Gypsy

 

Still saß sie im Schatten der großen Eiche, unbemerkt, unscheinbar, verhüllt von ihrem langen, dunklen Mantel. In ihren Armen hielt sie ihre Laute... behutsam, wie ein Kind, ein Neugeborenes...
Ihre klaren Augen blickten über den Marktplatz. Dies war nicht der typische Marktflecken einer Großstadt wie Valvermont... Aber es war eben auch nicht der Zentralmarkt, sondern eben nur der Obermarkt im Künstlerviertel. Hier boten zumeist Bauern ihre Waren an, manchmal fahrende Händler... und Wahrsager. Die Stände waren kleiner und viele verkauften ihre Sachen von ihren Karren aus. Alle Gebäude um diesen Markt waren klein und niedrig, flach, schmal, kaum breiter als drei Meter und die wenigsten besaßen mehr als eine Etage. Dennoch glaubte sie, daß sich hier vermutlich kaum weniger Personen aufhielten, als im Zentrum der Stadt. Ein wildes Gedränge herrschte hier, ein Chaos aus Stimmen. Marktschreier priesen ihre Waren an und aus vielen offenen Fenstern drang Gesang, Musik, Stimmen, die rezitierten. Hier fühlte sie sich sicherer, unerkannt und geschützt, nicht den Augen Anderer ausgesetzt. Sie ging einfach in der Menge der Verrückten und Künstler unter.
lächelnd zog sie die Laute enger an sich und senkte den Blick. Ihr nackter, schmaler Fuß war staubig von der Ockerfarbenen Erde der ungepflasterten Straßen. Mit einer Zehe zog sie einen Kreis in den Staub und betrachtete ihn nachdenklich. Hier war es so schön, im Schatten der Eiche... Hier ruhten nicht diese eisigen, stechenden Augen auf ihr...
Wie schon so oft zuvor war sie geflohen. Und wie immer, dessen war sie sich sehr sicher, würden die Mitglieder ihrer Sippe sie zurückholen. Aber allein nur einige Minuten, ein paar Stunden ohne Giraselle, gaben ihr ein Stück ihrer Freiheit und ihrer Träume wieder. Behutsam schob sie die Kapuze, die sie tief in ihre Stirn gezogen hatte, zurück und sah hinauf, in den hellen Sonnenhimmel.
Es war unheimlich, dachte sie... Giraselles helle, fast farblose Augen und diese unheimliche Stimme, die immer ihren Namen rief...
Fast glaubte sie noch, diese alte Frau kreischen zu hören...! Aber da war nichts. Nur der warme Sommerwind, der die Blätter des Baumes bewegte und die tausend Stimmen des Viertels.
Hier nahm niemand Notiz von ihr. Alle gingen ihrem Tagewerk nach.
Obwohl vielen hier die Langeweile ins Gesicht geschrieben stand, sehnte sie sich selbst danach... Diese Leute hier hatten ein Zuhause, einen Ort, der ihr Heim war, an den sie sich zurückziehen konnten.
wie, dachte sie einen Moment lang, würde es wohl sein, solch einen Ort zu haben... Nicht mehr umherreisen... aber war nicht auch das eine Form der Gefangenschaft?
Sie war eine Zigeunerin. Zigeuner fanden ihr Glück einzig in der immerwährenden Suche danach... So sagten immer die alten Frauen der Sippe, die, die das Leben vor Giraselle noch kannten...
Langsam, unsicher erhob sie sich, immer mit einer Hand nach dem Baumstamm tastend. Diese verfluchte Schwäche, die mit dem Gedanken an dieses Monsterhafte, alte Weib einher ging, nahm ihr den Mut, sich gegen ihren Clan zu stellen, Giraselle und ihre wahnsinnige, böse Sippe zu verlassen. Aber allein konnte sie nicht überleben. Ihre Musik, ihre Lieder konnten sie nicht versorgen, ihr kein Dach über dem Kopf gewähren...
Dieser Teufelskreis, aus dem es keinen Ausweg gab... Jedes Mal, wenn sie sich befreite, vor Giraselles Blicken floh, fand sie sich am Ende der alten Frau wieder gegenüber, ihrer unheimlichen Macht ausgeliefert, ihrem Haß, ihrer Magie und ihrer Boshaftigkeit.
Sie spürte, noch, bevor sie sich aufgerichtet hatte, daß ihre Beine wieder unter ihrem Körper nachzugeben drohten. Vermutlich würde sie gleich wieder auf der Wurzel hocken, zusammengekauert, nur um auf Giraselles Jäger zu warten, die sie aufspürten und zurück brachten.
Zitternd stand sie da, die Laute an sich gedrückt... Tränen rannen über ihre Wangen.
Warum floh sie überhaupt immer wieder, wenn ihr doch die Kraft fehlte, sich von ihrem Clan zu trennen?!
Oder war es wirklich nur ihre die Angst vor der Einsamkeit?
Vorsichtig sah sie sich um... Aber, niemand beachtete sie. Vielleicht einer der Vorteile, in einer solchen großen, überfüllten Stadt zu sein. Niemand beachtete ein Mädchen wie sie...
Ein großer, breiter Halboger schob sich an ihr vorbei und stieß sie fast um.
Mit einem leisen Schrei griff sie nach dem Baumstamm, strauchelte und spürte seine große Hand, die nach ihrem Arm griff und sie fest hielt. Scheu sah sie hoch in das große, breite, häßliche Gesicht des Mannes. Allein die Unterkieferhauer entsetzten sie, zumal diese fast so lang waren, wie ihre Hand, aber sanfte, bernsteinfarbene Augen sahen sie lächelnd, freundlich über den Rand seines Binockels an.
"Habe ich dir weh getan, Mädchen?" fragte er. Seine Stimme dröhnte in ihren empfindlichen Ohren. Sie schüttelte ganz automatisch den Kopf und sah sich um... Ganz am Rande des Wahrnehmbaren bemerkte sie ein bekanntes, kaltes Schauern...
Giraselles Männer hatten sie entdeckt!
Nun sah sie auch bunt gekleidete Männer, mit langen, dunklen, gelockten Haaren und dunkler, sonnenverbrannter Haut, die sich durch die Massen auf sie zu arbeiteten.
Plötzlich erfüllte panisches Entsetzen ihr Herz, eisige Angst, bei dem Gedanken, wieder vor der alten Frau zu stehen!
Giraselle würde sie nicht bestrafen, aber allein das Wissen, wieder in der Nähe dieser Frau zu sein, verlieh Anthea Flügel!
Mit einem leisen Aufschrei riß sie sich aus dem Griff des Ogers los und schob sich tiefer in das Gedränge hinein.
Sie bemerkte, wie wenig sie die Richtung, die sie nahm wirklich beeinflussen konnte. Aber im Moment war sie dort, zwischen den ganzen Leuten sicherer als, an jedem anderen Ort. Die drängende, ignorante, anonyme Menge gab ihr ein verräterisches Gefühl von Schutz... Fast hätte sie sich von der langsamen Bewegung der Masse mit tragen lassen...
Unsanft wurde sie von Wagen zu Wagen und von Stand zu stand gedrückt...
Nein, sie mußte von hier fort! Schnell, bevor sie einem ihrer Häscher in die Hände fiel!
Aber immer wenn sie aus der Masse heraus wollte, unter einem der Karren hindurch, stand ihr eine Traube Menschen im Weg... so auch an den Ständen. Verzweifelt machte sie sich kleiner und versuchte mit der Masse zu verschmelzen. Sie war zwar sehr zierlich und klein, aber immer noch eine Zigeunerin, mit auffallendem Schmuck, der bei ihren Schritten klirrte... Sie verfluchte die kleinen Schellen an ihren Fußgelenken und die klirrenden Armbänder, die schwere Brustkette und die Münzenketten, die sie um ihre Taille gewunden trug. Sie spürte diese Kälte wieder, die ständig unter ihrer kochenden Panik vorhanden war... Die Kälte, die sie immer vor Giraselles Jägern gewarnt hatte, seit die Alte den Clan übernommen hatte. Diesmal ganz nah... Vor ihr teilte sich die Menge um einen dunkelhäutigen Mann, einen großen, breiten Zigeuner. Er stand wie ein Fels in der Masse, die um ihn herum strömte. Wartend, ruhig, wie ein Toter, der alle Zeit der Welt hatte!
Aber er war nicht tot! Sicher nicht! In seinen großen, stechenden, nachtfarbenen Augen stand feuriger Haß! Und auf seiner hohen, schwarz umlockten Stirn glitzerten Schweißperlen in der Mittagssonne. Er stank ungepflegt, als habe er sich schon ewig nicht mehr gewaschen, nach Schweiß und Knoblauch und billigem Wein. Und er sah so unglaublich erschreckend und brutal aus!!! Ein Berg aus Muskeln und buntem, zerschlissenem Tuch. In seinen Ohrläppchen schimmerte ein gutes Dutzend goldener Ringe und in seinem viel zu dichten und langen Oberlippenbart glitzerten Wasserperlen.
Was für ein Ungeheuer, dachte Anthea eine Sekunde lang, bevor sie sich weg drehte und unter seiner zugreifenden Faust nach links fort tauchte... Prompt prallte sie gegen eine dicke Frau in billigen, zerschlissenen Theater- Gewändern, die sie vermutlich noch aus besseren Tagen hatte. Diese schubste sie zur Seite, ohne es wahrzunehmen und steuerte an dem Zigeuner vorbei, der vor ihr kurz zurückprallte, bevor er sich durch den nachfolgenden Strom prügelte. Einige Marktfrauen taumelten, von ihm zur Seite gedrückt, als sie um ihren Wagen herum gelaufen kamen, um ihn vor dem Umkippen zu schützen und eine von ihnen stieß Anthea an. Sie brachte das Mädchen zu Fall, begrub sie fast unter sich...
Den Aufprall auf die ungepflasterte Straße bemerkte Anthea nicht, aber die Frau war schwer und als sie sich an dem Rad ihres Wagens hochstemmte, bemerkte Anthea daß sich über ihr die Menge zu schließen begann...!
Eine schmale, dunkle Hand griff nach ihr... In wilder Panik versuchte sie davor zurückzuweichen, bemerkte aber daß um sie zu viele Personen waren. Dann neigte sich ein dürrer Zigeuner zu ihr hinab. Er war ein wenig älter als der bärtige, und seine Augen leuchteten freundlicher, fröhlicher... aber zugleich verbarg sich dahinter auch etwas Böses, Gefährliches, Lauerndes.
Bevor Anthea wirklich begriff, was sie tat, hatte sie bereits ihren Dolch aus der Scheide unter ihrem Mantel gezogen. Hastig stach sie nach der Hand und verfehlte ihn das erste mal, traf aber eine Mann, der in einem kleinen, raschen Bogen um sie und ihren "Freund" vorüberging. Er nahm einen dünnen Schnitt durch seine bunten Hosen hin, ohne etwas zu sagen... Hauptsache er kam aus der Reichweite dieser dunkelhäutigen Irren!

 

Der dürre Zigeuner schrie leise auf... alle Freundlichkeit war aus seinen Augen gewichen.
"Kleines Miststück!" Er schlug ihr die Faust gegen die Brust, so daß ihr die Luft aus den Lungen getrieben wurde. Einige schreckliche Herzschläge lang rang sie um Atem, aber es gelang ihr nicht. Sie spürte ihren Widerstand erschlaffen, wie ihre Muskeln.
Dann, plötzlich füllten sich ihre Lungen wieder mit Luft und sie krampfte die rechte Hand fest um den Griff ihres Dolches. Mit einem verzweifelten Keuchen stieß sie ihm den Doch in den Handrücken... so heftig, daß die Klinge bis zum Heft durch Muskeln und Knochen drang.
Sein Gesicht verzerrte sich vor Schmerz und Überraschung und eiskalte Wut trat in seine Augen, als sie den Dolch wieder aus seinem Handrücken zurück riß. Wortlos trat er nach ihr. Anthea warf sich zur Seite und brachte einige Marktbesucher aus dem Gleichgewicht... Nun, dachte sie bitter, würden alle Zigeuner wissen, wo sie sich befand. Und da sie einen der Liebingssöhne der alte Giraselle verletzt hatte, hieß es nun nur noch kämpfen und versuchen, am Leben zu bleiben. Ein Zurück gab es nun nicht mehr.
Ihre Deckung vernachlässigend sprang sie auf die Füße und stürzte sich in den nächsten Pulk an Leuten, die langsam realisierten, welches Schauspiel ihnen hier geboten wurde. Die Menge kam in unruhige Bewegung, als sich nun alle ihre Häscher von ihrem Posten lösten und sich auf sie zu bewegten. Anthea hatte Angst, wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Sie war zu weit gegangen in ihrer Panik. Sie hatte jemand von ihrer Sippe verwundet! Der Dünne stürzte ihr nach, seine blutende Hand fest an sich gedrückt. Über seine Lippen kam kein Laut, aber diese Kälte, die er ausstrahlte war so unfaßlich... Anthea spürte, wie ihre Finger taub wurden. Verzweifelt drückte sie die Laute an sich und umklammerte den Dolch fester. Sie kam kaum voran, hatte sie das Gefühl, obgleich die Massen sich vor ihr teilten. Aber es schien, als habe sie all ihre Leichtfüßigkeit verloren!
Dann tauchten bunte Tücher und Hosen vor ihr aus dem Getümmel auf, die dunkelhäutigen Männer, die sie jagten...
Stumm, verbissen änderte sie wieder die Richtung und prallte mit einem Stadtwächter zusammen, der plötzlich vor ihr stand. Der Kleine Mann bestand nur aus Kettenpanzer und Muskeln, dachte sie in der ersten Sekunde... und aus einem beeindruckenden Kriegshammer und einer Axt... Dann erst registrierte sie, daß der Mann ein Zwerg war... ein verdammt großer Zwerg!
Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. Entsetzt zuckte sie zusammen und sah einen Orc, ebenfalls in der Panzerung der Stadtwache, der sie mit sanfter Gewalt aus dem Weg schob und sich vor sie stellte, so daß die Zigeuner erst durch ihn hindurch mußten, wenn sie an Anthea herankommen wollten.
Anthea konnte den Schnauzbart hörten, der sich mit seinen Brüdern schnell der Stadtwache näherte... Sie dachte kurz daran, wie wenig Gnade diese Männer kannten, und ob sie es wagen würden, die beiden Wachen zu töten, nur um an sie heranzukommen... Aber das konnten sie nicht! Giraselle würde ein solches Verhalten nicht billigen! Aber sie würden trotzdem versuchen, an sie heranzukommen!
"Verschwindet!" rief der Orc und legte seine Hellebarde mit der Spitze gegen die Brust des bärtigen Zigeuners.
Sie konnte das Gesicht des Bärtigen nicht sehen, aber sie spürte eine Welle von Haß und eisiger Kälte. Vermutlich brannten seine Augen vor Wut... aber er würde lächeln.
"Aber edler Herr, wir suchen nur unsere kleine Schwester."
"Suchen nennt ihr das?" knurrte der Zwerg mißtrauisch. "Ihr sucht also immer im Duzend nach einem Mädchen... und das auch noch bewaffnet..."
Sie hörte wieder den Orc, der leise lachte. "Das ist aber ganz und gar nicht mit den Regeln der Stadt vereinbar... an Markttagen ist es Fremden, die gerade erst in die Stadt gekommen sind, verboten Waffen zu tragen. Zumal, wenn es Zigeuner sind, wie ihr."
"Verzeiht uns unsere Unwissenheit in diesem Punkt, edle Herren," sagte der dünne, Ältere. "Aber man klärte uns über diesen Punkt nicht auf, als wir heute, in der Frühe hier eintrafen."
Anthea hörte, wie irgendeiner der Zigeuner sein Schwert zog. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte sie, daß es zu einem Kampf kommen würde... dann sah sie durch die gespreizten Beine ihrer Retter hindurch, daß das Schwert zu Boden fiel.
Dieser Waffe folgten viele mehr...
"Ihr könnt euch bei eurer Abreise eure Waffen am Südtor abholen," sagte der Zwerg. "Und nun verschwindet!"
Die Zigeuner zogen sich tatsächlich zurück. Nach einigen Sekunden trat der Zwerg vor, steckte seine eigenen Waffen weg und sammelte die der Zigeuner auf.
Nun hatte Anthea freien Blick auf den Platz.
Obgleich die Schaulustigen sich immer noch dicht drängten, hatten sie Platz gemacht, um nicht, käme es wirklich zum Kampf, verletzt zu werden.
Ganz in ihrer Nähe, fiel Anthea eine schlanke unfaßlich große Gestalt auf, die einen langen, grauen Samtmantel in dieser Hitze trug. Ein langer, geflochtener Zopf schwarzen, dichten Haares kam aus der Kapuze und lag über der rechten Schulter... und ein kleiner Drache saß auf der linken Schulter... ein Drache mit schimmernden Rot- goldenen Schuppen und fast transparenten Flügeln. Warum erregte dieses Mädchen so ihre Aufmerksamkeit?
Aber da war diese Wärme, die ihr die Angst nahm... und der Grund für diese Sicherheit und Wärme war das junge Mädchen.
War es ein verirrter Sonnenstrahl? Licht brach sich auf Metall!
Im gleichen Moment schrie der kleine Drache gellend.
Anthea zog ihren Dolch. Mit plötzlicher Leichtigkeit setzte sie über den Zwerg vor ihr hinweg und schleuderte ihren Dolch.
Im gleichen Moment verwandelte sich der Marktplatz in einen Hexenkessel aus blitzendem Metall und Schreien.
Die Zigeunergruppe fiel über die Marktbesucher her... aber Antheas Dolch traf sein Ziel. Der Bärtige griff nach seinem Hals und versuchte den Strom heißen Blutes aufzuhalten, der aus ihm hinaus strömte.
"Verdammt!!!!" zischte der Orc und wechselte schnell seine Waffe.
Der Zwerg ließ die Schwerter fallen und griff nach seiner Axt. "Dieses Pack!!!"
Im gleichen Moment trat die junge Frau mit dem Pseudo- Drachen auf der Schulter vor und malte einige Symbole in die Luft, während sie ein einziges Wort rief. Vier leuchtende Energie- Geschosse verließen ihre Hände und schlugen in die Zigeuner ein.
Der Zwerg hatte bereits seine schwere Axt über den Kopf geschwungen und sprintete über die Verwundeten und Niedergeschlagenen, während der Orc sein Armbrust spannte und den ersten Bolzen auflegte... Von den Zigeunern standen nun nicht mehr als nur noch zehn, aber sie hörten nicht auf, die Männer und Frauen abzuschlachten.
Bevor der Zwerg seinen ersten Schlag anbringen konnte, stach einer der Zigeuner seinen Dolch in die Schulter des Zwerges. Einen Herzschlag später fiel der dunkelhäutige Zigeuner nach hinten um, einen Bolzen in seiner linken Augenhöhle. Fluchend schwang der Zwerg seine Axt und hieb sie dem nächst stehenden Zigeuner in den Leib und zerteilte den Mann bis zur Wirbelsäule.
Die Magierin wiederholte ihren Zauber und traf vier weitere Zigeuner. Fassungslos betrachtete Anthea das Gemetzel.
Aber, was war mit diesen Männern los?! Kein Zigeuner war wahnsinnig genug, sich eine ganze Stadt zum Feind zu machen! Sie scheinen ihr plötzlich noch kälter... Seelenlos. Fast wie mancher Untote, dem sie bis heute begegnet war... Das gellende kreischen des kleinen Pseudo- Drachens ließ sie entsetzt aufsehen... sie hatte das Kampfgeschehen nur für einen Moment außer Acht gelassen...
Das Gewicht der Magierin riß sie zu Boden, gerade noch rechtzeitig, bevor ein Wurfdolch sie traf. Dennoch trieb es Anthea die Luft aus den Lungen und sie schlug hart mit ihrem Hinterkopf auf den staubigen Boden. Für Sekunden Konnte sie weder sehen noch atmen... und doch starrte sie mit weit aufgerissenen Augen in den Himmel... Dann klärte sich ihre Sicht. Die Magierin erhob sich unsicher. Über ihr, weit oben, im blauen Himmel flogen zwei kleinen Schatten... Beide hatten eine vage Drachen- Form.
"Tambren! Goldy! Paßt auf sie auf!"
Ein zweistimmiger Schrei antwortete der Magierin, während sie ihren Mantel zur Seite schlug und nach ihrem Schwert griff.
Wortlos sprang sie nach vorne und stieß ihr Schwert in die Brust des ersten Zigeuners, dessen sie habhaft werden konnte.
Anthea erhob sich und klopfte ihre Kleider aus, während sie den wütenden, schnellen Hieben der Magierin folgte. Diese Frau kämpfte nicht annähernd so professionell und stark wie der zwergische Wächter, oder der große, hagere Orc, aber sie war geschickt und schnell, was ihre Fehler wett machte.
Rechts und links auf Antheas Schultern ließen sich zwei Pseudo- Drachen nieder und falteten ihre Flügel an den Leib. Der Rot- goldene neigte seinen langen Hals hinab und wendete den Kopf zu dem anderen, blau geschuppten. Er fiepte leise. Der andere neigte ebenfalls den schlanken, endlos langen Hals und wand, um besseren Halt zu bekommen, seinen Schwanz um Antheas Nacken. Er schnatterte leise und klapperte mit seinen winzigen, nadelspitzen Zähnen. Ein weiterer Bolzen verließ die Armbrust. Aber im selben Maße, in dem die Zigeuner fielen, starben auch die panischen Besucher...

 

Plötzlich beendete ein Pfeilhagel das Gemetzel.
Anthea war nicht aufgefallen, daß die Stadtwachen Verstärkung bekommen hatten. Vier Bogner standen auf verschiedenen Hausdächern und spickten die überlebenden Zigeuner. Schreiend duckte sich Anthea und kauerte sich zusammen, aus Angst, selbst getroffen zu werden... Letzten Endes war auch sie eine Zigeunerin.
"Hey, keine Angst."
Anthea blickte auf und sah die Silhouette der Magierin vor sich aufragen. Sie hatte ihr Schwert in die Scheide geschoben und den Mantel vor ihrem Körper geschlossen.
"Komm mit mir. Hier bist du nicht sicher."
Sie schob ihre rechte Hand unter dem Mantel hervor und streckte sie Anthea entgegen.
Das Mädchen glaubte, unter der Kapuze, in den Schatten ein freundliches Lächeln zu sehen und das Leuchten freundlicher, klarer, großer Augen.
"Wo bringst Du mich hin?"
"An einen dunklen, bösen Ort, aber dort wirst du in Sicherheit sein."
Anthea sah sie fragend an. Vielleicht sollte sie ihr mißtrauen, aber sie empfand nur immer noch diese tiefe Wärme. Unsicher ergriff Anthea die Hand der Magierin.
"Warum mußten so viele Unschuldige sterben?"
Die Junge Frau sah zurück und nickte matt unter ihrer Kapuze. "Du hast recht. Auch wenn ich es bereue."
Anthea sah sie überrascht an, bekam aber nur die Rückseite der Magierin zu sehen. Sie hatte auch die Hand des Zigeunermädchens losgelassen.
Konnte diese Frau Toten Leben zurückgeben?
Voller Faszination beobachtete sie, wie die Magierin zwischen den Wachen und den Verwundeten und Toten entlang schritt und sich genau umsah. Die Stadtwache schien keine Notiz von ihr zu nehmen, was auch daran liegen mochte, daß sich verschieden Männer und Frauen verwirrt zwischen den Toten und Verwundeten bewegten und nach ihren Angehörigen und Freunden suchten. Einige Frauen hatten wohl ihre verletzten Männer oder Kinder gefunden. Eine weinte hemmungslos und verzweifelt, über die ausgeblutete Leiche ihres Kindes gebeugt, eine andere machte aus ihren Röcken einen geschickten Druckverband und wieder andere riefen um Hilfe.
"Verbirg dich besser in einer der Seitenstraßen," wisperte die metallene schnatternde Stimme des roten Drachens in Antheas Gedanken. "Diese da könnten auf die Idee kommen, daß Du für ihre Situation Verantwortlich bist, nur weil du auch eine vom fahrenden Volk bist."
Anthea blickte sich schnell sichernd um und huschte in die Schatten... immer gefolgt von den klingelnden Glöckchen um ihre Fußfesseln.
"Du kannst sprechen?" fragte das Mädchen leise und schmiegte ihre Laute eng an den Körper.
"Wir sind Pseudo- Drachen," antwortete eine etwas rauhere Stimme in ihrem Schädel, als sei das eine ausreichende Erklärung für das Mädchen.
Aber Anthea hörte ihnen ohnehin nicht richtig zu. Sie beobachtete weiterhin die Magierin, die wie eine Unsichtbare zwischen all den Menschen stand. Sie schien zu Zaubern, denn ihre Lippen bewegten sich und sie zeichnete Symbole in die Luft. Dieser Zauber aber mußte um einiges länger sein, denn sie brauchte einige Sekunden für das... was immer es auch war, was sie tat. Anthea wußte es nicht, aber irgendwie schien der Zauber, den sie gewirkt hatte, ihr leichte Schmerzen zu verursachen. Sie schien ein wenig erschöpft und ihre Haltung hatte an Kraft und Eleganz verloren, nachdem sie sich auf ihre Knie herabgelassen hatte und den Mann, der sterbend auf dem Baden lag berührte. Er schien zwar nicht geheilt... nicht völlig, aber dennoch wenigstens schien er wieder bei Bewußtsein und die schlimmsten seiner Wunden hatten sich geschlossen. Bei dem zweiten, den sie mit ihrer Magie vor dem Tod bewahrte, schien sie noch mehr an Kraft zu verlieren. Auch erschien sie verändert, nachdem sie sich erhoben hatte... Irgendwie wirkte sie nun wirklich unmenschlich schmal und groß. Die schlanken Hände schienen wächsern unter dem dunkel grauen Samt.
"Was macht sie da?" fragte Anthea leise.
Keiner der Drachen antwortete ihr.
Zeit verstrich zäh und schwerfällig, während sich die Magierin scheinbar immer weiter verausgabte. Anthea wartete geduldig auf sie.
Als sie schließlich zurück kam zitterte sie leicht und die langen Hände hatten bereits längst die Farbe frisch gefallenen Schnees erreicht.
"Komm jetzt."
Anthea ergriff ihre Hand und folgte ihr schweigend.

Der Ort, an den Anthea geführt wurde, war dunkel und trostlos und Hoffnungslos und kalt, aber die Hoffnungslosigkeit war ebenso sehr eine andere, wie auch die Kälte. Dies hier war ein Ort der ewigen Finsternis und Fragment uralter Pracht und vergessenen Prunks. Nachdem sie durch verschiedene Seitengäßchen gegangen, über Zäune gestiegen und durch Hinterhöfe gelaufen waren, verließen sie das Künstlerviertel der Stadt und erreichten die Grenzen der ausgestorbenen Bezirke um das Labyrinth. Anthea fielen die Schritte immer schwerer und sie überlegte sich, ob es vielleicht nicht doch ein Fehler war, ihr so bedingungslos zu vertrauen... Hatte doch das Labyrinth von Valvermont einen überall hin weit bekannten ruf als der böseste und dunkelste Ort der Welt... Ein Ort, an dem die Toten wandern und unbesorgt neben den schrecklichsten Monstern leben...
Aber sie konnte wohl nur das Labyrinth gemeint haben.
Überall, aus den leeren Fensterhöhlen glaubte sie Blicke aus glühenden Augen zu bemerken. Alles schien zu Rascheln und zu knacken! Und sie war sich sicher, daß sie Glas hatte brechen hören, zertreten von schweren Stiefeln. Manchmal fielen dicht neben ihr Steinchen aus dem steinernen Himmel herab, als wären über ihr in den aneinander gesunkenen Gebäuden Personen, die ihnen in dem dichten Gewirr aus Stein und totem, verfilztem Holz unablässig folgten. Sie blickte immer wieder hinauf, glaubte oft verunstaltete Schatten zu erkennen, aber immer wenn sie ihren Blick direkt dorthin richtete, fand sich dort nichts als Schatten und verlassene Einsamkeit. Oft stolperte sie deshalb, weil ihr weg eigentlich keiner war. nur eine Strecke zwischen den Trümmern alter Villen und umgestürzter Bäume und Säulen, Verwerfungen des Bodens und Hausgiebeln, die aus dem Boden schauten.
"Das Labyrinth sinkt ständig ab," murmelte ihre Begleiterin. "Sie bauen, so gut sie können, immer weiter darüber."
Sie strich sich mit der linken Hand die Kapuze aus dem Gesicht und hob Anthea über eine umgestürzte Säule, als habe das junge Mädchen kein Gewicht.
Nun, zum ersten Mal, in diesem ewigen Dämmerlicht, sah sie in das Gesicht der Person, die ihr Leben gerettet hatte und ihr versprach, sie in Sicherheit zu bringen... Und Anthea war sich nun gar nicht mehr sicher, daß die Magierin eine Frau war. Dieses schöne, glatte, sanfte Gesicht konnte genauso gut einem jungen Mann gehören. Aber vor einer Weile hätte sie noch geschworen, daß sie einer Frau gegenüber stand.
"Warum tust Du das alles für mich?"
Ihr Gegenüber ließ sie auf den Boden herab und zuckte die Schultern. "Ich weiß nicht... Vielleicht, weil du ein unschuldiges Geschöpf bist...?"Sie legte den Kopf schief und strich eine der langen, dunklen Locken aus Antheas Stirn und betrachtete sie einen Augenblick still. "Vielleicht, weil ich deinen Mut bewunderte, als du Roakim das Leben gerettet hast, obwohl du ihn nicht kennst..."
"Roakim?" fragte Anthea leise.
"Der Zwerg. Hätte dein Dolch nicht vorher getroffen, wäre Roakims Frau jetzt vielleicht Witwe und seine Kinder müßten ohne ihren Vater aufwachsen."
"Roakim..." echote sie leise und senkte den Blick. Erst jetzt wurde ihr bewußt, daß sie einen Menschen getötet hatte, und das mit einer solchen Kaltblütigkeit, daß jetzt, nach einer Weile, ihre Seele immer noch gefroren zu sein schien.
"Dann ist mein Platz wohl unter den Monstern im Labyrinth..."
Die Magierin blieb wieder stehen... "Monster? Laß das besser nicht Justin hören. Er wäre sicher nicht erfreut darüber."
"Justin?" Sie spürte die Schwäche, die sich ihrer bemächtigte und sich nun sogar in ihrer zitternden Stimme ausdrückte.
"Justin ist der Herr des Labyrinths. Das Licht, daß diese ewige Lichtlosigkeit aufhellt... Und er mag es sicher nicht, wenn du seine Schützlinge Monster nennst. Viele sind genauso wie du hier her gekommen. Schutzsuchende, Hilfsbedürftige, Ausgestoßene..."
"Aber schickt euer Stadt- Prinz nicht alle Verbrecher hierher?"
Sie zuckte die Schultern. "Sicher, wenigstens die, die seiner Meinung nach noch eine Chance verdienen und nicht tot bessere Bürger sind," erklärte sie ungerührt.
"Man erzählt sich solche schrecklichen dinge über diesen Ort..." murmelte Anthea. Sie sah wieder zu ihrer Begleitung auf. Ihre großen goldbraunen Augen schimmerten scheu.
"Bist Du auch Teil dieses Ortes? Bist du auch eine Verbrecherin?"
Ihre Begleiterin blickte völlig verwirrt über die Schulter. Große, grüne Augen musterten Anthea eine Sekunde lang nachdenklich... Bei dem Anblick dieser Augen, von diesen langen, tief schwarzen Wimpern umrahmt, schalt sich Anthea eine Närrin, auch nur einen Moment geglaubt zu haben, keine Frau vor sich zu haben. Solche warmen und sanften Augen konnte kein Mann haben.



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(c) Tanja Meurer, 2001