Ihr ganzer Körper elektrisierte, als seine Faust dicht neben ihrem Gesicht
nassen Putz aus der Mauer sprengte.
Instinktiv zog sie den Kopf zwischen
die Schultern. Allerdings konnte sie sich kaum regen. Sein immenses Gewicht
verhinderte, dass sie sich in Sicherheit bringen konnte.
Er presste sie
noch fester gegen die Wand.
Sie wagte nicht zu atmen.
Betont langsam zog
er die Hand zurück. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie das tiefe Loch, was er
hinterlassen hatte.
Einen Augenblick lang setzte ihr Herz aus.
Das
konnte nicht sein. Niemand besaß so viel Kraft, um das Mauerwerk mit der
bloßen Faust zu zertrümmern.
Was war das für ein Wesen?
Alles in ihr
drängte sie zur Flucht. Sie musste fort, bevor er mit ihr das Gleiche tat.
Aber wie? Sie konnte sich kein bisschen bewegen.
Ihre Angst fand neue
Nahrung. Glühende Hitze rann durch ihre Adern. Sie spannte sich. Nackte Panik
kroch in ihr Herz. Die nachfolgende Woge spülte ihren Verstand vollständig
fort.
Sie schrie, trat, so weit er und ihre Schichten Röcke es zuließen,
wand sich, doch er drängte sie nur noch weiter in die Wand.
Der Druck auf
ihrer Brust wurde unerträglich. Atem … Er erstickte sie. War es das, was er
wollte?
Hitze schoss in ihren Kopf. In ihren Schläfen spürte sie das Pochen
ihres Blutes.
Sie erstickte …
Einen Herzschlag später verschwand der
Druck.
Schmerzhaft strömte die feuchtkalte Nachtluft in ihre Lungen.
Hustend sank sie nach vorn. Mit zitternden Knien taumelte sie. Ihre Beine
konnten sie nicht mehr tragen. Keuchend sank sie in die Knie.
Sie lebte,
aber er hatte ihr alle Kraft geraubt.
Tränen rannen über ihre Wangen.
Wo
war er?
Mühsam hob sie den Blick.
Mit einem einzigen Schritt stand er
wieder vor ihr. Seine behandschuhten Hände griffen nach ihr.
„Bitte nicht
…“ Ihre Stimme brach.
Seine Finger schwebten dicht vor ihrem Gesicht.
Er
schwieg.
Ihr wurde schwindelig. Ein hohes, helles Pfeifen setzte ein. Die
Ränder der Wirklichkeit zerfaserten.
Doch bevor die gnädige Ohnmacht sie
umfing, packte er sie unter den Armen und riss sie auf die Füße.
Ein
entsetzter Schrei entrang sich ihrer Brust.
Einen Moment später verlor sie
den Bodenkontakt. Hilflos pendelten ihre Beine über dem Boden. Er hielt sie,
als habe sie die Leichtigkeit einer Puppe. War er überhaupt ein Mensch?
Alles an ihm sprach dagegen – seine Kraft, sein Gewicht … Er war riesig,
weitaus größer, als alle anderen Männer. Sie versteifte sich instinktiv.
Was hatte er vor?
In ihre Angst mischte sich neue Unsicherheit. Vorsichtig
hob sie den Blick. Unter seinem regennassen Hut konnte sie kein Gesicht
ausmachen, nur konturlose Schwärze.
Ihr Herz setzte aus.
Eine Täuschung?
- Es gab keine Menschen ohne Gesicht.
Sie kniff die Lider zusammen. Ihre
Augen täuschen sie. Dunkelheit und Regen mochten das bewirken.
Hier,
zwischen all den Hinterhöfen und Werkstätten gab es kaum Licht.
Blinzelnd
spähte sie wieder in sein Gesicht.
Nichts. Es gab kein Gesicht.
Was – um
alles in der Welt – war das?
Er zog sie näher an sich.
Tropfen perlten
von der Filzkrempe in ihr Gesicht. Die Nässe mischte sich mit ihren Tränen.
Aus der Schwärze lösten sich nebulöse Fetzen und trieben auf sie zu …
Sie
zog den Kopf zwischen die Schultern.
Ausweichen, bevor diese Dinge sie
berührten.
Um was auch immer es sich handelte, sie wollte damit nicht in
Berührung kommen. Es fühlte sich wie der Tod an, nur schlimmer.
Woher
dieser Gedanke kam, wusste sie nicht. Er ließ sich nicht mehr verdrängen.
Ein dunkler Nebelfinger tastete nach ihrem Gesicht, strich behutsam über ihre
Haut. Die Berührung fühlte sich dumpf an, benebelnd, oder lag es an ihrer
Haut? Die Nerven schienen nichts mehr wahr zu nehmen.
Wimmernd, zitternd
folgten ihre Blicke der Schwärze, die rauchig auseinander faserte. Panik
überrollte sie mit aller Macht. Sie Schrie.
Der Dunst reizte ihre Kehle,
stieg ihr in die Nase und zog in ihre Augen. Einen Moment lang fühlte es sich
an, als stünde sie in dem beißenden Qualm eines Kaminfeuers, doch das Gefühl
ebbte ab. Die betäubende Dunkelheit lähmte ihren Widerstand, ihre Gefühle.
Langsam tastete sich das Wesen in sie. Am Rand ihres benommenen Geistes
vernahm sie das Knarren von Holz und eisenbeschlagene Räder auf dem Pflaster.
Hufe … In das Schnauben eines Pferdes mischte sich eine atemlos raue Stimme.
Worte, die ihren Sinn verloren.
Rettete jemand ihr Leben oder bildete sie
sich das ein?
Sie würgte. Etwas in ihrer Kehle gab nach. Salzig Nässe rann
über ihre Zunge in den Hals.
Benommen würgte sie. Das Rauschen in ihren
Ohren nahm zu, verschlang die rauchigen Worte.
Was sagte die Person? Was …?
Sie versuchte sich zu konzentrieren.
Warum rettete sie diese Person nicht …
oder war er ein Komplize?
Ihr Herz krampfte sich zusammen.
Die
Todesmüdigkeit kehrte zurück, überschwemmte ihren Verstand. Farbige
Lichtflecken flackerten hinter ihren Lidern. Sie starb …
Ein Ruck ging
durch den Stahlgriff ihres Peinigers. Die Finger lockerten sich.
Ihr
Verstand klärte sich etwas. Das Rauschen sank herab.
„Mann Gottes, was tun
Sie denn da mit der Fr…?“ Der Mann keuchte. „Großer Gott …“
Ein scharfes,
metallenes Schaben erklang. Das Geräusch reichte, um ihren Verstand zu
zerfetzen.
Wimmernd sackte sie unter dem Druck zusammen. Aber er ließ sie
nicht los. Hilflos hing sie in seinem Griff.
Das Pferd wieherte. Hufschlag
hallte von den Wänden zurück. Rasche Schritte entfernten sich.
Das war ihr
Ende.
Sie nahm weit entfernte Erinnerungsfetzen wahr, die an ihr vorüber
trieben.
Ihre Vergangenheit?
Sie wusste es nicht mehr.
Wer war das
verkrüppelte Mädchen?
Wem gehörte das Pferd und die Kinderkutsche?
Wer
träumte diese … Träume?
*
Anabelle betrachtete nachdenklich ihren defekten Stahlkörper, der seit
einem Jahr in den Ketten des Deckenkrans hing. Bislang hatte er jedem Versuch
widerstanden, sich vernünftig reparieren zu lassen. Das Zusammentreffen mit
Jewas ehemaliger Meisterin – die irrsinnige Kälte und die Ablagerungen in den
Gliedmaßen - waren der Technik nicht gut bekommen.
„Merde.“ Sie trat ein
paar Schritte zurück, bis sie mit dem Rücken gegen die Wand des Dachbodens
stieß. Sie ließ den Korpus nicht aus den Augen. Was stimmte damit nicht?
Es
gab kein einziges Teil, was sie nicht auseinandergebaut und gründlich
gereinigt hatte.
Wenn sie die Gelenke testete, funktionierten sie
einwandfrei, aber sobald Zaida ihre Seele in die Maschine übertrug, fühlte es
sich fremd an, als bewege sie sich durch Wasser oder zähen Sirup.
Sie kniff
die Augen zusammen. Oft veränderte ein Blickpunktwechsel die Perspektive. In
weitem Bogen umrundete sie den Körper. Nein, leider auch dieses Mal nicht.
„Zut alors!“
Was übersah sie?
Erneut umrundete sie den Maschinenleib.
Schließlich lehnte sie sich gegen die Tür.
Alles war doch in Ordnung.
Alles, bis auf die Kristallplatte, hinter der sich die Essenz ihrer Seele
befand. Die feinen Spinnrisse ließen sich nicht abdichten.
Lag es daran?
Möglich – wahrscheinlich sogar. Solang sie die Platte nicht austauschte, würde
sie kaum die erforderliche Kraft aufbringen, den Leib anzutreiben.
Die Tür
stieß in ihren Rücken.
Wer störte jetzt wieder? Sie trat zur Seite. Jewa
spähte in die Dachkammer. Ihrer Mimik nach zu schließen, schien auch sie
verärgert zu sein. Jedes Mal, wenn sie sich von Zaida ungerecht behandelt
fühlte, flüchtete sie sich zu Anabelle. Sie saß für eine Weile hier und
beobachtete einfach nur. Das beruhigte sie.
Ein Gespräch mit ihr war nicht
möglich. Jewa wurde vor Jahren die Zunge herausgeschnitten. Dennoch half es
offenbar, wenn Jewa sich einfach nur in den für sie vermutlich vollkommen
unverständlichen Handgriffen verlor. Nach einer Weile ging sie zumeist wieder,
wie sie kam.
Sie störte nicht, saß nicht im Weg, eine durchaus angenehme
Person.
In den vergangenen Tagen, eigentlich den ganzen Dezember hindurch,
passierte es immer wieder.
Warum nur? Zweifellos handelte es sich um
Eifersucht.
Seit Jewa unter Zaidas Dach lebte, lag eine besondere Spannung
in der Luft, die sich verdichtete.
Am vergangenen Adventswochenende war es
schon schlimm, aber heute?
In Jewas Mimik lag Spannung, aber auch etwas
anderes. Anabelle kniff die Augen zusammen. Sie wirkte gekränkt.
„Was ist
passiert?“ Anabelle konnte ihre Sorge nicht ganz verbergen.
Jewa zog die
Tür hinter sich zu, blieb aber stehen. Aller Ärger wich. Sie seufzte.
Anabelle wies zum Schreibtisch. „Schreib auf, was los ist, in Ordnung?“
Jewa nickte. Rasch notierte sie etwas. Anabelle las mit:
John Brown ist
gerade gekommen. Er verlangte, nur mit Zaida zu reden. Misstraut er uns
beiden?
„Brown? Der persönliche Diener von Victoria?“
Sie nickte
verbissen.
Das klang nicht gut. Die Königin musste einen wichtigen Auftrag
haben, wenn sie John Brown, ihren ständigen Schatten, entsandte. Andererseits
schloss er Jewa aus. Das konnte nur bedeuten, dass der Auftrag streng geheim
und nur von Zaida zu bearbeiten war.
In Anabelle zog sich alles zusammen.
Die Essenz ihrer Seele ballte und krümmte sich. Nun blieb abzuwarten, ob Zaida
ihr etwas davon erzählen würde. In vielen Fällen dürfte sie nicht darüber
reden, egal wie schwer es ihr viel.
Obwohl Anabelle wusste, dass ihre
Freundin nicht aus freien Stücken schwieg, fühlte es sich falsch an.
Schließlich teilten sie ein wesentlich intensiveres, intimeres Geheimnis.
Diese Heimlichkeiten kamen Misstrauen gleich.
Ärgerlich ballte sie die
Fäuste.
Nein, Zaida konnte nichts dafür. Wenn man es ihr erlaubte, teilte
sie die Last des Wissens gern, bevor ihr die Bürde zu schwer wurde. Der
Gedanke half ein wenig. Mühsam rang sie sich zu einem Lächeln durch.
„Lass
ihn, Jewa. Wenn Zaida uns beide einweihen darf, wird sie das.“
Trotz allem
lastete Bitterkeit in der Vorstellung. Warum ausgerechnet jetzt? Es ging auf
Weihnachten zu. Auf diese eigentlich ruhige Zeit freuten sie sich doch alle
drei.
Der Gedanke brannte. Anabelle spürte die bittere Wut, die sich
manifestierte.
Jewa wandte sich ihr zu und umarmte sie.
Diese Geste
brauchte Anabelle. Leider kam sie von der falschen Frau. Trotz allem tat Jewas
Berührung gut. Sie drückte die zierliche Russin an sich.
„Warten wir ab,
mon ami. Vielleicht machen wir beide uns umsonst verrückt.“
Sie ließ Jewa
los, um sich ihrer Arbeit zuzuwenden.
„Bleib ruhig hier. Zaida meldet sich
schon, wenn sie etwas zu sagen hat.“
Resigniert ließ sich Jewa in den
gepolsterten Sessel sinken und nickte. Glücklich wirkte sie nicht.
Anabelle
wandte sich ab. Arbeit half gegen alle revoltierenden Empfindungen - immer.
Sie trat an das Konstrukt heran, ließ die Aufhängung herab und griff nach
einem Stemmeisen.
Wenn sie schon nichts mehr mit der Platte anfangen
konnte, so ließ sich sicher etwas daraus abbrechen. Ein Splitter ihrer
Herzplatte wäre sicher ein sehr persönliches Weihnachtsgeschenk für Zaida.
Damit überreichte sie ihr einen winzigen Teil ihrer Seele.
*
„Annabelle?“ Zaida klopft sacht an die Tür. „Hast du einen Moment Zeit?“
Nicht ausgerechnet jetzt. Gequält stöhnte sie. Anabelle warf einen Blick auf
ihre Taschenuhr, die auf der Arbeitsplatte lag. Erst vier Uhr? Tee gab es doch
frühestens in einer Stunde, wenn Jewa ihn nicht vergas.
Sie würde kaum dara
denken. Das kleine Russenmädchen saß in ihrem Bürostuhl und schlief fest.
Sie schob Diamantfeile und Bohrer in den Werkzeuggürtel über ihrer
Lederschürze, nahm den kleinen, blau verfärbten Splitter vom Tisch und schlug
ihn in einen öligen Lappen ein. Zaida sollte ihr Weihnachtsgeschenk nicht
vorzeitig sehen. Mit einem Blick überprüfte sie, ob die restlichen
Gegenstände, die sie zur Herstellung der Kette brauchte, möglichst
unverfänglich wirkten.
Nein, nicht wirklich. Die Fassung aus Zahnrädchen,
die wie Schmetterlingsflügel übereinander verlötet waren, lagen prominent im
weg. Leder war das Kupfer noch zu warm, um es einfach einzustecken. Vorsichtig
drapierte sie eine Schachtel mit Schrauben und eine weitere mit Muttern davor.
Zufrieden trat sie zurück, öffnete dann aber mit gespielt finsterer Mine.
Zaida wich instinktiv einen Schritt zurück.
„Hailey wartet unten. Kannst du
dich um ihn kümmern?“
Hailey, war Brown bereits gegeangen?
Fragend
beobachtete Anabelle ihre Freundin.
„Wann ist der Inspekteur gekommen?“
Zaidas Schultern sanken. Ihr stolze haltung schmolz tiefer Erschöpfung.
„Als Brown ging, kam Hailey mit seinem Auftrag an.“
Einmal ein Fest ohne
Inspektor und Königin, das war, was Ababelle sich gewünscht hatte. Nun drangen
beide auf sie ein. Als habe Zaida ihre Gedanken gelesen, senkte sie den Blick.
Das Licht der Werkstatt schimmerte auf ihren schwarzen Wangen. Sie schien sich
unwohl zu fühlen.
„Du trägst Reisekleidung, mon cher?“
Zaida atmete tief
durch. Sie straffte sich. „Über Brown kam das Anliegen der Königin, eine
Aufforderung, mich bis zum Ende der Woche bei Lady Fortesque einzufinden. Die
alte Dame muss wohl …“ Einen Moment zögerte sie. Dachte sie sich eine
vertretbare Version der Wahrheit aus? „Die Lady hat ein paar schwer lösbare
Probleme, die ich beseitigen soll.“
Anabelles Essenz zog sich zusammen. „Du
allein, nehme ich an?“
Zaida nickte traurig. „Leider ja, Liebes.“
„Wann
hattest du mir vor, davon zu erzählen?“
„Eigentlich gleich nachdem Brown
ging. Hailey kam leider dazwischen.“ Sie griff nach Anabelles Händen. „Ich
will diese Reise eigentlich gar nicht antreten.“
Das Gefühl von Hitze und
Tränen strömte durch ihre Essenz. „Dann lass es, Zaida.“
Schmerzlich
schüttelte die Magierin den Kopf. „Gegen einen königlichen Befehl kann ich
nicht aufbegehren.“
Enttäuschung kroch betäubend durch Anabelles metallenen
Körper. Normalerweise fiel es ihr nicht so schwer, Zaida für eine Weile ziehen
zu lassen. Aber jetzt? Sie wollte die Nähe ihrer Freundin nicht missen, schon
gar nicht in dieser Zeit, der Zeit der Geister und der wilden Jagd.
Und da
war mehr, Angst. Das Gefühl von lauernder Gefahr, die sich in der
Tageshelligkeit verbarg, offen, und doch unterschwellig. „Geh nicht, bitte.“
„Mir wird nichts passieren, Liebes“, flüsterte Zaida.
Sorge um eine
mächtige, alte Magierin wie Zaida? Eigentlich lächerlich angesichts der
Tatsache, dass es kein Wesen gab, was der Macht der Sonne, der Erde und des
Landes, aus dem sie stammte, wiederstehen konnte. Trotzdem ließ sich diese
unterschwellige Angst nicht vertreiben.
Resigniert nickte sie.
Sanfte
Finger strichen über ihre Wange, tasteten nach ihren Lippen … Anabelle hob den
Blick.
Zaida zog sie an sich. Die Wärme ihres Körpers war sogar für sie
spürbar.
Seufzend lehnte sie sich an ihre Freundin. „Ich kümmere mich um
Haileys Probleme, versprochen, Zaida.“
„Danke, Liebes.“
Zaida lehnte
ihre Stirn gegen Anabelles. Tränen schimmerten in ihren schwarzen Augen.
Sie wollte nicht fort. Anabelle begriff, dass sich alles in Zaida dagegen
wehrte, schlimmer noch, dass ihr Verhalten es der Magierin fast unmöglich
machte, zu gehen.
Sie schlang ihre Arme um den Nacken Zaidas und reckte
sich, um diese weichen, dunklen Lippen zu küssen.
„Mach dir keine Sorgen,
Zaida.“
*
„Wir haben also ein Verbrechen ohne Opfer?“
Hailey schnaubte abfällig.
Mit vorgeschobenem Unterkiefer und dem regennassen Bowler, von dessen Krempe
das Wasser auf seinen Mantel troff, wirkte der Inspektor eher wie eine wütende
Bulldoge. Kommentarlos nahm er Pfeife und Tabakbeutel aus der Manteltasche.
Seine Fingerkuppen waren gelb von dem häufigen Rauchen. Er roch auch leicht
nach Bierhalle. Wahrscheinlich hatte ihn Masters aus einem der Ostlondoner
Etablissements an den Tatort geholt.
Anabelle schüttelte den Kopf.
„Monsieur le Inspekteur, Sie können mich gern die ganze Droschkenfahrt
anschweigen, aber ich werde Ihnen am Tatort kaum von Nutzen sein, wenn Sie mir
keine Details geben.“
Er knirschte mit den Zähnen, ließ sich aber nicht
beim Stopfen seiner Pfeife störten.
Seufzend sah sie aus dem Fenster.
London im Regen und das direkt vor Weihnachten. Im Vergangenen Jahr knechtete
der eisigste Winter seit Menschengedenken diese Stadt und jetzt? Es war
frühlingshaft warm, mehr als 55°F. Die aufgeweichten Böden beschmutzte die
Kleidung. Alles versank grau in Grau mit den verrußten Hauswänden, dem
schlammigen Fluss und farblosen Menschen.
Eine bizarre Art der Depression
lag in den Gesichtern der Leute. London war Regen gewohnt, aber ausgerechnet
zu dieser Zeit?
Rauch breitete sich sacht in der beengten Kabine aus.
„Wir haben keine Leiche aber alle Anzeichen für ein Verbrechen.“
Überrascht
hob Anabelle die Brauen. Hailey befand sich in einer miserablen Verfassung. Es
war nicht klug, mit einem geschliffenen Kommentar zu antworten.
„Wie muss
ich mir das vorstellen?“
Er wandte sich ihr zu. Feuchte Wärme mischte sich
mit dem Geruch nach Tabak und Bier. Er hatte seit einer Weile nicht mehr
gebadet.
Nachdenklich rieb er sich über das Kinn. „Na ja, wie soll ich das
sagen?“
„Mit Worten, Ihre Gedanken kann ich leider nicht lesen.“
Er
runzelte die Stirn. „Anabelle, bitte …“
Sie senkte den Blick.
„Entschuldigen Sie bitte, ich bin in keiner guten Verfassung.“
In seinem
Blick änderte sich etwas. Mit freundlicher Milde tätschelte er ihren Arm. „Ich
verstehe Sie, Anabelle. Ich bin der Meinung, dass das ein Fall für Zaida wäre,
aber sie ist abberufen worden. Also hängt es an Ihnen und mir, dieses
Geheimnis zu lösen.“
Seine Gefühle für Zaida lagen offen. Nie zuvor
offenbarte sich Hailey so ungeschützt. Einerseits machte sie dieses Gefühl zu
Gegnern, andererseits aber auch zu Verbündeten.
Anabelle lächelte
schmerzlich. Sie beide empfanden Liebe zu Zaida. Ihnen beiden war es
unmöglich, diese Gefühle offen auszuleben. Für Hailey gab es eine
unüberwindbare gesellschaftliche und ethische Kluft. Er liebte sie aus der
Ferne. Anders Anabelle. Sie lebte mit Zaida zusammen, als gleichberechtigte
Partner, aber nur in geschäftlichem Sinn. Ihre Gefühle füreinander mussten sie
beide geheim halten.
Obwohl sie nie darüber gesprochen hatte, wusste Hailey
davon. Vielleicht war es seinem Gespür zuzuschreiben, vielleicht seiner gut
verborgenen Sensibilität. Er behütete dieses Geheimnis, obwohl es ihm wie ein
Dolch in den Eingeweiden brennen musste.
Freunde und Feinde auf ewig. In
ihrer momentanen Situation war er ihr Halt, ein Freund, den sie nicht immer
begriff.
„Wir lösen es, Monsieur le Inspekteur.“
*
Seit sie aus der Droschke gestiegen und das kurze Stück über glitschiges
Kopfsteinpflaster gegangen waren, spürte sie die Blicke der Menschen. Sie
standen auf den schmalen Gehsteigen, sahen aus Fenstern. Einige folgten ihr,
Männer in groben Kleidern, verschützt von der Arbeit und ihrer Lebensweise.
Selbst Hailey wirkte an einem Ort wie diesem wie ein Gentleman.
Enge,
schlammige Gassen führten zwischen hoch aufragenden, schmutzigen Häuserzeilen
hindurch. Die grauen Wände schienen sich über ihr zusammenzuneigen, bis sich
die Giebel berührten. Fenster, kaum mehr als Schießscharten ließen kein Licht
in die zellenartigen Wohnungen.
Der Regen hatte sich in feinen Niesel
aufgelöst. Feuchtigkeit kroch durch ihre Handschuhe. Anabelle schlug den
Kragen ihres Mantels hoch, während sie Hailey durch eine finstere Torfahrt in
einen schmutzigen Hinterhof folgte. Die trostlose Hoffnungslosigkeit des
Eastends legte sich erstickend auf ihr Gemüt.
Die schweigende Prozession
Neugieriger wurde von uniformierten Polizisten aufgehalten.
Erleichtert
atmete sie auf. Obwohl von diesen Menschen kaum Gefahr ausging, entspannte
sich Anabelle, als sie sich unter dem ihr bekannten Klientel befand. Wie viel
einfacher war es doch, mit Männern aus Haileys oder Masters’
Gesellschaftsschicht zu sprechen. Obgleich beide Männer aus einfachen
Verhältnissen stammten und beide keine ausreichende Schulbildung genossen
hatten, war ihnen eine vollkommen natürliche Intelligenz zu eigen, mit der sie
alle Eindrücke ihrer Umwelt in sich aufsogen und umsetzten. Im Rahmen ihrer
eigenen Erfahrungen waren sie gebildet, vielleicht sogar weise. Die einfachen
Arbeiter, Tagelöhner und Handwerker besaßen eine sehr stumpfe, für Anabelle
beinah debile Form der Aufnahmefähigkeit. Den Meisten war keinerlei eigene
Meinung abzuringen, weswegen sich gerade hier ein idealer Nährboden für
Gewerkschaftler und Kommunisten befand. Die Ideologien wurden nicht
hinterfragt, nicht durchdacht. Londons Polizei kämpfte allein deswegen seit
langem auf verlorenem Posten, wenn durch irgendeine Begebenheit ein Mob durch
die Straßen walzte und alles mit sich riss oder vernichtete, was sich ihm in
den Weg stellte. Vielleicht lag es genau daran, warum sie ungern in Ostlondon
ermittelte. Die Volksseele war eindeutig stumpf und steuerbar. Sie konnte sich
kaum Informationen erhoffen, musste aber mit den Folgen rechnen, wenn Hailey
nicht sehr schnell einen Schuldigen präsentierte.
Anabelle schob den
Gedanken von sich. Alle Konzentration sollte nun auf dem Tatort und vor allem
auf der Recherche liegen.
Reporter standen unschlüssig zwischen Bobbys.
Einer versuchte, eine rundliche Frau anzusprechen, die sich allerdings vor dem
Mann in das Treppenhaus zurück zog.
„Zeitungsschmierer.“
Hailey spie
aus. Anabelle raffte ihre Schleppe höher. So deutlich musste er seien Abscheu
nicht machen.
Trotzdem verstand sie bestens, warum er so wütend war. Diese
Männer bildeten die Volksmeinung. Nicht dass das einfache Volk sonderlich gut
lesen konnte, aber einige von ihnen, zumeist die, die intelligent genug waren,
die Stimmung für sich auszunutzen, konnten es und verdrehten die ohnehin schon
erlogenen Worte nur noch mehr. Das Resultat war ein weiterer Aufstand, der
zumeist blutig endete.
Missmutig nickte sie. „Oui, Monsieur Hailey.“
Masters wandte sich von einem alten Mann ab, notierte sich allerdings etwas
auf seinem durchgeweichten Notizblock.
Regen, der sich in seiner Hutkrempe
gesammelt hatte, troff auf das Papier.
„Mist.“ Er schüttelte den Block ab.
Erst jetzt schien er Hailey und Anabelle zu bemerken. Automatisch versteifte
er sich. Sein blasses, sommersprossiges Gesicht drückte milden Schrecken aus.
Aus überschatteten Augen musterte er die Mimik seines Chefs. Für einen Moment
schien er in seinem zu weiten Anzug zu schrumpfen. Nervös sah er Anabelle an.
„Guten Abend Mademoiselle Talleyrand.“
Seine unbeholfene Art vermittelte
ein eigenartiges Gefühl. Sie mochte Masters. Der Ire war ein blitzgescheit,
aber mit viel zu wenig Selbstvertrauen ausgestattet. Jede Abweichung von der
Norm stärkte seine Unsicherheit.
„Guten Abend Monsieur Masters.“
„Können
Ruthlands Männer diese Schmeißliegen von der Presse nicht mal vertreiben?“,
fragte Hailey, wobei er eine angewiderte Mine zog.
Masters sah über die
Schulter zu dem uniformierten Constabler, nickte dann aber. „Er versucht es,
aber so einfach ist das nicht …“
Das fahle Gesicht Masters’ verlor noch
mehr Farbe, als Hailey kommentarlos an ihm vorbei ging und Constable Ruthland
ansteuerte.
„Das war nicht klug, Monsieur.“
Anabelle beobachtete den
stiernackigen Hailey, der gar nicht aufbrauste. Aber die Schärfe und
Eindringlichkeit seiner Worte drang sogar bis zu ihr und Masters.
„Heute
ist er gar nicht gut aufgelegt, ich weiß“, sagte Masters leise.
„Liegt das
an einem Tatort ohne Leiche?“
Er zuckte zusammen.
Neugierig trat sie an
seine Seite.
„Zeigen Sie mir all das, was sie gefunden haben, Monsieur
Masters?“
*
Sie raffte Mantel und Rock, um sich nach vorn zu neigen. In dem
aufgeweichten Schmutz lagen die Fetzen eines schäbigen Wollmantels. In dem
aufgenähten Pelzkragen hingen Wasserperlen und kleine Erdpartikel. Sand hatte
sich in dem Stoff abgesetzt, vermutlich aus den Abwasserrinnen angeschwemmt
und in großen Flecken ausgelaufen. Das Material triefte. Trotz allem erkannte
sie schwache Reste von nicht geronnenem Blut, was sich gelblich braun
auswusch. Risse und geplatzte Nähte ließen auf schlechte Haltung oder einen
Kampf schließen.
Sie erhob sich und zog ihre Handschuhe aus, um sie zu
schonen. Behutsam nahm sie den Mantel auf und drehte ihn in allen Richtungen.
Keinerlei Hinweise auf Stiche oder Einschusslöcher.
Trotz allem sah sie die
Überreste des Blutes auf Höhe der Brust.
Sie schlug mit spitzen Fingern den
verfilzten Kragen zur Seite. Nichts, bis auf einige gelöste Fäden, die den
Pelz hielten. Kaninchen, so schäbig und dünn, wie das Fell aussah.
Erneut
inspizierte sie das Wollgewebe. An den Schultern fanden sich feine rotblonde
Haare, die sich lockten.
Sie kniff die Augen zusammen, um einen neuen Fokus
zu bekommen. In ihrem Schädel summte ein leiser Motor, der ihr eine
Vergrößerung der Haare lieferte.
Wurzeln und Haut.
Offenbar hatte der
Angreifer ihr ein paar Haare ausgerissen.
Der feuchte Mörtel haftete an dem
Rückenstück des Mantels. Anabelle hob den Blick. An der Mauer, vor der sie
stand, wölbte sich durch Schimmel und Nässe der Putz. Große Placken fehlten
und gaben den Blick auf schmutzige, dunkle Ziegel frei. Auf der Höhe von
vielleicht zwei Metern existierte ein tiefes Loch. In den zerborstenen Ziegeln
hingen ebenfalls rote Haare und feine Hautfetzen.
„Monsieur le Inspekteur?“
Anabelle wandte sich um. Hailey stand nur wenige Schritt von ihr entfernt und
redete mit Masters.
„Ja?“
Sie wies auf das Loch in der Wand. „Ich bin
leider nicht groß genug, um bis dort hinauf zu reichen.“
Er trat zu ihr.
„Was ist da?“
„Haare des Opfers und Peau … Haut.“
Er verengte die Augen.
„Ich sehe nichts.“
Sie zupfte ein weißes Taschentuch aus ihrem Ärmel und
reichte es ihm. „Wischen Sie einfach das Loch damit aus, bitte.“
Er reckte
sich schnaufend und tat, worum sie bat.
„Hier.“
Sie nahm ihm ihr
Taschentuch ab.
Mit spitzen Fingern hob sie ein Stückchen Haut hoch. Es
rollte sich auf. Kein einziges Haar haftete daran. Blut fehlte ebenso wie
Poren. Im Gegensatz zu den Partikeln an der Haarwurzel war das gar keine Haut,
sondern Kautschuk.
Hailey schnaubte. „Was ist das?“
„Merde.“ Sie biss
sich auf die Unterlippe.
„Was?“ Haileys Stimme klang schärfer.
„Das
Opfer ist eine rothaarige Frau, anhand der Mantellänge dürfte sie klein sein,
wie ich, aber der, den Sie suchen scheint kein Mensch zu sein, sondern eine
Maschine.“
Hailey presste die Kiefer aufeinander.
„Ich glaube nur, dass
dieses Wesen anders ist, als ich.“
Sie deutete hinauf. „Er ist riesig und
mindestens so stark, wie ich, vielleicht stärker.“
„Wir suchen also einen
Uhrwerkmenschen von mindestens sieben Fuß Größe?“
Sie nickte.
„Mein
Gott, was für ein Monster.“
Das traf leider zu. Anabelle schauderte bei der
Vorstellung. Trotzdem würde dieses Wesen sich nicht ungesehen in der Masse
verbergen können. Vielleicht konnten sie daraus ihren Vorteil ziehen.
Zusätzlich hatte sie grobe Anhaltspunkte auf die Frau. Sie würde so leicht
nicht aufgeben.
„Lassen Sie uns die Anwohner befragen.“
*
Masters und Hailey verhörten die Anwohner. Anabelle folgte nach einer
Weile kaum mehr den Gesprächen. Nahezu jeder schien entweder tief geschlafen
zu haben, oder war in der Nacht nicht zu Hause.
Fraglos waren die Worte
nichts weiter als leere Lippenbekenntnisse. Was sie sagten war bedeutungslos.
Viel mehr sprach aus ihrer Mimik all das, was sie nicht zu sagen wagten.
Desinteresse, Angst, aber auch schwer unterdrückte Neugier sprach aus den
Gesichtern. Dumpf oder erschöpft blickten sie zu Hailey auf. Neid und
Verachtung lag in den wässrigen Augen eines dicken Mannes, dem einige Finger
an der rechten Hand fehlten, Scheu spiegelte sich in dem Gesicht einer jungen
Frau wieder, deren Auge und Wange blau verquollen waren. Sie konnte Haileys
unerbittlichem Starren nichts entgegen setzen. Nach Sekunden brach sie in
Tränen aus und flüchtete sich in die Arme einer dicken Frau, die vermutlich
ihre Mutter war.
Das Haar beider war rot und –soweit unter der Haube zu
beurteilen – glatt.
Konnte es sein … Das blaue Auge deutete auf einen Kampf
hin, die Haarfarbe war ähnlich. Trotzdem stimmte die Struktur nicht.
Anabelle löste sich und trat auf die Frauen zu. Sie bebten beide, sicher nicht
vor Kälte. Sie fürchteten sich.
Vor was? Auch wenn die These fraglich war,
ob die zwei in das Verbrechen involviert waren, lag es nah. Es war ein
Strohhalm.
Masters wandte sich beiden zu. Er sprach leise mit der älteren
der beiden Frauen.
Leider waren die Hintergrundgeräusche der Stadt und der
Menschen zu nachhaltig, als dass Anabelle sich vollständig auf Befragung
konzentrieren konnte. Sie schob sich an seine Seite. Irritiert hob die dicke
Frau den Blick, musterte Anabelle eingehend, aber keineswegs herablassend.
Eine Frau bei Schottland Yard, dachte Anabelle. Offensichtlich störte sie sich
daran.
Masters wandte ihr kurz seine Aufmerksamkeit zu, reagierte aber
nicht weiter darauf.
„Sie haben also in der Nacht nichts gehört, Ma’am?“
Matt schüttelte sie den Kopf. „Sir, kann ich meine Kleine erst mal hoch
bringen?“
Masters hob eine Braue.
Eine Ausflucht und er bemerkte es. Er
war weitaus aufmerksamer und sensibler als Hailey, weshalb sie auch mit
Masters lieber zusammenarbeitete.
„Würden Sie sich uns bitte zur Verfügung
halten, Ma’am?“
Zögernd nickte sie.
„Wo können wir Sie erreichen,
Madame?“
Anabelle lächelte. Hoffentlich sah es freundlich,
vertrauenerweckend, aus.
In dem Blick der dicken Frau glomm ein schwacher
Funke auf.
Es wirkte fast, als fasse sie Hoffnung.
„Mable Reed ist mein
Name. Ich wohne hier.“ Sie machte eine knappe Kopfbewegung zum Vorderhaus.
„Oben im zweiten Geschoss, die dritte Tür von der Treppe, wenn Sie nach Links
gehen, Ma’am.“
Das Mädchen spannte sich leicht. Sie hob ihren Kopf.
Anabelle straffte sich. In dem ganzen, heruntergekommenen Hinterhof mit all
seinen Werkstätten und Anwohnern schien es nichts Ehrlicheres zu geben, als
diese weinende Mädchen.
Pferde wieherten. Beschlagene Hufe klapperten auf
dem Kopfsteinpflaster. Von hinten näherte sich ein Wagen.
Erschrocken fuhr
die Kleine zusammen.
„Macht platz!“
Das Mädchen zuckte panisch. Mit
aufeinandergepressten Lippen wandte sich Mable Reed ab.
Flüchtig blickte
Anabelle über die Schulter. Hinter ihr fuhr ein schwerer Karren in den
Hinterhof ein. Sie trat mit Masters zurück, bis sie auf einer Höhe mit Hailey
standen.
Er schwitzte stark. Sein Gesicht war rot. Vermutlich strengte er
sich stark an.
„Eine Lieferung?“ Sie wies auf die Ladung aus kleinen
Fässern und in Öltuch eingeschlagenen Walzen.
Er nickte.
Ein paar junge
Männer kamen aus einem schäbigen Schuppen. Trotz der niedrigen Temperatur
trugen sie weder Pullis noch Jacken.
Anabelle beobachtete, wie sie einzeln,
oder zu zweit den Wagen abluden. Sie reagierten vollkommen teilnahmslos. Was
hier vor sich ging, war ihnen egal. Wahrscheinlich arbeiteten sie hier,
wohnten aber an einem anderen Ort.
„Wozu gehören diese Männer, Monsieur le
Inspekteur?“
„Zu der Druckerei.“ Hailey wies mit einer Hand zu dem
Holzverschlag. „Das sind Kommunisten. Sie geben hier eine kleine, unbedeutende
Arbeiterzeitung raus und drucken ihre Manifeste.“
Anabelle schüttelte
nachdenklich den Kopf. Das konnte die junge Frau nicht erschreckt haben. Dann
hätte sie zuvor schon anders reagiert.
Sie betrachtete Fahrer und Karren.
Der Mann half halbherzig, abzuladen. Sein Blick irrte aber neugierig über den
Hof. Die Bobbys und das Menschenaufgebot schienen ihn mehr zu interessieren.
Neugier.
Hatte er das Mädchen erschreckt? Sie wandte sich Mutter und
Tochter zu, die eng aneinander gedrängt da standen. Aus Schreckensweiten Augen
beobachteten ihn die Frauen.
Sahen sie diesen Mann, oder erinnerte er sie
an etwas?
Der Zusammenhang lag eigentlich auf der Hand. Ein Verbrechen ohne
Leiche, ein Mädchen, dass angesichts eines Wagens erschrak. Sicher hatte die
junge Frau das Verbrechen beobachtet und wagte nicht zu sprechen.
Der
Gedankengang war nur eine Theorie, nichts Bestätigtes, aber die Annahme lag
nah. Vielleicht täuschte sie sich auch.
Diese Unsicherheit galt es
auszuräumen.
*
Im Inneren des Hauses roch es nach Kartoffeln und Kohl, abgestandener Luft,
ungewaschenen Menschen, Fäkalien und feuchtem Stein. Der Moder in den Wänden
weichte den Mörtel auf. Große Salpeterblumen zeichneten sich auf dem
russ-schwarzen Stein ab. Das schummrige Licht reichte vom engen Treppenhaus
nicht bis in die kargen Flure. Dunstige Schwärze sammelte sich zwischen den
einzelnen Türalkoven, die von den Gängen abzweigten. Gedämpft drangen
Gespräche aus den Wohnungen.
An diesem Ort war sie ein Eindringling. Das
Gefühl der Ablehnung sickerte aus allen Fugen des Gebäudes.
Auf den Treppen
kam ihr eine dicke alte Frau mit einem Wäschekorb voll mit geplätteten Hemden
entgegen. Sie ignorierte Anabelle. Unsanft drängte sie sich an ihr vorüber,
ohne darauf zu achten, ob sie etwas verlor, oder nicht. Zwei der gestärkten
Kragen blieben auf den Stufen liegen. Anabelle hob sie auf. Sinnlos der alten
hinterher zu rufen. Sie würde nicht reagieren.
Nachdenklich drehte sie den
steifen Stoff in den Fingern. Der Stoff war zu hochwertig für Menschen aus dem
Eastend. Offenbar wusch oder glättete die Alte bessere Haushalte. Auch eine
Möglichkeit, Geld zu verdienen.
Anabelle legte die beiden Kragen auf dem
Fensterbrett ab und raffte ihren Rock.
Etwas lag dicht neben ihrem Stiefel
vor der Stufe. Erneut kniete sie nieder. Ein Knopf. Auf den ersten Blick hin
poliertes Messing. Sie hob ihn auf und drehte ihn zwischen den Fingern. Die
Prägung im Kopf beinhaltete ein Wappen – ein Schiff auf einem Wappenschild,
über dem ein Helm thronte.
Seltsam, dass so etwas bei der Wäsche lag. Für
die meisten Männer waren solche Knöpfe sehr wertvoll, Schmuckstücke. Sie
schloss die Faust. Vielleicht war es bedeutungslos, aber daran zu glauben war
fast unmöglich. Anabelle wollte keinen möglichen Hinweis ignorieren. Sie ließ
den Knopf in ihre Manteltasche gleiten. Später konnte sie noch mit Hailey und
Masters darüber reden.
Das Mädchen öffnete. Ihre Verletzungen sahen in
dem schlechten Licht noch ein bisschen bedrohlicher aus. Im ersten Moment wich
sie scheu vor Anabelle zurück, fing sich aber rasch.
„Ma’am?“
„Ich bin
Anabelle Talleyrand.“
Sie hielt dem Mädchen ihren Sigelring mit dem Wappen
der Königin entgegen. Dieses Schmuckstück zeichnete sie als Sonderermittlerin
der Krone aus.
„Sie waren vorhin bei dem Sergeant und dem Inspektor.“
Anabelle lächelte. „Monsieur Hailey, Monsieur Masters und ich arbeiten
miteinander.“
Das Mädchen schlug die Augen nieder. „Ja“, hauchte sie. „Ich
bin Libby Merten.“
Merten? Die Frau bei ihr hieß aber Reed? Vielleicht
bestand doch kein Verwandtschaftsverhälnis.
Ein weiterer ungeklärter Punkt.
Libby trat etwas zurück. Anabelle zögerte einzutreten. Neugierig spähte sie an
Libby vorüber. Der Raum war karg. Madame Reed saß am Tisch und sortierte einen
Haufen grober, unansehnlicher Socken. Neben ihrem massigen Arm lag ein
zusammengedrehtes Stück Stoff, in dem Nadeln steckten. Offenbar erledigte sie
Stopf- und Näharbeiten.
Ohne aufzusehen winkte sie mit der Hand.
„Ich
bin Madame Reeds Nichte.“
Die Alte hob den Kopf. „Kommen Sie rein.“ Ihre
Stimme klang emotionslos. Vielleicht lag es daran, dass die Mattigkeit und
Trostlosigkeit, in der diese Frau lebte, sie gebrochen hatte. Anabelle
bemerkte aber auch auf ihren Wangen rote Spuren. Tränen.
Wenn sie hier
nicht richtig lag und die beiden etwas mit der Geschichte zu tun hatten, um
wen oder was weinten sie?
Libby trat zur Seite, um Anabelle Platz zu
machen.
„Merci.“
„Bitte sehr.“ Das Mädchen schloss die Tür.
Anabelle
blieb im Raum stehen, löste die Handschuhe und den Mantelkragen. Obwohl sie
keine Wärme-Kälte-Empfindung besaß, konnte sie sehen, dass der Raum überheizt
war. Wasser kondensierte an dem winzigen Fenster. Der kleine Kanonenofen in
der Zimmerecke gab leise Schläge von sich. Das Metall dehnte sich aus.
„Darf ich Ihnen einen Tee bringen, Ma’am?“
Anabelle nickte. „Oui, ja.“
„Tante Mable?“ Das Mädchen trat zu Madame Reed. Beinah zärtlich legte sie ihr
eine Hand auf die Schulter. Einige Sekunden regte sich die Frau nicht, bevor
ein krampfhaftes Schluchzen ihren Körper schüttelte. Erst jetzt hob sie den
Blick. Tiefe Trauer lag in ihren Zügen.
„Danke, Libby.“ Ihre Stimme brach.
Libby seufzte. Langsam wandte sie sich um und wies auf den zweiten Stuhl am
Tisch. „Setzen Sie sich, Ma’am.“
„Merci.“
Mit gesenktem Kopf huschte
Libby fort.
Nachdenklich beobachtete Anabelle das Mädchen mit dem
zerschlagenen Gesicht. Scheinbar verstand sie französisch. Woher nur?
Vielleicht arbeitete sie in einem großen Haushalt?
Nein, in ihrem
momentanen Zustand wohl kaum.
Langsam schob sie den Stuhl zurück und besah
sich die Konstruktion. Er schien stabil genug zu sein, um ihren Metallkörper
tragen zu können. Behutsam ließ sie sich nieder. Tatsächlich ächzte das Holz
nicht einmal.
Sie zog den Manschettenknopf aus der Manteltasche und drehte
ihn in den Fingern. Sie musste sich beschäftigen. Reine Frage-Antwort-Spiele
lagen ihr nicht.
„Sie haben mich erwartet?“
Libby nahm aus einer
ramponierten Blechdose ein paar Teeblätter und warf sie in den Kessel. Sie
schwieg. Schließlich nickte ihre Tante. Sie schwieg einen Moment, bevor sie
seufzte. „Sie sind eine Frau. Es ist angenehmer, nicht mit einem Mann reden zu
müssen.“
Wirklich? Anabelle fand in Masters’ Befragungsmethode nichts
bedrohliches.
Sie zog ihre Handschuhe aus und legte sie auf dem Tisch
zusammen.
„Sie sind mir beide aufgefallen.“
Libby zuckte zusammen.
„Wirklich?“
Anabelle warf ihr einen mitleidigen Blick zu. „Besonders Sie
sind ein histrion – ein schlechter Schauspieler, Mademoiselle Merten.“
Sie
ließ die Schultern sinken. „Ist das so?“
„Absolument, durchaus wahr.“
Matt trottete sie durch den kleinen Raum zu einem schäbigen Schränkchen. Sie
holte drei nicht zueinander passende Tassen heraus und stellte sie auf den
Tisch.
Drei?
Ärmere Leute hatten selten mehr Geschirr als das, was sie
pro Person brauchten. Sie sah sich kurz um. Außer dem Ofen und dem Tisch mit
den beiden Stühlen, standen ein weiterer Stuhl und ein Schemel in einer Ecke.
Im ersten Moment hatte sie beide übersehen, weil Kleidung darüber drapiert
worden war. Drei der vier Menschen mussten in dieser beengten Umgebung leben.
Die Tränen der Frauen ließen den Schluss zu, dass zumindest eine Person
gestorben sein musste – die verschwundene Frau, deren Mantel draußen lag.
„Gestern wurde eine Frau entführt oder ermordet.“ Anabelle versuchte den Blick
einer der beiden Frauen einzufangen, doch Libby senkte ihren Kopf nur noch
weiter. Erst ihre Tante wiegte den Kopf. In ihren Augen schimmerten Tränen.
Schließlich presste sie beide Hände gegen ihre Augen. Erstickt schluchzte sie.
„Penny ist ihr Name. Sie ist meine Cousine …“ Sie verstummte. Fassungslos
starrte sie auf den Messingknopf in Anabelles Fingern.
Ihr Blick glitt zu
Libby. Das aschfahle Mädchengesicht verlor auch noch den Rest an Farbe. Ihr
gesundes Auge weitete sich. Es schien, als sähe sie den Teufel selbst.
In
ihrem Nacken zog es. Das Gefühl, angestarrt zu werden kroch langsam ihre
Wirbel herauf und drang in ihre Essenz …
Anabelle fuhr zusammen. Instinktiv
sah sie sich um.
Nichts. Die Schatten im Raum waren tief, wie im gesamten
Haus, aber das lag an dem schlechten Wetter und dem winzigen Fenster.
Trotz
allem spürte sie einen Schauder, als gäbe es eine bedrohliche Präsenz, genau
wie vor einem Jahr, als sie sich gegen Jewas Meisterin verteidigen musste.
Magie – jemand nutzte starke Magie.
Langsam erhob sie sich.
Die Schatten
bewegten sich leicht. Etwas lauerte darin - unsichtbar.
In ihrer
Brustplatte knackte es.
Was – nein wer war das? Ohne Zaida oder Jewa konnte
sie kaum etwas unternehmen. Die Bedrohung aber schien greifbar.
Bemerkte
Madame Reed nichts?
Die Frau hockte am Tisch, ein gebrochenes Geschöpf,
tief getroffen von dem Schicksal. Ihr dumpfer Blick verlor sich.
Nein, sie
spürte es nicht. Etwas war hier, auch wenn Anabelle nichts sah.
Libby
zuckte. Ihr Blick verdrehte sich.
Anabelle packte sie an den Schultern und
umklammerte sie. Der Geruch der Angst drang ihr in die Nase. Angst? Nein,
Libby sah das Geschöpf. Sie stand unter Schock. Wie lang würde der Zustand sie
vor der Panik bewahren?
Zaida, ihre magischen Fähigkeiten waren
unerlässlich bei einem solchen Fall. Anabelles Talente verkümmerten in dem
Metallkörper. Mit jedem Tag verlor sie ein wenig von dem geheimen Wissen.
Verdammt!
Ohne Zaida war sie einfach nicht stark genug, nicht vollständig.
Zaida …
Gequält stöhnte Libby. Kam sie zu sich?
Ein unartikulierter
Schrei entrang sich ihrer Kehle.
„Qu'est-ce qui se passe?“
Libby
antwortete nicht. Sie kniff die Augen zusammen. Zugleich begann sie sich zu
wehren. Sie wand sich in Anabelles Griff.
„Libby, beruhigen Sie sich.“
Der Blick des Mädchens verdrehte sich, bis das Weiße ihre Augen ausfüllte.
„Was ist denn los? Was sehen Sie?“
„Libby?“ Ihre Tante sprang auf. Ihre
Stimme überschlug sich. „Ma’am, gut festhalten, gut festhalten!“
Sie eilte
zu dem Schränkchen, aus dem Libby die Tassen geholt hatte. Unsanft stieß sie
dagegen. Geschirr klirrte. Einen Moment später wühlte sie eine braune
Glasflasche hervor. Zittrig zerrte sie an dem Korken.
Libbys Körper spannte
sich. Sie schrie gellend auf. Ihr Kopf zuckte unkontrolliert nach vorn.
Anabelle wich rasch aus. „Gut festhalten!“
„Was geben Sie ihr?“
„Was ihr
der Doktor verschrieben hat.“
Als Libbys Tante näher kam, erkannte
Anabelle, um was es sich dabei handelte.
„Laudanum?“ Das Mittel würde Libby
schaden. „Nicht.“
Madame Reed hielt in der Bewegung inne, schüttelte aber
den Kopf. „Danach geht es ihr besser.“ Unsanft drängte sie den Flaschenhals
gegen Libbys Lippen. Das Mädchen verdrehte sich in Anabelles Armen. Strähnen
ihrer hochgebundenen Haare lösten sich. Sie bog und wand sich, während sie
ihren Kopf immer heftiger schüttelte. Mable fand keine Möglichkeit, die
Flasche anzusetzen. Bevor sie fortgeschleudert wurde, musste zog Mable sie
schließlich weg. Sie krempelte die Ärmel auf und versuchte es erneut.
„Halt
doch ruhig, Libby.“
Anabelle zog Libby enger an sich. „Nicht, bitte.“
Mable presste die Kiefer aufeinander. „Es muss sein.“
Libbys Gegenwehr
erlahmte etwas. Zugleich bemerkte Anabelle, dass es etwas heller zu werden
schien. Das Kondenswasser gefror. Eiskristalle bildeten sich an den Scheiben.
Eine leichte Berührung in ihrem Nacken und der unverkennbare Duft von klarer
Winterluft streiften sie.
Jewa. Das konnte nur Jewa sein. Auf ihre Hilfe
hatte Anabelle gar nicht zu hoffen gewagt.
Woher wusste ihre Freundin und
Dienerin, dass sie dringend magische Unterstützung benötigte?
Gleichwie,
wichtig war nur, dass Jewa ihr half.
„Merci, mon ami.“
Libby erschlaffte
in ihrem Arm. Sie keuchte, als sei sie gerannt. Schweiß tränkte den Stoff
ihres einfachen Kleides. Es war vorbei, zumindest für den Moment.
Erleichtert ließ Anabelle sie auf einen Stuhl sinken.
„Sie haben es
überstanden, Libby. Es ist fort.“
*
Der Knopf hatte etwas ausgelöst - oder beschworen? Der Schock spiegelte
sich deutlich in Libbys Mimik. Nachdenklich drehte Anabelle den Knopf in ihren
Fingern.
„Wem könnte das Wappen gehören?“ Ihre Stimme war nur ein Flüstern.
Sie wandte ihre Worte an Jewa.
Ein schwacher Hauch berührte ihre Hand. Der
russische Geist der Raunächte stand neben ihr. Obgleich unsichtbar war sie
körperlich präsent. In der engen Kammer streifte sie Anabelles Rock und Bluse.
Ihre langen, schlanken Finger schlossen sich behutsam um Anabelles.
War das
ein Hinweis? Leider war Jewa stumm. Um nicht noch mehr aufsehen zu erregen,
straffte Anabelle sich. Sie konzentrierte ihre Aufmerksamkeit auf die junge
Frau.
Libby lag in ihren Decken. Das schmale Gesicht wirkte aschfahl. Sie
zitterte leicht. Das Lid des gesunden Auges flatterte. Nervös bewegten sich
ihre Lippen. Sie schien etwas zu sagen, doch die Laute erstickten.
Sie
wandte den Kopf.
Es schien fast, als mustere sie Jewa. Wahrscheinlich sah
sie die blasse, blonde Russin tatsächlich.
Jewas Rock knisterte leicht, als
sie sich löste. Anabelle konnte sie nicht sehen, merkte aber, wie sich die
Russin in die Knie sinken lies. Die Mimik Libbys entspannte sich etwas. Sie
griff nach ihrem blau geschlagenen Wangenknochen. Ihre Finger schwebten dicht
über der Haut. Wahrscheinlich kühlte Jewa die Verletzung.
Über Libbys
Lippen huschte ein Lächeln.
Mable regte sich. Sie trat an die Stelle, an
der Jewa kniete. Ein kaum wahrnehmbares Klirren lag in der Luft. Jewa
entmaterialisiert, nur um sich an anderer Stelle wieder zusammenzusetzen.
Vertraut ruhte ihre Hand auf Anabelles Taille.
„Wie geht es dir, Libby?“
Mables Stimme bebte.
„Müde.“ Libbys Blick glitt von ihrer Tante zu Anabelle
… nein, wahrscheinlich eher zu Jewa.
„Darf ich Sie dennoch befragen,
Mademoiselle Libby?“
Sie nickte.
Mit einer Hand zog Anabelle sich einen
Stuhl heran.
„Merci.“ Sie lächelte. Jewas Hände ruhten rechts und links auf
ihren Schultern. „Geht es Ihnen gut genug?“
Libby nickte schwach.
Unbehaglich räusperte sich Mable. „Ma’am, wollen wir nicht raus gehen, damit
Libby doch erstmal schlafen kann?“
„Madame, Sie müssen sich keinerlei
Gedanken machen. Ich habe nicht vor, Ihrer Nichte zuviel zuzumuten.“
Mable
senkte den Kopf. „Darf ich was fragen, Ma’am?“
Nervös öffneten und
schlossen sich ihre Fäuste, bevor sie sie unsicher an ihrer Schürze abwischte.
„Sicher.“
„Sie gehören doch zu den Polizisten draußen?“
Obwohl eher eine
Feststellung deutete die Unsicherheit in ihrer Stimme eine Frage an.
Bedächtig nickte Anabelle. „Oui. Ich bin Sonderermittlerin der Krone und
arbeite mit Schottland Yard zusammen.“
„Sowas wie eine Spionin?“
Der
Vergleich traf nicht wirklich zu. „Non, nicht ganz. Eher eine Ermittlerin, die
nur der Krone Rechenschaft schuldet.“
„Als Französin?“ Mable knautschte
ihre Schürze. Anabelle schwieg. Nickte aber.
„Ich dachte nur.“
Hilflos
nagte Mable an ihrer Unterlippe, bevor sie den Blick senkte.
„Was dachten
Sie?“
Mable hob den Blick. In ihren Augen standen Zweifel und Angst. Nach
einer Weile gab sie sich einen Ruck.
„Wissen Sie, was das mit meiner Nichte
ist, Ma’am?“
Warum fragte sie das? Wollte Mable eine Bestätigung, dass ihre
Nichte verrückt sei, oder eher eine logische Erklärung?
„Ich frage nur weil
Libby so ist, seit sie nicht mehr bei den Fortesques arbeitet. Haben die
meinem Mädchen was eingeflüstert oder so?“
„Tante Mable …“ Libby
verstummte, als sie einen Blick ihrer Tante einfing.
Nachdenklich
schüttelte Anabelle den Kopf.
Fortesque? War das nicht die Familie, zu der
Zaida gerufen wurde? Gab es eine Verbindung?
Sie hielt Mable den
Manschettenknopf hin. „Wissen Sie, ob das Wappen der Familie Fortesque
gehört?“
Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, wie Libby zusammenzuckte.
Irritiert nickte Mable. „Ja, aber wie sind Sie da rangekommen?“
„Eine
Wäscherin hatte das vorhin auf der Treppe verloren, als ich auf dem Weg hier
her war.“
„Wie?“ Mable fuhr sich durch das Haar. „Das versteh ich nicht.
Die alte Maude wäscht und bügelt doch gar nicht mehr für die Familie, seit die
weggezogen …“
Sie verstummte. Nachdenklich tippe sie sich gegen das Kinn.
„Sind die denn überhaupt weg? Vielleicht wollten sie Libby nur loswerden.“
Offenbar war ihr Verstand nicht annähernd so dumpf, wie angenommen.
Anerkennend nickte Anabelle. „Davon könnten wir vielleicht nicht ausgehen,
aber es wäre möglich.“ Sie ballte die Faust um den Knopf. „Das lässt sich
leicht nachprüfen, Madame Reed.“
Sie würde später mit Hailey und Masters
reden, zumal sie nichts über diese Familie wusste.
Schon im Interesse
Zaidas brauchte Anabelle mehr Informationen über diese Familie. Vielleicht
drohte ihrer Freundin Gefahr … Der Gedanke Manifestierte sich. Eiskalt kroch
er in ihre Essenz. Einen Moment lang wirbelten alle Eindrücke und Empfindungen
durcheinander.
Mühsam zwang sie sich zur Ruhe. Die schwache Berührung Jewas
half ihr dabei.
Nachdenken! Konzentriere dich! Zurück zu diesem Fall …
Jewas Druck nahm zu.
Tatsächlich kühlten ihre Gefühle herab.
Fortesque –
der Knopf, der Fall, die Ungereimtheiten, all die Hinweise ergaben ein Bild,
aber der Zusammenhang lag noch im Dunkel.
Besonders Zaidas Auftrag
irritierte sie. Warum wurde sie in ihrer Tätigkeit als Ermittlerin der Krone
zu der Familie gerufen?
Anabelle deutete auf das Mädchen. „Ich denke, nach
dem, was gerade passiert ist, schwebt Libby in Gefahr.“
Mable wich einen
Schritt zurück.
„Madame, Ihre Nichte ist nicht verrückt, sollten Sie das
glauben.“ Anabelle schüttelte den Kopf. „Im Gegenteil. Ich glaube, dass sie
eine besonders ausgeprägte Wahrnehmung besitzt. Vielleicht hat sie etwas
gesehen, was ihr nun zum Verhängnis werden könnte.“
„Das …“ Mable ließ die
Schultern hängen. „Das beunruhigt mich nur noch mehr. Ich will nicht auch noch
mein zweites Mädchen verlieren.“
Zweites Mädchen?
„Das verschwundene
Mädchen?“
Mable senkte den Kopf, nickte aber abgehackt.
Neben Anabelle
regte sich Libby. Ihre Finger fuhren nervös über die raue Decke. Tränen rannen
in feinen Rinnsalen über ihre Wangen.
„La fille … Das Mädchen, das
verschwand, war Ihre Tochter?“
Mable nickte.
„Penny ist ihr Name.“
Libbys Stimme klang erschöpft. Sie wischte sich mit beiden Händen die Tränen
fort und rollte sich auf die Seite.
„Penny … der Mantel, den Sie vorhin in
der Hand hatten, Ma’am, das war ihrer.“ Mable ließ sich neben Libby auf die
Bettkante sinken. Der Strohsack knisterte leise.
„Erzählen Sie, von Anfang
an, Madame.“
*
Libby saß zusammengesunken neben ihrer Tante. Anabelle stellte ihr eine Tasse
Tee auf den Tisch und zog sich dann ihren Stuhl heran. Sie hatte ihren Mantel
abgelegt. Wahrscheinlich dauerte ihr Aufenthalt hier noch eine Weile.
Obwohl sie Jewa nicht sehen konnte, wusste sie, dass ihre Freundin am Fenster
stand. Das Kondenswasser fror an der Scheibe fest.
„Erzählen Sie.“
„Bis
vor einer Woche habe ich bei Lady Fortesque in ihrem Londoner Stadtpalais
gearbeitet.“
„Pourquoi? Was ist vorgefallen?“
Libby zuckte mit den
Schultern. „Meine Dienste wurden nicht mehr benötigt, sagte Lady Fortesque.“
Sie griff nach der Tasse und führte sie an die Lippen, doch der Tee schien ihr
zu heiß zu sein.
In ihren Augen schimmerten Tränen. Trauer, verletzter
Stolz, Wut? Was immer Libby bewegte, das Gefühl war stark, sehr stark.
Neugierig neigte Anabelle sich vor. „Welche Aufgaben hatten Sie?“
„Als Kind
war ich eine Küchenmagd, aber Madame Fortesque nutzte mich nach einer Weile
als Mädchen für ihre Enkelin. Meine Aufgaben waren …“ Sie biss sich auf die
Unterlippe. „Sie gingen weit über meine normalen Aufgaben hinaus, weil Abigale
…“ Sie verstummte. Betreten drehte sie ihre Tasse in Händen.
Mable
schnaubte. „Libby war rund um die Uhr und an allen Tagen für das Balg da. Sie
hat diese Kröte überall hin begleitet, selbst ins Ausland.“ Ihre Wangen liefen
rot an. Sie schien dieses Mädchen zu verabscheuen. Der Zorn Mables entlud sich
mit Nachdruck.
Ausbeutung? Vermutlich wurde sie als Gesellschafterin
genutzt, aber wie eine Magd bezahlt.
„Wissen Sie was Libby alles machen
musste, Ma’am?“
Anabelle hob die Brauen. „Non.“
Mable neigte sich vor.
„Sie hat dieses Ding gebadet, gekleidet, sie gefüttert und ihren Dreck
weggemacht …“
„Tante Mable.“ Libby erhob sich. In ihren Zügen arbeitete es.
Sie schien ehrlich empört zu sein. „Abigale ist krank. Sie kann nichts allein
erledigen. Es ist egal, was ich tun musste, vollkommen egal. Das Einzige was
zählt ist, dass Abby mir vertraut hat und mich wie eine Freundin behandelte,
nicht wie ihre Dienerin.“
Offensichtlich mochte Libby ihre Herrin,
gleichgültig wie viel sie dafür auf sich nehmen musste. Aber weshalb hatte
Libby ihre Anstellung verloren?
Mable redete sich in Rage. „So nennst du
das?“ Kopfschüttelnd richtete sie sich auf. „Ich kann nicht begreifen, weshalb
sie dich dann überhaupt entlassen haben?“
„Gute Frage“, murmelte Anabelle.
Ganz offensichtlich schien Mable zu vergessen, dass Anabelle anwesend war.
Ihre Hemmungen fielen.
Libby sank in sich zusammen. Sie schluchzte. „Lady
Fortesque hatte nach ihrem Umzug in ihr Landhaus keine Verwendung mehr für
mich. Ein Arzt, eine Schwester und die Dienerschaft auf dem Gut kümmern sich
nun um Abigale.“ Tränen rannen über ihre Wangen. Sie verkrampfte sich.
„Setzen Sie sich“, bat Anabelle. Sie zog ihr Taschentuch und reichte es Libby.
Dankbar nahm das Mädchen an.
Ihre Mimik drückte alles Leid der Welt aus.
„Wie kam es dazu, Libby?“
Anabelle strich sich den Rock glatt, als sie an
ihrem Arm die Hand Jewas spürte.
Warum konnten sie nur nicht miteinander
kommunizieren? Ärgerlich setzte sie sich.
„Alles ging sehr schnell. Am
Abend des dreizehnten Dezember sagte Lady Fortesque, sie habe keine Verwendung
mehr für mich.“ Sie rang nach Luft. „Die Seeluft an der Küste sollte Abigale
helfen.“
„Hatte sich ihr Zustand denn so stark verschlechtert?“
Sie
nickte. „Nach unserem Aufenthalt in Parisverschlimmerte sich Abigales
Zustand.“
Mable schnaubte, sagte aber nichts.
„Wie lang waren sie dort?“
„Immer wieder und immer bei Spezialisten.“
Libby umging jede Erklärung über
das Leiden ihrer Herrin. Wieso nur?
„Welcher Natur war die Krankheit?“
Libby nippte an ihrem Tee. Sie versuchte Zeit zu gewinnen. Ihr Blick huschte
unstet hin und her.
„Sie ist ein Krüppel.“ Mable wuchtete sich von dem
Stuhl hoch. „Das kleine Balg kann sich nicht bewegen. Sie kann nur reden.
Zusätzlich ist sie anstoßen hässlich und verwachsen. Niemand außer Libby hat
es mit ihr ausgehalten.“
„Das ist nicht wahr. Sie ist ein besonderes
Mädchen.“
„Libby! Sie hat sich nicht für dich eingesetzt.“
„Das stimmt
nicht.“ Libbys Stimme überschlug sich.
Die Meinungen beider gingen weit
auseinander. Woher kannte Mable Abigale Fortesque so genau? Warum hasste sie
das Mädchen? Welcher Meinung konnte Anabelle eher vertrauen?
Sie musste
mehr über die Fortesques herausfinden.
Anabelle machte eine wegwischende
Handbewegung. Das war nicht der Grund ihres Hier seins.
„Mesdames, bitte.
Wir sollten uns vielleicht auf die Ereignisse der vergangenen Nacht und dem
Verschwinden von Mademoiselle Penny konzentrieren.“
Mable sank auf ihren
Stuhl zurück. Alle Kraft entwich ihrem Körper. Libby nickte.
„Verzeihen
Sie.“
Anabelle überging den Kommentar. Sie stand auf und schritt zum
Fenster. Unten drängte sich der menschliche Abfall unter den armen Anwohnern.
Reporter bedängten die Leute. Einige unterhielten sich bereitwillig mit diesen
Zeitungsschmierern. Andere wiederum ließen sie einfach stehen. Natürlich
würden die Journalisten schreiben, was ihnen die meisten Leser brachte, also
eine frei erfundene Mordgeschichte. Jewa stieß sie sacht an der Schulter an.
Anabelle wandte sich um.
Beide Frauen musterten sie irritiert.
Anabelle
räusperte sich. „Die Verletzung ist noch recht frisch, Libby. haben Sie sich
gestern Nacht verletzt?“
Das Mädchen zuckte zusammen. Instinktiv griff sie
nach ihrer Wange. Wortlos nickte sie.
„Was ist gestern Nacht geschehen,
Libby?“
„Ich …“ Sie brach ab. Mit beiden Händen wischte sie sich die Tränen
aus den Augen. „Gestern Nacht kam Penny nicht nach Hause. Ich bin kurz nach
Mitternacht losgelaufen, um zu schauen, ob sie noch in der Fabrik sei.
Unterwegs habe ich eine Frau getroffen, die mit ihr dort arbeitet. Sie sagte,
dass Penny schon nach Hause gegangen sei. Sie habe sich sehr beeilt, weil es
angefangen hatte zu regnen.“
Sie sank in sich zusammen. „In der letzten
zeit sind oft Frauen in Whitechapple und Spitalsfield umgebracht worden. Ich
bekam Angst.“
Das stimmte. In letzter Zeit fand man oft zerteilte
Frauenleichen in der Themse. Viele ließen sich nicht identifizieren. Die,
deren Identität bekannt wurde, stammten aus dem Eastend.
Libby hob den
Kopf. „Auf meinem Heimweg habe ich ein paar Bobbys, die ich kannte, gefragt ob
sie sie gesehen hätten.“
Es kam selten vor, dass jemand im Eastend mit der
Polizei auf gutem Fuß stand, insbesondere weil es viele ungeklärte Verbrechen
gab, um die sich niemand kümmerte.
„Mon dieu, sie unterhalten guten Kontakt
zur City Police?“
Libby zuckte die Schultern. Mit ausdrucksloser Mine fügte
sie hinzu: „Penny eher als ich. Dazu war ich zu selten hier. Sie ist oft mit
ihnen ausgegangen, besonders mit Walter Carmichael.“
Mables Blick
verdüsterte sich. Sie wandte sich ab.
Offenbar hatte Penny einige Liebhaber
unter den Bobbys, mit denen ihre Mutter gar nicht einverstanden war.
So
konnte man sich auch einen gefahrlosen Heimweg sichern, immer direkt unter den
Augen ihrer Gefährten. Aber in der vergangenen Nacht boten sie ihr keinen
Schutz.
„Racontez … erzählen Sie weiter.“ Anabelle nickte auffordernd.
„Na ja, sie war wohl in Hoagys Pub eingekehrt, um sich zu wärmen und den Regen
abzuwarten, erzählte mir Walter. Dort war sie aber nicht mehr, als ich ankam.
Also bin ich hier her zurückgekehrt.“
„Wann war das in etwa?“
„Gegen ein
Uhr in der Nacht, glaube ich. Aubie, der Bobby, der hier Dienst tut, war
gerade vorn an der der Ecke Hanbury Street zur Commercial Street. Er hatte
Penny auf seinem Rundgang gesehen.“
Anabelle nickte. „Ich werde mich mit
den beiden Männern unterhalten müssen, denke ich.“
Sie reagierte nicht. Wie
in Trance murmelt Libby: „Wenn ich nur etwas schneller gegangen wäre, hätte
ich etwas tun können. Dann wäre das nie passiert.“
„Was, mon petit …“
Libbys Gesicht färbte sich rot. Trocken schluchzte sie. „Ich habe schon auf
die Entfernung einen Schrei gehört. Überall gingen die Fenster auf, besonders
als ein führerloses Gespann beinah mit einem Lastkarren kollidierte. Es kaum
aus unserem Hof.“ Sie vergrub ihr Gesicht in Händen.
Also hatten alle
Anwohner mitbekommen, was passierte. Warum schwiegen sie? Fürchteten sie sich?
Das war die eine Möglichkeit. Wahrscheinlicher war, dass sie sich nicht dafür
interessierten.
Libby atmete mühsam durch. „Der Karren bog hierher ab.
Danach bin ich losgerannt. Als ich ankam, sah ich …“ Sie rang nach Atem, als
sie den Blick hob. „ … wie ein Mann Libbys schlaffen Körper gegen die Mauer
presste. Irgendetwas – so wie schwarze Fäden – waren ihr in Augen, Mund und
Nase eingedrungen. Blut troff herab, zugleich ging davon so ein fahl blaues
Schimmern aus. Penny … sie war tot, ganz sicher.“
Mable schrie
unartikuliert auf. Sie krümmte sich.
Anabelles Essenz zog sich zusammen.
Sie hatte das Gefühl, als legte sich eine Stahlklaue um ihr nicht vorhandenes
Herz. Kälte, die sie nicht fühlen könnte, durchflutete sie. Die Beschreibung …
das war Magie.
Blaues Schimmern? Was war das? Ein Seelentransfer? Aber wie
funktionierte das Ritual ohne einen Seelenkristall? Auf diesem Weg konnte kein
Magier die Seele absaugen, oder doch? Jewas Hand legte sich auf die ihre.
Am Rand ihres Bewusstseins nahm Anabelle Libbys Stimme wahr. Sie hatte weiter
gesprochen. Irritiert sah sie auf.
„… die Fäden kamen da her, wo andere ihr
Gesicht haben, aber da war nichts, nur schwärze. Er hatte kein Gesicht.“
„Bitte?“ Erschrocken stieß sich Anabelle ab, wobei sie sich auch von Jewa
losriss. „Beschreiben Sie ihn.“
Libbys Blick zuckte unstet durch den Raum.
Eine Weile schwieg sie, bevor sie mit gesenkter Stimme wisperte: „Er war
riesig, vielleicht sechs oder sieben Fuß hoch und unheimlich breit. Er trug
Hut und Mantel …“
„Gab es ein Merkmal, was Ihnen aufgefallen ist?“,
unterbrach Anabelle ungeduldig.
Libby verstummte. Sie biss sich auf die
Lippe. „Nur dass er kein Gesicht hatte … Aber der Mann auf dem Karren, der
Libbys Körper aufgeladen hatte, der hatte einen Sprachfehler. Als ich
dazwischen gehen wollte, trat er mir mit dem Stiefel ins Gesicht. Er sprang
mich an und schlug immer wieder auf dieselbe Stelle. Dabei schrie er mich an,
beschimpfte mich …“ Sie tastete über die blau geschlagene Wange.
Wahrscheinlich dachte er, dass ich ohnmächtig wurde, denn er hörte plötzlich
auf.“
Anabelle stützte sich auf dem Tisch ab. „Haben Sie sein Gesicht
gesehen?“
Libby schüttelte den Kopf. „Er war zwar vollkommen vermummt.
Trotzdem, kam mir seine Stimme so bekannt vor - und dann dieser Sprachfehler.“
Sie wurde ein wenig blasser, als sie zu dem Manschettenknopf sah. „Er klang
wie Buford, der Butler von Lady Fortesque.“
~ Part 2 ~