Der Gefangene |
Kapitel 1: ================================================================================ Jeder Tag voll Stumpfsinn tötete
in Luca ein Stück seiner Inspiration und Hoffnung. Der gesamte Tagesablauf
hatte etwas beklemmend stupides. Jeden Morgen ertönte pünktlich um fünf
Uhr in der Frühe die Sirene, die wohl aus Deutschland stammte, aus dem
ersten Weltkrieg, Die Sirene, die sie aus den Betten rief. Zur Inspektion
mussten sie vor ihren Zellen auf die Stege treten und wurden das eine oder
andere Mal sehr genau von Farlan oder einem seiner Männer untersucht.
Dasselbe galt natürlich auch für die Zellenprüfungen. Waschen, anziehen ,
die Ketten, die sie aneinander banden... Das Frühstück erhielten sie erst
gegen 10 Uhr, wenn sie schon ein paar Stunden draußen gearbeitet hatten. Es
war eine Mischung aus unansehnlich und ungenießbar oder unansehnlich und
verdorben. Zumeist fand irgendein unidentifizierbarer Brei seinen Weg auf
das Blechtablett, der weit genug eingekocht war, um keine Chance zu lassen
ihn als Gerste, Hafer oder Reis zu erkennen. Oft war schon die Milch sauer,
wenn sie ihren Weg bis hier hinauf geschafft hatte, was das Frühstück
nicht besserte. Viele gewöhnten sich hier das Trinken schwarzen Kaffees an.
Aber es war das einzige, was sie vor dem Erfrieren bewahrte. Nach einer
Woche fand man sich bei einem schwachen Magen entweder auf der
Krankenstation wieder, oder wurde sehr schnell vom örtlichen Arzt operiert,
was beinhaltete, dass man schnell alles überflüssige verlor; von den
Mandeln bis zu den Gallensteinen. Die meisten entwickelten in
dieser Hölle einen eisernen Magen und das Gemüt eines Fleischerhundes.
Selbst das Gefängnispersonal und ihre Familien hatten nichts nennenswert
besseres zu essen, mit dem Unterschied, dass sie selbst kochten oder es
ihren Ehefrauen überließen. Der Koch hier war ein erbärmlicher Stümper.
Gerüchte besagten er sei von Apotheker bis Leichenbestatter alles gewesen,
hatte aber nie etwas mit Lebensmitteln zu tun gehabt, bevor er hier her kam.
Jeden Morgen, jeden Mittag und jeden Abend schwor sich Luca, wenn er hier
heraus kommen sollte, kochen zu lernen. Manchmal empfand er es als seelische
Grausamkeit, dass die Gefängnisbibliothek auch Kochbücher besaß. Es gab
den einen oder anderen, der sich eine solche Lektüre gönnte. Der Koch und
seine Helfer gehörten nicht dazu. Aber Luca, der schon immer erhebliches
Untergewicht hatte, nahm hier noch weiter ab. Aus seinen siebzig Kilo wurden
innerhalb kurzer Zeit fünfundsechzig. Er brauchte wirklich wenig und selten
Nahrung, aber die eine oder andere Woche musste selbst er etwas zu sich
nehmen außer schwarzem Kaffee. Es fiel ihm schwer, besonders weil seine
feine Nase alles wahrnahm und seine Augen gut genug waren, zu sehen, wenn
sich abgekochte Larven im Essen befanden. Aber manchmal war er einfach zu
müde, um sich darüber Gedanken zu machen. Seine Arbeit nahm ihm den einen
oder anderen Tag fast den Verstand. Im ersten Monat hatte Farlan ihn in der
Schreinerei eingesetzt, was für einen Mann mit Lucas Körperkräften und
seinen feinen, geschickten Händen kein besonderes Problem war. Schnitzen
konnte er seit seiner Kindheit und Baumaterialien zu schneiden, zu schleifen
oder aus zu stemmen, war nichts, was einen nennenswerten künstlerischen
Anspruch besaß. Dummer Weise kam der Tag, an dem Shelbys Handlanger nicht
seine Finger von ihm lassen konnte... und Shelbys Narren arbeiteten fast
alle in der Schreinerei. Wäre Farlan nicht gewesen, der sich auf die Seite
Lucas geschlagen hatte... Luca gefiel der Gedanke an Einzelhaft nicht so
recht. Und es gab noch wesentlich widerwärtigere Männer als Farlan. Das
eine oder andere Mal überlegte er sich, Direktor Albright sprechen zu
können. Doch zumeist siegte sein Selbsterhaltungstrieb über solche
Gedanken, die ihm nur flüchtig kamen. Nun arbeitete er in einer
Straßenbautruppe. Es war so geistlos. Luca musste selten einen Gedanken
darüber verschwenden was er tat. Da gab es nichts, was er falsch machen
konnte. Im Gegenteil. Einer der Gründe, weshalb er sich einen guten Teil
des Tages mit nichts anderem beschäftigte, sein Wissen nicht einschlafen zu
lassen, sondern es sich so gut es ging, ins Gedächtnis zurückrief. Unter
den Gefangenen suchte er nicht nach Gesellschaft. Im Gegenteil hielt er sich
absichtlich allein auf. Da er keine Sucht hatte, der er folgte, weder
Drogen, noch Zigaretten oder Alkohol, und seine Interessen nicht nach
einschlägigen Magazinen mit leicht bekleideten Mädchen ob gezeichnet oder
fotografiert, gingen, hatte er lediglich noch mit dem Bibliothekar Kontakt,
der nicht so recht glauben konnte, wie schnell es Luca möglich war, Krieg und
Frieden zu lesen, und noch in der selben Woche drei andere klassische Wälzer
durchzubekommen. Dieser brachte ihm auch das eine oder andere Mal die
Tageszeitung. Obwohl er mit Wayne O’Reily nicht besonders gut zurecht kam,
musste er diesem doch einen exzellenten Verstand zugestehen. Politmagazine, klassische
Literatur, alles verschlang er, solange es gedruckte Buchstaben besaß. Es
war die einfachste Methode, sich abends aus dem Weg zu gehen. Leider kannte
Luca schon fast jedes Buch in der Bibliothek und bedauerte nichts
interessantes und neues zu finden. So begann er wieder zu zeichnen. Noch
obsessiver, noch leidenschaftlicher. Luca dachte wieder an seinen
seltsamen Traum. Wenn er mit O’Reily mehr als zwanzig Worte gewechselt
hatte, sollte das viel sein. Zumeist schwiegen sie. In diesem Traum behandelte er
den Iren anders... Luca ließ den Block sinken und
schloss die Augen. Seine Schläfen pochten. O’Reily rollte sich wieder
über Luca herum und hörte auf, leise zu schnarchen. Das geschah fast in
der selben Sekunde, in der eine Zellentüre geöffnet wurde, irgendwo am
Ende des Steges. Der Junge, der vor einer Woche hier ankam, dachte Luca
verwirrt. Sekunden später kamen zwei andere Wachen und gingen an Lucas
Zelle vorüber. Ein erstickter Schrei kam aus der benachbart liegenden
Zelle, als presse jemand eine Hand auf den Mund des jungen Mannes. Die zwei
anderen Wächter blieben ebenfalls dort stehen. Lautlos glitt Luca aus
seinen Decken und bewegte sich mit nackten Füßen über den kalten Boden.
Die Geräusche kannte Luca zu gut, die aus der einzelnen Zelle drangen. Der
Junge war vielleicht achtundzwanzig, eher ein bisschen jünger und machte
nicht den Eindruck, sich gegen drei dieser Bullen wehren zu können.
Obgleich er ungleich breiter und muskulöser als Luca erschien, war der
Junge doch fast einen Kopf kleiner und immer noch mädchenhaft schlank...
Die Geräusche, das Stöhnen, das hämmernde Quietschen der defekten
Bettfedern, Schläge auf nackte Haut, Stoff der zeriss... Lucas Hände
krampften sich um die Gitterstäbe seiner Türe, als wolle er sie mit
nackten Händen zerstören. Das Gesicht des Jungen wurde in die Kissen
gedrückt, bis dieser nicht mehr schrie, sondern nur noch vor Schmerzen
keuchte. „Hört auf,“ wisperte Luca, dessen Augen sich mit Tränen
füllten. Bevor er noch ein weiteres Wort von sich geben konnte, spürte er
eine große Hand, die sich unsanft auf seinen Mund presste. Einen Herzschlag
später riss ihn Wayne von den Gittern weg und drückte Luca mit dem Gesicht
voran gegen die Wand, an der das Etagenbett beider stand. Mit der Gewalt,
mit der Wayne Luca mit dem weichen Mörtel konfrontierte, hätte sicher
jedem anderen das Nasenbein gebrochen. „Hör’ mir gut zu, kleiner Junge,
wenn dir nicht dasselbe passieren soll, stell dich hier stumm und taub!“
wisperte Waynes Stimme so nah an seinem Ohr, dass ihn die dünnen Lippen des
Iren streiften und der heiße Atem seine Wangen streifte. Luca schoss eine Idee durch den
Kopf, wie er dem Jungen vielleicht doch noch helfen konnte. Er stemmte die
Hände gegen die Mauer. Mit einer schnellen, viel zu kraftvollen Bewegung,
die Wayne nicht erwartete, stieß sich Luca von der Wand ab. Der Ire
stolperte rückwärts und ließ seinen Zellengenossen los. Im Bruchteil
einer Sekunde wirbelte Luca herum und sah, dass sich Wayne geschickt wie
eine Katze fing, bevor er an der gegenüberliegenden Wand das Regal mit
Lucas Büchern und Zeichenwerkzeugen herunter stieß. „Was hast du vor?!“
zischte er und sprang ihn wieder an. Um Luca von einem weiteren
Überraschungsangriff abzuhalten, versuchte er die Handgelenke des viel zu
schmalen, fast nackten Mannes zu greifen. Wieder hatte er nicht mit der
Schnelligkeit des jungen Mannes verrechnet, der unter den zupackenden
Händen Waynes durchtauchte und hinter ihm auf die Füße federte.
Schnaubend rappelte sich Wayne auf und sah aus entsetzten Augen, wie Luca zu
ihm herablächelte und dann mit unglaublicher Gewalt und voller Absicht das
Regalbrett von der Wand schlug. Wayne zog unwillkürlich den Kopf zwischen
die Schultern. Wayne fuhr herum und sah Luca aus entsetzten Augen an, als
das Holz und die Bücher auf dem kalten Estrich polterten. Luca packte
Waynes Oberarme und drückte ihn rückwärts zum Bett zurück. „Verschwinde
ins Bett. Ich nehme es auf mich,“ flüsterte Luca. „Bitte, ich will nur
dem Jungen helfen!“ Zugleich wurden Flüche unter
den Wächtern laut. Einer brüllte was da los sei, ein anderer zog sich
unsanft die Hosen hoch und schloss sie, während der dritte mit schnellen
und schweren Schritten über den Steg stampfte, wobei sein Schlagstock an
den Gittertüren und Wänden vorbei klapperte. Nun erwachten viele andere
Gefangene... Aber niemand wagte ein Wort zu sagen. „Mann, jetzt kann dir
niemand mehr helfen,“ flüsterte Wayne, blieb aber reglos stehen, statt
sich auf sein Bett zu schwingen. Luca sah in den hellen Augen des Iren die
Entschlossenheit, sich keinen Schritt zu bewegen. „Eins verspreche ich
dir, Luca, wenn ich wieder aus dem Loch komme, bist du dran!“ Luca lächelte, zum ersten Mal
wirklich und stieß den Tisch und beide Stühle um. Luca konnte sich nicht mehr
zwischen den zwei bulligen Typen bewegen, die ihn schnell und brutal überwältigt
hatten und ihn auf dem Boden hielten. Er konnte kaum den Kopf heben... Aber
der Mann, der unter der Türe erschien und gerade seine Hose schloss, ja,
ihn erkannte er. Wayne hinter ihm senkte den
Blick. „Mr. Farlan, Sir,“ presste er hervor und versuchte allein mit
seinen gewaltigen Körperkräfte den Metallrahmen des Bettes zu
zerquetschen. Vielleicht waren es auch nur die Fünf Mann, die ihn hielten,
aber nicht zu Boden zwingen konnten. „Lassen sie Luca. Ich hatte einen
Alptraum und er...“ Farlan schien erst jetzt O’Reily
und Luca zu erkennen. Tatsächlich machte er einen Schritt zurück und
klammerte sich unsicher am Rahmen der Zellentüre fest. „Heute vergessen
wir den Zwischenfall.“ Farlans trockener Hals verhinderte das er einen
zusammenhängenden Satz herausbekam. „Lasst sie beide los.“ Seine
Männer sahen ihn fassungslos an. Jede Sekunde, die sie zögerten, versetzte
ihn ein bisschen mehr in Wut, die aus seiner Scham vor dem Wissen, dass Luca
ihn bei etwas gesehen hatte, dass er ihm nie zumuten wollte. „Lasst sie
los!!“ Brutal griff er nach einem von den beiden Wachen, die Luca hielten
und riss ihn von seinem jungen Freund herab. „Raus!! Sofort alle raus!“ „135 zu!“ Die Türe schloss
sich rasselnd. „142 zu!“ Auch die Türe des armen Jungen schloss sich.
Farlan neigte sich vor und kniete nieder, bis Luca seinen heißen, schnellen
Atem spüren konnte, den Geruch nach Erregung und Alkohol. Langsam und
schwerfällig richtete sich Luca auf, bis er sich auf selber Höhe mit
Farlan befand und wischte sich das Blut aus dem Mundwinkel. „Hör’ mir
gut zu, Junge.“ Luca würdigte ihn keines
Blickes, sondern sah verbissen zu Boden. Der Aufseher schlug zornig gegen
die Gittertüre. „Sieh mich an du kleine Ratte!“ Es kostete Luca Überwindung,
den Kopf zu heben, denn er empfand nur Abscheu. „Gut so. Ich habe dir
einen Gefallen getan. Aber glaub mir, mein Schöner, du gehörtst jetzt mir.
Und dein nächster Fehler bringt dich in Einzelhaft. Dann...“ Wayne löste
sich plötzlich aus seiner Starre und schnellte vor, so dass Farlan
erschrocken zurück prallte und mit dem Rücken gegen die Brüstung stieß.
Der muskulöse Riese stellte sich zwischen Luca und Farlan. Der Oberaufseher
keuchte entsetzt und griff hysterisch nach seinem Schlagstock, donnerte dann
noch einmal den Knüppel gegen die Gitter. Wayne zuckte mit keiner Wimper.
Er drehte sich ab, drehte Farlan den Rücken zu. „Du wirst ihn nie
beschützen können, Farlan.“ Der Aufseher zischte wütend.
Schließlich fuhr er herum und rannte fast davon. Wayne entspannte sich. „Bevor
du mir dankst,“ sagte er, „glaube nicht...“ Er unterbrach sich mitten
im Satz. Sein Zellengefährte saß vor ihm, den Blick zu Boden gerichtet.
Eine Hand bedeckte die Lippen, die andere hatte er zur Faust geballt
zwischen seinen Knien auf dem Boden liegen. „Ist dir bei dem Eintritt in
diesen Club entgangen, dass wir die Bösen sind?“ Luca sah ihn nicht an.
„Das Volk der Vereinigten Staaten hat in den Prozessen gegen uns
entschieden, dass wir eine Gefahr sind und uns als Untermenschen eingestuft,
begreife das endlich, Luca.“ Wayne setzte sich nun auch auf den Boden,
insofern noch gerade genug Platz für ihn existierte. Eine lange Zeit
beobachtete er Luca, musterte ihn, versuchte durch seine steinerne Miene zu
dringen und den Blick der kalten, verachtenden, grünen Augen zu verstehen.
„Du bist kein Mörder,“ sagte er schließlich. „Für wen sitzt du? Ist
es das wert?“ Sekunden verstrichen, in denen
die gedämpften, leisen Worte O’Reilys nur in der Luft hingen, und statt
zu verwehen, immer mehr Stofflichkeit bekamen. Urplötzlich löste sich der
Bann über Luca und Leben floss in ihn zurück, Wärme, wie Wayne glaubte.
Fast gequält stöhnte Luca auf. „Nein,“ flüsterte er. „Es ist
anders.“ Ganz gegen sein sonstiges Verhalten, streckte O’Reily seine
Hand nach Lucas Schulter aus. „Warum sprichst du nicht darüber?“ „Was soll ich sagen?“
fragte Luca leise. „Wollt ihr alle hören, dass ich unschuldig bin? Ich
bin es nicht. Ich habe getötet...“ „Wie wäre es mit der
Wahrheit?“ O’Reilys Augen blitzten dabei ärgerlich. „Was würde das ändern?“ „Räuber, Mörder, Totschlag,
Raubmord, Hehlerei, Schwarzbrenner, Kinderschänder... du befindest dich in
guter Gesellschaft.“ Wayne zog die dünnen, roten Brauen zusammen. „Silverstone
sitzt seit mehr als dreißig Jahren, weil er seine Frau umgebracht hat und
noch dazu ihren Liebhaber. Shelby ist für über fünfhundert Morde
verantwortlich, die, die er selbst beging, nicht mitgerechnet. Washington
Cobe, der Schwarze, hat eine Weiße vergewaltigt. Charles, dem du den Daumen
gebrochen hast, ist zu bescheuert von hier zur Türe zu denken, aber sich
eine Knarre zu schnappen seine Frau und die Bar in der sie anschaffen ging
mit über zwanzig Menschen darin niederzumetzeln, das kann er. Da drüben,
im anderen Block, sitzt ein alter Mann, Leonard Westlake. Er ist so alt wie
ein Stein. Er sitzt seit dem letzten Jahrhundert.“ „Ich habe getötet. Aber er
hatte den Tot verdient. Er hat kleine Kinder missbraucht und verstümmelt,
noch während sie lebten...,“ sagte Luca leise. „Eigentlich bin ich nur
ein Fälscher und Kunstdieb. Aber eines der Kinder war mein Kind. Ich habe
dieses Monster gejagt. Ich habe ihn langsam getötet. Grausam.“ Er lachte
leise, kalt. „Ich hatte Glück. Mein kleines Mädchen hat es überlebt was
er ihr antat. Aber sie spricht seither nicht mehr und erträgt meine Nähe
nicht.“ Tränen liefen ihm über die Wangen. „Sie ist jetzt fünf Jahre
alt. Und ich habe sie verloren. Nun ist sie wieder in einem Weisenhaus,
dort, wo ich sie einst herausgeholt habe. Verstehst du mich jetzt?“ O’Reily hob die Brauen. „Ja.“ Luca wischte sich die Tränen
aus den Augen und richtete sich auf. „Ist sowieso nicht wichtig.“ Der Ire stand ebenfalls auf und
gähnte ausgiebig. „Du hältst doch den Kopf für einen anderen hin.“ Luca drehte das Wasser auf und
wusch sich das Gesicht und damit die Erinnerung an Farlan ab. „Mag sein,“
antwortete Luca. „Aber der hat seine Strafe erhalten.“ „Könnt ihr mal das Maul
halten?!“ brüllte jemand mehrere Zellen weiter vorne. Tozzi konnte es
nicht sein, der schnarchte direkt nebenan. Silverstone schwieg, war aber
sicher wach, genau wie Cobe. Der Junge weinte leise. Luca konnte ihn genau
hören. Luca langte nach einem Handtuch und trocknete sein Gesicht ab. Dann
stellte er den Tisch und die beiden Stühle wieder auf und sammelte
schweigend die Bücher und die Glasscherben mit den Pinseln wieder auf.
Ernst und sehr nachdenklich trat er an die Gittertüre und lehnte sich gegen
das kalte Metall. „Wie geht es dir?“ fragte er leise. Er war sich nicht
sicher, ob ihn der Junge überhaupt hören konnte, oder wollte. Um so
verblüffter war er, als der Junge antwortete. „Wie geht es dir wohl, wenn
du in den Arsch und in den Mund gefickt wurdest?“ Luca antwortete darauf nicht
sondern senkte nur wieder den Kopf. Er begann sich zu fragen, was er
wirklich hier tat und ob es nicht sinnlos war, sich um mehr als seine
eigenen Probleme zu kümmern. „Hey,“ rief plötzlich der Junge. „Danke.
Wenn du mir nicht geholfen hättest, wäre ich vermutlich tot.“ „Nein, Kleiner,“ mischte
sich Silverstone ein. „Dann wäre für Farlan der Spaß raus. Der braucht
eine kleine Schlampe, die er ficken und vermöbeln kann, weil er bei seiner
Frau nichts mehr hohlen kann.“ „Wird ihn Farlan in Ruhe
lassen?“ fragte Luca leise. „Ihn vielleicht,“
entgegnete Silverstone. Seine raue Stimme klang drohend. Ein humorloses Lächeln glitt
über Lucas Gesicht. „Das ist dann ganz allein mein Problem,“ sagte er
kalt. „Du machst dir reichlich
Feinde,“ warnte ihn Miles Silverstone ernst. „Shelby ist auch hinter
deinem hübschen Hintern her. Pass auf, dass er dich nicht schließlich doch
noch fickt. Und Farlan hat dich bislang deshalb geschont...“ „Ich will meine Zukunft
abwarten, wenn es hier niemand stört.“ Luca verschränkte die Arme vor
der Brust und verzog die Lippen. Er wusste, dass er einfach nur trotzig und
kindisch aussehen musste. „Könnt ihr endlich mal still
sein?!“ rief jemand. „Es gibt auch ein paar Leute, die einfach nur
schlafen wollen!!“ „Halt’s Maul!!“ riefen
Silverstone und Wayne fast gleichzeitig. Luca verdrehte die Augen und
schüttelte den Kopf. „Luca Seraphine, das ist doch
dein Name?“ fragte der Junge. „Ja,“ murmelte Luca. „Danke.“ Luca nickte stumm und setzte
sich auf sein Bett, auf seine Weise entschädigt für jede Beleidigung und
jeden Schlag. O’Reily setzte sich ihm gegenüber in einen Stuhl und
verschränkte die Arme vor der Brust. „Was soll ich nur mit dir machen?“
fragte er nachdenklich. „Du wandelst auf einem verdammt dünnen Grat.
Eigentlich soll ich für Shelby arbeiten und dich mürbe machen...“ Luca blinzelte und beobachtete
sein Gegenüber. „Und weiter? Wie soll unsere Zwangsgemeinschaft
weitergehen?“ Er hatte den Verdacht, dass diese Nacht etwas
Ausschlaggebendes verändert hatte. „Du trittst für Ideale ein
und du hast ein gutes Herz. Du bist seltsam und manchmal sehr dumm und dann
wieder sehr klug... es klingt dumm, aber du machst einen verletzlichen
Eindruck auf mich. Ich kann auch einer Frau nichts tun und du erinnerst mich
fast an... egal,“ unterbrach er sich. „Ich kann dir nichts tun und ich
sehe keinen Grund, dich Shelby oder Farlan zu überlassen.“ „Und was verlangst du nun von
mir?“ fragte Luca ohne Hintergedanken. „Nichts.“ „Was hat dich hierher
gebracht?“ „Meine Frau und mein Kind
starben weil ich mich weigerte, Shelby vor Gericht zu verteidigen. Der, der
sie hingerichtet hatte, wurde von der Polizei nie gefunden. Ich habe ihn
gesucht und...“ Luca nickte nur, aber Wayne
wollte ihm erzählen, was geschah. „Mein Leben und meine Kariere
als Anwalt waren zu Ende. Ich habe alles aufgegeben, um ihn zu finden. Ich
habe lange Zeit nach ihm gesucht und ihn und seine Familie lang beobachtet.
In meinem Schmerz, wollte ich nur eines, ihm das antun, was er mir angetan
hatte.“ Wayne legte die Füße auf den wackligen Tisch und blinzelte. Er
war müde, das konnte Luca sehen. Aber die Art der Müdigkeit war eine
Erschöpfung, die nicht auf zu wenig schlaf zurück fiel. Ihm fehlte der
wichtigste Teil in seinem Leben. „Ich sah keinen Schrecken in seinem
Gesicht, als ich ihm sagte, er habe meine Frau und meine Tochter getötet.
Er sagte mir nur, es habe ihm Spaß gemacht und er hätte meine Frau noch
einmal so richtig glücklich gemacht, bevor er sie erschoss. Meine Tochter
hat er aufgehängt nachdem er sie vergewaltigt hatte. Sie war dreizehn.
Weißt du, was eine Ladung Schrot, auch wenn es nur Entenschrot ist, mit dem
Gesicht eines Menschen macht? Ich leerte die Schachtel Schrot in aller Ruhe
aus und schoss. Ich war bei vollem Bewusstsein.“ „Rache... und dennoch kann
man damit nichts ungeschehen machen.“ „Damals war mir das egal,“
sagte Wayne leise. „Was ist mit deiner
Selbstachtung oder wenigstens deinem Selbsterhaltungstrieb?“ „Die verschwand, als ich die
erste Nacht hier verbrachte. Alle nannten mich nur den Professor. Ich wurde
zusammengeschlagen und anschließend vergewaltigt. Der damalige Direktor
wusste es sogar und billigte, was seine Männer taten. Alle die hier saßen,
waren Dreck. Niemand machte sich darüber Gedanken, ob derjenige sich wehren
konnte, oder ob er seinen Verletzungen erlag. Damals verschwanden hier
Hunderte Gefangener und tauchten nie wieder auf. Ich setze mich nach einiger
Zeit zur Wehr. Farlan war damals noch ein kleiner Schließer, kein großes
Licht und leicht zu beeindrucken. Eines Tages, vor fast zehn Jahren, kamen
sie zu viert in meine Zelle. Farlans Chef hatte wohl wieder einen üblen Tag
hinter sich und er brauchte jemand, den er so richtig ficken konnte. Farlan
war der einzige, der mit dem Leben davon kam. Als endlich der Gefängnisarzt
kam, war von den drei Männern nicht mehr genug übrig, um sie auf eine
einzige Bahre zu packen. Ich bekam dreimal Lebenslänglich zu meiner Strafe
und kam eine kleine Ewigkeit nicht mehr aus dem Loch. Direktor Albright
befreite mich. Ich wandere zwar ab und zu noch nach unten, aber das
verkrafte ich. Weißt du, ich werde nie wieder hier heraus kommen. Ich habe
mich damit abgefunden. Also arrangiere ich mich so gut es geht.“ „Ich hatte den Eindruck, dass
du anders bist, als alle hier. Ich hatte recht.“ Luca zog die Beine eng an
den Leib und rieb sich frierend die nackten Oberarme. Misstrauisch beobachtete O’Reily
sein gegenüber. „Ich hoffe nur,“ flüsterte Luca. „Dass ich nicht
genauso ende.“
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(c) Tanja Meurer, 2000/2002 |