Wishmaster

Kapitel 3: Unerwartete Hilfe

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Das Haus zu verlassen gestaltete sich einfacher, als es sich die Zwillinge es zu träumen erhofft hatten, auch wenn Lea noch wach zu sein schien. Natalie sahen sie nicht mehr. Wo immer sie war...

Nachdem sich die Türe hinter ihnen geschlossen hatte, wurde Megumi sehr schnell klar, daß sie keine Ahnung hatte, wohin sie sich wenden sollte. Mehr noch. Ihre Freunde hatten schon einen großen Teil von Ingelheim abgesucht. Und, was, wenn sie sich wirklich in den Zug nach Mainz gesetzt hatte? Was, wenn sie per Anhalter gefahren, und gekidnappt worden war...?

Fast befürchtete Megumi schon die Frage des Wohin, aber Setsuna schwieg. Er sah sich kurz um und wendete sich zur Hauptstraße, aus der Siedlung heraus. Megumi folgte ihm, ein wenig erleichtert. So blieben ihr noch einige Minuten für eine Entscheidung. Minuten unangenehmen Schweigens.

Sie hakte sich bei Setsuna unter und drückte sich enger an ihn. Nach einigen Sekunden befreite er sich von ihren Händen und legte seinen Arm um ihre Schultern.

„So besser, Megumi?“

Sie nickte und kuschelt sich an ihn.

„Wenn ihr es miteinander treiben würdet, wäre das auch kein Wunder mehr...“

Die Zwillinge erkannten zwar sofort Natalies Stimme, sahen sie aber zuerst nicht.

Verwirrt sah sich Megumi um. „Wo bist du?“

Natalies Schatten löste sich von dem halb von verfilzten Büschen überwucherten Starkstromkasten an der Straßenecke und kam ihnen ein paar Schritte entgegen. Sie warf einen Zigarettenstummel zu Boden und trat ihn aus, nur um gleich wieder ein Päckchen Malboro aus der Manteltasche zu ziehen und eine neue Zigarette herauszuschnicken. Sie nahm die Zigarette zwischen die Lippen, nahm sie aber gleich wieder in die Hand und sah wieder auf. Zugleich steckte sie das Päckchen wieder ein. Sie grinste schief. „Wie ist es? Wollt ihr Giovanna retten gehen?“

 

Sie kassierte einen bösen Blick von Megumi, was Natalie nicht sonderlich störte. Gähnend reckte sie sich und strich sich eine Haarsträhne aus den Augen, bevor sie wieder die Zigarette zwischen ihre Lippen nahm und ein Feuerzeug aus ihrer Hosentasche zauberte. Erwartungsvoll sahen sie die Zwillinge an. Es mußte schließlich einen Grund geben, weshalb sie sich hier draußen herumtrieb und den Starkstromkasten warm hielt. In aller Ruhe, provokativ gelassen, zündete sie sich die Zigarette an. „Dabei wollte ich mal ein paar Lorbeeren einfahren,“ sagte sie beiläufig

Megumi zog die Brauen zusammen. „Wovon redest du?“

„Anjuli Killraven,“ antwortet Natalie zwischen zwei Zügen. Sie blies den blauen Rauch in die eisige, feuchte Nachtluft.

„Ich habe beide Nummer ausprobiert. Anjuli Killraven ist die Fahrerin... Na ja, das war sie, vor vier Jahren. Versteht ihr, was ich meine?“

Megumi schüttelte verwirrt den Kopf.

„Laß sie reden,“ bat Setsuna.

Natalie nickte ihm gespielt freundlich zu. „Sie erinnerte sich noch sehr gut an Giovanna.“

„Du hast sie mitten in der Nacht hier her gescheucht?“ rief Setsuna, sah sich dann, bei dem Gedanken, daß seine Stimme bei der nächtlichen Stille weit hin zu hören war, nervös um.

„Hab ich davon was gesagt?!“ Knurrte Natalie zwischen zwei Zügen. „Nein, ich hatte nicht sie, sondern ihren Bruder dran. Aber er wußte sofort, von wem ich gesprochen hatte. Scheinbar kennt er Giovanna auch.“ Sie zuckte die Schultern. „Klingt süß, der Kleine...“

„Und was weiter, Natalie?!“ drängte Setsuna. „Können die beiden uns helfen? Ist Giovanna bei ihnen?“

Natalie sah auf und schnippte die Asche in den Wind. „Nein. Giovanna ist nicht bei ihnen. Außerdem arbeitet Anjuli wohl immer schon sehr früh und dann auch noch in einer anderen Stadt. Frankfurt oder so. Sie kann uns nicht helfen. Aber er kommt wohl her.“

Überrascht hob Megumi die Brauen.

„Sie helfen uns, einfach so?“

„Meg, das machen die nicht wegen uns. Bilde dir da nichts ein. Hier geht es einzig und allein um Giovanna.“

„Ach ne, hätte ich jetzt gar nicht gedacht, Natalie!“

Setsuna schüttelte den Kopf. „Was wollen wir machen? Noch mal alles hier absuchen? Das halte ich für Schwachsinn. Sie ist in Mainz. Da bin ich mir sicher.“

Natalie schnippte ihre angerauchte Zigarette fort und schüttelte abschätzend den Kopf. „Und hast du auch eine Ahnung wo? Ich meine, die Stadt ist vielleicht ne Lachnummer gegen Frankfurt aber viel größer als Ingelheim. Und von daher würde ich mal sagen, solltest du schon nen Geistesblitz haben. Sonst schippern wir sinnlos durch die Gegend.“ Sie lächelte böse. „Aber ihr beiden wißt doch sicher den einen oder anderen Anhaltspunkt?“

Megumi blinzelte... In welcher Sekunde hatte Natalie bemerkt, was sie wirklich konnten? Wußte sie es denn? Die Zwillinge kannten ja ihre eigenen Kräfte noch nicht...Oder verarschte sie Megumi und Setsuna nur wieder?

„Also habe ich wohl recht,“ sagte Natalie leise und senkte den Blick. So ernst kannten die Zwillinge sie gar nicht. Und es schien kein Spott oder eine Herausforderung in ihren Worten verborgen zu sein. Im Gegenteil. Es war einfach nur eine Feststellung. Beide erwarteten mehr, irgendwelche schlauen Worte, einen Spruch, Zynismus... Aber von alledem hörten sie nichts. Natalie nahm nur wieder ihre Zigaretten aus der Tasche und zündete sich eine weitere an. Sie nahm ein tiefen Zug und blies den Rauch in kleinen Ringen in die eisige Nachtluft.

„Wann kommt dieser Mann?“ Setsuna fühlte sich unwohl, ertappt von Natalie, und ihr Schweigen machte ihn nervös.

„Ich weiß nicht. Kann nicht mehr lange dauern. Hab ihn vor ner Halben Stunde erreicht.“

„Ah,“ murmelte Setsuna.

Natalie zog eine Grimasse und verdrehte die Augen. „Was für ein intelligenter Kommentar!“

Megumis Aufmerksamkeit wurde von zwei kleinen Lichtpunkten in Anspruch genommen, die gerade von der Hauptstraße in die Siedlung schwenkten und langsam näher kamen. „Habt ihr einen festen Treffpunkt ausgemacht?“ fragte sie leise.

„Ja...“ murmelte Natalie und schnippte die Asche fort. „Hier.“ Sie nahm noch einen tiefen Zu, der die Spitze der Zigarette orange rot aufglühen ließ, bevor sie sie zu Boden warf und austrat. „Anjuli Killraven ist sehr nett und geduldig. Außerdem muß sie ähnlich freundschaftliche Gefühle für Giovanna hegen, wie ihr beiden.“

„Ich dachte, du hättest mit ihrem Bruder gesprochen?“

„Hab ich. Und ich sagte auch, daß er echt nett ist, oder?“ Sie grinste unverschämt anzüglich. „Der Kerl hat ne tolle Stimme. Wenn er nun auch noch so aussieht, dann freß‘ ich ihn auf, ehrlich!“

„Und wo wollen wir dann noch suchen?“ lenkte Megumi das Thema auf Giovanna zurück.

„Wo wolltest du hin, du Dummkopf?“ entgegnete Natalie ungerührt. „Sie ist mit ziemlicher Sicherheit nicht hier. Vielleicht in irgendeinem Keller eines Altbaus, vielleicht in einem öffentlichen Gebäude, aber mal ehrlich, das hier ist totale Provinz!“

Diese Worte lösten in Setsuna etwas aus... und er begann durch Giovannas Augen zu sehen. In Sekundenbruchteilen sah er Dinge, die ihr auf ihrem Weg aufgefallen waren... Aber alles ging so schnell, daß er nicht de Hälfte der prägnanten Wegpunkte erfaßte, oder umzusetzen im Stande war. Schlimmer noch. Alles begann sich zu drehen. Ein Reigen von Bilden, von Plätzen und Orten, mal ein Haus, ein Turm, Autos, Schneeflocken, Gesichter... Angst, Schmerz. Er fühlte sich zu tief in sie!

Das Kaleidoskop war so verwirrend schnell und hektisch und bunt... so... so...

Neben ihnen hielt ein kleiner schmutzig roter Wagen an...

„Ist was?“ Natalie kam mit ausgreifenden Schritten auf ihn zu und ergriff seinen Arm, als er kurz taumelte und sich an Megumi festklammerte. Irgendwie klang das Mädchen besorgt... Auch Megumi versuchte ihn zu halten, aber seine Hand entglitt ihrer. Aber beide Mädchen gelang es nicht, ihn aufzufangen...

Noch im Fallen merkte er, daß ihm schwindelig war und schlecht...

Dann fühlte er Arme, die sich um ihn schlangen, und mit ihnen wurde die Verbindung zu Giovanna gekappt. Plötzliche Wärme und Geborgenheit erfüllten ihn, aber auch eine gewisse Desorientierung.

„Setsuna!“ Megumis Stimme drang durch die Nebel und begann sie zu klären.

Aber es waren nicht ihre Arme, die ihn noch immer hielten. Mühsam blinzelte er die Nebelschleier und schwarzen, zuckenden Blitze fort.

Ein heller Fleck, umrahmt von tiefer Finsternis neigte sich über ihn. Weiches, langes, duftendes Haar strich über sein Gesicht. Es kitzelte.

„Wie geht es dir,“ fragte eine dunkle, ruhige Stimme. Eine warme, sanfte Stimme... Irgendwie schien sie in Setsuna nachzuschwingen und berührte etwas in ihm. Langsam nahm der helle Fleck Gestalt an. Das Gesicht, was sich aus den Nebeln Schälte war unbeschreiblich schön und rein und zart. Und es lag eine unglaubliche Ruhe darin, Frieden und Geduld, Sanftmut und Sorge. Zwei schimmernde, grüne Augen sahen zu ihm herab, Halb geschlossen, umrahmt von dichten, schwarzen Wimpern. Das Gesicht war so zerbrechlich wie das eines Elfen-Mädchens und so ebenmäßig wie eine perfekte Büste. Langes, glattes schwarzes Haar fiel offen über die Schultern dieses Mannes und umhüllten ihn wie ein Mantel. Setsuna spürte sofort, wie sehr er sich zu ihm hingezogen fühlte... Und es erschreckte ihn im selben Maße, und ebenso heftig, wie er sich in ihn, diesen jungen Mann, verliebte.

Und jung war sein Gegenüber... obgleich diese Augen... sie waren lt. Hatten alles gesehen und Frieden geschlossen mit allem. Zugleich war da etwas, ein Erkennen, als habe er ihn schon einmal gesehn. Vor langer Zeit... Vor endlos langer Zeit.

„Alles in Ordnung?“ fragte der junge Mann leise.

Setsuna spürte, wie ihm diese Stimme durch Mark und Bein ging und seine Hände feucht wurden, aufgeregt zitterten.

„Ja,“ murmelte er.

Über das Gesicht seines Gegenübers huschte ein Lächeln. „Soll ich dich ins Haus zurückbringen?“ fragte der junge Mann. „Du machst nicht den Eindruck, dich noch lange auf den Beinen halten zu können.“

„Nein,“ widersprach Setsuna. „Nein, nein. Ich hatte nur...“

„Du mußt dich nicht rechtfertigen,“ unterbrach ihn der Junge, bevor Setsuna sich um Kopf und Kragen reden konnte. Er ergriff mit einer Hand Setsunas und zog ihn auf die Füße. Vermutlich war dieser Junge nicht viel älter als Setsuna, nur ein paar... zwei, drei? Doch war er unwahrscheinlich groß und feingliedrig. Schmal... Seine schlanken, langen Hände erinnerten an die eines Pianisten. Vermutlich spielte dieser Junge Klavier... Seine Beine waren so lang, und trotz des Mantels, den er trug, konnte man sehen, wie zart er doch war.

Setsunas nie wurden wieder weich. Aber diesmal wegen diesem Jungen.

Er hielt eine ganze Weile den Blick Setsunas gefangen, bevor er sich zu Megumi Natalie umdrehte. Die Mädchen stand ebenfalls wie vom Donner gerührt da und starrten den Jungen an.

„Mit welcher von euch beiden hatte ich vorhin gesprochen?“

Natalie regte sich. „Das war ich...“

Sie klang unsicher, nervös.

„Ich bin Gabriel...“

„Anjuli Killravens Bruder?“ fragte Megumi leise nach.

„So kann man das auch nennen,“ antwortete er lächelnd. „Ja. Übrigens hat es sich Anji nicht nehmen lassen, mich zu fahren.“ Er verzog verächtlich die Lippen.“

„Schwatz keine Opern, steig ein!“

Gabriel drehte sich zu dem Wagen um. Setsuna folgte seinem Blick.

In dem kleinen Ford saß eine junge Frau. Wie Gabriels Haar war auch das ihre schwarz, aber nicht lang, sondern Kinnlang. Auch sie hatte diese unmenschlich blasse Haut und ein ähnlich androgynes Gesicht. Auch ihre Stimme war etwas tiefer. Aber irgendwie fand sich in ihr Härte und weibliche Weiche zusammen. Gemeinsam verlieh es ihrem Gesicht etwas ungewöhnliches, reizvolles. Zudem schien sie ebenfalls schlank zu sein und ziemlich viel Jünger, als Setsuna angenommen Hätte. Er schätzte Anjuli auf höchstens Mitte zwanzig.

Ein unverschämtes Grinsen huschte über ihre Lippen und sie blinzelte, als habe sie seine Gedanken gelesen. Unsicher blickte Setsuna zu seiner Schwester und Natalie. Aber die Beiden Mädchen sahen auch nur still in das Wageninnere. Also hatte er seine Gedanken nicht laut ausgesprochen „Hey, wo habe ich Giovanna zu suchen?!“ Anjuli wurde bei diesen Worten augenblicklich wieder ernst. „Kommt, steigt ein! Ich friere mir hier was wichtiges ab!“

 

„Sie war am Bahnhof, aber auch an der Burgkirche... Einige Sachen habe ich nicht erkannt... Sie war an so vielen Orten... Sie ist in einem anderen Bahnhof gewesen, und an lauter Orten, die ich nicht kenne!“ Setsuna saß hinter Anjuli, weil er etwas größer war als Natalie und Megumi. Hier, im Wagen war es schön warm und die Musik, die lief gefiel ihm sehr gut. Die Geschwister Gabriel und Anjuli schienen Beide Goth zu sein.

„Du bist schon ne seltsame Type. Was kannst du denn sonst noch? Wächst dir Gras aus der Hose?!“ Natalie versuchte verächtlich zu klingen, aber sie spürte zu deutlich, daß e einfach nur lächerlich klang, flach.

Setsuna antwortete nicht. Er beobachtete Gabriel, der neben seiner Schwester saß und wortlos nach draußen sah. Schnee trieb im Wind, als sie über die Autobahn nach Mainz fuhren. Anjuli war eine wilde, schnelle Fahrerin. Geschwindigkeitsbegrenzungen schien sie rigoros zu ignorieren, und die Tatsache, daß weder Sicht noch Straßenverhältnisse dieses Tempo zuließen, störte sie nicht im Mindesten. Aber keines der Kinder sagte ein Wort dazu.

„Warum redet Giovanna noch immer von dir, als wärest du noch ihre Fahrerin?“

Megumi setze sich etwas auf und sah zwischen den Vordersitzen hindurch, um einen Blick auf Anjulis Gesicht zu werfen.

„Ich weiß nicht,“ antwortete die junge Frau. „Vielleicht, weil sie es sich wünscht. Als wir uns zuletzt sahen, habe ich versprochen, sie immer mal wieder zu besuchen. Aber es kam immer mehr dazwischen, und so gab ich auf, auch, weil ich sie aus den Augen verlor. Ihre Adresse war nicht mehr beschaffbar... Naja.“ Anjuli sah kürz über die Schulter zu Megumi und lächelte flüchtig. „Wahrscheinlich wollte sie es nicht wahrhaben. Giovanna hat unheimlich viel Phantasie und sie rückt sich ihr Leben, wie sie es braucht. Schließlich hat die Wirklichkeit ihr zu schlimm mitgespielt. Aber das tut wohl jeder in Maßen. Anders erträgt man das Leben kaum.“ Sie lächelte schief. „Jeder hat seine Wünsche, Hoffnungen, Träume, und jeder baut sie auf seine Art in seine perfekte, nicht perfekte  kleine Welt.“

Ihre Worte waren seltsam. Sie sprach aus, was Megumi dachte...!

Sie sah kurz über die Schulter zu Megumi zurück. „Im Grunde versuche ich so nur meine Schuld ihr gegenüber zu verbergen. Ich möchte gutmachen, daß ich nicht für sie da war, als sie mich gebraucht hat.“

Sie lächelte. „Weißt du, Megumi, ich bin wie alle anderen. Wenn man jemand nicht mehr sieht, oder ihm nah ist, vergißt man gerne.“

„Ich will sie nie allein lassen,“ murmelte Megumi in plötzlich aufkeimendem Trotz.

„Mach dich nicht lächerlich, Meg,“ knurrte Natalie. „Wäre Giovanna weggelaufen, wenn sie dir mehr vertraut hätte?“

Bevor Megumi ein Wort sagen konnte, antwortete Anjuli. „Sie wäre weggelaufen. Ich weiß wie sie ist. In ihr ist etwas unglaublich Selbstzerstörerisches.“

Anjuli trat etwas auf die Bremse und fuhr die Kurve in der Spurverengung ein wenig langsamer.

„Ich habe sie in einer kalten Höhle gesehen,“ murmelte Megumi.

„Höhle?“ Setsuna sah zu ihr. „Davon hattest du mir nichts gesagt.“

„Es war wahrscheinlich nur Einbildung.“ Das Mädchen ließ den Kopf hängen.

Verächtlich schnaubte Natalie und sah aus dem Fenster.

„Mainz hat vielleicht viele Höhlen und alte Keller und Stollen, aber um die alle zu finden, werden wir kaum die Zeit haben, mal davon abgesehen, daß viele zu sind, Vermauert, ausbetoniert... such dir war aus...“ Anjuli stockte und blinzelte plötzlich.

Auch Gabriel schien ein Gedanke zu kommen.

Er drehte sich im Sitz zu Megumi um. „Kann es auch ein alter Wehrgang gewesen sein? Oder ein alter Luftschutzbunker?“

Megumi lehnte sich zurück und schloß die Augen. Sie versuchte sich das Bild zurück in ihre Erinnerung zu rufen... Schemenhafte schälte sich das Bild aus der Dunkelheit hinter ihren Lidern. Giovanna, allein in dieser Kälte, dem Gang...

Plötzlich stand sie wieder dort... In einem niedrigen Tonnengewölbe, einem flachen, ausgemauerten endlosen Gang. Staub und Schimmel und Spinnweben verhüllten den Blick auf gewaltige Quader. Rostige Metallstangen Bohrten sich durch die Wände und Decken und Böden. Das alles wurde gestützt.

„Wehrgang,“ flüsterte sie. „Ich glaube, das ist ein alter Wehrgang aus der Antike!“

„Willst du wissen wie viele hunderte es davon gibt?“ Natalie drehte sich zu Megumi um und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Giovanna war damals auf der Schule am Hartenbergpark,“ sagte Gabriel leise und sah dabei Natalie an, als müsse sie jetzt verstehen, wovon er redete.

„Und?“ fragte sie etwas freundlicher. Dann schien ihr klar zu werden, worauf Gabriel hinaus wollte. „Du meinst die alten Wehrgänge aus der Römerzeit? Sind die nicht alle zu?“

Anjuli setzte den Blinker rechts und fuhr Richtung Stadtmitte von der A60. Draußen flog die nächtlich daliegende Landschaft in schwarzen Schemen vorbei. Ihnen kamen zeitweise Autos auf der Gegenspur entgegen, aber nennenswert viel Verkehr gab es nicht. Es war definitiv Sonntag.

„Die Wehrgänge sind zu. Wenigstens glaube ich das. Aber sicher bin ich mir nicht.“

Anjuli sah nach hinten. „Der Park ist weitläufig und es gibt sicher in den Wäldern und an den Böschungen etliche Zugänge die aufgebrochen und benutzbar sind. Darin findet sich schnell ziemlich übles Gesindel, oder Obdachlose, die sich vor der Kälte zu schützen versuchen...“

„Woher weißt du soviel über den Park und die Wehrgänge?“ fragte Setsuna.

„Ich war dort oben auf der Berufsschule. Zudem habe ich Bauzeichner gelernt. Wenn es um alte Architektur hier geht, bin ich wenigstens halbwegs auf zuverlässigem Wissensstand. Mal davon abgesehen, weiß Giovanna von mir, daß es dort die Wehrgänge gibt.“

Sie drosselte das Tempo und fuhr in den Europa- Kreisel. Die Fahnen hingen schmutzig an den Fahnenstangen. Der Pflanzenbewuchs in dem Kreisel verschwand bereits unter einer dünnen Schneeschicht. Der Wagen rutschte zwar ein wenig, blieb aber, dank Anjulis Fahrkünsten in der Spur.

Megumi seufzte erleichtert. „Bist du immer so schnell?“

„Bin halt ex- Profi,“ grinste die junge Frau. „Ich hab drei Jahre Fahrer- dasein hinter mir. Ich hab mein Auto schon im Griff Megumi. Mach dir keine Sorgen.“

„Das sagt sie immer,“ murrte Gabriel. „Deshalb hat sie mich auch nicht allein fahren lassen.“ Er lächelte versonnen und sah zu Anjuli hinüber. „Zugegeben, sie fährt zehn mal sicherer und besser. Ich bin ganz froh bei dem Wetter nur Beifahrer zu sein.“

„Ich hätte dir auch den Hals umgedreht, wenn du versucht hättest mein Auto zu Schrotten, oder deine Krücke von Auto...“

Sie gab hinter dem Kreisel wieder Vollgas und fuhr die Schnellstraße nach Mainz hinein.

Rechter Hand flog das Universitätsgelände an ihnen vorüber. Setsuna seufzte leise. Noch immer hoffte er, eines Tages dort studieren zu dürfen. Aber wenn er sich nicht etwas mehr Mühe in einigen seiner Fächer gab, würde er wohl seinem Traum Geschichte zu studieren nicht sehr nahe kommen...

Natalie sah ihn argwöhnisch an, verkniff sich aber jeden Kommentar.

Das Mädchen schien sich gerade bei Setsuna immer ein wenig seltsam zu verhalten. Manchmal ging sie ihn härter an, als notwendig, manchmal schwieg sie, wenn jeder einen Kommentar erwartete.

Setsuna zog Megumi in seine Arme und legte den Kopf in die Polster. Sein Schädel brummte und rumorte. Das alles war zuviel für ihn. Und er war sich nicht sicher, wie lang er noch dem Druck seiner Gedanken und der Erlebnisse der letzten 24 Stunden standhalten konnte.

Auch Megumi schien es nicht sonderlich gut zu gehen, denn sie zitterte leicht. Aber sie war hellwach. Sonst, um die zeit schlief sie schon hab. Aufregung, Adrenalin, Angst, Schrecken... all das, was auch ihn zur Zeit auf voller Energie laufen ließ. Aber wie lang reichte diese Kraft? Wie lange würde das die beiden noch aufrecht halten?

Natalie, im Gegensatz zu ihm, war es gewohnt bis in den frühen Morgen auf den Beinen zu sein, einen Teil der Schulzeit zu verschlafen. Natalie war ihm ein bißchen zu gut drauf und zu wach...

Anjuli bog gerade auf Höhe des Unicampuses in den Martin- Luther- King- Weg ein. Die Eissporthalle lag in der Finsternis wie ein gewaltiger, schlafender Drache da, dachte Setsuna. Es war nicht seine Erinnerung, sondern die Giovannas... Sie hatte wohl Angst gehabt, als sie das Bild gesehn hatte, die flache, weitläufige Kuppel, die Leere umher...

„Ah... Oratio und Manuel,“ murmelte Anjuli und riß ihn damit in die Wirklichkeit zurück. Er sah sich hastig um... „Wer? Wo?“

Anjuli grinste breit. „Als ich Giovannas Fahrerin war, hatte ich zwei Jungen aus dem alten Ami- Viertel da drüben mit dabei. Manuel war ein Mulatte, ein lieber, knuddeliger Kerl... und Oratio so scheu und still wie ein kleiner Hase.“

Sie hob die Schultern. „Ich hab keinen Schimmer, was aus den beiden wurde...“

„Du hast die Kinder alle sehr gerne, nicht wahr?“ murmelte Setsuna.

An der Ampelkreuzung blieb Anjuli stehen und nickte nachdenklich. „Irgendwie schon. Ich habe alle Kinder sehr gern gehabt. Giovanna war nur eine der wenigen in meinem Bus, die in der Lage war, logisch zu denken und zu reden. Vielleicht hatte ich sie deshalb so gerne. Sie war nicht hilflos, wenigstens nicht so...“ Es wurde Grün und sie kuppelte um loszufahren. „... Ich habe dabei etwas übersehen. Ich habe nicht verstanden, wie viel Zuwendung und Hilfe sie wirklich brauchte.“ Der Wagen rollte die Straße zum Park hinaus, am SWR Gebäude vorüber, zu den Berufsschulen. Es war ein seltsamer Anblick, denn die großen, weitläufigen Parkplätze waren alle leer. Kein einziger Wagen fand sich dort. „Kennst du dich hier oben aus?“ fragte Megumi.

„Naja,“ lächelte Anjuli. „Es ist schon Jahre her, seit ich hier zuletzt war, aber ich hoffe es doch...“

Sie wählte einen der am weitest entfernt liegenden Parkplätze der Berufsschule, dicht am Park und stellte sich quer darauf, sodass kein anderer Wagen mehr auf den Parkplatz kam oder ihn verlassen konnte.

„Ab, raus mit euch!“

 

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(c) Tanja Meurer, 2000