Der Gefangene

Kapitel 1:

 ================================================================================

 

Jeder Tag voll Stumpfsinn tötete in Luca ein Stück seiner Inspiration und Hoffnung. Der gesamte Tagesablauf hatte etwas beklemmend stupides. Jeden Morgen ertönte pünktlich um fünf Uhr in der Frühe die Sirene, die wohl aus Deutschland stammte, aus dem ersten Weltkrieg, Die Sirene, die sie aus den Betten rief. Zur Inspektion mussten sie vor ihren Zellen auf die Stege treten und wurden das eine oder andere Mal sehr genau von Farlan oder einem seiner Männer untersucht. Dasselbe galt natürlich auch für die Zellenprüfungen. Waschen, anziehen , die Ketten, die sie aneinander banden... Das Frühstück erhielten sie erst gegen 10 Uhr, wenn sie schon ein paar Stunden draußen gearbeitet hatten. Es war eine Mischung aus unansehnlich und ungenießbar oder unansehnlich und verdorben. Zumeist fand irgendein unidentifizierbarer Brei seinen Weg auf das Blechtablett, der weit genug eingekocht war, um keine Chance zu lassen ihn als Gerste, Hafer oder Reis zu erkennen. Oft war schon die Milch sauer, wenn sie ihren Weg bis hier hinauf geschafft hatte, was das Frühstück nicht besserte. Viele gewöhnten sich hier das Trinken schwarzen Kaffees an. Aber es war das einzige, was sie vor dem Erfrieren bewahrte. Nach einer Woche fand man sich bei einem schwachen Magen entweder auf der Krankenstation wieder, oder wurde sehr schnell vom örtlichen Arzt operiert, was beinhaltete, dass man schnell alles überflüssige verlor; von den Mandeln bis zu den Gallensteinen.

Die meisten entwickelten in dieser Hölle einen eisernen Magen und das Gemüt eines Fleischerhundes. Selbst das Gefängnispersonal und ihre Familien hatten nichts nennenswert besseres zu essen, mit dem Unterschied, dass sie selbst kochten oder es ihren Ehefrauen überließen. Der Koch hier war ein erbärmlicher Stümper. Gerüchte besagten er sei von Apotheker bis Leichenbestatter alles gewesen, hatte aber nie etwas mit Lebensmitteln zu tun gehabt, bevor er hier her kam. Jeden Morgen, jeden Mittag und jeden Abend schwor sich Luca, wenn er hier heraus kommen sollte, kochen zu lernen. Manchmal empfand er es als seelische Grausamkeit, dass die Gefängnisbibliothek auch Kochbücher besaß. Es gab den einen oder anderen, der sich eine solche Lektüre gönnte. Der Koch und seine Helfer gehörten nicht dazu. Aber Luca, der schon immer erhebliches Untergewicht hatte, nahm hier noch weiter ab. Aus seinen siebzig Kilo wurden innerhalb kurzer Zeit fünfundsechzig. Er brauchte wirklich wenig und selten Nahrung, aber die eine oder andere Woche musste selbst er etwas zu sich nehmen außer schwarzem Kaffee. Es fiel ihm schwer, besonders weil seine feine Nase alles wahrnahm und seine Augen gut genug waren, zu sehen, wenn sich abgekochte Larven im Essen befanden.

Aber manchmal war er einfach zu müde, um sich darüber Gedanken zu machen.

 

Seine Arbeit nahm ihm den einen oder anderen Tag fast den Verstand. Im ersten Monat hatte Farlan ihn in der Schreinerei eingesetzt, was für einen Mann mit Lucas Körperkräften und seinen feinen, geschickten Händen kein besonderes Problem war. Schnitzen konnte er seit seiner Kindheit und Baumaterialien zu schneiden, zu schleifen oder aus zu stemmen, war nichts, was einen nennenswerten künstlerischen Anspruch besaß. Dummer Weise kam der Tag, an dem Shelbys Handlanger nicht seine Finger von ihm lassen konnte... und Shelbys Narren arbeiteten fast alle in der Schreinerei. Wäre Farlan nicht gewesen, der sich auf die Seite Lucas geschlagen hatte... Luca gefiel der Gedanke an Einzelhaft nicht so recht. Und es gab noch wesentlich widerwärtigere Männer als Farlan. Das eine oder andere Mal überlegte er sich, Direktor Albright sprechen zu können. Doch zumeist siegte sein Selbsterhaltungstrieb über solche Gedanken, die ihm nur flüchtig kamen. Nun arbeitete er in einer Straßenbautruppe. Es war so geistlos. Luca musste selten einen Gedanken darüber verschwenden was er tat. Da gab es nichts, was er falsch machen konnte. Im Gegenteil. Einer der Gründe, weshalb er sich einen guten Teil des Tages mit nichts anderem beschäftigte, sein Wissen nicht einschlafen zu lassen, sondern es sich so gut es ging, ins Gedächtnis zurückrief. Unter den Gefangenen suchte er nicht nach Gesellschaft. Im Gegenteil hielt er sich absichtlich allein auf. Da er keine Sucht hatte, der er folgte, weder Drogen, noch Zigaretten oder Alkohol, und seine Interessen nicht nach einschlägigen Magazinen mit leicht bekleideten Mädchen ob gezeichnet oder fotografiert, gingen, hatte er lediglich noch mit dem Bibliothekar Kontakt, der nicht so recht glauben konnte, wie schnell es Luca möglich war, Krieg und Frieden zu lesen, und noch in der selben Woche drei andere klassische Wälzer durchzubekommen. Dieser brachte ihm auch das eine oder andere Mal die Tageszeitung. Obwohl er mit Wayne O’Reily nicht besonders gut zurecht kam, musste er diesem doch einen exzellenten Verstand zugestehen.

Politmagazine, klassische Literatur, alles verschlang er, solange es gedruckte Buchstaben besaß. Es war die einfachste Methode, sich abends aus dem Weg zu gehen. Leider kannte Luca schon fast jedes Buch in der Bibliothek und bedauerte nichts interessantes und neues zu finden. So begann er wieder zu zeichnen. Noch obsessiver, noch leidenschaftlicher.

Luca dachte wieder an seinen seltsamen Traum. Wenn er mit O’Reily mehr als zwanzig Worte gewechselt hatte, sollte das viel sein. Zumeist schwiegen sie.

In diesem Traum behandelte er den Iren anders...

Luca ließ den Block sinken und schloss die Augen. Seine Schläfen pochten.

O’Reily rollte sich wieder über Luca herum und hörte auf, leise zu schnarchen. Das geschah fast in der selben Sekunde, in der eine Zellentüre geöffnet wurde, irgendwo am Ende des Steges. Der Junge, der vor einer Woche hier ankam, dachte Luca verwirrt. Sekunden später kamen zwei andere Wachen und gingen an Lucas Zelle vorüber. Ein erstickter Schrei kam aus der benachbart liegenden Zelle, als presse jemand eine Hand auf den Mund des jungen Mannes. Die zwei anderen Wächter blieben ebenfalls dort stehen. Lautlos glitt Luca aus seinen Decken und bewegte sich mit nackten Füßen über den kalten Boden. Die Geräusche kannte Luca zu gut, die aus der einzelnen Zelle drangen. Der Junge war vielleicht achtundzwanzig, eher ein bisschen jünger und machte nicht den Eindruck, sich gegen drei dieser Bullen wehren zu können. Obgleich er ungleich breiter und muskulöser als Luca erschien, war der Junge doch fast einen Kopf kleiner und immer noch mädchenhaft schlank... Die Geräusche, das Stöhnen, das hämmernde Quietschen der defekten Bettfedern, Schläge auf nackte Haut, Stoff der zeriss... Lucas Hände krampften sich um die Gitterstäbe seiner Türe, als wolle er sie mit nackten Händen zerstören. Das Gesicht des Jungen wurde in die Kissen gedrückt, bis dieser nicht mehr schrie, sondern nur noch vor Schmerzen keuchte. „Hört auf,“ wisperte Luca, dessen Augen sich mit Tränen füllten. Bevor er noch ein weiteres Wort von sich geben konnte, spürte er eine große Hand, die sich unsanft auf seinen Mund presste. Einen Herzschlag später riss ihn Wayne von den Gittern weg und drückte Luca mit dem Gesicht voran gegen die Wand, an der das Etagenbett beider stand. Mit der Gewalt, mit der Wayne Luca mit dem weichen Mörtel konfrontierte, hätte sicher jedem anderen das Nasenbein gebrochen. „Hör’ mir gut zu, kleiner Junge, wenn dir nicht dasselbe passieren soll, stell dich hier stumm und taub!“ wisperte Waynes Stimme so nah an seinem Ohr, dass ihn die dünnen Lippen des Iren streiften und der heiße Atem seine Wangen streifte.

Luca schoss eine Idee durch den Kopf, wie er dem Jungen vielleicht doch noch helfen konnte. Er stemmte die Hände gegen die Mauer. Mit einer schnellen, viel zu kraftvollen Bewegung, die Wayne nicht erwartete, stieß sich Luca von der Wand ab. Der Ire stolperte rückwärts und ließ seinen Zellengenossen los. Im Bruchteil einer Sekunde wirbelte Luca herum und sah, dass sich Wayne geschickt wie eine Katze fing, bevor er an der gegenüberliegenden Wand das Regal mit Lucas Büchern und Zeichenwerkzeugen herunter stieß. „Was hast du vor?!“ zischte er und sprang ihn wieder an. Um Luca von einem weiteren Überraschungsangriff abzuhalten, versuchte er die Handgelenke des viel zu schmalen, fast nackten Mannes zu greifen. Wieder hatte er nicht mit der Schnelligkeit des jungen Mannes verrechnet, der unter den zupackenden Händen Waynes durchtauchte und hinter ihm auf die Füße federte. Schnaubend rappelte sich Wayne auf und sah aus entsetzten Augen, wie Luca zu ihm herablächelte und dann mit unglaublicher Gewalt und voller Absicht das Regalbrett von der Wand schlug. Wayne zog unwillkürlich den Kopf zwischen die Schultern. Wayne fuhr herum und sah Luca aus entsetzten Augen an, als das Holz und die Bücher auf dem kalten Estrich polterten. Luca packte Waynes Oberarme und drückte ihn rückwärts zum Bett zurück. „Verschwinde ins Bett. Ich nehme es auf mich,“ flüsterte Luca. „Bitte, ich will nur dem Jungen helfen!“

Zugleich wurden Flüche unter den Wächtern laut. Einer brüllte was da los sei, ein anderer zog sich unsanft die Hosen hoch und schloss sie, während der dritte mit schnellen und schweren Schritten über den Steg stampfte, wobei sein Schlagstock an den Gittertüren und Wänden vorbei klapperte. Nun erwachten viele andere Gefangene... Aber niemand wagte ein Wort zu sagen. „Mann, jetzt kann dir niemand mehr helfen,“ flüsterte Wayne, blieb aber reglos stehen, statt sich auf sein Bett zu schwingen. Luca sah in den hellen Augen des Iren die Entschlossenheit, sich keinen Schritt zu bewegen. „Eins verspreche ich dir, Luca, wenn ich wieder aus dem Loch komme, bist du dran!“

Luca lächelte, zum ersten Mal wirklich und stieß den Tisch und beide Stühle um.

 

Luca konnte sich nicht mehr zwischen den zwei bulligen Typen bewegen, die ihn schnell und brutal überwältigt hatten und ihn auf dem Boden hielten. Er konnte kaum den Kopf heben... Aber der Mann, der unter der Türe erschien und gerade seine Hose schloss, ja, ihn erkannte er.

Wayne hinter ihm senkte den Blick. „Mr. Farlan, Sir,“ presste er hervor und versuchte allein mit seinen gewaltigen Körperkräfte den Metallrahmen des Bettes zu zerquetschen. Vielleicht waren es auch nur die Fünf Mann, die ihn hielten, aber nicht zu Boden zwingen konnten. „Lassen sie Luca. Ich hatte einen Alptraum und er...“

Farlan schien erst jetzt O’Reily und Luca zu erkennen. Tatsächlich machte er einen Schritt zurück und klammerte sich unsicher am Rahmen der Zellentüre fest. „Heute vergessen wir den Zwischenfall.“ Farlans trockener Hals verhinderte das er einen zusammenhängenden Satz herausbekam. „Lasst sie beide los.“ Seine Männer sahen ihn fassungslos an. Jede Sekunde, die sie zögerten, versetzte ihn ein bisschen mehr in Wut, die aus seiner Scham vor dem Wissen, dass Luca ihn bei etwas gesehen hatte, dass er ihm nie zumuten wollte. „Lasst sie los!!“ Brutal griff er nach einem von den beiden Wachen, die Luca hielten und riss ihn von seinem jungen Freund herab. „Raus!! Sofort alle raus!“

 

„135 zu!“ Die Türe schloss sich rasselnd. „142 zu!“ Auch die Türe des armen Jungen schloss sich. Farlan neigte sich vor und kniete nieder, bis Luca seinen heißen, schnellen Atem spüren konnte, den Geruch nach Erregung und Alkohol. Langsam und schwerfällig richtete sich Luca auf, bis er sich auf selber Höhe mit Farlan befand und wischte sich das Blut aus dem Mundwinkel. „Hör’ mir gut zu, Junge.“

Luca würdigte ihn keines Blickes, sondern sah verbissen zu Boden. Der Aufseher schlug zornig gegen die Gittertüre. „Sieh mich an du kleine Ratte!“

Es kostete Luca Überwindung, den Kopf zu heben, denn er empfand nur Abscheu. „Gut so. Ich habe dir einen Gefallen getan. Aber glaub mir, mein Schöner, du gehörtst jetzt mir. Und dein nächster Fehler bringt dich in Einzelhaft. Dann...“ Wayne löste sich plötzlich aus seiner Starre und schnellte vor, so dass Farlan erschrocken zurück prallte und mit dem Rücken gegen die Brüstung stieß. Der muskulöse Riese stellte sich zwischen Luca und Farlan. Der Oberaufseher keuchte entsetzt und griff hysterisch nach seinem Schlagstock, donnerte dann noch einmal den Knüppel gegen die Gitter. Wayne zuckte mit keiner Wimper. Er drehte sich ab, drehte Farlan den Rücken zu. „Du wirst ihn nie beschützen können, Farlan.“

Der Aufseher zischte wütend. Schließlich fuhr er herum und rannte fast davon.

Wayne entspannte sich. „Bevor du mir dankst,“ sagte er, „glaube nicht...“ Er unterbrach sich mitten im Satz. Sein Zellengefährte saß vor ihm, den Blick zu Boden gerichtet. Eine Hand bedeckte die Lippen, die andere hatte er zur Faust geballt zwischen seinen Knien auf dem Boden liegen. „Ist dir bei dem Eintritt in diesen Club entgangen, dass wir die Bösen sind?“ Luca sah ihn nicht an. „Das Volk der Vereinigten Staaten hat in den Prozessen gegen uns entschieden, dass wir eine Gefahr sind und uns als Untermenschen eingestuft, begreife das endlich, Luca.“ Wayne setzte sich nun auch auf den Boden, insofern noch gerade genug Platz für ihn existierte. Eine lange Zeit beobachtete er Luca, musterte ihn, versuchte durch seine steinerne Miene zu dringen und den Blick der kalten, verachtenden, grünen Augen zu verstehen. „Du bist kein Mörder,“ sagte er schließlich. „Für wen sitzt du? Ist es das wert?“

Sekunden verstrichen, in denen die gedämpften, leisen Worte O’Reilys nur in der Luft hingen, und statt zu verwehen, immer mehr Stofflichkeit bekamen. Urplötzlich löste sich der Bann über Luca und Leben floss in ihn zurück, Wärme, wie Wayne glaubte. Fast gequält stöhnte Luca auf. „Nein,“ flüsterte er. „Es ist anders.“ Ganz gegen sein sonstiges Verhalten, streckte O’Reily seine Hand nach Lucas Schulter aus. „Warum sprichst du nicht darüber?“

„Was soll ich sagen?“ fragte Luca leise. „Wollt ihr alle hören, dass ich unschuldig bin? Ich bin es nicht. Ich habe getötet...“

„Wie wäre es mit der Wahrheit?“ O’Reilys Augen blitzten dabei ärgerlich.

„Was würde das ändern?“

„Räuber, Mörder, Totschlag, Raubmord, Hehlerei, Schwarzbrenner, Kinderschänder... du befindest dich in guter Gesellschaft.“ Wayne zog die dünnen, roten Brauen zusammen. „Silverstone sitzt seit mehr als dreißig Jahren, weil er seine Frau umgebracht hat und noch dazu ihren Liebhaber. Shelby ist für über fünfhundert Morde verantwortlich, die, die er selbst beging, nicht mitgerechnet. Washington Cobe, der Schwarze, hat eine Weiße vergewaltigt. Charles, dem du den Daumen gebrochen hast, ist zu bescheuert von hier zur Türe zu denken, aber sich eine Knarre zu schnappen seine Frau und die Bar in der sie anschaffen ging mit über zwanzig Menschen darin niederzumetzeln, das kann er. Da drüben, im anderen Block, sitzt ein alter Mann, Leonard Westlake. Er ist so alt wie ein Stein. Er sitzt seit dem letzten Jahrhundert.“

„Ich habe getötet. Aber er hatte den Tot verdient. Er hat kleine Kinder missbraucht und verstümmelt, noch während sie lebten...,“ sagte Luca leise. „Eigentlich bin ich nur ein Fälscher und Kunstdieb. Aber eines der Kinder war mein Kind. Ich habe dieses Monster gejagt. Ich habe ihn langsam getötet. Grausam.“ Er lachte leise, kalt. „Ich hatte Glück. Mein kleines Mädchen hat es überlebt was er ihr antat. Aber sie spricht seither nicht mehr und erträgt meine Nähe nicht.“ Tränen liefen ihm über die Wangen. „Sie ist jetzt fünf Jahre alt. Und ich habe sie verloren. Nun ist sie wieder in einem Weisenhaus, dort, wo ich sie einst herausgeholt habe. Verstehst du mich jetzt?“

O’Reily hob die Brauen. „Ja.“

Luca wischte sich die Tränen aus den Augen und richtete sich auf. „Ist sowieso nicht wichtig.“

Der Ire stand ebenfalls auf und gähnte ausgiebig. „Du hältst doch den Kopf für einen anderen hin.“

Luca drehte das Wasser auf und wusch sich das Gesicht und damit die Erinnerung an Farlan ab. „Mag sein,“ antwortete Luca. „Aber der hat seine Strafe erhalten.“

„Könnt ihr mal das Maul halten?!“ brüllte jemand mehrere Zellen weiter vorne. Tozzi konnte es nicht sein, der schnarchte direkt nebenan. Silverstone schwieg, war aber sicher wach, genau wie Cobe. Der Junge weinte leise. Luca konnte ihn genau hören. Luca langte nach einem Handtuch und trocknete sein Gesicht ab. Dann stellte er den Tisch und die beiden Stühle wieder auf und sammelte schweigend die Bücher und die Glasscherben mit den Pinseln wieder auf. Ernst und sehr nachdenklich trat er an die Gittertüre und lehnte sich gegen das kalte Metall. „Wie geht es dir?“ fragte er leise. Er war sich nicht sicher, ob ihn der Junge überhaupt hören konnte, oder wollte. Um so verblüffter war er, als der Junge antwortete. „Wie geht es dir wohl, wenn du in den Arsch und in den Mund gefickt wurdest?“

Luca antwortete darauf nicht sondern senkte nur wieder den Kopf. Er begann sich zu fragen, was er wirklich hier tat und ob es nicht sinnlos war, sich um mehr als seine eigenen Probleme zu kümmern. „Hey,“ rief plötzlich der Junge. „Danke. Wenn du mir nicht geholfen hättest, wäre ich vermutlich tot.“

„Nein, Kleiner,“ mischte sich Silverstone ein. „Dann wäre für Farlan der Spaß raus. Der braucht eine kleine Schlampe, die er ficken und vermöbeln kann, weil er bei seiner Frau nichts mehr hohlen kann.“

„Wird ihn Farlan in Ruhe lassen?“ fragte Luca leise.

„Ihn vielleicht,“ entgegnete Silverstone. Seine raue Stimme klang drohend.

Ein humorloses Lächeln glitt über Lucas Gesicht. „Das ist dann ganz allein mein Problem,“ sagte er kalt.

„Du machst dir reichlich Feinde,“ warnte ihn Miles Silverstone ernst. „Shelby ist auch hinter deinem hübschen Hintern her. Pass auf, dass er dich nicht schließlich doch noch fickt. Und Farlan hat dich bislang deshalb geschont...“

„Ich will meine Zukunft abwarten, wenn es hier niemand stört.“ Luca verschränkte die Arme vor der Brust und verzog die Lippen. Er wusste, dass er einfach nur trotzig und kindisch aussehen musste.

„Könnt ihr endlich mal still sein?!“ rief jemand. „Es gibt auch ein paar Leute, die einfach nur schlafen wollen!!“

„Halt’s Maul!!“ riefen Silverstone und Wayne fast gleichzeitig. Luca verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf.

„Luca Seraphine, das ist doch dein Name?“ fragte der Junge.

„Ja,“ murmelte Luca.

„Danke.“

Luca nickte stumm und setzte sich auf sein Bett, auf seine Weise entschädigt für jede Beleidigung und jeden Schlag. O’Reily setzte sich ihm gegenüber in einen Stuhl und verschränkte die Arme vor der Brust. „Was soll ich nur mit dir machen?“ fragte er nachdenklich. „Du wandelst auf einem verdammt dünnen Grat. Eigentlich soll ich für Shelby arbeiten und dich mürbe machen...“

Luca blinzelte und beobachtete sein Gegenüber. „Und weiter? Wie soll unsere Zwangsgemeinschaft weitergehen?“ Er hatte den Verdacht, dass diese Nacht etwas Ausschlaggebendes verändert hatte.

„Du trittst für Ideale ein und du hast ein gutes Herz. Du bist seltsam und manchmal sehr dumm und dann wieder sehr klug... es klingt dumm, aber du machst einen verletzlichen Eindruck auf mich. Ich kann auch einer Frau nichts tun und du erinnerst mich fast an... egal,“ unterbrach er sich. „Ich kann dir nichts tun und ich sehe keinen Grund, dich Shelby oder Farlan zu überlassen.“

„Und was verlangst du nun von mir?“ fragte Luca ohne Hintergedanken.

„Nichts.“

„Was hat dich hierher gebracht?“

„Meine Frau und mein Kind starben weil ich mich weigerte, Shelby vor Gericht zu verteidigen. Der, der sie hingerichtet hatte, wurde von der Polizei nie gefunden. Ich habe ihn gesucht und...“

Luca nickte nur, aber Wayne wollte ihm erzählen, was geschah.

„Mein Leben und meine Kariere als Anwalt waren zu Ende. Ich habe alles aufgegeben, um ihn zu finden. Ich habe lange Zeit nach ihm gesucht und ihn und seine Familie lang beobachtet. In meinem Schmerz, wollte ich nur eines, ihm das antun, was er mir angetan hatte.“ Wayne legte die Füße auf den wackligen Tisch und blinzelte. Er war müde, das konnte Luca sehen. Aber die Art der Müdigkeit war eine Erschöpfung, die nicht auf zu wenig schlaf zurück fiel. Ihm fehlte der wichtigste Teil in seinem Leben. „Ich sah keinen Schrecken in seinem Gesicht, als ich ihm sagte, er habe meine Frau und meine Tochter getötet. Er sagte mir nur, es habe ihm Spaß gemacht und er hätte meine Frau noch einmal so richtig glücklich gemacht, bevor er sie erschoss. Meine Tochter hat er aufgehängt nachdem er sie vergewaltigt hatte. Sie war dreizehn. Weißt du, was eine Ladung Schrot, auch wenn es nur Entenschrot ist, mit dem Gesicht eines Menschen macht? Ich leerte die Schachtel Schrot in aller Ruhe aus und schoss. Ich war bei vollem Bewusstsein.“

„Rache... und dennoch kann man damit nichts ungeschehen machen.“

„Damals war mir das egal,“ sagte Wayne leise.

„Was ist mit deiner Selbstachtung oder wenigstens deinem Selbsterhaltungstrieb?“

„Die verschwand, als ich die erste Nacht hier verbrachte. Alle nannten mich nur den Professor. Ich wurde zusammengeschlagen und anschließend vergewaltigt. Der damalige Direktor wusste es sogar und billigte, was seine Männer taten. Alle die hier saßen, waren Dreck. Niemand machte sich darüber Gedanken, ob derjenige sich wehren konnte, oder ob er seinen Verletzungen erlag. Damals verschwanden hier Hunderte Gefangener und tauchten nie wieder auf. Ich setze mich nach einiger Zeit zur Wehr. Farlan war damals noch ein kleiner Schließer, kein großes Licht und leicht zu beeindrucken. Eines Tages, vor fast zehn Jahren, kamen sie zu viert in meine Zelle. Farlans Chef hatte wohl wieder einen üblen Tag hinter sich und er brauchte jemand, den er so richtig ficken konnte. Farlan war der einzige, der mit dem Leben davon kam. Als endlich der Gefängnisarzt kam, war von den drei Männern nicht mehr genug übrig, um sie auf eine einzige Bahre zu packen. Ich bekam dreimal Lebenslänglich zu meiner Strafe und kam eine kleine Ewigkeit nicht mehr aus dem Loch. Direktor Albright befreite mich. Ich wandere zwar ab und zu noch nach unten, aber das verkrafte ich. Weißt du, ich werde nie wieder hier heraus kommen. Ich habe mich damit abgefunden. Also arrangiere ich mich so gut es geht.“

„Ich hatte den Eindruck, dass du anders bist, als alle hier. Ich hatte recht.“ Luca zog die Beine eng an den Leib und rieb sich frierend die nackten Oberarme.

Misstrauisch beobachtete O’Reily sein gegenüber. „Ich hoffe nur,“ flüsterte Luca. „Dass ich nicht genauso ende.“

 

- previous page-      -next page-

 

 

(c) Tanja Meurer, 2000/2002