A Vampires Tale

Short Story

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Lysander fuhr hoch, noch bevor ihn der erste dieser Geschöpfe erreichte und schlug ihm seine Faust in sein verwesendes Gesicht, wobei er ein Wort ausstieß, in der selben alten Zaubersprache, die auch Justin schon verwendete. Seine Hand flammte in blauem, eisigem Feuer auf und wenn es seine Kraft nicht erreichte, so die Kraft seiner Magie, die den Gegner niederschlug und ihn hysterisch kreischend auf allen Vieren davon kriechen ließ. Für Sekunden sah Lysander, was ihn Angriff. Es waren wohl einst Menschen gewesen, aber sie waren aufgedunsen und wesentlich zu groß, zu muskulös, als habe jemand sie mit zuviel Luft aufgeblasen und anschließend mit Anabolika behandelt. Ein Auge des Wesens... Lysander hatte keine Ahnung, ob es ein Mann oder eine Frau gewesen war, wenigstens zu Lebzeiten, denn jetzt schien es diesen Geschöpfen gleich - verschwand unter einem Wulst Eiter schwärendem Fleisches, bei dem die Haut nur noch in feuchten, schimmligen Fetzen herab hing. Das andere Auge war ein gewaltiger, verdreckter Pfropf aus rot geädertem, gelb glühenden Gallert. Die Nase mußte schon vor langer Zeit abgerutscht sein, denn nur noch der Wurzelstumpf und der blanke, bräunliche Knochen sahen aus dem Ekzem bedeckten Fleisch. Die Mundwinkel waren ausgerissen und zu einer Grimasse gefroren, die Zahnstümpfe freigab und einen Geruch, als verwesten Innereien im Hochsommer. Knochen schienen mehrfach gebrochen und falsch zusammengewachsen zu sein und der Körper besaß Fortsätze an Rücken und Steiß, als wäre es im Wachstum von Schwanz und Flügeln gestoppt worden. Das Geschöpf trug nichts am Leib. Und vielleicht machte es das so schrecklich. Der Verfall und die Verwesung hatten es zur Unkenntlichkeit verändert.

Lysander zwang seinen Ekel gerade noch weit genug herab, um seinen Zauber zu vollenden, der eine Kugel aus Flammen bildete und mit einer gewaltigen, grellen Explosion unter den restlichen Untoten detonierte und sie verbrannte. Um ihn herum nahm der Geruch des Todes ab. Und  hinter den geschlossenen Fensterläden und Türen rumorte es. Licht fiel durch Türspalte und Ritzen, aber niemand wagte es, hinaus zu treten oder einen Blick zu riskieren. Lysander war froh darüber, denn er wollte nicht, daß ihn jemand sah. Nicht in der Form, die er angenommen hatte. Eilig reinigte er seine Hände in dem kalten Schnee und hob den besinnungslosen Vampir vom Boden auf. Seine Schwingen schlossen sich schützend über Justin. Es tat ihm weh, zu sehen, was sein Freund getan hatte, um die Menschen hier zu schützen. Der Zauber, der positive Energie freisetzte, verwundete Justin selbst und konnte ihn eines Tages vernichten. Zärtlich drückte er den kalten Körper des Vampirs an seine und ging zurück, in die Sicherheit des Hauses.

  

Lysander konnte Justin nichts von seinem Blut geben. Es hätte den Vampir mit der selben Sicherheit getötet wie die Energie, hätte er sie verstärkt frei gesetzt. Behutsam legte er ihn auf das Bett und zwang seine wahre Natur wieder in den Menschenkörper zurück. Es tat ihm weh; ein kleiner Tod, unendliche Qual, ein Todeskampf, der ihn immer ergriff, wenn er seine Form wechselte um zu dem zu werden, was er wirklich war, aber auch ein Ausgleich dafür, daß er nicht starb, sondern ewig lebte, vernichtete man nicht seinen Körper. Als er wieder klar denken konnte, der Schmerz auf ein erträgliches Maß sank, hockte er vor dem Bett auf dem Fußboden, verkrümmt wie ein Fötus und stumme Tränen rannen über sein Gesicht, versickerten in seinem langen Haarmantel, der sich um seinen nackten Körper gewunden hatte. Er spürte die Anwesenheit der alten Frau, ohne sie sehen zu müssen. Cecilia besaß eine ganz eigene Präsenz, die er nicht einzuordnen vermochte. Noch nicht.

„Was seid ihr?“ fragte ihre Stimme. Sie klang brüchig und alt, nicht flüssig, wie noch vor wenigen Stunden. Lysander richtete sich schwerfällig auf. Ihm taten die Muskeln weh und die Knochen und der Rücken... Das Atmen fiel ihm schwer, weil seine Lungen bis vor kurzem eine ganz andere Ausdehnung hatten und sein Herz litt unter der ständigen Belastung zwischen den zwei Körpern, die nicht einmal sehr verschieden waren, doch aber genügend, um ihm das anzutun. Er wußte, daß er nicht viel mehr Farbe hatte als der Schnee draußen und Schweiß und Tränen über seinen Körper rannen. „Ist das wichtig?“ fragte er leise.

Die alte Dame konnte sein Gesicht nicht sehen, denn er stand noch immer mit dem Rücken zu ihr vor seinem Freund. Traurig sah er auf Justin hinab, der wie tot da lag. Dann setzte er sich zu ihm und flüsterte sanfte Worte in dieser uralten Zaubersprache, wobei seine Hände Justins ergriffen. Noch während er die Magie in eine Form brachte, die Formel aussprach, spürte er, wie seine eigene Lebensenergie aus ihm herausfloß und in den Körper seines Freundes tropfte. Diese Form von Lebenskraftübertragung hatte nicht den gleichen heilenden Effekt, den Blut für Justin gehabt hätte, aber Lysander besaß genug Leben in sich, um seinen Freund wenigstens zu stärken.

Die alte Dame stand im Türrahmen, sah Lysander dabei zu, ruhig, ohne den Hauch von Angst zu zeigen. „Nein, wahrscheinlich ist es ohne Bedeutung,“ murmelte sie. Lysander brach den Strom an Lebenskraft zu Justin ab und wischte ihm den geschmolzenen Schnee von den Wangen. Der dichte Haarmantel gab Justins spitze Elfenohren frei. Langsam, um nicht ihren Blick dorthin zu lenken, strich er die Locken darüber und zog ihm anschließend die Stiefel aus. Dann deckte er ihn zu und küßte seine Wange.

„Ihr liebt ihn auf eure Weise,“ flüsterte Cecilia und schlang ihr Tuch eng um die Schultern.

Lysander sah sie lange schweigend an. Er dachte über ihre Worte nach und das Gefühl, was sich dabei manifestierte. Vielleicht war es eine Art von Liebe, die dieser tiefen Freundschaft anhaftete. „Ich glaubte lang, ich könne nicht lieben. Dann kam diese eine Frau und ich begriff mein Schicksal, nur einmal zu lieben. Auf diese Art werde ich nie für einen anderen  empfinden können.“ Er wußte, daß das stimmte. Aber es war auch nicht dieselbe Art von Zuneigung, die er Anjuli selbst jetzt noch entgegen brachte, sondern eine andere, die vielleicht leichter zu sein schien, es aber nicht war. „Ihr liebt ihn,“ sagte sie. „Ich kann es sehen.“

Lysanders Herz machte einen harten Satz. Er wußte, daß es stimmte. Mit gesenktem Kopf nickte er.

„Ihr seid Geschöpfe von großer Macht,“ sagte sie. „Und doch unterscheiden sich eure Gefühle und euer Verhalten nicht von dem eines Menschen.“

„Wir sind Fremde in einer fremden, Magie armen Welt,“ entgegnete Lysander und erhob sich. Ihn störte es nicht, daß die alte Dame seine Nacktheit sah. Aber es war ihm zu kalt und er fror beständig, auch durch die Entkräftung. Aus seiner Wandertasche nahm er sich den letzten Satz frischer Kleider, die nicht zerrissen waren und zog sie an. „Diese Welt ist den Geschöpfen, die aus der Finsternis und der Magie entstammen, hilflos ausgeliefert.“

„Und ihr...“ Sie hielt den Blick gesenkt und dennoch bemerkte Lysander, daß sie rot wurde.

Ihre Schamröte brachte ihn dazu zu lächeln. „Wir haben uns zur Aufgabe gemacht, diese Geschöpfe, die sich nicht an die Regeln dieser Welt halten, zu jagen.“

Nachdem er sich Hosen und Hemd angezogen hatte und seine Kleider ein wenig ordnete, trat er zu ihr und ergriff vorsichtig ihre knochige Hand. „Verzeiht mir mein ungehöriges Verhalten, Madame Cecilia. Es liegt mir fern, euch beleidigen oder beschämen zu wollen.“ Ihr Kopf neigte sich noch weiter, ein, zwei Sekunden, dann sah sie ihm direkt in die Augen, ernst und sorgenvoll. „Wollt ihr mir helfen zu erfahren, was meine Familie zerstörte, junger Freund?“

Lysanders Blick verschleierte sich einen Herzschlag lang. Seine Erinnerung an das Geschöpf wurde wach, an sein furchtbares Aussehen, seinen Gestank, das Gefühl, was er hatte, als seine Faust in dem verwesenden Fleisch halb versank.

„Ja,“ flüsterte er, und Madame Cecilia konnte den eisigen Schrecken, den er noch immer spürte aus dem Klang seiner Stimme heraushören.

 

Justin erwachte während des späten Vormittags erst und spürte das Gewicht von Lysanders Kopf, der auf seiner Brust ruhte. Der Magier lag halb über ihm, halb saß er auf der Bettkante.  Vermutlich wachte er den Morgen hindurch an seiner Seite und war irgendwann einfach eingeschlafen. Es widerstrebte Justin, Lysander zu wecken, aber er wollte sicher nicht den ganzen Tag hindurch in dem engen Zimmer liegen und warten, bis der Magier erwachte.

Sehr vorsichtig richtete er sich auf, was bereits ausreichte, daß Lysander hochschreckte. Benommen setzte sich der Magier hin und versuchte, zu sich zu kommen. Er fühlte seinen Schädel pochen und glaubte, das Zimmer drehe sich um ihn. Noch dazu schmerzte sein Nacken von der unbequemen Haltung. Sein Haar hing in langen Strähnen in seinem Gesicht. Justin bekam den Eindruck, daß es ihm wesentlich besser ging, als seinem Freund, dem offenbar noch jede Orientierung fehlte. „Wie geht es dir?“ fragte er leise und schob sich neben ihn. Lysander warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Durch die Bewegung setzte das Schwindelgefühl doppelt stark ein. Hätte Justin nicht sehr schnell zugegriffen, wäre Lysander hilflos von der Bettkante gerutscht. Dieses Mal dauerte es Sekunden, bis er sich wieder konzentrieren konnte. Sein Gehirn arbeitete lang noch nicht zuverlässig genug, aber ganz langsam wurde ihm klar, auf welche Weise diese Geschöpfe entstanden und was aus all den Männern und Frauen geschehen sein mußte, die verschwanden und nie wieder kehrten. Vermutlich reichte die Berührung aus, um selbst zu einem solchen Wesen zu werden. Er hatte einem solchen Untoten einen Schlag versetzt. Er würde sich nicht in ein solches Wesen verwandeln. Das war nicht möglich. Seine Art ließ es nicht zu. Aber diese Berührung wirkte sich nun auf andere Weise aus, ähnlich wie wenn er sich eine Vergiftung zugezogen hätte. Normales, tödliches Gift wirkte ja auch nur wie ein Betäubungsgift.

„Leg’ dich hin,“ bat Justin. Lysander aber zwang sich, den Kopf zu heben und die Gleichgewichtsschwankungen seines Körpers nieder zu zwingen. Minute um Minute saß er einfach nur reglos da und mobilisierte seine geistigen Fähigkeiten und seine Willenskraft. Justin kannte ihn gut genug, um zu wissen, daß Lysanders Dickkopf seine Ratschläge und seine Hilfe nicht annehmen würde. Schließlich stand er auf und reinigte sich gründlich, kämmte seine Haarpracht und kleidete sich sorgsam an. Fast eine halbe Stunde brauchte er, in der Lysander meditierte. Wenig nachdem der Elf mit seiner Morgentoilette fertig war, kehrte in Lysanders Augen Leben und er richtete sich aus dem Wust aus Decken und Kissen auf. „Sie vermehren sich über Berührung,“ sagte er. Es war eine ziemlich sichere Mutmaßung, aber eben nicht mehr. „Dir auch einen guten Morgen,“ knurrte Justin. Lysanders Blick wurde verlegen. Er legte seine Arme um Justin und zog ihn an sich. „Guten Morgen,“ flüsterte er und küßte seine Wange. Als er Justin los ließ, lächelte dieser. „Ich fühle mich gut. Hast du mir gestern Nacht geholfen?“

Lysander zog es vor, nicht zu antworten. Er kannte Justin, der es nicht mochte, wenn Lysander ihn mit seiner eigenen Lebenskraft versorgte. „Was genau ist gestern Nacht geschehen?“ flüsterte Justin, der auch gar nicht auf eine Antwort auf seine erste Frage hoffte.

„Die meisten von ihnen, die dir entgingen, habe ich vernichtet,“ erklärte er, während er sein Gesicht wusch. „Aber ich glaube nicht, daß das von Wichtigkeit ist, Justin,“ sagte er ernst und entkleidete sich vollständig. Das kalte Wasser reinigte ihn nicht annähernd so, wie er es sich wünschte, aber es gab ihm wenigstens die Befriedigung, wach zu werden durch das klare, kalte Wasser. Zärtlich, träumerisch betrachtete Justin seinen Freund, den er so sehr liebte. In seinen Gedanken zeichneten seine Finger jede Linie des ihm so gut vertrauten Körpers nach. Er glaubte sekundenlang sogar die weiche, weiße Haut zu spüren und die Wärme des lebendigen Mannes. „Darf ich dein Haar kämmen?“ fragte er und wußte, daß er sich dabei wie ein kleines, verliebtes Mädchen anhörte. Es störte Justin nicht. Lysander kannte jede seiner Eigenheiten und wußte, daß der Vampir sich nicht nur mehr zu seinem eigenen Geschlecht hingezogen fühlte, sondern besonders zu ihm, dem Magier. Er gestattete Justin eine Nähe, die eher die eines Paares war, als die enger Freunde. Wortlos reichte er ihm den weißen Elfenbeinkamm, der ihn als alles andere, aber keinen armen, wandernden Kunststudenten, auszeichnete.

„Lysander, wir bleiben,“ sagte Justin, ganz leise, während er versuchte, so vorsichtig als möglich das verwickelte Haar auseinander zu kämmen.

„Das war auch meine Absicht, zumal Madame Cecilia uns bat, nach dem Rechten zu sehen. Ich kann ihr nichts abschlagen, Justin. Diese alte Dame hat es innerhalb eines Abends geschafft, uns näher zu sein als ich es wollte.“

„Mitleid?“ fragte Justin vorsichtig.

„Nein, nur Sympathie. Und vielleicht der Instinkt die schwächeren und jüngeren Wesen zu schützen.“ Obwohl er wußte, daß er es Justin nicht einfacher machte, wenn er sich umdrehte, um ihn anzusehen, tat er es. „Machen wir uns sobald als möglich auf den Weg.“

 

Cecilia saß unten, in der ehemaligen Gaststube, als Justin und Lysander eintraten. Sie hatte die Fensterläden geöffnet und kalte, klare Winterluft strömte in den Raum, der jetzt, im grauen Tageslicht ein wenig von seiner Behaglichkeit verloren hatte. Dennoch brannte im Kamin ein neues Feuer. Als sie Justins überraschten Blick bemerkte, ließ sie ihr Buch sinken und lächelte freundlich. „Der Küster war vorhin hier und half mir Holz herein zu bringen. Er und der Pfarrer erzählen, daß in der Nacht ein helles Feuer und ein Ball aus lebenden Flammen durch die Nacht gegangen sei. Die Kreaturen die die Kinder stehlen wollten, sind, so denken sie, dank Gottes Hilfe zurück geschlagen worden. Der Küster erzählte, er habe vom Turm zwei Engel gesehen. Einen, ohne Flügel, gehüllt in gleißendes Licht, ein anderer schwarz. Er sprach von dem Todesengel, der gekommen sei die Stadt zu befreien und einem himmlischen Boten, der seinen Sieg verkündet.“ Ihr Tonfall war voller Ernst und Ruhe. Plötzlich Lachte sie, sehr hell, fast wie ein Kind. „Ihr beiden wißt es besser.“

Lysander gefiel es gar nicht, daß ein anderer sie beobachtet hatte. Im Gegenteil. Es machte ihm Sorgen. Wieviel konnte der Mann mitbekommen haben? Auch seine und Justins Künste waren begrenzt. Schließlich senkte er nur betrübt den Kopf und schob die vorläufige Lösung des Problems auf einen besseren Zeitpunkt. Wenn die Menschen hier glaubten, ihr Gott habe seine Boten geschickt, bitte. Besser sie glaubten daran, als daß sie die Wahrheit erfuhren.

„Madame, nennt uns den Ort, an dem ihr die Fremden vermutet,“ bat Justin. Seine Stimme klang gepreßt, genauso schwer, wie Lysanders Gedanken verliefen.

Sie deutete ein Kopfschütteln an. „Ich werde euch führen.“

Justin betrachtete sie besorgt. „Nein, kommt nicht in Frage,“ rief Lysander. Abe bevor er auch nur ein weiteres Wort sagen konnte, machte sie eine knappe Handbewegung, die ihm, als eigentlich Jüngeren das Reden untersagte. „Ich begleite euch,“ sagte sie bestimmt. „Ich bin alt. An mir werden sie kein Interesse haben. Und wenn ich sterbe, so ist das nicht schlimm. Ich will nur endlich meinen Frieden finden. Und ich bin die Einzige hier, die weiß, wo sie sich aufhalten.“ Cecilia stand schwer auf ihren Stock gestützt auf und trat auf die beiden Männer zu. „Ihre Residenz ist nicht so weit von hier.“ Sie nahm Justins Hand in die ihre und drückte die kalten Finger des Vampirs. „Wenn ich noch leben sollte, nach dem allen...“ Sie sah zwischen den beiden Männern hin und her. „Versprecht mir, meinen Frieden zu geben.“

Fassungslos betrachtete der Vampir sie, entsetzt über ihre Bitte. Lysander nickte sachte. „Ich werde euren Wunsch respektieren, Madame.“

„Wie?“ fragte sie aus einem Impuls heraus, der ihren Lebenswillen noch einmal zeigte.

„Ihr werdet es nicht bemerken,“ sagte Lysander leise, sanft lächelnd. Das Gefühl von Zuneigung und Wärme umfing die alte Dame, als sie begriff, daß dieser schlanke, zarte Mann wirklich der Todesengel war und er sich zur Aufgabe machte, sie zu hüten und zu schützen um ihr ein würdiges und glückliches Ende zu bereiten. Justins Blick hing an dem alten Gesicht, was soviel ausdrückte, die hellen Augen und der wache, klare, wissende Blick und ihm wurde bewußt, daß er diese zerbrechliche Frau, deren Körper unter der Last eines Menschenlebens ächzte, unterschätzt hatte. Ihren Mut, ihre Klugheit, ihre Sehnsucht nach Frieden, den sie erst fand, waren ihr Geliebter, ihr Mann und ihre Kinder gerächt, oder in Frieden an ihrer Seite.

Er begann ihre Schönheit zu sehen, das was jeder andere Ignorierte, ihre verletzliche Seele und das Wissen über Dinge, die unaussprechlich waren. Hatte Lysander schon von Anfang an tiefer geblickt, als er? Justin wußte es nicht. Aber selbst wenn nicht, jetzt sahen sie beide Cecilia mit anderen Augen. „Wir sollten vielleicht bald aufbrechen,“ sagte der Vampir leise.

 

In den Augen Lysanders war es nicht vertretbar, daß die alte Dame auch nur einen Schritt mehr lief, als unbedingt notwendig. Seine Finger woben in der leeren Luft arkane Symbole, während er eine lange, komplizierte Formel in dieser uralten Sprache intonierte, die eigentlich nicht für die Ohren der Menschen dieser Welt bestimmt war. Cecilia beobachtete Lysander schweigend. Sie konnte fühlen, wie sich die Luft um sie herum auflud, wie sie Substanz zu gewinnen schien. Hauch feiner Nebel flirrte in der Wintersonne. Es brauchte Sekunden, bis sie begriff, daß dieser Nebel eben erst aufzog... Dann zog er sich immer weiter zusammen und gerann zu einer durchscheinenden Gestalt, die sich erst langsam zu füllen begann. Graue Schwaden wurden zu einem Pferdekopf, zu einem muskulösen Rumpf und gewannen an Stofflichkeit, bis das Geschöpf wirklich war. Einzig seine schwarz graue Mähne und der Schweif, sowie die Hufe zerfaserten im Nebel. Schwarze Augen, in denen tief unten ein rotes Feuer brannte, betrachteten abwartend Lysander, der dem Blick der Kreatur aus den Schattenwelten stand hielt. Er mußte nicht sprechen. Dieses Ding war kein Tier, sondern ein Konstrukt der Magie, Material aus der Ebene der Schatten, das die Form eines Pferdes besaß, weil Lysander es so wollte. Die vermeintliche Intelligenz in den abgründigen Augen des Wesens, war Lysanders eigener Verstand. Das Pferd war sein Geschöpf und damit mit ihm verbunden, Teil seiner Aufmerksamkeit und seines Bewußtseins, sonst nur eine leere Hülle. „Laß mich raten, wir laufen?“ fragte Justin lächelnd, wobei seine Fangzähne sich deutlich im Kontrast zu seinen roten Lippen abzeichneten. Lysander drehte sich halb zu ihm um und verzog spöttisch die Lippen. „Du bist das Faulste, was mir je von deiner Art über den Weg gelaufen ist.“

Fragend sah Cecilia zu den beiden Männern hoch. Sie bemerkte sehr wohl die langen, schmalen, weißen Zähne des Vampirs, der mitten in der Wintersonne, im Schnee, am Fuß des Baches, den sie gerade überquert hatten, stand, die Hände in die Hüften gestemmt und seinen Freund ärgerlich an funkelnd. In einer geschmeidigen, schnellen Bewegung, die Cecilia nicht nachvollziehen konnte, Lysander sehr wohl, griff sich Justin eine Hand voll Schnee und warf sie seinem Freund ins Gesicht, der gerade noch schnell genug ausweichen konnte. „Ich habe das Gefühl du brauchst eine kleine Abkühlung, liebster Freund,“ lächelte Lysander und wurde mit einem Schneeball konfrontiert. Er aber war nicht der einzige. Auch Justin spuckte Schnee. Unschuldig lächelnd stand die alte Dame zwischen den beiden Männern.

Justin blinzelte sich das Wasser aus den Augen und grinste breit. „Ich wünschte, ich hätte euch früher getroffen. Ihr seid eine ganz besondere Dame.“

Lysander schüttelte den Schnee aus seinem Mantel und wischte sich das Gesicht trocken, bevor er ein zweites Phantompferd erschuf, was dem ersten absolut glich. Einen Unterschied aber gab es doch, dieses Geschöpf verband er nicht mit seinem eigenen Geist, wenigstens nicht vollständig, sondern Justins. Fast augenblicklich tollte das Konstrukt wie ein Kind, ausgelassen durch die winterlich weißen Felder und die Weinreben und führte sich auf, wie sich Justin gerade fühlte. „Rufe es zurück,“ sagte Lysander, die Brauen ein wenig zusammengezogen. Justin nickte und gab seinem Pferd einen unhörbaren Befehl, der es sofort zurückkehren ließ.

„Darauf soll ich Reiten?“ fragte Cecilia beunruhigt und sah zu dem Geschöpf auf, was eigentlich auf die Körpergröße Lysanders angepaßt war, nicht auf die ihre. „Es hat weder Sattel noch Zaumzeug und irgendwie ist es unheimlich... Es geht doch nicht in Stücke, wenn ich aufsteige?“

Lysander lächelte. „Nein. Und wenn es euch beruhigt, ich werde mit euch reiten. Ihr werdet also nicht herabfallen und ihr könnt mir vertrauen. Ich bin ein guter Reiter.“

Sie sah ihn noch einige Sekunden zu Lysander auf, nicht mißtrauisch, aber ein wenig Ängstlich.

Er deutete zu Justin, der keine Lust hatte, sich in irgendeiner Weise zusammen zu reißen. Er rannte neben dem Geschöpf her und griff plötzlich nach der Mähne, um sich aus der Bewegung heraus auf den Pferderücken zu schwingen. Sein dichter Haarmantel, der seine Elfenohren verbarg, wehte auseinander und gab die langen, schlanken Spitzen frei. Doch das störte Justin nicht. Er galoppierte durch die Reben, wobei sein Mantel aufklaffte und die Laute auf seinem Rücken darin einschlug. Deutlich ängstlich sah Cecilia zu Lysander auf. „Ich sagte, ich bin ein guter Reiter, aber nicht von allen guten Geistern verlassen,“ lachte dieser. „Justins Temperament leitet sie beide gerade. Er wird sich bald wieder unter Kontrolle haben. Hoffe ich wenigstens. Sonst werde ich ein wenig nachhelfen.“ Er betrachtete die alte Dame, die immer noch Justin zusah. „Darf ich euch helfen?“ fragte Lysander leise. Cecilia drehte sich entschlossen um, das Abenteuer, auf das sie sich eingelassen hatte, zu wagen und nickte.

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(c) Tanja Meurer, 1998