Der Gefangene |
Kapitel 1: ================================================================================ Es
gibt nicht viel, was ein Mensch nicht zu ertragen in der Lage ist, so sagt
man wenigstens. Gleich welche Qual, gleich welche Angst, welche Anforderung
auch immer, in entsprechenden Situationen ausgestanden werden muss, diese so
kurzlebige Rasse fand immer einen Weg, weiter zu leben. Sie überstand
Kriege, Seuchen, Naturkatastrophen. Wenige zerbrachen daran. Die Starken
unter ihnen erreichten dadurch noch größere Stärke und wurden zugleich
oft hart und kalt und mutierten zu denen, die unterdrückten und quälten. Manchmal
weiß ich nicht ob mich mein eigenes, ganz persönliches Leid zerstört hat,
oder ob es mich stärkte. Aber wenn alles Glück, was ich je empfand zu
Schmerz wurde, alles Gute, was ich tat zu dem Leid oder Tod anderer führte...
Auf welche Seite gehörte ich? Das Leben anderer rann durch meine Finger,
ich selbst aber lebte. Wird sich je etwas ändern...? „Zelle 513 auf!“ brüllte
der Schließer, woraufhin Luca
seinen Bleistift sinken ließ und aufsah. Im Dämmerlicht der Kerzen, die
man ihm zugestanden hatte, wirkte er blass und erschöpft. Aber er war immer
bleich und die schwarzen Haarsträhnen in seinem schmalen Gesicht boten
einen starken, harten Kontrast. Im Verlauf der letzten zwei Monate hatte er
vermutlich keine hundert Worte von sich gegeben. Er sprach fast nicht, aß
fast nichts, tat seine Arbeit still und ordentlich, ohne Beanstandung, hielt
die Regeln ein, die man ihm diktierte, wollte weder Alkohol, noch
Zigaretten. Die Wärter verstanden diesen stillen, introvertierten Mann
nicht. Einigen war er unheimlich, andere befürchteten, dass es wegen ihm
doch noch Probleme geben würde. Lucas Schönheit hatte sich überall
herumgesprochen. Sein außergewöhnlich zerbrechliches Äußeres, und das
lange, mädchenhaft wirkende Haar, das schwarze Meer, was ihm über den Rücken
und die Oberschenkel fiel. Niemand trug zu dieser Zeit sein Haar lang, schon
gar nicht so lang... Niemand, bis auf ihn. Er war innerhalb kurzer Zeit zu
eine Legende geworden. Nicht zu unrecht. Die meisten Gefangenen hatten seine
Ankunft mit sehr deutlichen Worten kommentiert, aber bisher wagte niemand,
Hand an den jungen Mann zu legen. Die Wahrheit war einfach, dass die meisten
es nicht versuchten, weil er dem ersten, der es versuchte, ihn zu berühren,
die Hand gebrochen hatte. Niemand wagte es noch einmal
allein. Aber durch seine folgsame,
ruhige Art ließ der Direktor Luca mehr Freiheiten als fast jedem anderen.
Er bekam Papier und Bleistift, die er sich erbeten hatte, verschiedene Bücher
und die aktuellen Tageszeitungen. Officer
Cauldfield und First Officer
Farlan, die für den Block D,
auf der fünften Ebene zuständig waren, fanden schnell heraus, dass Luca
ein Tagebuch führte, sehr genau, sehr exakt und wirklich täglich. Zudem saß
er des öfteren in seiner halb dunklen Zelle und zeichnete, Stunde um Stunde
verbrachte er mit Skizzen und Studien. Farlan, ein besonders großer,
breiter Mittvierziger mit Muskeln, die er offenbar sehr gerne trainierte und
einem deutlichen Hang zum Zynismus, vielleicht auch zum Sadismus, hatte
einen unerklärlichen Faible für Luca und die Illustrationen, die er im
Lauf Abende des ganzen, letzten Jahres schuf. Farlans glatt rasiertes
Gesicht schien immer breit und kantig, steinern und die tiefen Linien, die
ihm diesen bösen Ausdruck verliehen, schienen mit dem Messer gezogen. Aber
schließlich waren es seine stechenden, tiefliegenden Augen und der
schmallippige Mund, die dieses Gesicht beherrschten. Seine kurzen, blonden
Haare wurden immer dünner und die Stirn beständig höher. Ein durchaus
intelligenter Mann, das wurde Luca schnell bewusst. In jedem Wort verbarg
sich sein Verstand, aber letztlich waren die Worte selten freundlich. Luca
war der festen Auffassung, dass Farlan nicht seine Hände brauchte, um
jemanden zu töten. Ja, Farlan viel unter diese Kategorie Männer, denen man
aus reinem Selbstschutz nur mit äußerster Vorsicht begegnete. Aus welchem
Grund gerade dieser Mann ihn freundlich behandelte, verbarg sich Luca. Er
hielt ihn wirklich nicht für jemand, der an anderen Männern gefallen fand.
Vielleicht fühlte sich Farlan einfach nur von anderer Intelligenz
angezogen. Und es gab hier keinen, der Luca das Wasser reichen konnte.
Dennoch, Luca war in fast allem das volle Gegenteil Aaron Farlans. Auch er
war extrem groß, 1.92 Meter, aber schlank, fast schon hager, nicht muskulös
und völlig Androgyn. Sein bartloses, schmales Gesicht war sanft, weich,
ebenmäßig und fast weiblich, vielleicht durch seine großen, grünen
Augen, die auf so unerklärliche Weise traurig wirkten und die dichten,
schwarzen Wimpern, den vollen, roten Mund, der nie lächelte und die
dichten, tiefschwarzen Haare, die wie ein seidiger, glatter Fluss auf seine
Oberschenkel fiel. Niemand wagte, ihm dieses Haar abzuschneiden. Vielleicht,
weil Farlan dem Gefängnisfrisör gut zugeredet hatte? Luca nickte Farlan zu, der in
der offenen Zellentüre stand und zu ihm hinein sah. Irgendwie wirkte er
nervös und unsicher, obgleich er fast völlig die freie Öffnung ausfüllte.
Luca sah die winzigen Schweißperlen auf seiner Stirn, bemerkte das leichte
Flackern in seinen grauen Augen und sah, wie sich eine Hand um den Knüppel
an seiner Hüfte krampfte, bis die Knöchel weiß hervortraten. Unsicherheit
bei Farlan? Das konnte es nicht geben. Nicht bei diesem Mann. Er war ein
Fels. Ein Eisberg genaugenommen. Cauldfield, der jüngere der
beiden Aufseher, ein kleiner, zierlicher Mann, dem man deutlich ansah, dass
in seinen Adern das Blut eines Schwarzen floss, über Generationen hin stark
verdünnt, hatte Luca bereits Andeutungen gemacht, dass seine Zelle doppelt
belegt würde, mit einem Mann, der gerade aus der Einzelhaft entlassen
wurde. Wayne O’Reily nannte man
ihn. Über ihn wurde viel geredet. Hunderte Gerüchte rankten sich um
O’Reily... Man sprach von ihm, als sei er ein dunkler Ritter. Jedenfalls
bildete sich bei Luca über die Zeit hin ein Bild eines schwarzen Ritters,
eines bösen, rachsüchtigen Mannes, ohne Gnade... Er sollte einer der gefährlichsten
Handlanger eines Mannes sein. Shelby Morane schien in diesem Gefängnis mehr Einfluss zu haben als
Direktor Albright selbst. Er führte
sein Syndikat aus dem Gefängnis. Kein glorioses, gewaltiges
Verbrecherimperium wie das Capones. Und dennoch. Er regierte, unbarmherzig.
Alkohol- und Zigarettenschmuggel, Frauen. Wen er aus dem Weg haben wollte,
der wurde von seinen Handlangern getötet. Im Jahr 1929, dem Jahr der
Weltwirtschaftskrise, rechnete man Morane etwas mehr als 70 Morde an. Natürlich
nicht ihm selbst. Wie auch. Er saß seit 1917. Aber das Netz, dass er
aufbaute, dass er führte, dessen Herr und Gott er zu sein schien... Seine Männer
verehrten ihn, sahen in ihm mehr, als er sein konnte... Sie feierten ihn wie
einen Helden, einen Freiheitskämpfer. Aber was war er mehr, als ein
Gesetzloser, wie alle hier? Jedenfalls bekam Luca diesen
Eindruck, denn im Zellenblock B
gab es fast keinen Wärter, der nicht tat, was Morane von ihm verlangte. Er
handelte mit weit mehr als verbotenem Alkohol und Zigaretten. Er besaß
etwas, was viel wichtiger war, die Macht, die ihm Wissen verschaffte. Es gab
nichts und niemanden, über den Morane nichts wusste. Seine Macht beruhte
auf einem ausgeklügelten, talentierten Netz von Informanten. Wenn das nicht
half... wie Luca gehört hatte, verschwanden von Zeit zu Zeit Personen, die
nie wieder auftauchten. Gerüchte und Wahrheiten... am Ende stand sein
Nichtwissen. Farlan trat zur Seite. Schwere
Stiefel trampelten über den nicht gerade dicken Metallsteg. Luca hob kaum
merklich eine Braue, schlug sein Tagebuch zu, den Bleistift darin
eingeklemmt und stützte das Kinn in einer eleganten Bewegung auf seinen
Handrücken. Ein Mann wurde hereingeführt, in Ketten, eingekeilt zwischen
zwei Wärtern, die beide mindestens die Ausmaße Farlans hatten, nur ein
wenig jünger. Es hätte Luca nicht im mindesten überrascht, einen Mann zu
sehen, breit und groß wie ein Tresor, verschroben und wild, hart. Ein
schwarzer Ritter eben... Größe und Breite kamen in etwa hin. O’Reily
hatte keine Probleme Luca in die Augen zu sehen. Im Gegenteil machte er den
Eindruck, noch ein bisschen höher gewachsen zu sein. Er war muskulös, aber
nicht so offensichtlich wie Farlan. Aber damit endete, was sich Luca den Erzählungen
nach vorgestellt hatte. Allein das Gesicht des Iren war etwas besonderes,
fein geschnitten, intelligent und sehr ruhig. Auch er trug keinen Bart, was
die scharfen Züge, die Adlernase und die hohe Stirn deutlich hervorhoben.
Seine Augen waren hell, wach, funkelten auf eine seltsame Art über den dünnen
Metallrahmen seiner runden Brillengläser. Eine Strähne seines kurzen,
roten Haares, glatt, schimmernd wie Kupfer und Gold, löte sich und fiel ihm
in die Stirn, als die Aufseher ihn in die Zelle stießen. Sein Gesicht war
fast kantig, markant, insbesondere der breite Unterkiefer und die hohen
Wangenknochen. Die schmalen Lippen lächelten dünn, als er sich aufrichtete
und in Lucas Zelle umsah. Er war schlank, durchtrainiert und etwa fünfzig
Jahre alt. Seine starke Persönlichkeit und seine Willenskraft umgaben ihn
beinah körperlich fühlbar. Einer der beiden Wächter folgte ihm und
schloss Hand und Fußschellen auf. O’Reily ignorierte ihn. „Guten
Abend,“ sagte der Ire. Seine tiefe Stimme klang warm, angenehm,
zivilisiert... Luca erhob sich und ein zurückhaltendes
Lächeln glitt über seine Züge. Er glaubte zu wissen, was man an O’Reily
fürchten musste. Seine Intelligenz. Diese Zelle konnte zu einer Mausefalle
werden. „Guten Abend,“ sagte er
leise, fest. Dabei sah Luca ihm in die Augen. Er wirkte in keiner Weise
unterwürfig. Im Gegenteil, vielleicht etwas zu stark und stolz. Luca
verfluchte sich dafür. Dieses Verhalten hatte ihm schon so oft Ärger
eingebracht... Aber er ahnte, dass Stärke das einzige war, mit dem er
diesem Mann begegnen sollte. Denn Schwäche wäre sein sicherer Tot. Farlan beobachtete, sah und hörte.
Er schien besorgt, fast ängstlich zu sein. Wegen Luca? Dieser eigenartige,
stille junge Mann sprach selten laut. Seine Stärke war die in sich gekehrte
Ruhe, diese seltsame Kraft, die er aus seiner Gelassenheit und seiner
Sanftmut zog. Was er sagte oder tat, geschah sehr ruhig. Der Blick aus
diesen smaragdgrünen Augen hatte etwas beklemmend wissendes, altes, das
fiel dem Wachmann am ersten Tag auf und bisher hatte sich daran nichts geändert.
Manchmal glaubte er Schatten über die Pupillen huschen zu sehen, dann
wieder fand er darin eine Intelligenz, die ihn ängstigte und eine Form der
Weisheit, die nur aus langen, leidvollen Erfahrungen und tiefer Hoffnung
entstehen konnte. An anderen Tagen fand er Lucaes Augen voll Trauer und
Schmerz. Im Lauf der letzten Wochen dachte Farlan oft über den jungen Mann
nach und war sich fast sicher, dass Luca Seraphine nicht an diesen
hoffnungslosen Ort gehörte. Dieser Blick, dieses alte Wissen darin, zwang
ihn den Kopf zu wenden und zu Boden zu sehen. Vielleicht konnte Luca ja überleben.
Vielleicht konnte aber auch nur er, Aaron Farlan, ihn retten... Luca, seinen
schönen, klugen, sanften Luca. O’Reilys Schellen fielen zu
Boden und einer der beiden Beamten sammelte sie rasch wieder ein, um weit
genug zurückzutreten, dass die Zellentüre sich schließen konnte. „135 zu!“ brüllte Farlan
hinab, zu dem Wachmann, der in seinem Häuschen in der Mitte des zentralen
Ganges saß. Der Atem Farlans wurde ruhiger und tiefer, als sich die Türe
schloss und einrastete. O’Reily drehte sich noch einmal herum, lächelte
den Wachmann kalt an und lehnte sich mit vor der Brust verschränkten Armen
an die Zellenwand. Farlan trat unbewusst einen Schritt zurück und stieß
gegen das Geländer des Steges. Obgleich er nichts anderes sagte oder tat,
erinnerte es fast an Flucht, wie Farlans Männer davon stürzten. Der Chef
des Wachpersonals in dem Zellenblock blieb noch einen Moment stehen und
beobachtete Luca. „Moranes Macht endet bei mir, O’Reily. Dem Jungen
wirst du nichts tun.“ „Oder?“ fragte O’Reily
leise. „Sie wissen doch, Mister Farlan, mir zu drohen ist nicht besonders
klug.“ „Dir könnte etwas zustoßen,
Mick. Und mir wäre egal, was dann mit mir passiert.“ O’Reily sah ihn verblüfft
an, wollte etwas antworten, aber Farlan drehte sich auf dem Absatz herum und
ging. Luca hatte sich wieder hingesetzt und zurückgelehnt,
beobachtend. Schließlich drehte sich O’Reily wieder zu ihm um und ging
schweigend an dem jungen Mann vorüber, um sich halbwegs einzurichten. In
der angrenzenden Zellen tuschelten die Männer miteinander, flüsterten so
deutlich, dass Lucas feines Gehör ihre Worte verstand. Einer sagte,
O’Reily sei nicht ohne Grund hier. Ein anderer meinte, der Ire sei über
Shelby Moranes Beziehungen in diesen Block verlegt worden. Weshalb?... Rosario Tozzi, Lucas
direkter Zellennachbar links, der mit dem schwarzen Washington Cobe
zusammenlebte, mutmaßte, dass Shelby gefallen an Luca gefunden hatte und
ihn durch Wayne weich kochen lassen wollte, nachdem der junge Mann Charles
Bourmont die Hand gebrochen
hatte, als dieser versuchte, ihm zwischen die Beine zu greifen. Silverstone,
der eine Zelle für sich allein hatte, murmelte plötzlich einen Fluch und
trat gegen sein Bettgestell. „Spagetti, halt’s Maul!“ Mit Spaghetti konnte er nur
Tozzi meinen, der eine seltsame Mischung war, halb Mexikaner und halb
Italiener. Der verschrobene, alte Miles Silverstone war so etwas wie ein
Faktotum in diesem Block. Vermutlich saß er länger hier, als Tozzi an
Lebensjahren zählte. Er wusste, wann einer zu laut dachte. Und der junge
Tozzi dachte sehr oft zu laut. Vielleicht einer der Gründe, weshalb
Silverstone ihn in seine kleine, elitäre Gruppe aufgenommen hatte. Von all
dem nahm O’Reily nichts wahr, vielleicht ignorierte er die anderen Stimmen
um sich auch nur. Dennoch verstummte das beständige Tuscheln, als Miles’
Stimme erklang. Jeder Block, jede Etage, hatte ihren eigenen Boss, einen,
der Vertrauensmann unter den gefangenen und den Wärtern war. Silverstone
hatte das Vertrauen aller. Was er sagte, war Gesetz. Und selbst Shelby
Morane vermied es, sich in Silverstones Gebiet einzumischen. Nachdem O’Reily sein Bett
bezogen hatte und die wenigen Dinge, die ihm gehörten und die man schon vor
Stunden in einem Karton brachte, ausgepackt und untergebracht hatte, setzte
er sich Luca gegenüber auf den anderen Stuhl. Luca, seinerseits hatte sich
wieder seinen Aufzeichnungen gewidmet. Er war der Auffassung, dass es besser
war, den Iren ganz in Frieden zu lassen. Nach einer Weile hob Luca
den Kopf und begegnete den blassen, stechenden Augen, die ihn eingehend
musterten, als wollten sie bis in seine Seele hinab sehen. „Du führst
Tagebuch, kleiner Junge?“ fragte er, ein spöttisches Lächeln auf den
Lippen. Lucas Lippen verzogen sich zu
einem dünnen Lächeln. „Es gibt zwei Möglichkeiten mit mir auszukommen.
Höflich oder still. Entweder wir beide wahren eine gewisse Form oder wir
gehen einander aus dem Weg.“ O’Reily zog seine dünnen
Brauen zusammen und starrte Luca sekundenlang auf eine merkwürdig prüfende
Weise an, nicht verärgert, nicht zornig. Nur Eiskalt. Dann, plötzlich, rückte
er seine Brille zurecht und senkte den Blick. Er konnte den Augen Lucas so
wenig stand halten wie jeder andere Mann. Schließlich hob Wayne den Kopf
und lächelte wieder. Luca hatte seine Aufzeichnungen zur Seite gelegt und
saß ruhig zurückgelehnt da, entspannt, die Arme vor der Brust verschränkt.
Es schien, als warte er auf etwas. Schließlich nickte O’Reily und sog
tief die Luft ein. „Verraten sie mir, was sie hier her brachte,“ fragte
der Ire Luca leise. „Sie machen nicht den Eindruck, ein Mörder zu
sein.“ Er musterte Luca intensiv, auf eine beängstigende Weise, die dafür
sorgte, dass sich Lucas feine Nackenhärchen aufrichteten. „Nein. Sie sind
kein Mörder.“ Luca lehnte sich vor, stützte die Ellenbogen auf der
Tischplatte auf und stützte sein Kinn auf das linke Handgelenk. „Warum
wollen sie das wissen?“ O’Reily blinzelte. „Nur aus
reinem Interesse. Sie sind anders. Ihr Blick ist nicht der eines Mörders.
Sie haben keinen Spaß an Schmerzen und Leid. Das, was ich sehe ist Hoffnung
und...“ Er schluckte, als ihm bewusst wurde, dass er aussprach, was er
dachte. „Und sie bringen mich dazu, ihnen meine Gedanken zu offenbaren,“
bemerkte er mit einem ärgerlichen Lächeln. „Ich bin wegen Mordes
angeklagt und verurteilt worden.“ Seine Stimme klang nicht annähernd so
klar und sicher wie er es sich gewünscht hatte. Natürlich bemerkte es
O’Reily. Ein seltsamer Ausdruck huschte über seine kantigen Züge.
„Eine Engel kann nicht lügen,“ murmelte O’Reily. Ohne ein Wort zu
sagen, erhob sich Luca und lehnte sich neben dem kleinen Fenster, durch das
kaum Licht in die Zelle drang, gegen die Wand. Er fror. Die Worte O’Reilys
hallten in seinen Ohren und vereisten seine Seele. „Ich bin verurteilt,“
flüstere er und versuchte sich den Schmutz über dem Glas wegzudenken und
den Blick in eine andere, freie Welt. Mitten
in der Nacht erwachte Luca durch ein seltsames Geräusch. Und im ersten
Augenblick war er nicht sicher, ob er es geträumt hatte, oder es ein Teil
der Wirklichkeit war. Wayne hatte das Bett über ihm, aber an das Geräusch
durchgelegener Bettfedern und das allgemeine Schnarchen um sich gewöhnte
sich Luca bereits in der ersten Nacht. Innerhalb von zwei Monaten gehörte
der Laut dazu wie die allmorgendliche Sirene, die sie weckte, das Trampeln
Eisen beschlagener Stiefel auf den Metallstegen oder das beständige,
halblaute Murmeln und die Arbeit auf den Feldern oder auf der Straße. Aber
dieses Geräusch gehörte nicht dazu. Das leise Rascheln, ein Schleiflaut...
Luca fuhr auf und glitt aus seinen Decken. Über ihm beulte sich kurz die
Matratze aus und auch O’Reily schob seine Decken von sich. Die große,
schmale Hand des vergleichsweise muskulösen Iren umklammerte den fleckigen
Stahlrahmen. Luca sah wie sich die Muskeln spannten und die Adern auf seinem
Handrücken hervortraten. Fast schien es, als wolle er den Rahmen mit purer
Kraft zerdrücken. Lucas Finger legten sich beinah sanft über Waynes.
Dieser zuckte zusammen, wollte seine Hand zurückziehen, bis er erkannte,
dass es nichts anderes war als Lucas Berührung. Der junge Mann glitt
lautlos aus seinem Bett und richtete sich auf. Trotz der Finsternis und den
Schatten sah der Ire, dass Luca angespannt war, misstrauisch. Das einzige
Licht kam aus dem Wachhäuschen unten. Davon drang nicht genug in die fünfte
Etage, um einen Blick weiter als einen Meter zu erlauben, bevor dunkle Nebel
die Konturen verschlangen. Luca spürte wie sich Wayne beruhigte, denn er drückte
sie sanft. Auch in einigen anderen Zellen endete das gleichmäßige
Schnarchen abrupt und Luca vernahm wispernde Stimmen, zitternd und scheu und
den stechenden Geruch von Angst. „Hörst du ihn?“ fragte Wayne sehr
leise. Seine Stimme zitterte deutlich. Luca drehte ihm den Kopf zu und sah
ihn aus wachen Augen an. Behutsam legte er ihm die Fingerspitzen über die
Lippen. „Leise,“ wisperte er und ließ dann Wayne los, der reglos auf
seinem Bett ausharrte. Luca lauschte nur. Das schleifende Geräusch kam näher,
bewegte sich deutlich auf sie zu... und dann sah er mit seinen nicht
menschlichen Augen einen unförmigen, großen Schatten der auf der gegenüber
liegenden Seite des Blocks über den Steg glitt, unnatürlich leise, bei der
gewaltigen Größe, die ihm zu eigen war. Luca fuhr zusammen. Ihn erinnerte
die Form an etwas, was in den Nebeln seiner fast eintausenddreihundert jährigen
Erinnerung verborgen lag. Es war ein Geschöpf aus seinen frühsten Träumen,
seinen Alpträumen, als er noch ein Kind war und nicht ahnte welches Geschöpf
er war, welche Macht in ihm wohnte. Damals war er dem ausgeliefert gewesen,
was in seinen Alpträumen lebte. Reichte sein Wissen, seine Macht jetzt? Als
das geflügelte Geschöpf vor einer Zellentüre stehen blieb, gegenüber der
Silverstones, drehte es sich um und blickte aus bläulich glühenden Augen
zu Luca hinüber. Der Blick bohrte sich in den Lucas und zugleich lächelte
der schmale, dünnlippige Mund, wobei er zwei Fingerlange Fänge entblößte.
Luca trat nah an das Gitter heran, wobei er absichtlich den Blick des Geschöpfes
auf sich ruhen ließ. Zum ersten Mal sah er ihn deutlich und erkannte, dass
das Wesen nicht furchterregend war, nicht hässlich, sondern schön,
Filigran, zart wie ein Elf. Seine blauen Augen hatten die Form von Mandeln
und silberne Sterne glühten darin. Sein wundervoller, sehniger Leib war
nackt, fein, schwarz und schimmernd wie Obsidian. Tief schwarzes Haar floss
über seinen Leib und glitt wie eine Schleppe über den metallenen Steg.
Gewaltige, schwarze Schwingen von gewaltiger Spanne fanden kaum Platz auf
dem engen Raum und schurrten an der verputzten, schmierigen Wand entlang.
Ein schwarzer Engel, dachte Luca sehnsüchtig. Es war ein Geschöpf... ein
Seraph, wie er selbst... Doch
etwas war anders. Es dauerte zwei, drei Sekunden, bevor es ihm bewusst
wurde, was falsch schien, anders als er selbst. Die Flügel, die er hatte
waren gefiedert, aus schwarzen Federn. Das dort aber waren ledrige
Schwingen... Gleichwie, wenn dieses Geschöpf eines seiner Rasse war, dann
musste ein Elternteil nicht aus den Tälern stammen, oder er war ein reiner
Seraph... Aber welche gab es noch, außer ihm... und das in dieser Welt?!
Nun sah Luca auch die spitzen Ohren. Ein Seraph, der sich mit einem Elfen
gepaart hatte? Der schwarze Engel grinste boshaft und nickte ihm zum Gruß
spöttisch zu, bevor er mit einer angedeuteten Verbeugung unstofflich wurde
und mit der Wand verschmolz. „Er
ist fort,“ flüsterte Wayne und entspannte sich ein wenig. Luca drehte
sich zu ihm um und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Gitter. Sein
nackter, leicht fiebriger Körper genoss das kühle Metall. Auch er
entspannte sich langsam. Er hatte damit gerechnet eine Schattenhafte Kreatur
zu Jagen, aber nicht ein Geschöpf seines Volkes, was halb Elf halb Seraph,
ein schwarzer Engel war. Luca
hob den Blick und sah zu Wayne, der ihn traurig beobachtete. „Du hast ihn
also auch gesehen. Er ist kein Alptraum aus den letzten drei Monaten
Loch...“ „Nein,“
flüsterte Luca. „Das ist er nicht.“ Er dachte an die furchtbare,
boshafte, kalte Aura der anderen seiner Art zurück und glaubte, dasselbe
eben gespürt zu haben. Warum gab es bis heute keinen schwarzen Engel, der
seinen Weg kreuzte, der in irgendeiner Weise Gut schien? Warum musste er
dazu verdammt sein der Untergang der alten Rasse zu werden? Warum waren sie
schlecht? Warum...? Sie entstammten der Finsternis und dem Wahnsinn, der
Degeneration und Grausamkeit... Schließlich hatten sie alle einen Urvater,
einen bösen, alten... bedeutete das, dass sie alle schlecht waren... dass
er, Luca schlecht war? Oder sollte er doch ihr Jäger sein, der, der sie
kontrolliert oder tötet?... Luca schreckte aus einem
Alptraum hoch und fühlte sich von eisiger Finsternis umfangen, die den
kalten Schweiß auf seiner nackten Haut fast gefrieren ließ. Er konnte nur
sehr flach und schnell atmen. Der Druck auf seiner Brust, die Enge und
Beklemmung, das Rauschen seines eigenen Blutes... Krampfhaft versuchte er
Luft zu holen. Diese Träume entsetzten Luca immer mehr. Vor sehr langer
Zeit begannen sie. Und mit jedem Tag, den er lebte verwischten sich die
Grenzen mehr. Und dieses Gefängnis beeinflusste ihn nur noch mehr. Stiefel
schlenderten fast leicht über den Steg. Vermutlich machten die Wachen ihre
Runde. Tatsächlich sah er den Strahl einer Taschenlampe kurz über Geländer
und Metallrost gleiten. Er legte sich wieder hin, das Gesicht zur Wand und
schloss die Augenlider. Sein Herz raste und der irreale Gedanke, die Wachen
können das Pochen hören, machten ihn noch nervöser. Beklemmung? Er fürchtete
langsam wahnsinnig zu werden. Die winzige Zelle tat ein übriges und die
kalte, schlechte Luft. Wenn er den Himmel sah, dann nur mit Ketten um die Fußgelenke
und einer Spitzhacke in den Händen. Hier hing der Himmel immer tief, die
Luft wärmte sich selten über den Gefrierpunkt auf. Dieses Gefängnis lag
über zweihundert Meilen vom nächsten Ort entfernt. Eine Mischung aus
Arbeitslager und Hochsicherheitsgefängnis... Die Wärter, die
Verwaltungsbeamten, die Sicherheitskräfte und die Ärzte, die hier Dienst
taten, waren auf einem nicht nennenswert größeren Territorium selbst
gefangen mit ihren Familien, ihren kleinen Geschäften und Werkstätten, die
immer noch bevorzugt von Gefangenen geführt wurden. Hier fand sich niemand,
der nicht gefangen schien. Natürlich, der Abschaum der Menschheit fand sich
selbst unter den Wärtern. Ein Lichtstrahl huschte durch
den Raum seiner Zelle und glitt über die verputzten Wände. Über ihm
rollte sich Wayne auf die andere Seite, durch den Lichtstrahl leicht
irritiert, ohne jedoch aufzuwachen. Seit wann teilten sich O’Reily und er
die Zelle? Seit etwa einer Woche... und sie gingen sich weitgehend aus dem
Weg. Besser so, wie Luca dachte. O’Reily war eine seltsame Person. Ein charakterstarker, sehr intelligenter Mann mit einem Wissensschatz, der ihn als einen gebildeten Menschen auszeichnete, aber auch jemand, der eine beinah perverse Freude an seelischer Grausamkeit und Sadismus fand. Seltsam. Es ärgerte Wayne nicht einmal, dass er nicht durch Lucas dickes Fell drang. Nein, er schien zu warten, auf den richtigen Moment, auf einen Schwachpunkt...
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(c) Tanja Meurer, 2000/2002 |