Bloddy Faces |
Kapitel 1: ================================================================================ Sie
erreichen das Zentrum des Gebäudes, daß in dem Winkel völlig entkernt
ist, bis auf einen gewaltigen Schornstein, der von jedem Stockwerk aus mit
gewaltigen, rostigen Eisenschellen gehalten wird. Eiserne, fast frei
schwingende Treppen mit hölzernen Stufen führen um den Schornstein in
weitem Abstand herum, miteinander verbunden durch Stege und Galerien. Hier
sind die Wände nackter, verbrannter Stein. „Im
Keller werden die Leichen verbrannt. Der Schlot führt den Qualm nach oben.
Aber der ist an einigen Stellen nicht mehr unbedingt dicht.“ Er deutet in
eine Richtung, die wohl noch hinter dem Haus liegen muß. „Es gibt hier
auch einen Friedhof. Aber nachdem einige Irre mal draußen die Gräber
aufgewühlt hatten und auch ein Zaun mit richtigen Lanzenspitzen nicht viel
brachte, hat man sich entschlossen die Toten zukünftig zu verbrennen. Nach
den Meisten, die hier enden, fragt ohnehin niemand mehr.“ John
schweigt, als er hinter Payton die Treppen hinabsteigt. Die Stege schwanken
oftmals bedenklich unter Johns Gewicht, was daran liegen mag, daß sie
einzig mit Ketten an den jeweiligen Decken und den Stahlverstrebungen des
Schornsteins befestigt sind. „Was
wollen sie hier, Payton?“ Der
alte Mann dreht sich halb im Laufen zu John um. „Was wohl.“ Seine Miene
verrät einiges an Ungeduld, zugleich aber auch etwas Unsicherheit und
Angst. Es ist die selbe Mischung irrationaler Gefühle, die auch John wie
einen unsicheren Jungen erscheinen lassen. Außerhalb
Johns Sicht, ein wenig weiter oben, steht eine schlanke, blonde Gestalt, ein
unrasierter junger Mann in einem langen, weißen Kittel. Llewellyn, Johns
Nachbar. Seine Blicke folgen John nachdenklich und deutlich mißtrauisch. Payton
führt John hinab, bis sie sich selbst unter dem Straßenniveau befinden.
Aber im Erdgeschoß enden die wackeligen Stufen hinab. Noch immer umgibt den
Schornstein nichts als ein weiter Schacht, und noch immer wird das endlose,
steinerne Ungeheuer nur von rostigen Eisenklammern gehalten. Um weiter hinab
zu gelangen, wendet sich Payton nach links, in den Flügel, der eigentlich
wieder in die Richtung des Haupthauses zurück führt. Hier ist der Flur
zwar wesentlich besser beleuchtet, aber dennoch scheint es nicht heller zu
werden. Im Gegenteil. Alles wird um einige Schatten reicher, düsterer.
Vielleicht eine Optische Täuschung, denkt John. Dennoch entgeht ihm nicht
die Kälte hier, der Hauch von etwas ungreifbaren, unbeschreiblichen. Man
sagt, erinnert sich John dunkel, daß Häuser immer ein wenig von dem
annehmen, was in ihnen lebte und geschah. Im Moment möchte er sich wirklich
keine Vorstellung von dem machen, was schon alles in diesem Ding geschehen
sein mochte. Das
Haus hat im Erdgeschoß seine Personalräume, die Büros und die
Aufenthaltszimmer, was John nicht schwer fällt festzustellen, denn die
meisten Türen, einfache Holztüren, unlackiert, mit schäbigen
Glaseinsätzen darin, stehen weit offen. In einigen Büros wurde der selten
dämliche versuch unternommen, die Wände zu tapezieren, mit wenig Erfolg.
Scheinbar nehmen die verbrannten Steine keinen Leim an. Jemand hat die
Bahnen aus Stoff oder Papier angenagelt(!), wie auch diverse Bilder von
Landschaften, die den allgemeinen Eindruck verbessern sollen. Aber
spätestens der Blick aus den Fenstern zerstört das. Von den Gittern einmal
abgesehen, hat man einen wunderschönen Ausblick auf einen zugewucherten
Friedhof, einzig von einem schmucklosen, dünnen Gitter eingezäunt, das
schon lange im Besitz des Efeus ist. Aus einigen Büros ist eifriges Tippen
auf Schreibmaschinentasten zu hören. Payton führt ihn bis an das Ende des
Ganges, bis zu einer doppelt verriegelbaren Eisentüre, die nun einen Spalt
weit offen steht. Wie überall, dringt auch hier kein Lichtschimmer hinaus.
Zudem stinkt es nach Moder, Alter und verbranntem Stein und Holz. Payton
schiebt die schwere Türe auf. Hier ist es tatsächlich noch wesentlich
dunkler und Johns Augen brauchen Sekunden, um sich daran zu gewöhnen.
Kälte schlägt ihnen entgegen. Eine furchtbare, feuchte Kälte, die
schlimmer ist, als der Frost und der Schnee draußen. Sie kriecht unter
Johns Kleider und läßt ihn fast erstarren. Nachdem
sich Johns Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, erkennt er vor sich eine
steinerne Wendeltreppe. Payton zieht die Türe hinter sich zu. Stille...
Johns Gedanken und Gefühle gefrieren mit der Kälte und der plötzlichen
Stille. „Passen
sie auf, McNeal,“ murmelt Payton. Seine Stimme klingt gedämpft, wie alle
Geräusche, ihre Schritte, das Rascheln ihrer Kleider, ihrer Mäntel, wie in
einem dichten Schneetreiben. „Die
Stufen sind immer leicht vereist; selbst im Sommer. Keine Ahnung, wie Dr.
Shoemaker das aushält.“ „Was
ist da unten?“ „Die
Labore, die Zimmer verschiedener Ärzte hier... und noch weiter unten...“
Payton zuckt die Schultern und schiebt seine Pfeife in den anderen
Mundwinkel. „Ich will’s nicht so genau wissen.“ Vorsichtig tastet er
sich an der Wand entlang und steigt vor John hinab. „Das Haus hat so viele
Etagen nach unten, wie nach oben, McNeal. Nur die ersten Zwei
Kellergeschosse werden von der Anstalt genutzt. Zwar sind schon einige
tiefer hinab gestiegen, aber angeblich sind die Tiefkeller zum Teil
verschüttet oder eingestürzt. Andere sagen, sie haben dort eine Verbindung
zu den Kanälen gefunden, wieder andere, daß dieses Ding in seinen unteren
Geschossen gewaltig sein soll, eine Katakombenstadt unter Three Oaks, und
jemand darin leben soll. Wieder andere behaupten, sie hätten dort die
Ruinen und Überreste anderer, unheimlicher Bauten gefunden, prächtiger und
viel älter. Aber die meisten, die dort hinabstiegen, sind jetzt hier
Patienten. Deshalb wurde der Durchgang hinab versperrt und versiegelt.“ „Wollen
sie mir eine Kindermär verkaufen, Payton?“ John
ist nicht halb so überzeugt von seinen Worten, wie er gerne möchte. Und
Payton entgeht Johns Unsicherheit keineswegs. Der Inspektor bleibt auf den
Stufen stehen, nimmt seine Pfeife aus dem Mundwinkel und dreht sich halb zu
dem jungen Mann um. „McNeal, falls sie es noch nicht bemerkt haben, ich
jage einen Mann, oder vielleicht auch eine Frau, der seit, soweit ich es
geschichtlich, aus Aufzeichnungen zurückverfolgen konnte, nun schon seit
den ersten Tagen dieser verdammten Stadt diese Morde begeht... seit den
Tagen der Mayflower, und länger! Glauben sie mir, es gibt nur zwei
Möglichkeiten. Entweder ist es ein Nachahmungstäter, oder seit fast vier
Jahrhunderten tötet ein Wahnsinniger außergewöhnlich schöne Menschen und
zieht ihnen das Gesicht vom Schädel!“ Er schluckt hart. „Und langsam
gewinne ich den Eindruck, daß wir es hier mit einem Unsterblichen Mann zu
tun haben.“ „Sie
phantasieren, Payton,“ entgegnet John, doch in seinen eigenen Ohren hören
sich die Worte schal an, nicht ganz richtig. Payton
senkt den Blick. „Wie schon erwähnt gibt es jemanden, der von uns will,
daß wir diesen Mann finden, jemand, der uns immer wieder auf die richtige
Fährte bringt und uns unterstützt.“ Seine
Fingerknöchel knacken ein wenig, als sich seine Faust um seinen Pfeifenkopf
schließt. „Es ist eine Tradition, McNeal. Solche Männer wie wir gibt es
ebenso lange, wie den Irren, den wir Face Daddy nennen.“ „Unmöglich!“
John steht fassungslos auf den glatten Stufen. „Nein,
eben nicht!“ Paytons Blick scheint für Sekunden zu brennen. „Schon mein
Vater und mein Großvater haben dieses Ding gejagt, beauftragt von einer
Person, die sie weder gesehen, noch je gesprochen hätten. Und es existieren
reichlich Spekulationen, wer er ist, aber zugleich haben sie darüber nie
mit ihren Familien geredet.“ „Woher
also nehmen sie ihr Wissen, Payton?“ Selbst die Ironie in McNeals Stimme
entgleitet ihm, was ihn ein wenig ärgert. Seufzend
schüttelt Payton den Kopf. „Man schickte mir ihre Aufzeichnungen und
Unterlagen, Zeitungsausschnitte, handgeschriebene Berichte, Dinge, die schon
sie erhalten haben mußten, noch als sie junge Männer waren. Ich sollte
ihre Nachfolge antreten. Seit ich vierzehn Jahre alt bin, weiß ich von dem
Mörder und von dem, der uns mit Hinweisen versorgt. Und wenn ich sterbe,
wird meine Tochter für ihn weiter arbeiten, und ihre Kinder und immer so
weiter, bis es irgendwem gelingt, Face Daddy zu vernichten.“ „Sie
wissen, was sie da sagen?“ Der
alte Herr sieht John einen Moment still an, ernst, klar, wie John ihn nie
zuvor gesehen hat. „Wer
ist er, der Mann, der von uns verlangt, einen Mörder unschädlich zu
machen, der allem trotzt, was ihm bisher entgegen gestellt wurde? Ist es
nicht möglich, daß uns der Mörder selbst diese Hinweise schickt? Daß er
mit uns ein ganz perverses Spiel treibt?“ „Der
Gedanke drängt sich auf und würde eine Theorie unseres Irrenarztes hier
bestätigen.“ „Warum
machen wir diesen Irrsinn mit? Warum springen wir, wenn er es will?!“ „Beantworten
sie mir diese Frage, McNeal. Warum sind sie seinen Ködern gefolgt, hier
her, und zu mir?“ Einen
Moment schweigt John betreten, sieht dann zur Seite, in den Schatten.
„Weil mich die Neugier dazu antreibt und weil ich wissen will warum meine
Mutter sterben mußte.“ „Sie
war außergewöhnlich schön und begabt. Jeder in dieser Stadt wußte, wer
sie war. Seine Opfer sind alle außergewöhnlich schöne Menschen. Alle.
Wenn es nichts gibt, was sie verbindet, so doch diese unfaßliche
Schönheit.“ „Na,
dann sind wir beide ja sicher vor ihm,“ murmelt John. Und seine Stimme
klingt nicht besonders humorig. Über
ihnen, an der Türe knirscht der Steinboden leise. Schritte, gedämpft, wie
alles hier, kommen näher. Ohne es selbst gleich zu bemerken, geht John ein
wenig schneller und rutscht dabei immer ein wenig. Der alte Mann vor ihm
bewegt sich nicht nennenswert schneller. Aber irgendwie jagt John allein das
Knirschen einen tiefen Schrecken ein. Scheinbar
endlos windet sich die Steintreppe, und je weiter sie hinab kommen, desto
kälter wird es. Selbst die Wände überziehen sich nun schon mit einer
dünnen Schicht Eis. Immer noch fühlt sich John von etwas unsichtbar
Grauenhaften gejagt, nur durch die schnellen, leisen Schritte hinter sich.
Wahrscheinlich nur ein Arzt, eine Schwester, ein Pfleger. Aber trotz allem
Logischen, allen vernünftigen und naheliegenden Möglichkeiten, entwindet
sich seiner Phantasie etwas unbeschreiblich grauenhaftes. Es ist dieses
Haus, denkt John, dieses elende, verfluchte Gemäuer. Nicht das Irrenhaus,
nicht die ganzen armen, geist- und seelenlosen Geschöpfe. Es ist das Haus
selbst. Und nichts was Payton darüber gesagt hatte, war Ausschlag gebend
für seinen Eindruck. Er konnte es so deutlich wie die Kälte spüren, so,
als verzerre etwas in diesem Haus jeden Eindruck ein wenig ins Pervertierte. Erschreckend
plötzlich enden die Stufen auf einem Gas beleuchteten Gang, der definitiv
breiter und heller ist, als alles oben. Auch der seltsame Eindruck von
Stille verschwindet plötzlich wieder. Alle Geräusche stürmen auf John nun
unangenehm grell und laut ein. John
zieht die Brauen zusammen. Irgendwie ist es John gelungen, den alten Mann
hinter sich zu lassen. Schnaubend und deutlich ärgerlich kommt Payton,
einige Sekunden nach John in das Licht zurück und er hält sich die Ohren.
„Verfluchter Effekt!“ Ein
wenig ungeduldig wartet Payton, bis John zu ihm aufschließt. Wieder
ändert sich die Ansicht des Hauses völlig für John. Tatsächlich sind die
Gänge hier heller und breiter, die Decken sind höher, wuchtige, schwere
Tonnengewölbe (siehe Architektur und Baukunst, S. 38/39). Vor allem reicht
der Gang weiter hinaus, über die eigentlichen Grundrisse der oberen
Geschosse. Wenn Johns Augen nicht täuschen, zieht sich das ersten
Kellergeschoß bis unter das neue Klinikgebäude. Immer wieder gibt es in
regelmäßigen Absänden einen Quergang, der nicht weniger breit ist, als
der zentrale Flur. Große, portalartige, doppelflügelige Eisentüren
zweigen in weiten Abständen vom Hauptgang ab. Die Wendeltreppe ist in einer
Art Treppenturm an eine Wand geschmiegt. Aber wie auch in den Etagen oben,
befindet sich hier, im Zentrum, dem Winkel, den das Gebäude macht, der
selbe, Träger gestützte Schornstein, gleichermaßen Verbrannt, wuchtig und
stinkend. Und auch hier geht von ihm etwas unbeschreibliches aus, etwas
bedrückendes. Und auch hier riecht man den Gestank nach verbranntem Fleisch
und Haar und Stoff. Die Wände sind aus wuchtigen Steinquadern, wie auch aus
feinen, kleinen, gebrannten Mauerziegeln, als habe jemand versucht die
Lücken zu stopfen, die die Jahre dem Gemäuer zugefügt haben. Auf den
meisten der kleinen Steine sind seltsame Muster eingebrannt, die John wage
an Runen und Schutzsymbole erinnern. Für einen Moment schießt ihm ein
eigenartiger Gedanke durch den Kopf. Was, wenn es tatsächlich all die
Geister und Ungeheuer gibt, an die viele Völker glauben, die er bis heute
auf seinen Reisen gesehen und kennen gelernt hatte? Denn einige der
Prägungen ähneln wirklich entfernt Schutzsymbolen verschiedener anderer
Kulturen. Vorsichtshalber schiebt er die Lösung dieses Rätsel auf einen
anderen Zeitpunkt. Langsam wird ihm all das hier zu seltsam und schon
längst zu unwirklich... Aber
auch hier, wo all diese Symbole sitzen, sind die Wände Ruß geschwärzt.
Obgleich es hier unten immer noch bitter kalt ist, läßt sich das Klima
hier fast ertragen, wenigstens für John. Stimmen,
Unterhaltungen, dringen durch die Türen. Auch hier laufen viele weiß
gekleidete Männer und Frauen in weißer Nonnentracht umher. Ein dichtes
Gewusel an manchen Punkte sogar, immer an den Türen offener Säle.
Reichlich sehr junger Gesichter entdeckt John unter diesen Personen.
Vermutlich sogar Studenten, überlegt er. Weiter hinten, aus einem der
anderen Räume tritt ein Mann, ungewöhnlich groß und stattlich, und mit
dichtem Haupthaar und Backenbart versehen, dafür, daß er etwa in dem
selben Alter wie Payton sein mußte. Der Mann reckt sich und sieht sich um.
Scheinbar sucht er jemand... und nickt zufrieden, als er Payton entdeckt. Er
winkt den Polizeibeamten zu sich. Besagter Arzt, denkt sich John und folgt
Payton in einen der Säle. Etwas
wie das, habe ich noch nie gesehen. Ein gewaltiger, quadratischer Raum mit
Rängen und Sitzreihen, die sich hoch staffeln. An der Decke hängen Lampen
und dicke Ketten mit Haken, wie man sie für geschlachtetes Vieh benutzt. An
zwei, drei dieser Haken hängen Käfige, in denen je ein Mensch sitzt,
hilflos, die Hände um die Gitter gekrampft... Als
wir kamen, gab Dr. Shoemaker die Anweisung, die Käfige herab zu lassen und
die Menschen in ihre Zellen zurück zu bringen. Furchtbar... „Sie
wollten das Profil des Mörders, Inspektor Payton.“ Shoemaker wirkt noch
etwas größer und irgendwie vitaler als Payton. Vielleicht liegt es daran,
denkt John, daß sein Haar und sein Bart noch immer rot waren und er selbst
von Shoemaker um fast einen Kopf überragt wird. Shoemaker
ignoriert die Anwesenheit von John völlig. „Dieser
Mann ist besessen, auf eine Art, wie auch ich sie noch nie...“ Schritte
verharren und zur selben Zeit verstummt Shoemaker. John fährt herum. „Was
wollen sie hier?!“ Eine schlanke, in einen dicken, schwarzen Pelzmantel
gehüllte Person lehnt im Rahmen der doppelflügeligen Rundbogentüre. Eine
eiskalte Selbstsicherheit geht von ihr aus, von ihrem Verhalten, wie sie da
lehnt, lässig, gegen alle Konventionen. Langes, goldblondes, glattes Haar
liegt offen auf dem Dichten, wertvollen Pelz. Klare, hellblaue, kalte Augen,
die irgendwie eine Spur von boshaftem Zynismus in sich tragen, mustern die
Szene. Obgleich sie nicht sofort als Weiblich zu erkennen ist, verbirgt sich
unter den Herrenkleidern eine Frau. Auch ihr Gesicht wirkt eher Androgyn,
schmal, die Nase gerade, fein gezogen und für eine Frau des Momentanen
Schönheitsideal zu lang, die Augen ein wenig zu schmal, obgleich sie groß
sind und die Lippen zu dünn, so daß ihr Mund zu groß wirkt. Die Hände in
den schwarzen Lederhandschuhen sind etwas zu lang für eine Frau, und zu
schmal für einen Mann. Zudem ist sie unglaublich groß. Die Frauen
überragt sie sicher, und selbst die meisten Männer sind nicht so groß wie
sie... Johns
Erinnerung beginnt aus seiner Vergangenheit das Bild eines schmalen, zu
großen Mädchens zu spinnen, die blonden Zöpfe widerspenstig und wie
geflochtenes Stroh, die zu hellen Augen schmal, fröhlich, lachend, das edle
Kleid immer zerrissen, und schmutzig. Und in ihrer Begleitung ein Mädchen
gleichen Alters, eine zauberhafte, braunäugige Inderin, beide damals gerade
zwölf Jahre... „Sind
sie zum schnüffeln hier, oder wegen ihrer indischen Freundin?!“ „Auch
ihnen einen bezaubernden guten Morgen,“ lächelt sie und deutet mit dem
Kopf ein nicken zu allen anwesenden Herren an. Die
Stimme, so kühl, so herb, rauh, als habe sie eben etwas aus Shoemakers
Worten gehört, daß sie verletzte. „Louisa,“
murmelt John fassungslos. „Louisa Brooke.“ Ihr
Kopf ruckt hoch, als sie ihren Namen hört, aber eine weitere Reaktion
erhält John nicht. „Im
übrigen, lieber Doktor Shoemaker, bin ich privat hier. Aber ihr Monolog
begann auch recht interessant.“ Sie lächelt völlig humorlos. „Insofern
haben sie auch meine Neugier geweckt.“ „Ich
will nicht meine Worte morgen in ihrer Zeitung abgedruckt sehen!!“ „Ich
bin kein Reporter der London Sun,“
entgegnet sie kühl. „Ich nenne zum einen meine Quellen immer erst zu
Ende, wenn sich der Fall erledigt hat, zum anderen wissen sie genau, daß
ich selbst den Fall gelöst wissen möchte.“ „Verschwinden
sie, wenn ich ihnen die Medikation für Ashanti gebe?“ fragt Shoemaker
fast verzweifelt. „Ich
könnte auch an höhere Stellen weitergeben, was sie mit einigen der ihnen
anvertrauten Menschen machen.“ Sie lächelt wieder und beobachtet
Shoemaker, dessen Mundwinkel zucken. Nach einer Pause senkt sie leicht den
Kopf und sagt, ohne ihn dabei anzusehen sagt sie: „Ich habe genügend
Material über diese Klinik, um sie als ein nicht minder schreckliches
Monster darzustellen, als Face Daddy. Und hoffen sie bitte nicht, daß ich
Skrupel haben könnte. Weder ihnen gegenüber, noch diesem Irren, der
Menschen das Gesicht nimmt.“ Irgend
etwas hat sie verändert, denkt John bestürzt. Sie ist kälter als Eis. Und
sie scheint ihn tatsächlich in der Hand zu haben. Shoemakers
Selbstsicherheit hat ein Knax bekommen, John kann sehen, wie er mit sich
ringt, wie sich sein Gesicht ein wenig verzerrt. „Seien
sie sich sicher, sie waren schön längst geliefert, wenn ich sie nicht noch
bräuchte.“ Während sie das sagt, sieht Louisa ihn direkt an, die Augen
schmal, zu Schlitzen verengt. Es scheint fast als stünde sie selbst in
Flammen. „Face
Daddy, wie sie ihn nennen,“ Shoemaker begegnet ihrem Blick, zuckt aber
sofort wieder zurück. „Ist besessen von allem schönen...“ „Das
wissen wir alle!“ donnert ihn Louisa an. Shoemaker
erschrickt sichtlich. „Nein, lassen sie mich das genauer ausführen.“ Eine
Braue Louisas zuckt erwartungsvoll hoch. „Es
ist so, daß er alles schöne verehrt. Damit meine ich ebenso
Gegenstände.“ Er sieht Payton an, als erwarte er von dem alten
Polizisten, daß er ihm Unterstützung geben könnte. Doch Payton schweigt. „Ich
nehme an, er bemächtigt sich allem, was seinen hohen Ansprüchen genügt.
Es kann ein Mensch sein, aber genauso ein Bild, eine Blume, eine Vase, ein
Kleidungsstück. Ich nehme also nicht an, daß er in den Katakomben hausen
wird. Viel eher paßt zu ihm ein stattliches Haus, eine etwas einsam
gelegene Villa. Das ließe weiter darauf schließen, daß er selbst sehr
ordnungsbewußt und eitel ist.“ John
sieht zu Payton hinüber. „Seltsam dieser Schluß.“ „Nein,“
murmelt Payton. „Man hat einige der Toten, nach ihrem Tot noch ein, zwei
Mal gesehen. Das bedeutet...“ John
wird bei der Ausführung dieses Gedanken übel. „...er
nimmt die Gesichter wie eine Maske.“ „Es
gibt eine sehr offensichtliche Annahme. Er selbst,“ führt Shoemaker
weiter aus. „...ist sehr häßlich, oder hat durch einen Unfall sein
Gesicht verloren. Was daraus resultiert, er sucht nach dem Idealen Gesicht.
Zumal es keine Möglichkeit der hundertprozentigen Konservierung gibt, oder
er versucht einen Teil der Persönlichkeit des jeweiligen Mannes oder der
Frau zu übernehmen.“ „Er
versucht jemand anderer zu sein...“ grübelt John. „Ich
sehe es eher ein wenig anders.“ Shoemaker sieht zu Louisa hinüber und
macht ein etwas gequältes Gesicht. „Ich nehme an, er sucht nach einem
besonderen, bestimmten Gesicht, einem Mann, einer Frau, ich weiß es nicht.
All das andere könnte für denjenigen eine Herausforderung darstellen, daß
er sich zeigt...“ John
sieht Payton alarmiert an. „Wir werden von dem anderen benutzt, diesen
Mörder aufzuspüren und unschädlich zu machen...“ Payton
nickt nachdenklich. Brooke sieht für einen Moment irritiert aus. „Er will
wieder leben können. Aber was,“ gibt Payton zu bedenken, wenn die Annahme
falsch ist, und Face Daddy einfach nur Spaß am Töten hat?“ „Nein,
dieser Mann hat sich in diesen Tötungszwang erst hineingesteigert,“
entgegnet Shoemaker. „Gut, vielleicht sammelt er auch nur gerne Gesichter,
aber ich glaube eher er eifert einem Ideal hinterher und kann es nicht
erreichen. Mittlerweile ist in ihm die Sehnsucht danach zu einer irren
Besessenheit geworden. Und durch irgend etwas hat auch er jede Skrupel
verloren.“ „Vielleicht
hat er sich verrannt,“ murmelt John nachdenklich. „Vielleicht hat er
irgendwann den getötet, dessen Gesicht er will, ist darüber verrückt
geworden und hat es ignoriert. Nun sucht er diesen anderen den es nicht mehr
gibt...“ John
reibt sich die Stirn. Sein Denkfehler hat ihn gerade persönlich
angesprungen. „Wer aber gibt uns dann die Hinweise?“ grübelt er laut. „Möglicher
Weise stimmte ihre Annahme, McNeal. Vielleicht ist der Mörder auch unser
Schutzpatron.“ „Zwei
Persönlichkeiten in einem Menschen?“ Shoemaker hebt die Brauen. „Ein
interessantes, aber noch nicht wirklich erforschtes Gebiet. Aber es gibt
Theorien und Unterlagen berühmterer Kollegen, die diese Idee verfolgten.
Und ich selbst glaube daß es diese Persönlichkeitsüberlappungen gibt.
Folgen wir dieser Idee...“ „Nein,“
unterbricht ihn Louisa. „Ich weiß, daß es zwei Männer gibt.“ John
und Payton sehen sie erneut aufgeschreckt an. „Miß
Brooke...“ Louisa unterbricht Payton mit einer Handbewegung.
„Beantworten sie sich die Frage selbst. Inspektor Payton.“ Sie
also auch, überlegt John. Aber warum?
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(c) Tanja Meurer, 1999 |