht hinterfragt, nicht durchdacht. Londons Polizei kämpfte allein deswegen seit langem auf verlorenem Posten, wenn durch irgendeine Begebenheit ein Mob durch die Straßen walzte und alles mit sich riss oder vernichtete, was sich ihm in den Weg stellte. Vielleicht lag es genau daran, warum sie ungern in Ostlondon ermittelte. Die Volksseele war eindeutig stumpf und steuerbar. Sie konnte sich kaum Informationen erhoffen, musste aber mit den Folgen rechnen, wenn Hailey nicht sehr schnell einen Schuldigen präsentierte.
Anabelle schob den Gedanken von sich. Alle Konzentration sollte nun auf dem Tatort und vor allem auf der Recherche liegen.
Reporter standen unschlüssig zwischen Bobbys. Einer versuchte, eine rundliche Frau anzusprechen, die sich allerdings vor dem Mann in das Treppenhaus zurück zog.
„Zeitungsschmierer.“
Hailey spie aus. Anabelle raffte ihre Schleppe höher. So deutlich musste er seien Abscheu nicht machen.
Trotzdem verstand sie bestens, warum er so wütend war. Diese Männer bildeten die Volksmeinung. Nicht dass das einfache Volk sonderlich gut lesen konnte, aber einige von ihnen, zumeist die, die intelligent genug waren, die Stimmung für sich auszunutzen, konnten es und verdrehten die ohnehin schon erlogenen Worte nur noch mehr. Das Resultat war ein weiterer Aufstand, der zumeist blutig endete.
Missmutig nickte sie. „Oui, Monsieur Hailey.“
Masters wandte sich von einem alten Mann ab, notierte sich allerdings etwas auf seinem durchgeweichten Notizblock.
Regen, der sich in seiner Hutkrempe gesammelt hatte, troff auf das Papier.
„Mist.“ Er schüttelte den Block ab.
Erst jetzt schien er Hailey und Anabelle zu bemerken. Automatisch versteifte er sich. Sein blasses, sommersprossiges Gesicht drückte milden Schrecken aus. Aus überschatteten Augen musterte er die Mimik seines Chefs. Für einen Moment schien er in seinem zu weiten Anzug zu schrumpfen. Nervös sah er Anabelle an.
„Guten Abend Mademoiselle Talleyrand.“
Seine unbeholfene Art vermittelte ein eigenartiges Gefühl. Sie mochte Masters. Der Ire war ein blitzgescheit, aber mit viel zu wenig Selbstvertrauen ausgestattet. Jede Abweichung von der Norm stärkte seine Unsicherheit.
„Guten Abend Monsieur Masters.“
„Können Ruthlands Männer diese Schmeißliegen von der Presse nicht mal vertreiben?“, fragte Hailey, wobei er eine angewiderte Mine zog.
Masters sah über die Schulter zu dem uniformierten Constabler, nickte dann aber. „Er versucht es, aber so einfach ist das nicht …“
Das fahle Gesicht Masters’ verlor noch mehr Farbe, als Hailey kommentarlos an ihm vorbei ging und Constable Ruthland ansteuerte.
„Das war nicht klug, Monsieur.“
Anabelle beobachtete den stiernackigen Hailey, der gar nicht aufbrauste. Aber die Schärfe und Eindringlichkeit seiner Worte drang sogar bis zu ihr und Masters.
„Heute ist er gar nicht gut aufgelegt, ich weiß“, sagte Masters leise.
„Liegt das an einem Tatort ohne Leiche?“
Er zuckte zusammen.
Neugierig trat sie an seine Seite.
„Zeigen Sie mir all das, was sie gefunden haben, Monsieur Masters?“


*


Sie raffte Mantel und Rock, um sich nach vorn zu neigen. In dem aufgeweichten Schmutz lagen die Fetzen eines schäbigen Wollmantels. In dem aufgenähten Pelzkragen hingen Wasserperlen und kleine Erdpartikel. Sand hatte sich in dem Stoff abgesetzt, vermutlich aus den Abwasserrinnen angeschwemmt und in großen Flecken ausgelaufen. Das Material triefte. Trotz allem erkannte sie schwache Reste von nicht geronnenem Blut, was sich gelblich braun auswusch. Risse und geplatzte Nähte ließen auf schlechte Haltung oder einen Kampf schließen.
Sie erhob sich und zog ihre Handschuhe aus, um sie zu schonen. Behutsam nahm sie den Mantel auf und drehte ihn in allen Richtungen.
Keinerlei Hinweise auf Stiche oder Einschusslöcher.
Trotz allem sah sie die Überreste des Blutes auf Höhe der Brust.
Sie schlug mit spitzen Fingern den verfilzten Kragen zur Seite. Nichts, bis auf einige gelöste Fäden, die den Pelz hielten. Kaninchen, so schäbig und dünn, wie das Fell aussah.
Erneut inspizierte sie das Wollgewebe. An den Schultern fanden sich feine rotblonde Haare, die sich lockten.
Sie kniff die Augen zusammen, um einen neuen Fokus zu bekommen. In ihrem Schädel summte ein leiser Motor, der ihr eine Vergrößerung der Haare lieferte.
Wurzeln und Haut.
Offenbar hatte der Angreifer ihr ein paar Haare ausgerissen.
Der feuchte Mörtel haftete an dem Rückenstück des Mantels. Anabelle hob den Blick. An der Mauer, vor der sie stand, wölbte sich durch Schimmel und Nässe der Putz. Große Placken fehlten und gaben den Blick auf schmutzige, dunkle Ziegel frei. Auf der Höhe von vielleicht zwei Metern existierte ein tiefes Loch. In den zerborstenen Ziegeln hingen ebenfalls rote Haare und feine Hautfetzen.
„Monsieur le Inspekteur?“
Anabelle wandte sich um. Hailey stand nur wenige Schritt von ihr entfernt und redete mit Masters.
„Ja?“
Sie wies auf das Loch in der Wand. „Ich bin leider nicht groß genug, um bis dort hinauf zu reichen.“
Er trat zu ihr. „Was ist da?“
„Haare des Opfers und Peau … Haut.“
Er verengte die Augen. „Ich sehe nichts.“
Sie zupfte ein weißes Taschentuch aus ihrem Ärmel und reichte es ihm. „Wischen Sie einfach das Loch damit aus, bitte.“
Er reckte sich schnaufend und tat, worum sie bat.
„Hier.“
Sie nahm ihm ihr Taschentuch ab.
Mit spitzen Fingern hob sie ein Stückchen Haut hoch. Es rollte sich auf. Kein einziges Haar haftete daran. Blut fehlte ebenso wie Poren. Im Gegensatz zu den Partikeln an der Haarwurzel war das gar keine Haut, sondern Kautschuk.
Hailey schnaubte. „Was ist das?“
„Merde.“ Sie biss sich auf die Unterlippe.
„Was?“ Haileys Stimme klang schärfer.
„Das Opfer ist eine rothaarige Frau, anhand der Mantellänge dürfte sie klein sein, wie ich, aber der, den Sie suchen scheint kein Mensch zu sein, sondern eine Maschine.“
Hailey presste die Kiefer aufeinander.
„Ich glaube nur, dass dieses Wesen anders ist, als ich.“
Sie deutete hinauf. „Er ist riesig und mindestens so stark, wie ich, vielleicht stärker.“
„Wir suchen also einen Uhrwerkmenschen von mindestens sieben Fuß Größe?“
Sie nickte.
„Mein Gott, was für ein Monster.“
Das traf leider zu. Anabelle schauderte bei der Vorstellung. Trotzdem würde dieses Wesen sich nicht ungesehen in der Masse verbergen können. Vielleicht konnten sie daraus ihren Vorteil ziehen. Zusätzlich hatte sie grobe Anhaltspunkte auf die Frau. Sie würde so leicht nicht aufgeben.
„Lassen Sie uns die Anwohner befragen.“


*


Masters und Hailey verhörten die Anwohner. Anabelle folgte nach einer Weile kaum mehr den Gesprächen. Nahezu jeder schien entweder tief geschlafen zu haben, oder war in der Nacht nicht zu Hause.
Fraglos waren die Worte nichts weiter als leere Lippenbekenntnisse. Was sie sagten war bedeutungslos. Viel mehr sprach aus ihrer Mimik all das, was sie nicht zu sagen wagten.
Desinteresse, Angst, aber auch schwer unterdrückte Neugier sprach aus den Gesichtern. Dumpf oder erschöpft blickten sie zu Hailey auf. Neid und Verachtung lag in den wässrigen Augen eines dicken Mannes, dem einige Finger an der rechten Hand fehlten, Scheu spiegelte sich in dem Gesicht einer jungen Frau wieder, deren Auge und Wange blau verquollen waren. Sie konnte Haileys unerbittlichem Starren nichts entgegen setzen. Nach Sekunden brach sie in Tränen aus und flüchtete sich in die Arme einer dicken Frau, die vermutlich ihre Mutter war.
Das Haar beider war rot und –soweit unter der Haube zu beurteilen – glatt.
Konnte es sein … Das blaue Auge deutete auf einen Kampf hin, die Haarfarbe war ähnlich. Trotzdem stimmte die Struktur nicht.
Anabelle löste sich und trat auf die Frauen zu. Sie bebten beide, sicher nicht vor Kälte. Sie fürchteten sich.
Vor was? Auch wenn die These fraglich war, ob die zwei in das Verbrechen involviert waren, lag es nah. Es war ein Strohhalm.
Masters wandte sich beiden zu. Er sprach leise mit der älteren der beiden Frauen.
Leider waren die Hintergrundgeräusche der Stadt und der Menschen zu nachhaltig, als dass Anabelle sich vollständig auf Befragung konzentrieren konnte. Sie schob sich an seine Seite. Irritiert hob die dicke Frau den Blick, musterte Anabelle eingehend, aber keineswegs herablassend.
Eine Frau bei Schottland Yard, dachte Anabelle. Offensichtlich störte sie sich daran.
Masters wandte ihr kurz seine Aufmerksamkeit zu, reagierte aber nicht weiter darauf.
„Sie haben also in der Nacht nichts gehört, Ma’am?“
Matt schüttelte sie den Kopf. „Sir, kann ich meine Kleine erst mal hoch bringen?“
Masters hob eine Braue.
Eine Ausflucht und er bemerkte es. Er war weitaus aufmerksamer und sensibler als Hailey, weshalb sie auch mit Masters lieber zusammenarbeitete.
„Würden Sie sich uns bitte zur Verfügung halten, Ma’am?“
Zögernd nickte sie.
„Wo können wir Sie erreichen, Madame?“
Anabelle lächelte. Hoffentlich sah es freundlich, vertrauenerweckend, aus.
In dem Blick der dicken Frau glomm ein schwacher Funke auf.
Es wirkte fast, als fasse sie Hoffnung.
„Mable Reed ist mein Name. Ich wohne hier.“ Sie machte eine knappe Kopfbewegung zum Vorderhaus. „Oben im zweiten Geschoss, die dritte Tür von der Treppe, wenn Sie nach Links gehen, Ma’am.“
Das Mädchen spannte sich leicht. Sie hob ihren Kopf.
Anabelle straffte sich. In dem ganzen, heruntergekommenen Hinterhof mit all seinen Werkstätten und Anwohnern schien es nichts Ehrlicheres zu geben, als diese weinende Mädchen.
Pferde wieherten. Beschlagene Hufe klapperten auf dem Kopfsteinpflaster. Von hinten näherte sich ein Wagen.
Erschrocken fuhr die Kleine zusammen.
„Macht platz!“
Das Mädchen zuckte panisch. Mit aufeinandergepressten Lippen wandte sich Mable Reed ab.
Flüchtig blickte Anabelle über die Schulter. Hinter ihr fuhr ein schwerer Karren in den Hinterhof ein. Sie trat mit Masters zurück, bis sie auf einer Höhe mit Hailey standen.
Er schwitzte stark. Sein Gesicht war rot. Vermutlich strengte er sich stark an.
„Eine Lieferung?“ Sie wies auf die Ladung aus kleinen Fässern und in Öltuch eingeschlagenen Walzen.
Er nickte.
Ein paar junge Männer kamen aus einem schäbigen Schuppen. Trotz der niedrigen Temperatur trugen sie weder Pullis noch Jacken.
Anabelle beobachtete, wie sie einzeln, oder zu zweit den Wagen abluden. Sie reagierten vollkommen teilnahmslos. Was hier vor sich ging, war ihnen egal. Wahrscheinlich arbeiteten sie hier, wohnten aber an einem anderen Ort.
„Wozu gehören diese Männer, Monsieur le Inspekteur?“
„Zu der Druckerei.“ Hailey wies mit einer Hand zu dem Holzverschlag. „Das sind Kommunisten. Sie geben hier eine kleine, unbedeutende Arbeiterzeitung raus und drucken ihre Manifeste.“
Anabelle schüttelte nachdenklich den Kopf. Das konnte die junge Frau nicht erschreckt haben. Dann hätte sie zuvor schon anders reagiert.
Sie betrachtete Fahrer und Karren. Der Mann half halbherzig, abzuladen. Sein Blick irrte aber neugierig über den Hof. Die Bobbys und das Menschenaufgebot schienen ihn mehr zu interessieren. Neugier.
Hatte er das Mädchen erschreckt? Sie wandte sich Mutter und Tochter zu, die eng aneinander gedrängt da standen. Aus Schreckensweiten Augen beobachteten ihn die Frauen.
Sahen sie diesen Mann, oder erinnerte er sie an etwas?
Der Zusammenhang lag eigentlich auf der Hand. Ein Verbrechen ohne Leiche, ein Mädchen, dass angesichts eines Wagens erschrak. Sicher hatte die junge Frau das Verbrechen beobachtet und wagte nicht zu sprechen.
Der Gedankengang war nur eine Theorie, nichts Bestätigtes, aber die Annahme lag nah. Vielleicht täuschte sie sich auch.
Diese Unsicherheit galt es auszuräumen.


*

Im Inneren des Hauses roch es nach Kartoffeln und Kohl, abgestandener Luft, ungewaschenen Menschen, Fäkalien und feuchtem Stein. Der Moder in den Wänden weichte den Mörtel auf. Große Salpeterblumen zeichneten sich auf dem russ-schwarzen Stein ab. Das schummrige Licht reichte vom engen Treppenhaus nicht bis in die kargen Flure. Dunstige Schwärze sammelte sich zwischen den einzelnen Türalkoven, die von den Gängen abzweigten. Gedämpft drangen Gespräche aus den Wohnungen.
An diesem Ort war sie ein Eindringling. Das Gefühl der Ablehnung sickerte aus allen Fugen des Gebäudes.
Auf den Treppen kam ihr eine dicke alte Frau mit einem Wäschekorb voll mit geplätteten Hemden entgegen. Sie ignorierte Anabelle. Unsanft drängte sie sich an ihr vorüber, ohne darauf zu achten, ob sie etwas verlor, oder nicht. Zwei der gestärkten Kragen blieben auf den Stufen liegen. Anabelle hob sie auf. Sinnlos der alten hinterher zu rufen. Sie würde nicht reagieren.
Nachdenklich drehte sie den steifen Stoff in den Fingern. Der Stoff war zu hochwertig für Menschen aus dem Eastend. Offenbar wusch oder glättete die Alte bessere Haushalte. Auch eine Möglichkeit, Geld zu verdienen.
Anabelle legte die beiden Kragen auf dem Fensterbrett ab und raffte ihren Rock.
Etwas lag dicht neben ihrem Stiefel vor der Stufe. Erneut kniete sie nieder. Ein Knopf. Auf den ersten Blick hin poliertes Messing. Sie hob ihn auf und drehte ihn zwischen den Fingern. Die Prägung im Kopf beinhaltete ein Wappen – ein Schiff auf einem Wappenschild, über dem ein Helm thronte.
Seltsam, dass so etwas bei der Wäsche lag. Für die meisten Männer waren solche Knöpfe sehr wertvoll, Schmuckstücke. Sie schloss die Faust. Vielleicht war es bedeutungslos, aber daran zu glauben war fast unmöglich. Anabelle wollte keinen möglichen Hinweis ignorieren. Sie ließ den Knopf in ihre Manteltasche gleiten. Später konnte sie noch mit Hailey und Masters darüber reden.

Das Mädchen öffnete. Ihre Verletzungen sahen in dem schlechten Licht noch ein bisschen bedrohlicher aus. Im ersten Moment wich sie scheu vor Anabelle zurück, fing sich aber rasch.
„Ma’am?“
„Ich bin Anabelle Talleyrand.“
Sie hielt dem Mädchen ihren Sigelring mit dem Wappen der Königin entgegen. Dieses Schmuckstück zeichnete sie als Sonderermittlerin der Krone aus.
„Sie waren vorhin bei dem Sergeant und dem Inspektor.“
Anabelle lächelte. „Monsieur Hailey, Monsieur Masters und ich arbeiten miteinander.“
Das Mädchen schlug die Augen nieder. „Ja“, hauchte sie. „Ich bin Libby Merten.“
Merten? Die Frau bei ihr hieß aber Reed? Vielleicht bestand doch kein Verwandtschaftsverhälnis.
Ein weiterer ungeklärter Punkt.
Libby trat etwas zurück. Anabelle zögerte einzutreten. Neugierig spähte sie an Libby vorüber. Der Raum war karg. Madame Reed saß am Tisch und sortierte einen Haufen grober, unansehnlicher Socken. Neben ihrem massigen Arm lag ein zusammengedrehtes Stück Stoff, in dem Nadeln steckten. Offenbar erledigte sie Stopf- und Näharbeiten.
Ohne aufzusehen winkte sie mit der Hand.
„Ich bin Madame Reeds Nichte.“
Die Alte hob den Kopf. „Kommen Sie rein.“ Ihre Stimme klang emotionslos. Vielleicht lag es daran, dass die Mattigkeit und Trostlosigkeit, in der diese Frau lebte, sie gebrochen hatte. Anabelle bemerkte aber auch auf ihren Wangen rote Spuren. Tränen.
Wenn sie hier nicht richtig lag und die beiden etwas mit der Geschichte zu tun hatten, um wen oder was weinten sie?
Libby trat zur Seite, um Anabelle Platz zu machen.
„Merci.“
„Bitte sehr.“ Das Mädchen schloss die Tür.
Anabelle blieb im Raum stehen, löste die Handschuhe und den Mantelkragen. Obwohl sie keine Wärme-Kälte-Empfindung besaß, konnte sie sehen, dass der Raum überheizt war. Wasser kondensierte an dem winzigen Fenster. Der kleine Kanonenofen in der Zimmerecke gab leise Schläge von sich. Das Metall dehnte sich aus.
„Darf ich Ihnen einen Tee bringen, Ma’am?“
Anabelle nickte. „Oui, ja.“
„Tante Mable?“ Das Mädchen trat zu Madame Reed. Beinah zärtlich legte sie ihr eine Hand auf die Schulter. Einige Sekunden regte sich die Frau nicht, bevor ein krampfhaftes Schluchzen ihren Körper schüttelte. Erst jetzt hob sie den Blick. Tiefe Trauer lag in ihren Zügen.
„Danke, Libby.“ Ihre Stimme brach.
Libby seufzte. Langsam wandte sie sich um und wies auf den zweiten Stuhl am Tisch. „Setzen Sie sich, Ma’am.“
„Merci.“
Mit gesenktem Kopf huschte Libby fort.
Nachdenklich beobachtete Anabelle das Mädchen mit dem zerschlagenen Gesicht. Scheinbar verstand sie französisch. Woher nur? Vielleicht arbeitete sie in einem großen Haushalt?
Nein, in ihrem momentanen Zustand wohl kaum.
Langsam schob sie den Stuhl zurück und besah sich die Konstruktion. Er schien stabil genug zu sein, um ihren Metallkörper tragen zu können. Behutsam ließ sie sich nieder. Tatsächlich ächzte das Holz nicht einmal.
Sie zog den Manschettenknopf aus der Manteltasche und drehte ihn in den Fingern. Sie musste sich beschäftigen. Reine Frage-Antwort-Spiele lagen ihr nicht.
„Sie haben mich erwartet?“
Libby nahm aus einer ramponierten Blechdose ein paar Teeblätter und warf sie in den Kessel. Sie schwieg. Schließlich nickte ihre Tante. Sie schwieg einen Moment, bevor sie seufzte. „Sie sind eine Frau. Es ist angenehmer, nicht mit einem Mann reden zu müssen.“
Wirklich? Anabelle fand in Masters’ Befragungsmethode nichts bedrohliches.
Sie zog ihre Handschuhe aus und legte sie auf dem Tisch zusammen.
„Sie sind mir beide aufgefallen.“
Libby zuckte zusammen.
„Wirklich?“
Anabelle warf ihr einen mitleidigen Blick zu. „Besonders Sie sind ein histrion – ein schlechter Schauspieler, Mademoiselle Merten.“
Sie ließ die Schultern sinken. „Ist das so?“
„Absolument, durchaus wahr.“
Matt trottete sie durch den kleinen Raum zu einem schäbigen Schränkchen. Sie holte drei nicht zueinander passende Tassen heraus und stellte sie auf den Tisch.
Drei?
Ärmere Leute hatten selten mehr Geschirr als das, was sie pro Person brauchten. Sie sah sich kurz um. Außer dem Ofen und dem Tisch mit den beiden Stühlen, standen ein weiterer Stuhl und ein Schemel in einer Ecke. Im ersten Moment hatte sie beide übersehen, weil Kleidung darüber drapiert worden war. Drei der vier Menschen mussten in dieser beengten Umgebung leben. Die Tränen der Frauen ließen den Schluss zu, dass zumindest eine Person gestorben sein musste – die verschwundene Frau, deren Mantel draußen lag.
„Gestern wurde eine Frau entführt oder ermordet.“ Anabelle versuchte den Blick einer der beiden Frauen einzufangen, doch Libby senkte ihren Kopf nur noch weiter. Erst ihre Tante wiegte den Kopf. In ihren Augen schimmerten Tränen.
Schließlich presste sie beide Hände gegen ihre Augen. Erstickt schluchzte sie.
„Penny ist ihr Name. Sie ist meine Cousine …“ Sie verstummte. Fassungslos starrte sie auf den Messingknopf in Anabelles Fingern.
Ihr Blick glitt zu Libby. Das aschfahle Mädchengesicht verlor auch noch den Rest an Farbe. Ihr gesundes Auge weitete sich. Es schien, als sähe sie den Teufel selbst.
In ihrem Nacken zog es. Das Gefühl, angestarrt zu werden kroch langsam ihre Wirbel herauf und drang in ihre Essenz …
Anabelle fuhr zusammen. Instinktiv sah sie sich um.
Nichts. Die Schatten im Raum waren tief, wie im gesamten Haus, aber das lag an dem schlechten Wetter und dem winzigen Fenster.
Trotz allem spürte sie einen Schauder, als gäbe es eine bedrohliche Präsenz, genau wie vor einem Jahr, als sie sich gegen Jewas Meisterin verteidigen musste. Magie – jemand nutzte starke Magie.
Langsam erhob sie sich.
Die Schatten bewegten sich leicht. Etwas lauerte darin - unsichtbar.
In ihrer Brustplatte knackte es.
Was – nein wer war das? Ohne Zaida oder Jewa konnte sie kaum etwas unternehmen. Die Bedrohung aber schien greifbar.
Bemerkte Madame Reed nichts?
Die Frau hockte am Tisch, ein gebrochenes Geschöpf, tief getroffen von dem Schicksal. Ihr dumpfer Blick verlor sich.
Nein, sie spürte es nicht. Etwas war hier, auch wenn Anabelle nichts sah.
Libby zuckte. Ihr Blick verdrehte sich.
Anabelle packte sie an den Schultern und umklammerte sie. Der Geruch der Angst drang ihr in die Nase. Angst? Nein, Libby sah das Geschöpf. Sie stand unter Schock. Wie lang würde der Zustand sie vor der Panik bewahren?
Zaida, ihre magischen Fähigkeiten waren unerlässlich bei einem solchen Fall. Anabelles Talente verkümmerten in dem Metallkörper. Mit jedem Tag verlor sie ein wenig von dem geheimen Wissen.
Verdammt!
Ohne Zaida war sie einfach nicht stark genug, nicht vollständig. Zaida …
Gequält stöhnte Libby. Kam sie zu sich?
Ein unartikulierter Schrei entrang sich ihrer Kehle.
„Qu'est-ce qui se passe?“
Libby antwortete nicht. Sie kniff die Augen zusammen. Zugleich begann sie sich zu wehren. Sie wand sich in Anabelles Griff.
„Libby, beruhigen Sie sich.“
Der Blick des Mädchens verdrehte sich, bis das Weiße ihre Augen ausfüllte.
„Was ist denn los? Was sehen Sie?“
„Libby?“ Ihre Tante sprang auf. Ihre Stimme überschlug sich. „Ma’am, gut festhalten, gut festhalten!“
Sie eilte zu dem Schränkchen, aus dem Libby die Tassen geholt hatte. Unsanft stieß sie dagegen. Geschirr klirrte. Einen Moment später wühlte sie eine braune Glasflasche hervor. Zittrig zerrte sie an dem Korken.
Libbys Körper spannte sich. Sie schrie gellend auf. Ihr Kopf zuckte unkontrolliert nach vorn. Anabelle wich rasch aus. „Gut festhalten!“
„Was geben Sie ihr?“
„Was ihr der Doktor verschrieben hat.“
Als Libbys Tante näher kam, erkannte Anabelle, um was es sich dabei handelte.
„Laudanum?“ Das Mittel würde Libby schaden. „Nicht.“
Madame Reed hielt in der Bewegung inne, schüttelte aber den Kopf. „Danach geht es ihr besser.“ Unsanft drängte sie den Flaschenhals gegen Libbys Lippen. Das Mädchen verdrehte sich in Anabelles Armen. Strähnen ihrer hochgebundenen Haare lösten sich. Sie bog und wand sich, während sie ihren Kopf immer heftiger schüttelte. Mable fand keine Möglichkeit, die Flasche anzusetzen. Bevor sie fortgeschleudert wurde, musste zog Mable sie schließlich weg. Sie krempelte die Ärmel auf und versuchte es erneut.
„Halt doch ruhig, Libby.“
Anabelle zog Libby enger an sich. „Nicht, bitte.“
Mable presste die Kiefer aufeinander. „Es muss sein.“
Libbys Gegenwehr erlahmte etwas. Zugleich bemerkte Anabelle, dass es etwas heller zu werden schien. Das Kondenswasser gefror. Eiskristalle bildeten sich an den Scheiben. Eine leichte Berührung in ihrem Nacken und der unverkennbare Duft von klarer Winterluft streiften sie.
Jewa. Das konnte nur Jewa sein. Auf ihre Hilfe hatte Anabelle gar nicht zu hoffen gewagt.
Woher wusste ihre Freundin und Dienerin, dass sie dringend magische Unterstützung benötigte?
Gleichwie, wichtig war nur, dass Jewa ihr half.
„Merci, mon ami.“
Libby erschlaffte in ihrem Arm. Sie keuchte, als sei sie gerannt. Schweiß tränkte den Stoff ihres einfachen Kleides. Es war vorbei, zumindest für den Moment.
Erleichtert ließ Anabelle sie auf einen Stuhl sinken.
„Sie haben es überstanden, Libby. Es ist fort.“


*


Der Knopf hatte etwas ausgelöst - oder beschworen? Der Schock spiegelte sich deutlich in Libbys Mimik. Nachdenklich drehte Anabelle den Knopf in ihren Fingern.
„Wem könnte das Wappen gehören?“ Ihre Stimme war nur ein Flüstern. Sie wandte ihre Worte an Jewa.
Ein schwacher Hauch berührte ihre Hand. Der russische Geist der Raunächte stand neben ihr. Obgleich unsichtbar war sie körperlich präsent. In der engen Kammer streifte sie Anabelles Rock und Bluse. Ihre langen, schlanken Finger schlossen sich behutsam um Anabelles.
War das ein Hinweis? Leider war Jewa stumm. Um nicht noch mehr aufsehen zu erregen, straffte Anabelle sich. Sie konzentrierte ihre Aufmerksamkeit auf die junge Frau.
Libby lag in ihren Decken. Das schmale Gesicht wirkte aschfahl. Sie zitterte leicht. Das Lid des gesunden Auges flatterte. Nervös bewegten sich ihre Lippen. Sie schien etwas zu sagen, doch die Laute erstickten.
Sie wandte den Kopf.
Es schien fast, als mustere sie Jewa. Wahrscheinlich sah sie die blasse, blonde Russin tatsächlich.
Jewas Rock knisterte leicht, als sie sich löste. Anabelle konnte sie nicht sehen, merkte aber, wie sich die Russin in die Knie sinken lies. Die Mimik Libbys entspannte sich etwas. Sie griff nach ihrem blau geschlagenen Wangenknochen. Ihre Finger schwebten dicht über der Haut. Wahrscheinlich kühlte Jewa die Verletzung.
Über Libbys Lippen huschte ein Lächeln.
Mable regte sich. Sie trat an die Stelle, an der Jewa kniete. Ein kaum wahrnehmbares Klirren lag in der Luft. Jewa entmaterialisiert, nur um sich an anderer Stelle wieder zusammenzusetzen. Vertraut ruhte ihre Hand auf Anabelles Taille.
„Wie geht es dir, Libby?“
Mables Stimme bebte.
„Müde.“ Libbys Blick glitt von ihrer Tante zu Anabelle … nein, wahrscheinlich eher zu Jewa.
„Darf ich Sie dennoch befragen, Mademoiselle Libby?“
Sie nickte.
Mit einer Hand zog Anabelle sich einen Stuhl heran.
„Merci.“ Sie lächelte. Jewas Hände ruhten rechts und links auf ihren Schultern. „Geht es Ihnen gut genug?“
Libby nickte schwach.
Unbehaglich räusperte sich Mable. „Ma’am, wollen wir nicht raus gehen, damit Libby doch erstmal schlafen kann?“
„Madame, Sie müssen sich keinerlei Gedanken machen. Ich habe nicht vor, Ihrer Nichte zuviel zuzumuten.“
Mable senkte den Kopf. „Darf ich was fragen, Ma’am?“
Nervös öffneten und schlossen sich ihre Fäuste, bevor sie sie unsicher an ihrer Schürze abwischte.
„Sicher.“
„Sie gehören doch zu den Polizisten draußen?“
Obwohl eher eine Feststellung deutete die Unsicherheit in ihrer Stimme eine Frage an.
Bedächtig nickte Anabelle. „Oui. Ich bin Sonderermittlerin der Krone und arbeite mit Schottland Yard zusammen.“
„Sowas wie eine Spionin?“
Der Vergleich traf nicht wirklich zu. „Non, nicht ganz. Eher eine Ermittlerin, die nur der Krone Rechenschaft schuldet.“
„Als Französin?“ Mable knautschte ihre Schürze. Anabelle schwieg. Nickte aber.
„Ich dachte nur.“
Hilflos nagte Mable an ihrer Unterlippe, bevor sie den Blick senkte.
„Was dachten Sie?“
Mable hob den Blick. In ihren Augen standen Zweifel und Angst. Nach einer Weile gab sie sich einen Ruck.
„Wissen Sie, was das mit meiner Nichte ist, Ma’am?“
Warum fragte sie das? Wollte Mable eine Bestätigung, dass ihre Nichte verrückt sei, oder eher eine logische Erklärung?
„Ich frage nur weil Libby so ist, seit sie nicht mehr bei den Fortesques arbeitet. Haben die meinem Mädchen was eingeflüstert oder so?“
„Tante Mable …“ Libby verstummte, als sie einen Blick ihrer Tante einfing.
Nachdenklich schüttelte Anabelle den Kopf.
Fortesque? War das nicht die Familie, zu der Zaida gerufen wurde? Gab es eine Verbindung?
Sie hielt Mable den Manschettenknopf hin. „Wissen Sie, ob das Wappen der Familie Fortesque gehört?“
Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, wie Libby zusammenzuckte.
Irritiert nickte Mable. „Ja, aber wie sind Sie da rangekommen?“
„Eine Wäscherin hatte das vorhin auf der Treppe verloren, als ich auf dem Weg hier her war.“
„Wie?“ Mable fuhr sich durch das Haar. „Das versteh ich nicht. Die alte Maude wäscht und bügelt doch gar nicht mehr für die Familie, seit die weggezogen …“
Sie verstummte. Nachdenklich tippe sie sich gegen das Kinn. „Sind die denn überhaupt weg? Vielleicht wollten sie Libby nur loswerden.“
Offenbar war ihr Verstand nicht annähernd so dumpf, wie angenommen. Anerkennend nickte Anabelle. „Davon könnten wir vielleicht nicht ausgehen, aber es wäre möglich.“ Sie ballte die Faust um den Knopf. „Das lässt sich leicht nachprüfen, Madame Reed.“
Sie würde später mit Hailey und Masters reden, zumal sie nichts über diese Familie wusste.
Schon im Interesse Zaidas brauchte Anabelle mehr Informationen über diese Familie. Vielleicht drohte ihrer Freundin Gefahr … Der Gedanke Manifestierte sich. Eiskalt kroch er in ihre Essenz. Einen Moment lang wirbelten alle Eindrücke und Empfindungen durcheinander.
Mühsam zwang sie sich zur Ruhe. Die schwache Berührung Jewas half ihr dabei.
Nachdenken! Konzentriere dich! Zurück zu diesem Fall …
Jewas Druck nahm zu.
Tatsächlich kühlten ihre Gefühle herab.
Fortesque – der Knopf, der Fall, die Ungereimtheiten, all die Hinweise ergaben ein Bild, aber der Zusammenhang lag noch im Dunkel.
Besonders Zaidas Auftrag irritierte sie. Warum wurde sie in ihrer Tätigkeit als Ermittlerin der Krone zu der Familie gerufen?
Anabelle deutete auf das Mädchen. „Ich denke, nach dem, was gerade passiert ist, schwebt Libby in Gefahr.“
Mable wich einen Schritt zurück.
„Madame, Ihre Nichte ist nicht verrückt, sollten Sie das glauben.“ Anabelle schüttelte den Kopf. „Im Gegenteil. Ich glaube, dass sie eine besonders ausgeprägte Wahrnehmung besitzt. Vielleicht hat sie etwas gesehen, was ihr nun zum Verhängnis werden könnte.“
„Das …“ Mable ließ die Schultern hängen. „Das beunruhigt mich nur noch mehr. Ich will nicht auch noch mein zweites Mädchen verlieren.“
Zweites Mädchen?
„Das verschwundene Mädchen?“
Mable senkte den Kopf, nickte aber abgehackt.
Neben Anabelle regte sich Libby. Ihre Finger fuhren nervös über die raue Decke. Tränen rannen in feinen Rinnsalen über ihre Wangen.
„La fille … Das Mädchen, das verschwand, war Ihre Tochter?“
Mable nickte.
„Penny ist ihr Name.“ Libbys Stimme klang erschöpft. Sie wischte sich mit beiden Händen die Tränen fort und rollte sich auf die Seite.
„Penny … der Mantel, den Sie vorhin in der Hand hatten, Ma’am, das war ihrer.“ Mable ließ sich neben Libby auf die Bettkante sinken. Der Strohsack knisterte leise.
„Erzählen Sie, von Anfang an, Madame.“


*

Libby saß zusammengesunken neben ihrer Tante. Anabelle stellte ihr eine Tasse Tee auf den Tisch und zog sich dann ihren Stuhl heran. Sie hatte ihren Mantel abgelegt. Wahrscheinlich dauerte ihr Aufenthalt hier noch eine Weile.
Obwohl sie Jewa nicht sehen konnte, wusste sie, dass ihre Freundin am Fenster stand. Das Kondenswasser fror an der Scheibe fest.
„Erzählen Sie.“
„Bis vor einer Woche habe ich bei Lady Fortesque in ihrem Londoner Stadtpalais gearbeitet.“
„Pourquoi? Was ist vorgefallen?“
Libby zuckte mit den Schultern. „Meine Dienste wurden nicht mehr benötigt, sagte Lady Fortesque.“ Sie griff nach der Tasse und führte sie an die Lippen, doch der Tee schien ihr zu heiß zu sein.
In ihren Augen schimmerten Tränen. Trauer, verletzter Stolz, Wut? Was immer Libby bewegte, das Gefühl war stark, sehr stark.
Neugierig neigte Anabelle sich vor. „Welche Aufgaben hatten Sie?“
„Als Kind war ich eine Küchenmagd, aber Madame Fortesque nutzte mich nach einer Weile als Mädchen für ihre Enkelin. Meine Aufgaben waren …“ Sie biss sich auf die Unterlippe. „Sie gingen weit über meine normalen Aufgaben hinaus, weil Abigale …“ Sie verstummte. Betreten drehte sie ihre Tasse in Händen.
Mable schnaubte. „Libby war rund um die Uhr und an allen Tagen für das Balg da. Sie hat diese Kröte überall hin begleitet, selbst ins Ausland.“ Ihre Wangen liefen rot an. Sie schien dieses Mädchen zu verabscheuen. Der Zorn Mables entlud sich mit Nachdruck.
Ausbeutung? Vermutlich wurde sie als Gesellschafterin genutzt, aber wie eine Magd bezahlt.
„Wissen Sie was Libby alles machen musste, Ma’am?“
Anabelle hob die Brauen. „Non.“
Mable neigte sich vor. „Sie hat dieses Ding gebadet, gekleidet, sie gefüttert und ihren Dreck weggemacht …“
„Tante Mable.“ Libby erhob sich. In ihren Zügen arbeitete es. Sie schien ehrlich empört zu sein. „Abigale ist krank. Sie kann nichts allein erledigen. Es ist egal, was ich tun musste, vollkommen egal. Das Einzige was zählt ist, dass Abby mir vertraut hat und mich wie eine Freundin behandelte, nicht wie ihre Dienerin.“
Offensichtlich mochte Libby ihre Herrin, gleichgültig wie viel sie dafür auf sich nehmen musste. Aber weshalb hatte Libby ihre Anstellung verloren?
Mable redete sich in Rage. „So nennst du das?“ Kopfschüttelnd richtete sie sich auf. „Ich kann nicht begreifen, weshalb sie dich dann überhaupt entlassen haben?“
„Gute Frage“, murmelte Anabelle.
Ganz offensichtlich schien Mable zu vergessen, dass Anabelle anwesend war. Ihre Hemmungen fielen.
Libby sank in sich zusammen. Sie schluchzte. „Lady Fortesque hatte nach ihrem Umzug in ihr Landhaus keine Verwendung mehr für mich. Ein Arzt, eine Schwester und die Dienerschaft auf dem Gut kümmern sich nun um Abigale.“ Tränen rannen über ihre Wangen. Sie verkrampfte sich.
„Setzen Sie sich“, bat Anabelle. Sie zog ihr Taschentuch und reichte es Libby. Dankbar nahm das Mädchen an.
Ihre Mimik drückte alles Leid der Welt aus.
„Wie kam es dazu, Libby?“
Anabelle strich sich den Rock glatt, als sie an ihrem Arm die Hand Jewas spürte.
Warum konnten sie nur nicht miteinander kommunizieren? Ärgerlich setzte sie sich.
„Alles ging sehr schnell. Am Abend des dreizehnten Dezember sagte Lady Fortesque, sie habe keine Verwendung mehr für mich.“ Sie rang nach Luft. „Die Seeluft an der Küste sollte Abigale helfen.“
„Hatte sich ihr Zustand denn so stark verschlechtert?“
Sie nickte. „Nach unserem Aufenthalt in Parisverschlimmerte sich Abigales Zustand.“
Mable schnaubte, sagte aber nichts.
„Wie lang waren sie dort?“
„Immer wieder und immer bei Spezialisten.“
Libby umging jede Erklärung über das Leiden ihrer Herrin. Wieso nur?
„Welcher Natur war die Krankheit?“
Libby nippte an ihrem Tee. Sie versuchte Zeit zu gewinnen. Ihr Blick huschte unstet hin und her.
„Sie ist ein Krüppel.“ Mable wuchtete sich von dem Stuhl hoch. „Das kleine Balg kann sich nicht bewegen. Sie kann nur reden. Zusätzlich ist sie anstoßen hässlich und verwachsen. Niemand außer Libby hat es mit ihr ausgehalten.“
„Das ist nicht wahr. Sie ist ein besonderes Mädchen.“
„Libby! Sie hat sich nicht für dich eingesetzt.“
„Das stimmt nicht.“ Libbys Stimme überschlug sich.
Die Meinungen beider gingen weit auseinander. Woher kannte Mable Abigale Fortesque so genau? Warum hasste sie das Mädchen? Welcher Meinung konnte Anabelle eher vertrauen?
Sie musste mehr über die Fortesques herausfinden.
Anabelle machte eine wegwischende Handbewegung. Das war nicht der Grund ihres Hier seins.
„Mesdames, bitte. Wir sollten uns vielleicht auf die Ereignisse der vergangenen Nacht und dem Verschwinden von Mademoiselle Penny konzentrieren.“
Mable sank auf ihren Stuhl zurück. Alle Kraft entwich ihrem Körper. Libby nickte.
„Verzeihen Sie.“
Anabelle überging den Kommentar. Sie stand auf und schritt zum Fenster. Unten drängte sich der menschliche Abfall unter den armen Anwohnern. Reporter bedängten die Leute. Einige unterhielten sich bereitwillig mit diesen Zeitungsschmierern. Andere wiederum ließen sie einfach stehen. Natürlich würden die Journalisten schreiben, was ihnen die meisten Leser brachte, also eine frei erfundene Mordgeschichte. Jewa stieß sie sacht an der Schulter an. Anabelle wandte sich um.
Beide Frauen musterten sie irritiert.
Anabelle räusperte sich. „Die Verletzung ist noch recht frisch, Libby. haben Sie sich gestern Nacht verletzt?“
Das Mädchen zuckte zusammen. Instinktiv griff sie nach ihrer Wange. Wortlos nickte sie.
„Was ist gestern Nacht geschehen, Libby?“
„Ich …“ Sie brach ab. Mit beiden Händen wischte sie sich die Tränen aus den Augen. „Gestern Nacht kam Penny nicht nach Hause. Ich bin kurz nach Mitternacht losgelaufen, um zu schauen, ob sie noch in der Fabrik sei. Unterwegs habe ich eine Frau getroffen, die mit ihr dort arbeitet. Sie sagte, dass Penny schon nach Hause gegangen sei. Sie habe sich sehr beeilt, weil es angefangen hatte zu regnen.“
Sie sank in sich zusammen. „In der letzten zeit sind oft Frauen in Whitechapple und Spitalsfield umgebracht worden. Ich bekam Angst.“
Das stimmte. In letzter Zeit fand man oft zerteilte Frauenleichen in der Themse. Viele ließen sich nicht identifizieren. Die, deren Identität bekannt wurde, stammten aus dem Eastend.
Libby hob den Kopf. „Auf meinem Heimweg habe ich ein paar Bobbys, die ich kannte, gefragt ob sie sie gesehen hätten.“
Es kam selten vor, dass jemand im Eastend mit der Polizei auf gutem Fuß stand, insbesondere weil es viele ungeklärte Verbrechen gab, um die sich niemand kümmerte.
„Mon dieu, sie unterhalten guten Kontakt zur City Police?“
Libby zuckte die Schultern. Mit ausdrucksloser Mine fügte sie hinzu: „Penny eher als ich. Dazu war ich zu selten hier. Sie ist oft mit ihnen ausgegangen, besonders mit Walter Carmichael.“
Mables Blick verdüsterte sich. Sie wandte sich ab.
Offenbar hatte Penny einige Liebhaber unter den Bobbys, mit denen ihre Mutter gar nicht einverstanden war.
So konnte man sich auch einen gefahrlosen Heimweg sichern, immer direkt unter den Augen ihrer Gefährten. Aber in der vergangenen Nacht boten sie ihr keinen Schutz.
„Racontez … erzählen Sie weiter.“ Anabelle nickte auffordernd.
„Na ja, sie war wohl in Hoagys Pub eingekehrt, um sich zu wärmen und den Regen abzuwarten, erzählte mir Walter. Dort war sie aber nicht mehr, als ich ankam. Also bin ich hier her zurückgekehrt.“
„Wann war das in etwa?“
„Gegen ein Uhr in der Nacht, glaube ich. Aubie, der Bobby, der hier Dienst tut, war gerade vorn an der der Ecke Hanbury Street zur Commercial Street. Er hatte Penny auf seinem Rundgang gesehen.“
Anabelle nickte. „Ich werde mich mit den beiden Männern unterhalten müssen, denke ich.“
Sie reagierte nicht. Wie in Trance murmelt Libby: „Wenn ich nur etwas schneller gegangen wäre, hätte ich etwas tun können. Dann wäre das nie passiert.“
„Was, mon petit …“
Libbys Gesicht färbte sich rot. Trocken schluchzte sie. „Ich habe schon auf die Entfernung einen Schrei gehört. Überall gingen die Fenster auf, besonders als ein führerloses Gespann beinah mit einem Lastkarren kollidierte. Es kaum aus unserem Hof.“ Sie vergrub ihr Gesicht in Händen.
Also hatten alle Anwohner mitbekommen, was passierte. Warum schwiegen sie? Fürchteten sie sich? Das war die eine Möglichkeit. Wahrscheinlicher war, dass sie sich nicht dafür interessierten.
Libby atmete mühsam durch. „Der Karren bog hierher ab. Danach bin ich losgerannt. Als ich ankam, sah ich …“ Sie rang nach Atem, als sie den Blick hob. „ … wie ein Mann Libbys schlaffen Körper gegen die Mauer presste. Irgendetwas – so wie schwarze Fäden – waren ihr in Augen, Mund und Nase eingedrungen. Blut troff herab, zugleich ging davon so ein fahl blaues Schimmern aus. Penny … sie war tot, ganz sicher.“
Mable schrie unartikuliert auf. Sie krümmte sich.
Anabelles Essenz zog sich zusammen. Sie hatte das Gefühl, als legte sich eine Stahlklaue um ihr nicht vorhandenes Herz. Kälte, die sie nicht fühlen könnte, durchflutete sie. Die Beschreibung … das war Magie.
Blaues Schimmern? Was war das? Ein Seelentransfer? Aber wie funktionierte das Ritual ohne einen Seelenkristall? Auf diesem Weg konnte kein Magier die Seele absaugen, oder doch? Jewas Hand legte sich auf die ihre.
Am Rand ihres Bewusstseins nahm Anabelle Libbys Stimme wahr. Sie hatte weiter gesprochen. Irritiert sah sie auf.
„… die Fäden kamen da her, wo andere ihr Gesicht haben, aber da war nichts, nur schwärze. Er hatte kein Gesicht.“
„Bitte?“ Erschrocken stieß sich Anabelle ab, wobei sie sich auch von Jewa losriss. „Beschreiben Sie ihn.“
Libbys Blick zuckte unstet durch den Raum. Eine Weile schwieg sie, bevor sie mit gesenkter Stimme wisperte: „Er war riesig, vielleicht sechs oder sieben Fuß hoch und unheimlich breit. Er trug Hut und Mantel …“
„Gab es ein Merkmal, was Ihnen aufgefallen ist?“, unterbrach Anabelle ungeduldig.
Libby verstummte. Sie biss sich auf die Lippe. „Nur dass er kein Gesicht hatte … Aber der Mann auf dem Karren, der Libbys Körper aufgeladen hatte, der hatte einen Sprachfehler. Als ich dazwischen gehen wollte, trat er mir mit dem Stiefel ins Gesicht. Er sprang mich an und schlug immer wieder auf dieselbe Stelle. Dabei schrie er mich an, beschimpfte mich …“ Sie tastete über die blau geschlagene Wange. Wahrscheinlich dachte er, dass ich ohnmächtig wurde, denn er hörte plötzlich auf.“
Anabelle stützte sich auf dem Tisch ab. „Haben Sie sein Gesicht gesehen?“
Libby schüttelte den Kopf. „Er war zwar vollkommen vermummt. Trotzdem, kam mir seine Stimme so bekannt vor - und dann dieser Sprachfehler.“ Sie wurde ein wenig blasser, als sie zu dem Manschettenknopf sah. „Er klang wie Buford, der Butler von Lady Fortesque.“

 

~ Part 2 ~



 

Tanja Meurer:

Tanja Meurer, geboren 1973, in Wiesbaden, ist gelernte Bauzeichnerin aus dem Hochbau und arbeitet seit 2001 in bauverwandten Berufen und ist seit 2004 bei einem französischen Großkonzern als Dokumentationsassistenz beschäftigt. Nebenberuflich arbeitet sie als Illustrator für verschiedene Verlage.

Tanja Meurer über sich selbst:

Als Tochter einer Graphikerin und Malerin blieb es nicht aus, dass ich schon sehr früh mit Kunst in Berührung kam, weshalb ich auch seit 1997 nebenberuflich als Illustratorin arbeite.
Seit meiner Kinderzeit schreibe ich auch. Mit 8 Jahren kamen die ersten – zugegeben sehr lächerlichen – Krimis zustande. Während der Schulzeit habe ich das erste Mal eine Geschichte für den Verkauf in der Schule auf PC geschrieben.
1997 kam die erste Kurzgeschichte in einem Fantasy-Magazin heraus und vier Jahre später weitere.
2007, 2009, 2010 und 2011 gewann ich sechs Ausschreibungen, wobei die Kurzgeschichten und –Romane bei Kleinverlagen erschienen.

Die stärksten Einflüsse kommen bei mir durch Autoren wie E.T.A. Hoffmann, Oscar Wilde, Hermann Hesse und Neil Gaiman.

Mehr über mich findet ihr unter:
www.tanja-meurer.de