Gypsy

 

"Nein, ich bin kein Verbrecher." Sie nahm wieder Antheas Hand in ihre. "Aber hier sind all die, die mir etwas bedeuten und die wenigen die ich liebe."
Anthea kletterte vorsichtig, unsicher über eine hohe Bodenverwerfung und blieb mit ihrem Mantel hängen.
Leise fluchend riß sie an dem dunkelgrünen Stoff und zerfetzte sich den Saum.
Erschrocken wendete sich die Magierin um und musterte Anthea, die nun halb entkleidet vor ihr stand, nur in ihrem schreiend bunten Rock und der weißen Bluse aus dem zerschlissenen Leinenstoff, den ihre Mutter ihr einst einmal bestickt hatte. Wieder klingelten die Glöckchen um ihre Fußgelenke und der ganze andere billige Schmuck, den sie trug.
"Mir war nicht bewußt, daß du keine Schuhe hast..."
Anthea sah an sich herab und bemerkte nun auch, daß ihre Füße aufgerissen waren und bluteten. Das Mädchen zuckte die Schultern. "Giraselle läßt mich auch im Winter ohne Schuhe hinter den Wagen laufen, wenn es ihr gefällt."
Wortlos schlug die Magierin ihren Mantel zurück und nahm sie auf die Arme.
Die strenge, lederne Männerkleidung und die Tatsache, daß ihre Retterin scheinbar keinen Busen zu haben schien, ließ Anthea wieder nervös schwanken... Vielleicht doch ein Mann?
Sie klammerte sich wieder Hilfe suchend an ihre Laute. Mühelos trug ihre Begleiterin Anthea über die enge, beklemmende, dunkle Strecke, in völliger Sicherheit, als kenne sie jeden Stein, jeden tief hängenden Ast oder jede geborstene, unsichere Stelle...
"Wer bist du eigentlich? Und was?" Antheas Stimme begann zu zittern. "Bist Du eine Frau oder ein Mann?"
Leises Lachen antwortete ihr.
Plötzlich schrien die beiden Pseudo- Drachen gellend und irgendwie fröhlich.
Die Magierin hob den Kopf und starrte in die Dunkelheit und die Schatten vor ihr. Anthea folgte ihren Blicken und sah nun selbst einen Schatten der scheinbar genauso schmal und groß zu sein schien wie ihre Freundin.
Aber darüber hinaus fühlte sie etwas... unvergleichlich schönes, warmes, daß ihre Seele umschloß und wiegte...
"Justin!!"
Der Schatten näherte sich mit ungeheurer Geschwindigkeit, mit einer Leichtigkeit...
Justin... war das nicht der Name des Herrn des Labyrinthes?
Bevor sie den Gedanken noch richtig gefaßt hatte, sah sie ihn vor sich...
Dieser Mann war unvergleichlich schön. Das zarte, sanfte Elfengesicht hatte die Farbe des Mondlichtes, umrahmt von flammend roten Locken, die seinen schmalen, fragil zerbrechlichen Leib umgaben. Unglaubliche, tief dunkelblaue Mandelaugen blickten sie an, mit einer solchen Wärme und Offenheit, daß sie schauerte unter seinen Blicken.
Die weichen, feinen Lippen zuckten als er behutsam ihre Hand berührte.
"Lysander, dieses Mädchen ist ein ganz besonderes Geschöpf," wisperte er, ohne dabei den Blick von ihren Augen zu lassen. Nun bemerkte Anthea seine feinen, perlen weißen Fangzähne, die sich unter seinen Lippen verbargen.
Sie zuckte zusammen, zog aber ihre Hand nicht zurück.
"Ihr seid ein Vampir, nicht?"
Justin nickte. "Sicher. Aber das ist allgemein bekannt." Er lächelte offen und fröhlich, als habe er festgestellt, daß es Sommer sei. Unsicher sah sie zu ihrer Begleitung, die ernst ihren Blick erwiderte.
"Du mußt dich vor Justin nicht fürchten. Er ist weder böse, noch gefährlich."
Wie zur Bestätigung setzte sich der blaue Drache auf Justins Kopf und klammerte sich in die endlos erscheinenden Locken. Aber er fand nicht genug Halt dort oben und mußte mit den Flügeln schlagen, um sein Gleichgewicht zu bewahren.
Mit seiner kleinen Hand klammerte er sich an Justins linker Ohrspitze fest und streckte Anthea die Zuge raus.
Justin grinste...
"Tambren, du weist, daß heute Drache als Hauptgang vorgesehen ist?"
Mit beleidigter Miene schob sich der kleine Drache nach vorne und reckte seinen Hals weit genug, um Justin Auge in Auge auch die Zunge herauszustrecken.
Nun mußte Anthea lachen. Justin neigte den Kopf, die Brauen hochgezogen und murmelte: "Wir sprechen uns noch, Drachling!" Dabei allerdings lächelte er... "Nun kommt. Hier draußen, im äußeren Ring, ist nicht der gesündeste aller Orte."
"Aber... ihr seid doch der Herr dieses Ortes...?" stammelte Anthea.
Justin lächelte aufmunternd, immer noch den kleinen Drachen auf seinem Kopf. Behutsam griff er unter Arme und Beine des Mädchens und wartete, bis sie einen Arm um seinen Nacken gelegt hatte.
"Tambren, verschwinde endlich zu deinem Herrn und Meister!"
Ein wenig überrascht beobachtete Anthea, wie sich der kleine Drachling in die Luft erhob und ein wenig unbeholfen in den Armen der ihrer vermeintlichen Begleiterin landete.
Lysander lächelte und schnickte mit dem Zeigefinger gegen die spitze Schnauze seines Drachens. "Justin hat recht. Hier, im Außenbezirk gibt es immer noch reichlich Geschöpfe, die hier niemand zu den eigentlichen Einwohnern des Labyrinthes zählt. Das sind die Geschöpfe, die den Ruf dieses Ortes begründen. Sie sind unsere Wächter und Kerkermeister. Aber sie können weder Justin noch mir etwas antun... eigentlich niemandem hier... nur den Kindern."
"Den Kindern...?"
Justin machte eine Kopfbewegung. "Später."

Es war faszinierend und schrecklich zugleich für Anthea. Dieses Haus, im Herzen des Labyrinths war eine der prachtvollsten Villen, die sie je in ihrem Leben gesehen hatte, ein Gebäude, daß seine ursprüngliche Grazie und Schönheit nicht verloren hatte. Nein, dieses Gebäude war lediglich sehr alt...
Sie stand im Garten, einem verwilderten Labyrinth von umgestürzten, überwucherten Säulen verschiedener Epochen, Statuen, die unter verfilzten Ästen und Moos verschwanden, dicken, knotigen Wurzeln und Stämmen, die vier, fünffach Mannsdick waren. Fahle, milchige Blumen rankten über dem toten, schwarzen Holz und phosphoreszierend blaue Blüten bewuchsen den steinigen Erdboden. Die immer währende Finsternis ließ die Schatten tiefer erscheinen, substantieller. Aber der Park, fand Anthea, war wirklich gewaltig groß. Und, gleich wie unheimlich, auch irgendwie freundlich. Hier fand sie sich sicher und behütet.
Justin saß auf einer geborstenen Säule, die Beine an den Leib gezogen und die Augen geschlossen. Vor seinen Füßen spielten die beiden Pseudo- Drachen ihre groben Spiele und Lysander lehnte Rücken an Rücken mit dem Vampir- Elfen, die endlos langen Beine auf der Säule ausgestreckt und die Arme vor der Brust verschränkt. Er beobachtete Anthea, die sich neugierig umsah, während sie von ihrer Flucht vor Giraselle und ihren Anhängern erzählte.
Das Mädchen setzte sich nach einer Weile zu den beiden Männern und sah sie erwartungsvoll an, nachdem sie ihre Erzählung beendet hatte. "Warum hast du mich hier her gebracht?" fragte sie Lysander und durchbohrte ihn mit ihren großen, sanften Augen. "... und, rettest du immer junge Frauen?"
Lysander wiegte den Kopf und lächelte, fasziniert von ihrem zarten, sanften Gesicht und diesem offenen, wahren Blick. Anthea stand auf der Grenze von einem Kind zu einer Frau und war, durch ihren zerbrechlichen Körperbau und die dunkle, bronzen schimmernde Haut noch reizvoller. Ein zauberhaftes Geschöpf, mit einer reinen, naiven Art, die ihn völlig gefangen nahm, jetzt, wo sie vor ihm im Moos saß und mit einem Glöckchen an ihrem Fußgelenk spielte.
In ihren braunen Mandelaugen schimmerte ein befreites Lachen, wie als habe sie die bedrückende, einengende Last, die sie zu erdrücken drohte, verloren hatte. Ihre weichen, dunkelbraunen Locken lagen dicht und schwer auf ihrem rücken, über dieser strahlend weißen Bluse und auf ihren noch kaum vorhandenen Brüsten. All das wurde ihm erst jetzt bewußt, nachdem sie ihren Mantel abgelegt hatte und nicht mehr ständig ihre Laute an sich drückte, als sei es ihr größter Schatz... Aber... vielleicht war es das. Vielleicht war dieses Instrument ihr wertvollster Besitz.
"Nur wenn ich in der Nähe bin." Sein Blick wurde ernst. "Nein, diese Männer... ich weiß nicht, sind sie wirklich von deiner Sippe?"
Anthea nickte matt. "Leider."
"Diese Männer haben etwas an sich..." Er überlegte einen Moment. "Sie haben sich nicht verhalten wie Untote, aber ich hatte den Eindruck von etwas ganz ähnlichem."
Er senkte wieder den Kopf. "Ich war auf der jagt nach... naja. Ist nicht wichtig. Der Zwischenfall auf dem Obermarkt war eigentlich nicht eingeplant. Aber nun..." Er beendete den Satz nicht, lächelte aber. "Ich kann mich nicht darum sorgen, daß dir nichts mehr geschieht. Deshalb habe ich dich hier her gebracht. Justin ist mächtig und nur ein Narr wagt sich in das Herz des Labyrinthes."
Justin grinste und schlug die Augen auf. "So ein Irrer wie du, Lysander."
Der Magier zuckte die Schultern und rammte Justin einen Ellenbogen in die Seite. "Daß ich immer wieder her komme ist deine Schuld, alter Mann," stellte er grinsend klar.
"Was meintest Du eigentlich, mit deiner Bemerkung vorhin? Du sagtest, dieses Mädchen sei etwas besonderes..." Lysander neigte sich vor und stützte sich mit den Händen hinter seinem Rücken auf der Säule ab. Justin sah über die Schulter zu seinem Freund. "Fühlst du es nicht, Lysander?" Der Magier sah Anthea einige Sekunden still an. "Ich habe das Gefühl, daß sie mehr ist, als ein Magier. Sie hat etwas, daß man nicht lernen kann."
Antheas Blick umwölkte sich ein wenig. "Ich?" fragte sie leise. "Was soll an mir besonderes sein? Ich bin nur eine Zigeunerin."
Justin schwang die Beine von der Säule und reckte sich. "Ich weiß nur, daß in dir eine unfaßliche Kraft schlummert..." Er neigte sich zu ihr und strich mit dem Zeigefinger über ihren feinen, schlanken Nasenrücken. "Das, nehme ich an, weiß auch Giraselle. Deshalb bist du ihr wahrscheinlich auch so wichtig."
Anthea sah ihn aus großen Augen an, die sich langsam mit Tränen füllten. Lange, weiße Finger strichen über ihre seidige Wange. "Es klingt grausam, aber, was man braucht, das macht man nicht kaputt. Deshalb bestraft sie dich wahrscheinlich nicht, wenn du vor ihr wegläufst."
"Habt ihr mich deshalb aufgenommen?" Sie blickte in die riesigen, dunkelblauen Elfenaugen.
Justin schüttelte den Kopf. "Hier ist der Ort der Verdammten, die in der ewigen Dämmerung leben. Alle, die freiwillig kommen, sind frei, zu tun, was ihnen beliebt. Nur wir, die an diesen Ort gebunden sind, sind wirklich aufeinander angewiesen. Aber hier gibt es niemand, der nicht sein bestes gibt, um diesen Ort für uns erträglicher zu machen."
"Warum duldet Euer Stadtprinz solch einen dunklen Ort überhaupt...!" rief sie, und begriff im selben Moment, daß diese frage dumm war.
Anstatt Justin antwortete Lysander ihr.
"Mesalla, unser Prinz, gewährt den Männern und Frauen hier eine große Gnade, indem er ihnen ein Stück der Stadt zugesteht, in dem sie frei sind..." Seine Stimme klang bitter und spöttisch. Die Mundwinkel zuckten ein wenig, während er sprach. "Welch eine Ehre. Hier leben die Ausgestoßenen, die Verbrecher, die Monster, die Aussätzigen und die Ketzer. Für mich ist das auch eine Art von Gefängnis, auch wenn die Tore weit offen sind. Denn niemand würde es wagen diesen Ort zu verlassen. Nicht für mehr, als seinem Geschäft nachzugehen, sei es Raub, Diebstahl oder Mord. Wer versucht, diesen Ort für immer zu verlassen, bezahlt den Frevel mit dem Tod seines Kindes. Darum gibt es den äußeren Ring und die Namenlosen." Auch er setzte sich jetzt auf die Säule, Anthea zugewandt. "Wer sich erwischen läßt, während er tut, was er immer tat, wird in dieser Stadt auf die größt möglich brutale Art, und sehr langsam, hingerichtet... Und dessen Familie verliert alle Kinder. Das ist die Gnade Mesallas."
Antheas Blick verschleierte sich. "Aber," warf Justin ein. "gewährt er uns auch alle Freiheit hier, solang niemand von uns hier durch einen anderen aus dem Labyrinth den Tod findet. Ebenso hat die Wache hier keine Befugnis, und jeder Neugierige, der sich zu weit in unser Territorium wagt, ist Freiwild." Er sah sie lächelnd an. "Ich habe uns schon viele Freiheiten erkämpft und mein Einfluß auf den Prinz ist stark genug, um immer wieder meine Schützlinge zu bewahren, bevor er ihnen zu viel antut."
Anthea schluckte hart.
"Kann ich mich hier frei bewegen?"
Justin nickte. "Sicher. Wenn ich sage, daß es keinen Ort gibt, an dem du dich nicht aufhalten darfst, wird dir niemand etwas tun." Er lächelte. "Im Gegenteil. Du wirst sicher viel Freunde hier finden, weil zu uns sonst selten jemand kommt, der vom fahrenden Volk ist."
Unsicher lächelte sie. "I... ich weiß daß das unverschämt ist," stammelte sie. "Aber... darf ich hier bleiben, bis Giraselle fort ist?"
Justin sah sie ein wenig verständnislos an und Lysander grinste von einem Ohr zum anderen. Der kleine, blaue Drachling flatterte von dem Säulenstumpf auf und setzte sich auf ihre Schulter. "Was glaubst Du, warum unser Herr dich hier hergebracht hat?"
Anthea wirkte überrascht. Der andere Drache, Goldy, hüpfte in ihren Schoß und rollte sich zusammen. "Das ist nicht nur der Ort der Verdammten, sondern auch die Zuflucht vieler anderer. Hier bist du sicher."
Anthea begann plötzlich zu frieren. Die Wärme des Sommertages, die selbst noch bis hier her, in die Dunkelheit des Labyrinthes gekrochen war, durch die verfilzten Äste der Bäume und die eingesunkenen Hauswände, die sich so vertraut aneinander lehnten, wich kriechender Kälte.
Scheinbar hatte auch Lysander diese Veränderung wahr genommen... und Justin!
Anthea bildete sich das alles also nicht ein!
Der Magier war aufgestanden und hatte die Fibel an seinem Mantel gelöst. Der graue, dicke Samt glitt von seinen Schultern zu Boden und Seine Rechte krampfte sich um den Griff seines Schwertes. Aufmerksam drehte er sich um seine Achse, ruhig, konzentriert... als könne sein Blick die Schatten durchdringen... Dann zog er das Schwert und schloß die Lider. Mit der Linken zeichnete er ein Symbol vor seiner Stirn. Ein bis dahin unsichtbares Symbol, ein Schriftzeichen glühte weiß zwischen seinen Brauen auf, in dessen Zentrum ein Pentagramm leuchtete, umgeben von zwei konzentrischen Kreisen. Gleichzeitig erhob sich Justin von der Säule und zeichnete mit seinen feinen, schlanken Fingern eine Rune in die Luft. Seine sanfte, leise Stimme begann uralt, fremde Worte zu intonieren. Eine Sprache, die älter war, als alles, was Anthea je von Giraselle gehört hatte.
Mit Justins Worten, die er halb zu singen schien, kehrte die schützende Wärme zurück...
Dann sah sie Giraselle, die aus der flimmernden Luft materialisierte. Ein gebeugtes, unter dunklen, zerlumpten Mänteln verborgenes Geschöpf, umgeben von Dampfschwaden, als begleite die Kälte, die sie verbreitete, dieses Wesen überall hin wie Nebel und Gestank..
Der Anblick allein reichte, um Anthea vor Angst schreien zu lassen.
Unter der Grau- schwarzen, fleckigen, zerschlissenen Kapuze fiel langes, eisgraues, strähniges Haar über ihre Schultern und die eingefallene Brust. Viel zu lange Arme endeten in knotigen, langen Fingern, aus denen gesplitterte, gelbe Nägel wuchsen.
Sie schwebte in einer blauen Aura aus Kälte und Dampf einen Fuß über dem Boden.
Langsam hob sie den Schädel und blickte das Mädchen aus fahlen, Blaß- blauen Augen an, die so groß waren, wie reife Äpfel, aber so tief lagen, in einem Netzwerk tiefer Falten, daß sie aus sich heraus zu glühen schienen. Die Nase war ein unscheinbarer Überrest, als habe man sie ihr bis auf die Nasenwurzel hin abgeschnitten. Der Mund, weit darunter, war ein dünner, breiter Strich, der in ihren tiefen Falten unterzugehen drohte. Dann klafften die Lippen auf. Zwei Reihen angefaulter Zähne, die einst sicher sehr scharf und spitz waren, angefeilt vermutlich, schimmerten in dem Dämmerlicht.
"Nirgends bist du sicher vor mir, Antheakia."
Sie hob eine Hand und streckte sie nach Anthea aus. Reglos schwebte Giraselle in der Luft... und kam dennoch näher. Anthea schrie und klammerte sich an Justin. Lysander trat einen Schritt auf Giraselle zu und richtete sein Schwert auf sie... Giraselle stoppte in ihrem Schweben und blickte auf die Waffe, deren Spitze sich auf ihrer Brust niedergelegt hatte.
Als die Waffe sie berührte, begannen die bizarren, grünen Smaragdverzierungen auf dem schwarzen Stahl zu pulsieren als fließe etwas in ihnen... fast wie Blut in Adern, gepumpt von einem starken, pochenden Herzen.
Giraselles Blick kroch an der Waffe entlang zu Lysanders Hand und hinauf zu seinen Augen und dem glühenden Symbol auf seiner Stirn. "Bist du sicher, einen Seelenfresser führen zu können?"
Über Lysanders Lippen glitt ein böses Lächeln. "Willst du es versuchen, Hexe?"
Giraselle musterte ihn einige Sekunden lang, dann Justin, bevor sie den Kopf wieder senkte.
"Es ist nicht der richtige Zeitpunkt für einen Kampf," sagte sie und streckte die Hand nach Anthea aus. "Komm mit mir, Kind, und du wirst verhindern können, was geschehen wird. Sei für deinen Clan da. Das ist dein Schicksal. Sei für deine Familie da..."
Anthea richtete sich schweigend hinter Justin auf und sah an ihm vorbei zu Giraselle. Ihre Augen hatten allen Glanz verloren und ihre Haltung alle Kraft. Dann nahm sie Justins Hand in die ihre.
"Ich habe keine Familie. Mir bedeutet der Clan nichts," sagte sie ruhig.
Giraselle nickte. "Du lügst. Denn du bist die Hoffnung deines Clans."
Sie lachte laut, gefühllos. "Überlege es dir gut, Antheakia. Du hast zwei Tage Zeit. Nutze sie gut."
Giraselle glitt zurück. Ihr Körper begann sich mit den Nebel der Kälte zu verbinden und aufzulösen. "Du wirst zurückkehren..."
Anthea schüttelte den Kopf und schloß die Augen, rieb sich die Oberarme, als friere sie und weinte. "Nie!!!! Ich kehre nie zu dir zurück!"

"Wirst du hier bleiben und Anthea beistehen?" Justin sah von dem Krankenbett, auf dessen Kante er saß, auf. Lysander, der im Fensterrahmen lehnte und die blassen, traurigen Kindergesichter zwischen den weißen Laken betrachtete, nickte ganz automatisch. "Was dachtest du? Diese Frau ist ein Monster, und ich werde nicht zulassen, daß sie diesem Mädchen schaden wird."
Justin lächelte flüchtig und streichelte dem kleinen, blonden Mädchen, daß er gerade behandelt hatte, über den Kopf. Das Kind öffnete die Augen, ohne wirklich etwas wahrzunehmen. Der rauhen, leicht geröteten Haut und den stumpfen Augen zu urteilen, hatte das Mädchen Fieber. Wie alle anderen Kinder hier. Justin ging zu dem nächsten Kind und untersuchte es schnell und routiniert. Er hob den kleinen Jungen in eine sitzende Position und flößte ihm aus einem Blechbecher etwas dampfend Heißes ein, daß nach Kräutern und einer starken Fleischbrühe roch. "Morgen werden die Kinder gebadet," sagte Justin leise. "Ich weiß nicht, wie viele von ihnen dieses Scharlachfieber überleben. Aber ich will nicht zusehen, wie sie sterben."
Lysander schüttelte den Kopf. "Was bist du nur für ein Vampir...?" Er lächelte Justin zärtlich an. "Wärest du auch nur ein wenig anders, würde ich dich nicht so lieben können, wie ich es tue."
Justin blickte kurz auf und lächelte still.
Lysander löste sich von dem geschwungenen Rahmen, in dem er lehnte und nahm ebenfalls eine der dampfenden Tassen von dem Tablett. Er setzte sich neben das nächste Kind und gab ihm die Suppe zu trinken. Als dieses kleine Orc- Mädchen in seinen Armen lag und so ungeschickt die Suppe aufsog, fühlte er wieder diese Zuneigung und die Liebe für alle Kinder. Er würde alles für Kinder tun, um sie zu bewahren, sie zu schützen. Behutsam tupfte er dem Mädchen die Stirn ab und ließ sie zurück in ihre Kissen gleiten. "Justin..." Lysander sah über die Schulter zu seinem Freund.
Der Vampir sah auf. Für eine Sekunde trafen sich ihre Blicke. Dann schlug Lysander die Augen nieder. "Du nimmst keine Leben, du gibst Leben. Deine Heiler- Fähigkeiten sind wirklich unfaßlich..."
"Daß ich ein Priester mit Heiler- Fähigkeiten bin ist dir doch nichts Neues. Und das mein Haus ein Spital ist ebensowenig. Was also ist los? Du willst doch auf irgendwas hinaus. Ich kenne dich dafür lang genug."
"Nein... nun...ja..." Lysander drehte sich zu Justin um und sah ihn direkt an. "Der Kommentar von Giraselle. Ich glaube sie hat recht. Anthea würde nie zulassen, daß Giraselle irgendwem aus dieser Zigeuner- Sippe etwas antut."
"Und du willst , daß sie es drauf ankommen läßt?" Justin stand auf und trat zu Lysander, legte seine Hände auf die Schultern des Magiers und massierte sie zärtlich.
"Nein, das meinte ich nicht damit." Lysander hob den Blick und sah Justin in die Augen. "Ich will, daß Anthea die Kraft findet, sich Giraselle zu stellen. Aber ich weiß nicht, ob sie ihr wirklich erfolgreich gegenübertreten kann."
Justin lächelte. "Das ist mein Geliebter." Er kniete sich vor Lysander auf den Boden und sah ihm in die Augen. "Mein Schöner, ich weiß nicht, ob wir Anthea überhaupt zu einer Entscheidung bringen können, aber, wenn sie weiß, daß sie nicht allein ist, wird sie sich vielleicht wirklich ihrem Alptraum entgegenstellen."
"Was, glaubst du, ist Giraselle?" fragte Lysander und legte vertraut seine Arme um Justins Nacken, um mit seiner seine langen Locken zu spielen.
"Was glaubst du?" stellte er die Gegenfrage.
"Sicher nicht, was sie uns glauben machen will. Und schon gar nicht eine nette, alte Zigeunerin. Vermutlich ist sie auch keine Hexe." Er zuckte die Schultern und lehnte seine Stirn gegen Justins. "Ich hatte nicht die Zeit, sie mir genauer anzusehen. Vermutlich hätte sie das auch nicht zugelassen. Wahrscheinlich wäre ich an einer Schutzbarriere gescheitert oder würde nur das sehen, was sie mich sehen lassen will. Aber eines ist sicher. Sie besitzt sicher so viel Macht und Erfahrung, wie ich. Sie kann mit Sicherheit ihre wahre Natur so gut tarnen."
Justin seufzte. "Denke ich mir fast. Eines kann ich dir schon mal sagen. Böse ist dieses Geschöpf bis ins Mark. Das kann sie nicht verschleiern. Ebensowenig, wie du deine Gesinnung verbergen kannst."
Er lächelte verschämt und küßte flüchtig Lysanders Lippen. "sieh doch mal nach Anthea und kümmere dich ein wenig um sie, bevor sie versehentlich in meinem Bad ganz aufweicht. Wenn ich hier fertig bin, komme ich zu euch."
Lysander nickte. "Bis gleich."

Anthea lag in Lysanders Bett, zusammengerollt, das nasse, lange Haar über dem weißen Leinenkissen, auf dem Fußboden ihre Bluse, der Rock und der Schmuck, den sie getragen hatte. In ihren Armen hielt sie ihre Laute. Sie hatte sich in die Decke eingerollt und schlief tief und fest. Der Magier trat näher an das Bett heran und sah auf das schlafende Mädchen herab. Seine beiden kleinen Drachen hatten sich zu ihr gekuschelt, in ihre Wärme und schliefen ebenfalls tief und fest. "Träume süß," wisperte er und setzte sich auf das breite Fensterbrett. Still lehnte er seinen Kopf gegen die steinernen Fensterverzierungen und das kalte Mosaikglas. Lange Zeit beobachtete er Anthea, ihren unruhigen, von Ängsten geplagten Schlaf, bevor er sich erhob und an ihre Seite setzte. Er ergriff ihre Hände und legte sie in seine. "Du bist nicht allein." Tatsächlich beruhigte sich Anthea. Dennoch. Ihre Pupillen bewegten sich ungewöhnlich hektisch. Lysander legte seine Linke auf ihre Stirn und flüsterte ein Wort. Dann erst fiel sie in tiefen, traumlosen, und vermutlich auch wenig erholsamen Schlaf.
Es gefiel ihm nicht, aber wenigstens bewahrte er sie mit seiner Magie vor bösen Träumen.
Matt schloß er die Augen. Das Mädchen tat ihm leid, und er wußte nicht so genau, was er wirklich für sie tun konnte.
"Lysander?" Justin betrat lautlos den Raum und schloß die Türe hinter sich.
Der Magier legte einen Finger über die Lippen. "Leise. Sie schläft jetzt endlich ruhig."
Der Vampir nickte. "Willst du zu mir kommen?"
Lysander schüttelte den Kopf. "Ich will sie nicht allein lassen."
"Dann bleibe ich auch hier."
Lysander legte den Kopf in den Nacken und sah Justin an, der hinter ihm stand. "Mußt du nicht."
Der Vampir hob die Schultern und wiegte den Kopf. "Ich gehe erst mal nach unten und suche mir ein paar Bücher heraus... Weißt du, ich habe den Eindruck schon mal ein Wesen wie diese Giraselle gesehen oder wenigstens davon gelesen zu haben. Dann komme ich wieder."
Lysander hob die Brauen, deutlich beunruhigt. "Hoffentlich werden wir nicht eine wirklich böse Überraschung erleben."
Justin lächelte zärtlich und strich mit der Hand über Lysanders langes Haar. "Wir haben die letzten zwei Kriege gemeinsam überstanden und in vorderster Front gekämpft. Glaubst du nicht, daß wir das auch schaffen?"
"Aber wie viele Opfer wird es dann geben?" Lysander lehnte sich mit dem Rücken an Justins Brust. "Ich hasse den Kampf so sehr."
"Ich weiß."

Gähnend reckte sich Lysander und sah sich um. Einige Schritte neben ihm saß Justin, in sich gesunken, den Rücken gegen das archaische Bettgestell gelehnt und den Kopf halb auf die Brust gesunken. Der Elfenvampir schlief fest zwischen all den Büchern, die Aufgeschlagen um ihn lagen und den vielen Notizen, die er sich auf Kleine Pergamentstücke gemacht hatte. Seine Fingerspitzen waren schwarz von der Tinte. Zwischen seinen Knien lag ein aufgeschlagenes Buch, in dem er sich eine Reihe kurzer Randnotizen gemacht hatte. Seine Hand ruhte auf den Seiten. Kopfschüttelnd schob Lysander die Bücherstöße von sich und stand auf. Gähnend reckte er sich und sah nach Anthea. Aber auch das Mädchen schlief fest. Irgendwas, dachte Lysander spöttisch, machte er wohl falsch, wenn er der einzige war, der hier den Nachtwächter spielte.
Behutsam nahm er Justin das Buch ab und schob das ganze Chaos, daß der Elf angerichtet hatte, zur Seite.
"Himmel, deine Schmerzen möchte ich nicht in den Knien haben, wenn du wieder aufwachst," murmelte der Magier. Und nahm eine weitere Decke vom Bett, um damit Justin zuzudecken. Seufzend nahm Lysander sich der Aufzeichnungen Justins an und begann sie seinerseits durchzuarbeiten... Aber er konnte sich kaum darauf konzentrieren.
Irgend etwas störte ihn... eine böse Vorahnung, ein Verdacht...
Lysander ließ die Notizen sinken und stand auf. Langsam schritt er an das Fenster und blickte hinaus in den Garten und die endlose Nacht, die dort herrschte. Hier, im Haus hörte er hunderte verschiedener Geräusche. Im Nebenzimmer schnarchte Tomoya, der Halborc, der in besonderen Fällen Justin hier vertrat. Unter ihnen hörte er einige der Patienten, Stimmen, Worte, Gesang...Die Geräusche von Geschirr und Holz... Die Geräusche eines völlig überfüllten Hauses, daß nach und nach über die Jahrhunderte versank.

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(c) Tanja Meurer, 2001