Night of Carnival |
Kapitel 1: ================================================================================ Zu
Calems Ärger fand er die Speisekammer und die Küche einzig mit
konservierter Nahrung gefüllt. Der kleine, quadratische Raum, der sich der
riesigen, irgendwie unförmigen Küche anschloß, lag im Halbdunkel, einzig
vom Gaslicht erhellt, daß in dem langen, schmalen Flur brannte. Dennoch
konnte er erkennen, daß jemand sich die Mühe gemacht hatte, offene Regale
aus alten Brettern und Latten zusammenzuschrauben. Mehl, Zucker, Salz,
getrocknete Gewürze, Kaffeebohnen und Teeblätter befanden sich in Tönernen
Behältern, die jemand beschriftet hatte. Die Buchstaben wirkten fast wie
gemalt, so fein und elegant schienen sie Calem. Sein Blick schweifte Weiter,
über Leinensäcke, die verdächtig nach getrockneten Bohnen oder Erbsen
rochen. Natürlich nahm er auch den ranzigen Geruch von viel zu altem Speck
wahr und den von übersalzenem Fleisch und geräuchertem Schinken und Fisch.
An sich ließ es sich mit dem Fleisch noch recht gut leben, wenn ihn danach
nicht immer der Durst gepackt hätte. Zu seiner Freude fand er ein
wesentlich zivilisierter aussehendes Regal, in dem Gabriel Weinflaschen
lagerte. Aber nicht nur Wein. Der eine oder andere vergorene, schon übergegangene
Saft störte empfindlich Calems Nase. In einem Sack auf dem Boden stand
Hafer und in einer tönernen Schale vermutete Calem, dem Geruch nach, alten,
schon angeschimmelten Hartkäse. Sicher. Nichts von alle dem reizte wirklich
seinen Gaumen so sehr wie rohes Fleisch, rohen Fisch, oder Obst, um das er
einen leichtsinnigen Bauern erleichtern konnte, aber sein Hunger brannte
bereits in seinen Eingeweiden und allein der Gedanke an Nahrung ließ ihn
schwindlig werden und taumeln. Ärgerlich gebot er sich selbst, ein wenig
mehr Disziplin zu üben, gab aber bald auf. Quälend
langsam ging seine Verwandlung von einem Mantikor zu einem Menschen vor sich
und er bekam nur noch mehr Hunger. Leider aber paßte er in seiner natürlichen
Form nur mit seinem Schädel durch die Türe, was ihn doch fern der Nahrung
hielt. Beladen
mit dem Schinken, einer Hartwurst, getrocknetem Fisch einigem eingelegtem
Gemüse, was er auch noch in einem Glas fand, Keksen, Honig und einer
Flasche Wein, setzte er sich an den groben, großen Küchentisch. Der doch
recht massive Stuhl ächzte unter dem Gewicht Calems, hielt aber. Plötzlich
sprang der Mantikor auf, ohne etwas davon angerührt zu haben und sah sich
in der Küche um. Zufrieden schien er, als er einen kupfernen Wasserkessel
fand und ein Waschbecken. Eilig holte er aus der Speisekammer den Tonbehälter
mit Tee und kippte den gesamten Inhalt in den Kessel. Irgendwann, irgendwo
hatte ihm einmal eine alter, blinder Mann etwas zu Trinken gegeben, daß er
Tee nannte, und es schmeckte vorzüglich mit genügend Zucker oder Honig
darin. Sicher,
Calem kannte Tee. Wenigstens das Zeug, was sich auf seiner Heimatwelt Tee
schimpfte. Irgendwelche schmierigen Wirte warfen ein paar getrocknete Blätter
in heißes Wasser und behaupteten, daß sei Tee. Ähnlich taten es die
menschlichen Heilerinnen, nur daß das Zeug nicht nur intensiver sondern
auch ekelerregender schmeckte. Nichts davon schmeckte so warm und rauchig
wie das Gebräu des Alten. Und der Tee, den er in Gabriels Speisekammer
gefunden hatte, roch ganz ähnlich. Ob diese Blätter das Wasser wohl auch
leicht rotgolden färben würden? Er
hielt den Kessel unter den Wasserhahn und friemelte neugierig, aber auch
unbeholfen an den Armaturen. Nie zuvor hatte er selbst etwas in einer Küche
getan. Nie. Aber für ihn war es nicht schwer, das System hinter der
Geschichte mit dem Wasserhahn ausfindig zu machen. Er besaß eine überdurchschnittlich
gute Auffassungsgabe und viel zuviel Neugier, als daß eine unbekannte Sache
für ihn ein Problem darstellte. Soviel galt wenigstens für die Geschichte
mit dem Wasser. Der Herd stellte sich als wesentlich härtere Nuß heraus.
Ihm war wohl bewußt, daß er die Briketts zum Feuer machen brauchte, wie
auch das Zeitungspapier und die Zündspäne, aber der wuchtige Herd hatte
zahlreiche Öffnungen, Klappen und abnehmbare Ringe. Nach einer kleinen
Ewigkeit, wenigstens seinem Hunger nach zu urteilen, hatte er
herausgefunden, daß eine der Klappen unfaßlichen, schwarz staubigen Dreck
produzierte, eine wohl als Ofen, zu Backen gedacht war, und in der letzten
Kohle und Briketts entzündet wurden. Es
sollte eine weitere Viertelstunde dauern, bis es Calem gelang, Feuer im Herd
zu entfachen und die passende Ringgröße für den Teekessel zu finden,
wobei er sich mindestens dreimal ordentlich die Finger verbrannte. Hinter
sich nahm er eine Bewegung wahr, einen Schatten aus den Augenwinkeln.
Obgleich ihn sein fast tierhafter Instinkt warnte, drehte er sich breit
grinsend um. Wahrscheinlich war es nur Gabriel, der sich lautlos bewegte.
„Willst du Tee?...“ Ihm
blieb der letzte Laut im Halse stecken, als er sah. Ein
kleines Mädchen... vielleicht war es auch ein Junge, höchstens fünf Jahre
alt, in einem viel zu weiten und großen Hemd und einer schmutzigen
Arbeitshose stand da. Ein Hosenträger hing hinab, gerissen. Das Kind hatte
den Kopf gesenkt, so daß die große Schiebermütze tiefe Schatten in sein
Gesicht warf. Braune Locken hingen bis auf die Hälfte des Rückens und es
trug keine Schuhe. In einer Hand hielt es einige grell bunte Luftballons an
langen Schnüren. „Pieroll!“
Stöhnte Calem auf. Erst jetzt hob das Kind den Kopf. Ein außerordentlich
schönes Kind, ein zauberhaftes, rundes Gesicht mit großen, braunen Augen,
die traurig schimmerten, in einem wundervollen Licht. Die feinen Lippen
zuckten leicht, als es sprach. „Calem Se Gaina Na Torell, ich bin hier, um
dich zu richten.“ Noch während die letzte Silbe verklang, stieß es seine
Hände vor und durchbohrte Calems Leib... Eisiger
Wind wehte von irgendwo her und brachte dichte, milchige Nebelschwaden
herein. Das Kind kreischte auf, als sich eine feine, schwarze Gestalt aus
dem Nebel löste, das lange, schwarze Haar in wilden Locken wehend und es
ergriff. Die weißen, schmalen Hände schienen die eines Pianisten, besaßen
aber die Kraft eines Schraubstockes. Klauen Bohrten sich in das weiche
Kinderfleisch. Und dicht neben dem Ohr des kleinen wisperte, von schönen,
geschwungenen Lippen eine Stimme, sanft, Liebevoll schon fast. Aber der Atem
war eisig wie die Nacht und roch nach süßer Verwesung und Blut. „Hallo
mein zarter Snack,“ lachte der schwarz gekleidete Vampir und vergrub seine
Fänge in dem duftenden Fleisch... Das
Kind schrie lautlos und aus seiner unschuldigen Hülle brach etwas
unvorstellbares, scheußliches, etwas, daß sich selbst der Vampir nicht zu
genau ansehen wollte. Natürlich ließ er von dem Kind ab. Sofort kehrte die
Kreatur in seine menschliche Hülle zurück. Es schwebte einige Sekunden
lang über dem Boden, sah auf den Vampir herab, der da stand, eher wütend,
als angstvoll und Calem, der zusammengesunken auf dem Boden saß, die Hände
gegen die Wunde gepreßt, darauf bedacht zu verhindern, daß alles Leben aus
ihm heraussprudelte. „Ich
habe versagt.“ Die Gestalt Pierolls begann silbrig zu glitzern und nahm
die Struktur eines Spiegelwesens an, glatt, glänzend, wie Quecksilber. Es
glitt hinaus und vereinigte sich mit dem Glas eines Spiegels... Der
Vampir folgte ihm und blieb reglos vor dem Spiegel stehen, der sein
wunderschönes Äußeres reflektierte. Mit einem wütenden Hieb zertrümmerte
er das Glas. Scheinbar explodierte es, von innen heraus zu winzigen
Scherben, als seine bleiche Faust hinein fuhr. Lautlos. Die Scherben standen
für den Bruchteil einer Sekunde in der leeren Luft, bevor sie, leicht wie
Federn, zu Boden fielen. Verwirrt beobachtete der Vampir den Vorgang und sah
sich dabei tausendfach widergespiegelt, rauchig in dem Licht der Gaslampen.
Dann plötzlich hörte er ein helles Lachen und der Lärm explodierte in
gleißendem Kreischen und Knirschen. Gabriel
fuhr zusammen. Er konnte sich nicht erklären, was mit ihm geschah. Aber,
was immer es gewesen war, es schien fort zu sein. Wuchtig kehrte seine
Erinnerung zurück. Etwas war in der Wohnung, hatte seine Sinne vernebelt
und sein Bewußtsein beeinflußt. Anjuli lag bewußtlos vor ihm auf dem
Boden. Aus den Augenwinkeln bemerkte Gabriel eine Bewegung in dem Glas des
mannshohen Spiegels. Jemand lachte hell, spöttisch. Erschrocken wendete er
sich dem Spiegel zu. Das Glas brach mit peitschendem Knall nach außen,
begleitet von ohrenbetäubendem Kreischen und Heulen. Der hölzerne Rahmen
ächzte und wurde zerrissen. In einer verzweifelten Bewegung zeichnete er
ein Symbol in die Luft... Rechtzeitig, wie er beruhigt bemerkte. Vor ihm
baute sich ein Schild auf, daß die Scherben nicht zu durchdringen
vermochten. Anjuli lag geschützt hinter ihm. Wutgeheul durchdrang die
Mauern. Einen Herzschlag später explodierte jeder Spiegel in der ganzen
Wohnung. Plötzlich fuhr das Mädchen hinter ihm auf, vor Schmerzen
aufschreiend, die Augen weit offen. Gabriel wirbelte zu ihr. Scheinbar
schien sie unverletzt... Leise
Angst machte sich in ihm Breit, als er erkannte, daß sie die Gegenwart von
einer Kreatur wahrgenommen hatte, ihre Gefühle und vielleicht einen Teil
ihrer Gedanken, ihrer Absichten. Anjuli besaß eine leichte empathische
Begabung, die sie immer wieder überfiel. Blaß saß sei da, die Lippen
einen Spalt weit offen, zitternd. Schweiß rann ihr über die Wangen. Ihre
Augen hatten sich dunkel gefärbt. Dann hob sie die Hände und verbarg kurz
das Gesicht darin. „Was
hast du gesehen?“ Anjuli
hob den Kopf und schüttelte ihn zugleich. „Gib mir einen Moment, damit
ich wieder Herr meines Verstandes und meiner Gedanken werde.“ Besorgt
nickte der Magier. „Ich sehe nach Calem. Ich mache mir Sogen um ihn.“ „Er
stirbt,“ sagte das Mädchen. Und es klang keineswegs unsicher, oder
entsetzt. Was sie sagte, war eine Tatsache. Dann ergriff sie Gabriels Hand
und drückte sie fest. In einer typischen Geste biß sie sich auf die
Unterlippe und sah ihn ernst an. „Hilf ihm, bitte.“ Warum
hatte er dem Ungeheuer geholfen? Er hatte sich in etwas hineinziehen lassen,
dessen Ausmaße er nicht erahnte. Wortlos stand er vor dem zertrümmerten
Spiegel und blickte auf die Scherben zu seinen Füßen hinab. Feiner
Glasstaub bedeckte seine schwarzen, spitzen Lederstiefel und das schwarze
Wildleder seiner Hosen. Dünne Lockenstränge, die er sichtbar mit
Schaumfestiger oder Gel bearbeitet hatte, fielen ihm über die Schultern und
wehten in sanftem Wind, der ihn scheinbar immer umgab. Unbewußt, in einer
sehr menschlichen Geste, stützte er sich mit seiner bleichen, porzelanweißen
Hand, derselben, linken Hand, mit der er das Glas zerschlagen hatte, an der
Wand ab und senkte den Kopf. Ihm
wurde zwar bewußt, daß Gabriel dicht neben ihm das Zimmer verließ und ihn
sah, aber er hatte keine Lust mehr, dieses Versteckspielchen weiter zu
treiben. Der
Magier sah ihn eine kurze Sekunde an. „Waren sie der Auslöser?“ fragte
er nur, drehte sich dann aber um und sog die Luft tief ein. Scheinbar,
obwohl er kein Vampir war, konnte Gabriel den Geruch frischen Blutes sehr
wohl wahrnehmen, denn er eilte mit langen Schritten in die Küche. Calem
blutete stark, lebte aber noch. Über ihm begann das Teewasser zu kochen und
der Kessel hüpfte fast auf dem Herd. Gabriel schob ihn mit dem Handrücken
einfach vom Feuer und kniete danach neben Calem nieder. Der Mantikor hatte
sich wieder in seine ursprüngliche Gestalt zurück verwandelt und lag nun
ohne Bewußtsein neben dem Herd. Ein Berg aus Hell, Fleisch und Muskeln,
dachte Gabriel entsetzt. Er war stark. Stärker als jeder Mensch und von
einem viel intensiveren Lebensstrom durchflutet, aber er konnte Calem nur
noch sehr wenig seiner eigenen Kraft geben, bevor er selbst zu schwach
wurde. Einen Arzt zu rufen schloß er vorerst aus. Behutsam schob er die
Pfote des Mantikors, die die Wunde, die ihn vollständig in der Nierengegend
durchdrungen hatte, zur Seite. „Ich kann dir nicht helfen und will dich
auch nicht sterben lassen, mein Freund,“ sagte er leise. Einen Schritt
hinter ihm stand der Vampir, wie ein unheilvoller Schatten. „Er stirbt.
Ich sehe, wie sein Licht schwächer wird.“ Leise lächelnd setzte er
hinzu: „Er stirbt schon sehr lange.“ Gabriel
hob den Kopf, wendete sich aber nicht um. Er konnte und wollte nicht
antworten. Vielleicht, weil er selbst es schon seit der Sekunde wußte, in
der ihm Calem zum ersten Mal begegnete. Leise intonierte er die Formel, die
seine Lebenskraft in den Leib Calems transferieren sollte. „Du weißt, daß
du dich umsonst schwächst.“ Gabriel
schloß die Augen und versuchte herauszufinden, mit wieviel Kraft er selbst
noch auskam und wieviel er entbehren konnte. Ihm wurde schwindelig und übel.
Mit zitternden Fingern tastete er über die Wunden. Insgeheim regte sich
seine eigene zwanghafte Gier nach Blut und Lebenskraft. Auch wenn Gabriel
kein Vampir, kein Untoter war, so besaß seine Natur das gleiche Verlangen.
Aber im Lauf von mehr als tausend Jahren hatte er gelernt, seine Obsesion,
die er verabscheute, denn der Geschmack von Blut löste in ihm tiefe Übelkeit
aus, zu Zügeln und nur selten auszuleben. Seine Opfer wollten den Tod, denn
ihnen fehlte der Wille und die Sehnsucht zu leben. Es waren ausschließlich
dem Tod geweihte, die die Ungewißheit, ob sie in fünf Minuten oder in fünf
Tagen oder erst in einem Jahr, nicht mehr ertragen konnten, alte Menschen.
In Calem aber steckte noch jede Menge Kraft und der feste Wille zu leben und
zu Kämpfen. Ja, er kämpfte gegen den Tod. Und Gabriel war sich nicht
sicher, ob Calem gewinnen konnte. „Ich tue alles für dich, mein Freund.
Bleib’ nur am Leben.“ Anjulis
Stiefel erzeugten auf den blau und grün gemusterten Mosaikfließen des Küchenbodens
ein leises Knirschen. Gabriel ließ ihre Schuhe generell beim Schuhmacher
nageln. Dieser Gedanke, der ihm bei dem vertrauten Geräusch kam, erschien
ihm fast bizarr und irreal. Wie konnte er jetzt darüber nachdenken, daß
sie immer alle Spitzen an den Schuhen kaputt machte? Unsicher
trat sie an dem Fremden mit dem schwarzen Haar vorüber und kniete dann
neben Calems sterbenden Körper nieder. Noch immer glühten ihre Wangen und
tiefe Schatten lagen unter ihren Augen. „Du bist doch in der Lage von mir
Lebensenergie zu nehmen?“ fragte sie vorsichtig. „Nein,“
entgegnete er. „Ich weiß so ungefähr auf was du hinaus willst.“ Seine
Stimme hatte etwas, selbst für ihn beunruhigend kaltes und entschlossenes.
Er wußte genau, daß er eher seine eigene Lebenskraft völlig aufgeben würde,
als etwas von Anjuli anzunehmen. Sie
blickte halb über die Schulter und zu dem schönen, bleichen Geschöpf, dem
Fremden. „Können sie uns helfen?“ Fassungslos
über diese Frage aber auch ein wenig belustigt, betrachtete der Vampir das
junge Mädchen in dem scheußlichen Polohemd und den alten Hosen. Sie war
nichts von dem, was ihn reizte, bis auf die Tatsache, daß sie Leben in sich
trug. Starkes Leben und eine seltsame, für ihn deutlich spürbare Begabung,
die er noch nicht zu deuten vermochte. Als
er schwieg, wendete sie sich wieder Gabriel zu, während sie das blutige
Fell Calems streichelte. „Verwandele ihn in einen Menschen,“ sagte sie
ernst, aber auch mit einiger Hoffnung. „Wenn er ein Mensch ist, kannst du
ihn einfacher heilen. Dann reicht auch unsere kombinierte Lebensenergie
aus...“ „Anjuli,
wenn ich ihn in einen Menschen verwandele, kann es passieren, daß er für
immer in dieser Gestalt gezwungen ist zu sein, mit den selben Schwächen und
Verlangen, die ein Mensch hat und der selben Gier nach Menschenfleisch und
dem Selben Kraft und Energieverbrauch eines Mantikors. Nur wenn er sich
selbst in eine solche Gestalt verwandelt, kann er wieder so werden, wie er
jetzt ist.“ „Wäre
es nicht wenigstens eine Möglichkeit?!“ Gabriel
senkte den Kopf. „Er würde uns für den Rest seiner Tage hassen.“ „Aber
er könnte leben. Vielleicht gelingt es ihm ja, wieder zu einem Mantikor zu
werden. Er ist viel stärker, als du denkst... Er ist ein ebenso altes Geschöpf
wie du...“ „Verzeih
mir bitte,“ flüsterte Gabriel. Regen
prasselte auf das graue Kopfsteinpflaster und gefror in der gleichen
Sekunde. Niemand wollte jetzt und zu dieser späten Stunde noch draußen
sein. Das warme Licht der Gaslampen vermittelte einen seltsamen Eindruck,
eine schwere, mutlose, deprimierende Stimmung, die jeden zu ergreifen schien
und gefangen nahm. Ein typisches Gefühlsspiel des späten Herbstes. Die
schlanke Silhouette des Vampirs fand sich in lockerer Haltung auf dem
breiten Fensterbrett des Salons. Sein Rücken lehnte an der Fensterfüllung,
während er das linke Bein angewinkelt hielt und den linken Arm darauf ruhen
ließ. Sein rechtes Bein stand fest auf dem Boden und die rechte Hand lag in
seinem Schoß. In völliger Dunkelheit saß er da, schweigend und entspannt,
die Lider geschlossen. Scheinbar schlief er... Konnte er überhaupt
schlafen? Von
Justin wußte Anjuli, daß er schlafen konnte. Aber Justin war kein Vampir,
wie man ihn sich im klassischen Sinne vorzustellen hatte. Der schöne Elf
mit den langen, roten Locken war wohl ein Vampir, schon weit über tausend
Jahre. Aber er lebte am Tage, schlief oft tief und fest, träumte und atmete
manchmal. Das Mädchen erinnerte sich gut an die Tage, als sie in seinen
Armen eingeschlafen war, den Kopf an seine Brust gelehnt. Und sie vermeinte
oft einen langsamen, ruhigen Herzschlag zu fühlen und das Rauschen seines
Blutes in den Adern zu hören. Seine Haut war oft schön warm und duftete
immer. Er liebte es, sich, trotz seiner besonderen, vampirischen Fähigkeiten,
wie ein Mensch zu verhalten. Tags über arbeitete er, fuhr Auto, kochte,
wusch, erledigte den Haushalt, lachte mit dem Mädchen, schimpfte sie
manchmal aus, lernte mit ihr, weinte wie sie es tat, selbst bei traurigen
Filmen... Trotz dem er das vermutlich älteste Geschöpf war, daß über
diese Erde wandelte, unfaßliche Macht besaß, Wissen von Generationen, war
er einfach Justin, ein Mann, nicht mehr und nicht weniger. Dieser
Vampir entsprach sehr wohl allen Mythen und Legenden. Er verhielt sich wie
ein Überwesen und besaß eine gewisse Portion Zynismus, die man ihn wohl
nur entwickelt, wenn Jahrhunderte gelebt hat und sich über die Einfachheit
und alberne Kleinkarriertheit der Menschen lustig machen kann, weil man sie
verachtet. „Los, frage mich schon.“ Anjuli
sah ihn wütend an. Sie wußte nicht einmal genau, was sie dazu bewegte, ihn
abstoßend zu finden, was den Ärger in ihr auslöste. Vermutlich seine
Arroganz und sein egoistisches Verhalten. „Interessiert es sie gar nicht,
wie es Calem geht?!“ „Ich
nehme an gut. Sonst wärest du jetzt nicht hier und würdest mich
anschreien.“ Er
machte sich nicht einmal die Mühe die Lider zu heben, sondern döste
einfach weiter. „Du bist wohl auch in bester Ordnung,“ sagte er leise
und wendete ganz unvermittelt seinen Kopf. Die Augen öffneten sich. Es war
der gleiche Effekt, den Katzenaugen haben. Sie Phosphoreszierten.
Unbeeindruckt blieb das Mädchen stehen, wo sie stand und verzog abfällig
die Lippen. „Soll
ich jetzt vor Angst fort rennen?“ fragte sie, die Arme vor der Brust
verschränkt. „Wärest
du ein einfaches kleines Mädchen, ja.“ Geschmeidig glitt er von der
Fensterbank. „Es macht keinen Spaß, jemanden zu schockieren, der mit so
etwas wie mir als Vater groß wird, nicht?“ Er grinste. „Ein
Vampir ist mit Sicherheit kein Schocker für mich. Und nein, ich falle auf
diese krampfhaften Bezauberungen nicht rein. Wie sie schon sagten. Sie sind
eher eine schlechte Lachnummer.“ Sie wendete sich um. „Und, bevor ich es
vergesse,“ provokant warf sie ihm einen Blick über die Schulter zu.
„Gegen das, mit dem sich Gabriel angelegt hat, sind sie ein winziges Würmchen.“ Sie
wollte gerade auf den Flur hinaus treten... „Ich weiß,“ sagte der
Vampir leise. „Wenn selbst dieses Kind, daß euren Freund töten sollte mächtiger
ist, als ich, muß ich eine Lachnummer sein.“ Eine
Welle von wirren Gefühlen überschwemmten Anjulis Bewußtsein. Arrogante
Wut, Verwirrung, Angst vor etwas unbekannt Großem, scheue Neugier,
Verbundenheit, Sorge um etwas, was in seinem Inneren, seiner Seele verborgen
lag, ein besonderes Geheimnis... „Du
bist in der Lage meine Gefühle zu spüren?“ fragte er plötzlich. Anjuli,
selbst von seiner Frage überrascht, wendete sich um und sah ihn lange Zeit
an. Ihr wurde klar, daß er ähnliche Fähigkeiten besaß. Auch er konnte in
andere Menschen hinein fühlen, vielleicht sogar ihre Gedanken lesen und sie
manipulieren. Sie
blinzelte. „Ein Kind?“ Ein
wenig langsam und fast schwerfällig trat er zu ihr und legte ihr seine Hände
auf die Schultern. Noch durch den Stoff spürte Anjuli, daß ein Leichnam
sie berührte, jemand der zu leben schien, aber eigentlich tot war. Sie
begann zu frieren. Aber Angst empfand sie keine. Und das spürte ihr Gegenüber.
„Ich hatte einen Filmriß,“ gestand sie. Seit Gabriel fast im Bad
ertrunken wäre, weiß ich nur Schemenhaft was war. Und er schweigt
beharrlich.“ Sie machte eine kurze Pause, um ihre Gedanken zu ordnen.
„Seit der Sekunde, in der die Spiegel zerbrachen, weiß ich wieder, was
passierte. Seit ich dieses Etwas gespürt habe... Diese endlose kalte,
zornige, verschlingende Dunkelheit, diese...“ „Es
war ein Blick in den Abgrund, in deine tiefste, furchtbarste Angst, in der
du ohne Hilfe, bedroht zurückgelassen bist,“ vollendete er. Eine Strähne
seiner langen Locken streifte ihr Gesicht. „Das ist es, was ich Empfand,
als ich den Spiegel im Flur zerstört habe.“ Anjuli
nickte nur still. „Ich
wollte nicht daß das hier geschieht. Ich wußte nichts davon, nicht, worauf
ich mich einlasse, als ich euch folgte. Jetzt bleibt mir nichts, als mich
mit euch zu verbünden, um zu überleben.“ „Dafür
wäre es von Vorteil, wenn wir einander Vertrauen könnten.“ Wie so oft
war Gabriel lautlos herangekommen, so daß selbst der Vampir zusammenzuckte
und erschrak. Gabriels
Gesicht wirkte wie reinster, weißester Schnee, umrahmt von seinem tief
schwarzen Haar, daß wie ein Mantel um seinen schönen Körper fiel. Ein
wenig erschreckend wirkten die leuchtend grünen Smaragdaugen, die von
seinen dichten, langen, schwarzen Wimpern umrahmt wurden, vielleicht weil es
die einzige Farbe in seinem Gesicht war. Selbst sein Lippen hatten alle
Farbe verloren. Er sah so erschöpft aus, aber auch voll Hoffnung und, so
glaubte Anjuli, voll Wärme und Güte. Er
hatte sich gewaschen und angekleidet. Graue Wollhosen, ein Hemd aus weißer
Seide, eine Bordeaux rote Weste, die scheinbar aus geprägtem Brokat war und
ein seidenes Halstuch in dem selben Farbton. Einzig das glatte, schimmernde
Haar paßte so nicht dazu, so offen, wie es war, denn es reichte ihm bis zu
den Knien hinab. Er trug weder Schuhe noch Socken. Anjuli kannte seine
Angewohnheit, keine Unterwäsche zu tragen. „Hast
du noch mal nach Calem gesehen?“ Gabriel
nickte. „Er wird mich hassen, aber er lebt.“ Unglücklich blickte er in
den Flur, in die matte Helligkeit der Gaslampen. „Ich werde die Spiegel
abdecken und die Scherben wegkehren.“ Überrascht
von Gabriels stiller Gleichgültigkeit dem offenkundigen Problem gegenüber
und deutlich entsetzt darüber sah ihn der Vampir an. Der Magier erwiderte
seinen Blick und lächelte plötzlich matt. „Wir befinden uns in der
Defensive. Bislang konnte Calem nicht viel erzählen. Ich weiß nur so viel,
daß unsere Gegnerin am längeren Hebel sitzt, denn sie kennt unseren
Aufenthaltsort. Und ich denke, sich zu verstecken würde uns auch keinen
Vorteil bringen.“ Er lächelte noch immer. „ Wenn ich ihn recht
verstanden habe, reißt sie mit einer Art Zirkus von Kreaturen, die Legenden
und Mythen sind, und zerstört. Raum und Zeit sind für sie kein Hindernis.
Also nehme ich an, daß es ein Zirkus ist, der zur Zeit in einer der beiden
Städte gastiert...“ „Das
sollte sich leicht herausfinden lassen,“ sagte der Vampir eilig. „So?“
fragte Gabriel ruhig. „Wir befinden uns in der Vergangenheit. Zur Zeit der
Jahrhundertwende. Die Massenmedien sind noch nicht so richtig modern.“
Obgleich seine Stimme weiterhin sanft, müde und ruhig klang, troffen sein
Wort vor Ironie. „Ich bekomme keine Zeitung geliefert. Ich müßte mich
schon dazu bequemen, eine Ausgabe zu kaufen, oder mich umhören. Und ich
habe im Moment die passende Währung nicht.“ „Ich
bin ein Vampir, mir fällt nicht schwer, Informationen zu bekommen.“ „Sagt
mal, bin ich in einer schlechten Sitcom gelandet?“ Anjuli schnaubte ärgerlich.
„Damals wurden doch Attraktionen via Plakat und Mundpropaganda angekündigt...“ „Normal
hört und sieht man, wenn ein Zirkus in der Stadt ist,“ unterbrach sie der
Vampir. „Aber ich habe auf meinen Streifzügen nichts davon gesehen oder
gehört.“ Gabriel
nickte nur. „Vielleicht
sind sie ja erst angekommen,“ sagte Anjuli. Aber irgendwie glaubte sie
nicht so recht daran. Plötzlich riß sie sich los und stampfte auf. „Verdammt!!“
mit ziemlicher Gewalt schlug sie ihre Hand gegen die Stirn. „Gabriel, weißt
du nicht, welche Zeit es ist?!“ Der Magier hob die Schultern, weil er
nicht genau wußte, worauf sie eigentlich hinaus wollte. „Ich denke Ende
November, Anfang Dezember...“ Er strich sich eine Haarsträhne aus den
Augen und schob sie hinter das linke Ohr. „Ich glaube, ich weiß was du
meinst. Es ist die Zeit für die Winterkirmes, den Andreasmarkt. Es kann ja
sein, daß es kein Zirkus ist, sondern eine Art...“ „Freakshow,“
beendete der Vampir Gabriels Vermutung. „Eine Freakshow im Gewimmel einer
Kirmes. Es würde nicht auffallen.“ „Ja,“
murmelte Anjuli. „Nur vermutlich machen wir einen Denkfehler. So alt ist
der Andreasmarkt glaube ich noch gar nicht.“ Gabriel wiegte den Kopf. „Vielleicht nannte er sich um die Jahrhundertwende noch nicht so. Aber wir sollten uns davon überzeugen. Ich will nur vorerst Calem nicht allein lassen und wir brauchen ein wenig Ruhe. Alle. Außerdem würde mich doch interessieren wer sie sind, und was sie von uns wollen.“
~to be continued~
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(c) Tanja Meurer, 2000 |