Bloddy Faces |
Kapitel 1: ================================================================================ 24. Dezember 1899 Payton... Es
stellt sich als ein echtes Problem heraus, den alten Mann zu finden.
Angeblich, so sagte man mir auf dem Revier, auf dem er damals als Konstabler
arbeitete, sei er noch im Dienst, aber niemand wußte da so recht, ob er
immer noch dort sei. Gestern Nacht war ich noch auf zwei anderen
Polizeistationen, aber keine Spur von Payton. Bei dem zweiten Revier sagte
man mir, ich solle einfach das Hauptrevier aufsuchen. Dort wisse Man, wo
sich Payton aufhielt. Heute Früh habe
ich mein Glück versucht. „Konstabler“ Payton muß die Leiter wohl
hinauf gefallen sein. Jetzt ist er, noch immer so unausstehlich wie damals,
bei der Kriminalpolizei und ein Inspektor. Aber, auch wenn er seine speckige
Uniform gegen einen schlecht sitzenden Maßanzug eingetauscht hat, so ist er
dennoch nicht weniger ungehobelt und widerwärtig wie eh und je. Ein
kleines, helles Büro, zur Straße hin. Die beiden schmalen Rundbogenfenster
stehen trotz der Kälte weit offen. Ihnen gegenüber befindet sich die Türe,
auf der Hälfte mit einem Milchglaseinsatz versehen. Der Boden besteht aus
nackten Dielen aus hellem Holz. Die Wände, insofern man sie sieht, sind bis
auf etwa einen Meter fünfzig Höhe dunkelgrün gestrichen, der Rest, bis
hinauf zur Decke war einst weiß. Von der Decke hängt eine Gaslampe mit
Flaschenzug, und in der linken Ecke, neben den Fenstern steht ein
Kanonenofen. Die Mitte des Raumes wird von einem schmutzigen, abgenutzten
Schreibtisch eingenommen, der verhältnismäßig leer erscheint. An den
Wanden stehen offene Regale, in denen sich das Chaos austobt und mehrere
geschlossene Aktenschränke. Rechts der Fenster befindet sich ein Kleiderständer,
über dem ein graubrauner Wollmantel hängt. Ein paar schlichte Holzstühle
stehen wild in dem Zimmer verteilt und an einem winzigen Tischchen, neben
dem sich ordentlich aufgestapelt etliche Lederne Aktenordner befinden, sitzt
eine stille junge Frau, in einem schlichten Kleid an einer Schreibmaschine,
die Haar hochgesteckt und eine Brille auf der Nase. Sie schreibt gerade
einige Handnotizen ab. Hinter
dem Schreibtisch sitzt ein Mann, um die Sechzig, unrasiert, das helle Haar
strähnig, den Maßanzug knitterig, als würde er darin schlafen. Falten
haben sich tief in sein verbissenes Gesicht gegraben. Er hat helle, wache
Augen, die nicht einmal unfreundlich wirken, im Gegensatz zu seinem
Umgangston. Er
kaut am Ende einer fettigen, glanzlosen Pfeife herum, während seine Hände
die Morgenausgabe des Chronical in viele kleine Fetzchen zerreißen. John
fühlt sich sichtlich nicht wohl unter dem Blick Paytons. Der alte Mann hat
ihn wiedererkannt, bevor John etwas sagen konnte. Um ein Haar hätte ihn
Payton wieder rausgeworfen. Seine Schreibkraft nimmt von all dem keine
Notiz. Sie sitzt die ganze Zeit still an ihrem überfüllten Tisch und
tippt. John fühlt sich unwohl und nervös, und das monotone Geräusch der
Tasten beruhigt ihn nicht im Geringsten. „Himmel,
mein Nemesis!“ flucht Payton. „ Ich ahne den Grund ihres Hierseins. Und
wenn sie immer noch der selbe Rotzbengel von früher wären, wären sie auch
schon längst draußen.“ John
geht auf Paytons Worte nicht ein. Er ignoriert das genervte Gesicht und die
angespannte Haltung seines Gegenübers. „Der
Mörder...“ „Face
Daddy nennen ihn die Leute hier,“ fällt ihm Payton ins Wort. „Ist
es der selbe, der meine Mutter getötet hat?“ Johns Hände schwitzen und
er sitzt völlig verkrampft auf dem unbequemen Holzstuhl. Payton
sieht an ihm vorbei und schweigt. Sein Blick schweift in die Ferne. John ist
sich nicht sicher, ob es etwas zu bedeuten hat. Soll es Paytons Art sein, es
Wortlos zu bestätigen, oder will er nicht antworten? Was denkt und fühlt
Payton hinter seiner ausdruckslosen Maske? „Ich
bin mir nicht sicher, McNeal,“ sagt er leise. „Und ich dürfte nicht mit
ihnen darüber reden. Das wissen sie.“ Er sieht zu seiner Schreibkraft hinüber
und erhebt sich plötzlich. „Ich bin für einige Stunden unterwegs, Miß
Meredith.“ Ohne
aufzusehen, oder in ihrer Arbeit inne zu halten, nickt sie. „Ja, Sir.“ Payton
nimmt seinen Mantel unter den Arm und winkt John, ihm zu folgen. Wortlos
folgt John ihm, bis hinaus auf die Straße. Der Lärm der Pferdebahnen und
des Verkehrs dringen auf ihn ein und verursachen ihm Kopfschmerzen. Unbewußt
greift sich John an die linke Schläfe und kneift die Augen ein wenig
zusammen, um das kalte Wintersonnenlicht besser zu ertragen. Sein
älterer Begleiter steht direkt an der Bordsteinkante und winkt einer
Droschke. Das Gefährt kommt heran und hält. Mit einer knappen Handbewegung
bedeutet Payton John, einzusteigen, was dieser auch tut. „Cavendish
Street,“ ruft er dem Kutscher zu, während er selbst in den offenen Wagen
steigt und sich neben John nieder läßt. „Three
Oaks?“ fragt John ihn. Anmerkung:
Three Oaks ist eine etwas weiter entlegene Gegend mit netten kleinen,
nicht ganz so reichen Villen, die aus den Gründerjahren stammen. Payton
geht nicht auf Johns Frage ein. „Hören
sie, McNeal, für das, was ich tue, könnte ich sofort meine Stellung
verlieren.“ Er streicht sich eine Strähne aus der Stirn. An
ihnen ziehen die großen Stadthäuser und Geschäftsgebäude vorüber. An
diesem Morgen befinden sich viele Menschen auf der Straße. Die meisten
gehen ihrem Gewerbe nach. Geschäfte öffnen, Wagen werden abgeladen,
Zeitungsjungen stehen am Straßenrand und brüllen die Schlagzeile des
Chronical hinaus. Irgendwo, in der Menge, steht ein großer, schwarzer Mann,
Lafait. Er sieht der Droschke hinterher... „Was
ich ihnen jetzt alles erzähle, McNeal, bleibt unter uns.“ Mit
der rechten Hand nimmt Payton seine Pfeife und klopft sie am Sitzrand der
Droschke aus. „Ich
bin bereits vorgewarnt worden, daß sie mir die Türe einrennen.“ Er sieht
auf, ein wenig schadenfroh über das verwirrte Gesicht Johns. „Glauben sie
allen ernstes, es würde keine kompetenteren Männer bei der Polizei geben
als mich?“ fragt er John leise. Ohne eine Antwort zu erwarten, spricht er
weiter. „Von höchster stelle wollte man, daß ich in diesem Fall
ermittele, genau, wie man vor zwanzig Jahren dafür sorgte, daß ich die
Ermittlungen einstelle.“ „Was
wollen sie mir damit sagen, Inspektor Payton?“ John legt die Stirn in
Falten. „Heißt das, sie...“ „Ich
bin wie sie, nur ein Bauer auf dem Spielfeld, McNeal,“ lächelt der alte
Mann humorlos. „Bis zu Beginn der Mordserie war ich nichts als ein kleiner
Konstabler, der wegen Trunkenheit im Dienst
die meiste Zeit in der Ausnüchterungszelle in einer Polizeistation am Hafen
verbrachte.“ Seine Mimik ändert sich. Er wird stiller, ernster. „Wissen
sie, bis zu dem ersten Mord, Anfang Juli, schien mich die Welt vergessen zu
haben. Dann, plötzlich, änderte sich alles. Ich wurde versetzt und befördert
und alles begann von vorne.“ „Warum
hat man ihnen den Fall damals entzogen?“ Payton
schüttelt still den Kopf. Nach einigen Sekunden antwortet er. „Ich weiß
es nicht. Vielleicht, weil ich doch auf der richtigen Spur war.“ Er lächelt
gequält und zuckt die Schultern. „Nach der Ermordung ihrer Mutter starben
noch siebzehn weitere Menschen. Es war verdammt schwer Hinweise zu finden.
Ein Mörder, der keine Spuren hinterläßt und scheinbar wild und wahllos tötet,
der nichts stiehlt, außer der Schönheit der Opfer, muß völlig wahnsinnig
sein. Face Daddy bringt Männer und Frauen um, aus allen möglichen
Schichten der Gesellschaft, eines jeden Alters. Das einzige, was diese
Menschen verbindet, ist ihre außergewöhnliche Schönheit und die meisten
von ihnen waren bekannt, auf die eine oder andere Weise. Ihre Mutter war
einst eine bekannte Tänzerin, aber als er sie tötete, war sie fast
ruiniert, kaum in der Lage sie und sich selbst durch zu bringen. Andere sind
Persönlichkeiten der Gesellschaft, des öffentlichen Lebens, Politiker,
Maler, Sänger, Adelige, Fabrikanten, Poeten...“ Er verstummt. „Glücklich,
wer in diesen Tagen ein abscheuliches Antlitz hat.“ Er
seufzt und sieht John an. „Ein Wahnsinniger, der entweder abgrundtief häßlich
ist, oder es sich einbildet.“ „Er,
oder sie,“ John macht eine Handbewegung. „Wollen wir nicht ausschließen,
daß es eine Frau ist, ist zutiefst fasziniert von allem Schönen. Verliebt
in die Schönheit... Klingt für mich fast nach einer Frau.“ Payton
zuckt die Schultern. „Damals haben wir den Gedanken auch nicht ganz
ausgeschlossen. Aber vieles deutet darauf hin, daß es ein Mann ist. Spätestens
die Art, wie er tötet. Einigen seiner Opfer hat er das Genick gebrochen.“ „Und
wenn es zwei sind?“ Payton
zuckt die Schultern. „Glauben sie mir, McNeal, wir sind jeder Idee
nachgegangen. Wir haben alle Spitäler und Irrenhäuser aufgesucht, alle Ärzte
unter die Lupe genommen, jeden Künstler und Medizinstudenten, selbst die
Polizeiärzte mußten sich verantworten. Ich habe drei mal hundert Mann zur
Verfügung bekommen, um die Stadt zu durchkämmen, die Menschen zu befragen
und alles zu überwachen. Und doch gelang es Face Daddy immer, unerkannt
durch zu schlüpfen und zu morden. Wir sind hilflos und die Stadt zittert
vor Angst vor einem Phantom, daß alles und jeder sein kann. Jemand, der
sich mit Giften und Drogen auskennt, mit verschiedenen Waffen und weiß, wie
man die Gesichtshaut abtrennt, ohne mehr als dieses Gewebe zu verletzen,
jemand, der unter uns leben kann und wir bemerken ihn vielleicht gar
nicht.“ John
nickt nachdenklich. „So unergründlich wie die Morde eines Mannes in
England, vor elf Jahren.“ Der
Blick Paytons verdüstert sich. „Sie reden von den Whitechapel- Morden an
den Nutten?“ „Sie
haben also auch davon gehört?“ „Ich
bin vielleicht ein Säufer, McNeal, aber die Geschichten um Jack the Ripper
sind selbst bis hier her gedrungen.“ John
nagt an der Unterlippe und wirkt völlig abwesend. „Genau so
ungesehen...“ An
ihnen ziehen jetzt nicht mehr die großen Geschäfts- und Wohnhäuser New
Ardens vorüber. Sie verlassen den Stadtkern. Schmutzige, kleine Wohnhäuser,
die zu einer Fabriksiedlung gehören, mit winzigen Vorgärten, dominieren
das Bild (ähnlich wie bei Dyckerhoff in Wiesbaden). Im Hintergrund raucht
eine unbestimmbare Anzahl Schornsteine, schlank, hoch und rund, aus Ziegeln,
gehörend zu einer wilden Ansammlung verschiedener flächiger, zwei, höchstens
dreigeschossiger Gebäude. Schienen kreuzen die Straße, und aus einem Teil
des Firmengeländes, das mit einer ungefähr drei Meter hohen Ziegelmauer
umgrenzt ist, fährt ein beladener Güterzug. Hinter dem Zug wird ein
Rolltor manuell geschlossen. In
einiger Entfernung befindet sich eine Staßenbaukolonne, und schüttet Löcher
im Kopfsteinpflaster mit Schotter auf. Ein kleines Automobil wird zur selben
Zeit wegen des Güterzuges unsanft zum stehen gebracht. Obgleich die Sonne
scheint und in jedem anderen Teil der Stadt noch Schneereste liegen, ist es
hier Grau und trüb und deutlich wärmer als in den anderen Teilen der
Stadt. Den
Fabriken schließen sich größere und schmutzige Wohnhäuser an, Klötze, völlig
schmucklos und vom Schlotqualm und der Kohle zum Heizen, die vor den Häusern
abgeladen wird, braungrau, alle fünf Etagen hoch und mit schlichten Satteldächern
und winzigen Fenstern versehen. Wäscheleinen spannen sich zwischen den etwa
zwanzig bis vierzig Meter langen Häusern, die so nah aneinander liegen, daß
selbst im Sommer lediglich Wärme, aber keine Sonne heran kommen kann. Die
Gebäude sind nicht alle verputzt. Einige bestehen aus gelben Ziegeln. Aber
von der Grundfarbe sieht man fast nichts mehr. Wenige Menschen sind auf der
Straße. Wenn, dann ausschließlich Frauen. Einfache Frauen, die nicht
besonders elegant oder modisch wirken, mit groben, oftmals unintelligenten
Gesichtern und stumpfen, schlampig hochgesteckten Haaren. Sie tragen schwere
Körbe, oder haben ihre Kinder auf dem Arm. Ein Mädchen fällt auf. Sie ist
bleich, wie fast alle Menschen hier, aber außergewöhnlich feingliedrig und
zart. Ihr blondes Haar trägt sie zu dicken Zöpfen geflochten. Die Arbeit
scheint zu schwer für sie und neben ihr laufen drei Kinder, die vermutlich
ihre jüngeren Geschwister sind. Als die Droschke vorbei rollt, sieht sie
kurz auf und ihre großen, blauen Augen weiten sich für einen ganz kurzen
Moment vor grauen. Ihr fällt der Wäschekorb aus den Händen und landet in
einer schmutzigen Pfütze. John sieht, wie sie der Droschke nachblickt,
entsetzt, zitternd vor Angst. „Haben
sie das Mädchen bemerkt?“ fragt er Payton, was dieser mit einem kurzen
Nicken und einem schlichten Ja
beantwortet. „Gab
es hier in der Gegend auch schon Morde?“ Payton
bejaht erneut. „Vielleicht,“ spinnt John seinen Gedanken weiter, „hat
ja doch jemand den Mörder gesehen. Vielleicht kam er sogar in einer
Droschke, oder eines der Opfer wurde in einer Droschke oder Kutsche
ermordet...“ „Hören
sie auf, zu spekulieren,“ knurrt ihn Payton an. „Glauben sie nicht,
McNeal, wir sind selbst auf den Gedanken gekommen?“ Ohne eine Antwort
abzuwarten, redet Payton weiter, zumal das eine der schnellsten Strecken von
Three Oaks in die Stadt hinunter ist.“ „Three
Oaks... was hat das alles mit Three Oaks zu tun?“ Payton
verzieht spöttisch die Lippen. „In Three Oaks gibt es ein Spital, das
sich auf Geisteskrankheiten spezialisiert hat, wenn sie so wollen, eine
Irrenanstalt, nur mit solchen Ärzten, die alle Versuche unternehmen, zu
erforschen, was sich hinter der einen oder anderen Krankheit verbirgt,
solche, die ihre Patienten eben nicht nur fort sperren.“ In
die Augen des Inspektors tritt ein listiges Funkeln. „Die erste, wie
Zweite Mordserie begann hier, in Three Oaks. Zuerst nahmen wir an, daß von
dort ein Patient ausgebrochen sei, oder sich öfter unerkannt Freigang
verschaffte, was sogar zutraf. Aber der Mann war ungefährlich. Ein
harmloser Kerl mit dem Verstand eines Kleinkindes und eben auch solch einem
Gemüt. Er pflückt Blumen und bindet daraus ziemlich scheußliche Kränze für
die Ärzte und Wärter. Niemand sagt etwas wenn er verschwindet. Jeder in
Three Oaks kennt und mag ihn.“ „Ein
Vortrag von Ihnen, und es gehört nicht zum Thema?“ John scheint erstaunt. „Ich
glaube nicht, daß es jemand aus dem Spital ist. Wir sind die Akten aller Männer
und Frauen der letzten fünfzig Jahre durchgegangen.“ „Aber
wir befinden uns auf dem Weg dorthin?“ Payton
nickt wieder. „Der Arzt, der die Klinik leitet, unterstützt unsere
Ermittlungen so gut es ihm Möglich ist. Für Heute versprach er mir,
wenigstens eine grobe Darstellung des möglichen Geisteszustandes unseres
Face Daddys.“ John
nickt unsicher. Wieder
verändert sich die Gegend. Sie verlassen die eigentliche Stadt und rollen
an verwirrend vielen Schienensträngen vorbei, entfernen sich aber langsam
davon. Baumalleen säumen die Straße und Schnee liegt auf den Feldern und
Wiesen. Obgleich es hier friedlich und ruhig ist, sieht man sehr wohl noch
die Stadt. Das eine oder andere, etwas ältere, große Haus steht in einiger
Entfernung. Diese Gebäude sind so alt, daß sie noch zu siebzig Prozent
Holzbauten sind. Nur wenige sind aus Stein. Große, verwilderte Gärten und
Parkanlagen umgeben die Häuser, einige nicht einmal umfriedet. Eichen und
Ahornbäume dominieren das Bild. Mächtige, entlaubte Giganten, auf deren Ästen
Schnee liegt. Plötzlich
verliert Johns Gesicht seine beständige, leichte Verwirrung. „Bitte,
Payton, werfen sie mir die Informationen Bröckchen weise vor!“ Ein wenig
ruhiger redet er weiter: „Offensichtlich will jemand, daß der Fall nicht
nur weiter verfolgt wird, sondern dieses Mal aufgeklärt werden soll. Was
ich dabei soll, ist mir zwar schleierhaft, aber wenn es der Ergreifung des Mörders
meiner Mutter dient...“ „Nicht
so Pathetisch,“ knurrt Payton aus dem Mundwinkel, in dem bereits wieder
seine Pfeife steckt. John wirft ihm einen leicht ärgerlichen Blick zu.
„Warum ich?“ „Ich
bin alt, McNeal. Vor zwanzig Jahren war ich schon fast zu alt, um noch aktiv
an einer Verbrecherjagd Teil zu nehmen. Sie, mein junger Freund, sind meine
Beine und meine Augen; und, wenn es sie beruhigt, der, der für mich die
Kugeln abfängt.“ Über
Johns fassungsloses Gesicht grinst Payton nur müde. „Gewöhnen sie sich
an den Gedanken. Oder glauben sie, es war ein Zufall, daß die Britannia
hier, in New Arden anlegte? Der Hafen liegt nicht auf ihrer Route. Glauben
sie mir, ich weiß, wovon ich rede. Ich war fast vierzig Jahre lang
Konstabler am Hafen.“ „Nein,“
murmelt John düster. „Scheinbar gibt es keine Zufälle.“ Three
Oaks wird von alten, hölzernen, sehr schmalen Villen beherrscht. Häuser
mit zwei, höchstens vier Etagen, Farbig angestrichen, in hellen Tönen (Weiß,
Blau, Creme, gelb, etc.) und einem kleinen, Park artigen Garten außen.
Schmiedeeiserne Zäune umgeben die Anlagen, manchmal sind nur flache, ein
Meter hohe Steinmauern und eine Gruppe Eichen und Linden die Grenze der
Grundstücke. Geschnitzte Balkonbalustraden, geschwungene Balken, die Vordächer
und Balkone, Auskragungen und Veranden tragen, Hölzerne Treppen und
gekieste Wege, geflankt von kleinen Sträuchern und Beeten, die im Frühjahr
sicher Blumen tragen, dominieren das Bild. Das eine oder andere
verschachtelte Steinhaus, dessen verschiedene Baustile sein Alter verraten,
finden sich unter den ganzen hübschen, idyllisch gelegenen Villen. Im
Hintergrund erhebt sich ein dichter, entlaubter Wald. Ein Ungetüm von
schwarzem, verfilztem Holz. Von sehr weit aus dem Waldgebiet, hört man
leise Geräusche eines Sägewerkes. Im Zentrum der Villenvorstadt, in ihrem
Herzen, ein wenig erhoben über den, New Arden zugeneigten Teil der Stadt,
das Spital. Das Gelände ist Gewaltig, größer als ein Häuserblock in der
Innenstadt, umgeben von einer drei Meter hohen Mauer aus grauem Bruchstein,
in deren Krone einzementiert Glasscherben sitzen, die ein Übersteigen zu
einer schmerzhaften Kletterpartie machen. Das Tor ist eine symmetrische
Ansammlung von schmiedeeisernen Stäben, durch die Kaum eine flache Hand paßt,
die sich aber auf etwa vier Metern Höhe in einem Rundbogen treffen. Links,
neben dem Tor befindet sich ein Schild, dick von Patina überkrustet, daß
verkündet, hier befände sich New Ardens altes Spital. Bis auf die Bezeichnung
Three Oaks Lunatic Asylum and Spital sind die restlichen drei Zeilen
unleserlich. Obgleich
das Haus eine Irrenanstalt ist, stehen beide Torflügel weit offen. Ein
weit geschwungener Weg, gesandet, führt durch einen auffallend schönen, prächtigen
Park, der selbst jetzt, im Winter, gepflegt und sauber aussieht. Ein paar
große, kräftige Männer und Frauen, die trotz ihres Alters die Naivität
eines Kindes in ihren Gesichtern tragen, arbeiten eifrig mit Hacken, Rechen,
Reisigbesen und Heckenscheren im Park, dick eingepackt in wollene Pullis,
Hosen und Mäntel. Zwei Männer, nicht weniger groß und Grob, aber
definitiv in den Kleidern der Anstaltsaufseher, befinden sich unter ihnen,
die Gesichter genauso gerötet, und irgendwie alles andere als unglücklich
über ihren Job. Einige der etwas minderbemittelten Menschen lachen und
winken der Droschke, als sie über den Sandweg vorüber rollt. Am
Ende der Einfahrt erhebt sich ein verschachteltes Gebäude aus grob zurecht
gehauenen graubraunen Steinen, die verdächtig an Paytons Mantelfarbe
herankommen und nicht weniger Schmutzig sind. Der Bau ist gewaltig in seinem
Haupthaus allein, wenn auch nur vier Etagen hoch. Eine Treppe, die sich über
die gesamte Vorderfront erstreckt, drei Stufen hoch, führt zu einer
doppelflügeligen Türe, aus wuchtigem, braunem Holz, mit Glaseinsätzen in
dem oberen Drittel. Zwei steinerne Giganten von guten drei bis vier Metern Höhe,
die sicher irgendwelche griechischen oder römischen Helden oder Götter
darstellen sollen, flanken die Türe und zwischen ihnen, über der Türe,
steht auf einem steinernen Band eingemeißelt, der Anfang des
Hippokratischen Eids. *Text
wird bei Gelegenheit nachgeliefert Auf
der rechten Seite des Gebäudes sind die Fenster unvergittert, auf der
linken hat man nachträglich Gitter angebracht. Gitter, die die Dicke von 2
cm überschreiten. Gedämpfte Laute dringen nach außen, stöhnen, weinen,
unterdrückte Schreie und Flüche... Johns
Blick verrät seine Abscheu und seine Angst vor dem, was sich in den Mauern
verbirgt. Ihn durchflutet das Gefühlsgemisch. Der Gedanke, hierin
eingeliefert zu werden, und vielleicht nie wieder hinaus zu können, treibt
seinen Verstand, obgleich völlig unrealistisch, an den Rande faßbarer
Panik. In
seinem verstörten Zustand gelingt es ihm kaum, diese Vorstellung, die
Bedrohlichkeit des Irrenhauses abzustreifen. Unbeholfen stolpert er neben
Payton die Stufen hoch, ohne seine Bewegungen und Schritte selbst wahr zu
nehmen. Plötzlich legt sich Paytons Hand um Johns Arm. Mit einem knappen
Ruck gerät Johns Welt wieder in die Fugen zurück. Und obgleich das Haus
nun nicht mehr der Eingang zur Hölle ist, behält es für John seinen
boshaften, dunklen Eindruck. „McNeal,
haben sie sich wieder unter Kontrolle?“ John
nickt Payton dankbar zu. Mit einer leichten Portion Mißtrauen betrachtet
Payton den jungen Mann, bevor er nachdenklich den Kopf senkt und einen der
schweren Türflügel aufstößt. „Ein furchtbares Gefühl, nicht?“
Payton sieht John dabei an und beobachtet, wie dieser an ihm vorbei durch
die Türe geht. „Vermutlich spürt jeder diese Panik...“ Payton sagt
noch mehr, aber John nimmt die Worte kaum noch wahr. Ihnen
eröffnet sich eine gewaltige Eingangshalle, die sich über zwei Etagen Höhe
ausdehnt. Vor ihnen führen vier Stufen aus dunkelrotem Marmor zu einer weit
offen stehenden doppelflügeligen Türe aus glänzendem, poliertem
Mahagoniholz, in das geschliffenes Glas gefaßt ist. Die Griffe sind Knäufe
aus Messing. Rechts der wenigen Stufen steht in einem Alkoven die Büsten
des Hippokrates ( siehe Lexikon S. 291). Auch auf der linken Seite befindet
sich ein Alkoven, der allerdings leer ist. Der
Wandputz hat eine leichte Cremefärbung und einzig die prachtvollen
angedeuteten Ionischen Säulen und das Mäandermuster unter der Decke sind
rein weiß, aber an den offensichtlichen Schattenkanten vergoldet. Vor
ihnen eröffnet sich eine gewaltige, weitläufige Halle. Auch hier besteht
der Boden aus Marmor. Wieder herrscht der dunkelrote Farbton hervor, wird
aber immer wieder von weiß und schwarz unterbrochen. An sich bildet der
Boden das Muster eines gewaltigen vieleckigen Mandalas, dessen Windungen
fast einem Labyrinth ähneln. Direkt vor ihnen erstreckt sich eine weite Säulenhalle,
die die Galerie der ersten Etage und die folgenden darüber trägt. Die Brüstungen
bestehen aus Mahagoni, leicht gebaucht und gewölbt, spielerisch, im
Jugendstil, der sich erfolgreich gegen den strengen Klassizismusbau
durchzusetzen weiß. Zwei Treppenstränge winden sich in wichen Bögen um
einen großen, fast an einen Vogelkäfig erinnernden Aufzug zur ersten
Galerie. Im Erdgeschoß befinden sich sogar zwei Telefonapparate in hölzernen,
mit rotem Leder und Seide ausgepolsterten Kabinen. Die Wände daneben werden
von Gemälden Darwins (S. 139), Freuds (S. 228) und Stendhals (S. 670)
geziert, alle drei als Portrait und in vergoldeten Rahmen. Das einfallende
Licht kommt vom Eingangsberreich, den zwei winzigen Türmchen, die die Türen
vorne, rechts und links der Statuen, flanken, fast wie winzige Erker,
versehen mit je drei Fenstern pro Etage, auch wenn sie nie auf irgendeinem
Stockwerk enden, sondern einzig die Halle beleuchten. Weiteres Tageslicht fällt
durch das verglaste Dach ein. Hinter den Treppen und dem Aufzug fällt
ebenfalls Tageslicht ein. John gelingt der Blick dort hinaus, zu einem
Wintergarten, der zwar schmal zu sein scheint, aber nichts desto trotz weitläufig,
über die gesamte Hausrückseite. Die Türen, links und rechts des Säulenflures
und auch die auf den Galerien, bestehen alle aus edlem Mahagoni und sind
ebenso alle mit Messingbeschlägen und Griffen versehen. Etliche Schwestern
in weißer Novizenkluft eilen über die Gänge, oder führen Patienten,
fahren sie in Rollstühlen aus Korb und kümmern sich um kleine Kinder. Die
Illusion eines Kurkrankenhauses platzt dennoch, angesichts der leisen,
erstickten Schreie und einiger Patienten, die offenbar in geistiger
Verwirrung umherwandern. Eine Frau, fast noch ein Mädchen, steht einfach
nur bleich und teilnahmslos auf den Stufen, nah des Aufzuges und wiegt den
Kopf. Ihre Lippen bewegten sich kaum, als Payton John mit sich die Treppe
hinauf zieht. Dennoch murmelte sie etwas. Ihre blassen, blauen Augen sehen
durch John hindurch, und doch folgen sie ihm. „Schön
wie die Nacht, schön wie das Blut,“ murmelt sie leise. „Er hat sie
zertrümmert... ihr Schädel zersprang wie Porzellan.“ Obgleich
das Mädchen sich nicht rührt und eigentlich keinerlei Gefahr von ihr
ausgeht, versucht John sie zu umgehen. Der Blick ihrer Augen bleibt an ihm
haften. Schauernd nimmt er es wahr, dreht sich aber nicht mehr zu ihr um. „Ihre
Schwester war unter den Opfern des Mörders. Sie hat den Mord mit angesehen.
Seit dem Tag ist sie verwirrt. Sie sagt immer nur das.“ „Kann
man ihr nicht helfen?“ Payton
antwortet erst, als sie die erste Etage erreichen und sich nach rechts
wenden, um auf der Galerie entlang zu gehen. „Deswegen
ist sie hier. Aber es scheint hoffnungslos zu sein. Ihr Verstand ist völlig
kaputt.“ John
nickt und schüttelt zugleich den Kopf. „Sicher? Vielleicht will sie sich
daran nicht wieder erinnern und versteckt sich hinter dieser leeren Fassade.
Vielleicht gibt sie ihrer Umwelt sogar mit ihren sinnlos erscheinenden
Worten einen Hinweis...“ „Sie
hören sich genau so an, wie der Doktor.“ Die
Galerie vor ihnen endet in einer Art Kreuzung. Geradeaus endet sie in einem
Treppenhaus, nach rechts erstreckt sie sich im Südflügel, nach links endet
der Gang na zehn Metern an einem Fenster mit Blick auf den Park und den
Wintergarten. Payton
geht, ohne zu zögern, gerade aus, durch die breite Türe des Treppenhauses,
die, wie alle Türen aus Mahagoni ist und einen geschliffenen Glaseinsatz
hat. John folgt ihm. Erst als er im Treppenhaus steht, das im übrigen
genauso verschwenderisch und prachtvoll ausgestattet ist, wie alles in
diesem Haus (rote Marmorstufen, überdeckt von einem schweren, dunkelroten Läufer,
der von Messingspeichen in der Falz zwischen Stufenauf- und Antritt
festgehalten wird), bemerkt er, daß sich auf dem Zwischenpodest zum zweiten
Stock anstatt eines Fensters eine dicke, verzierte Türe befindet. Payton
winkt John ihm zu folgen und eilt recht schnell für sein Alter die Stufen
hinauf, um die Türe aufzustoßen und auf eine Art voll verglaster Brücke
zu treten. Die Überführung wird von einem filigranen Eisengestell
getragen, was durchaus dem Zeitgeist des Jugendstils entspricht, aber
keineswegs so hübsch und ansehnlich zu sein scheint, wie das Hauptgebäude.
Viel eher erinnert das grüngraue Eisen an etwas Knochiges, mit lagen, dünnen
Klauenfingern, die den halb ovalen Zylinder gefangen halten. Daran ändern
auch die gefällig geformten Handläufe nichts, sowenig wie die, mit
Blumenranken versehenen Glasscheiben in ihrer Fassung. Langsam
folgt John Payton über diese Brücke und bleibt plötzlich stehen. „Was,
zum Teufel, ist das?!“ Er weißt mit der Hand auf das Gebäude, an dem die
Überführung endet. Es
ist ein wirklich extrem scheußliches Gebäude, grau und schmutzig, überwuchert
von den dürren Resten wilden Weins und Efeus, ein Haus, sieben Etagen hoch,
teils aus verputztem Stein (der Putz blättert in riesigen Placken ab, löst
sich an anderen Stellen und wölbt sich. Die Farbe ist ein Ton, irgendwo
zwischen einem verbrannten Industrieschlot und wirklichem, schwarzem Ruß,
was darauf schließen läßt, daß das Haus schon einmal ausgebrannt wurde.
Deshalb wohl auch der halbherzige Versuch mit den Rankpflanzen.), teils aus
grauem, versteinertem Holz. Selbst
die Form des Hauses ist irgendwie widerlich. Der zentrale Körper ist wie
ein Winkel geformt, der vom neuen Haupthaus absteht. An beiden Endpunkten
des Hauses befindet sich jeweils eines Art von Turm, die den Zentralbau um
eine Etage überragt. Auf dem Winkelbau befindet sich ein Mansarddach, daß
aber oben abgeflacht ist, anstatt eine First zu bilden. Ungefähr Unterarm
lange Spitzen umgrenzen den flachen Teil des Daches. Oben existieren winzige
Gauben über die oberen zwei Etagen, die oval geformt sind. Alle Fenster
sind Klein, fast quadratisch und vergittert. Scheinbar existiert kein
anderer Zugang vom Hof aus. Die Türe ihnen gegenüber ist weder aus Holz,
noch prächtig. Es ist ein Monstrum aus Eisen, mit einem kleinen Gitter und
einer Klappe, damit der, der hinter der Türe steht, hindurch sehen kann. Bevor
Payton die Türe erreicht, öffnet sich bereits die Klappe und der
Ausschnitt zweier heller Augen in einem blassen Gesicht werden sichtbar.
Hinter ihm scheint es Dunkel zu sein. „Der
Inspektor,“ knurrt eine tiefe Stimme. Gleichzeitig erklingt das rascheln
eines doch sehr großen Schlüsselbundes und sieben Schlüssel werden
gedreht, bevor die Türe nach innen aufgezogen wird. Tatsächlich gibt es
nur zwei Gaslampen in den Wänden, die einen kahlen, grauen Flur beleuchten,
von dem aus vergitterte Türen in engen Abständen abgehen. Der Gestank und
der Lärm ist unbeschreiblich. John denkt in diesem Moment an die Verhältnisse
auf dem Schiff, und daß es selbst dort nicht so stank. Pfleger,
oder eher Wärter, in weißen Kleidern, sowie Ordensschwestern, bemühen
sich auf recht rabiate Weise Ruhe in die Menge zu bringen. Beim vorübergehen
bemerkt John, daß mehr als die Hälfte aller Zellen doppelt, manchmal sogar
dreifach belegt sind. Hier drinnen ist es kalt und zugig, und es riecht nach
Fäkalien und Rauch. Einer der Irren pinkelt wie selbstverständlich auf den
Flur, ein anderer Brüllt laut und schlägt sich an den Gittern den Schädel
blutig. Pfleger eilen herbei, mit metallenen Eimern. Beide Männer werden
mit eisigem Wasser, auf dem noch dünne Eisschollen glitzern, übergossen,
was den einen irre brabbelnd nach hinten stürzen läßt, den anderen aber
zur Raserei treibt. Payton
zieht John am Ärmel seiner Jacke mit sich. „Dieser
Gestank, der Qualm... was ist das?“
- previous page- -next page-
|
(c) Tanja Meurer, 1999 |