Wishmaster

Kapitel 4: Der Park

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Setsuna konnte, wenn er ehrlich zu sich selbst war, nicht die Hand vor Augen sehen und irgendwie reizte ihn die Finsternis nicht, sonderlich mutig zu sein, zumal er Geräusche hörte, die er nicht kannte, die ihn aber durchaus sehr erschreckten. Manchmal waren es nur Laute von Tieren im Unterholz, oder das Wispern des Windes in den toten Baumwipfeln, aber dann wieder hörte er Geräusche, die genauso gut Schritte hätten sein können, oder Atemzüge... das Rascheln von Soffen, und, wenn er sich allzusehr darauf konzentrierte, hörte er sogar manchmal leise Musik... Aber das konnte nicht sein!

Er spürte, daß etwas seinen Mantel festhielt und fuhr zusammen, keuchend riß er sich los und stolperte zwei, drei Schritte nach vorne, in einen Busch. Äste kackten unter seinen schweren Stiefeln. Dünnes Holz, trocken und ausgelaugt, ragte in den Weg hineinen und griff nach seinem weiten, langen Mantelschößen... Er beruhigte sich ein wenig.

Plötzlich spürte er eine kühle, vertraute Hand, die seine ergriff.

„Bleib bei mir,“ sagte Gabriels Stimme leise, dicht an seinem Ohr. „Halte dich einfach an mir fest. Ich finde den Weg schon.“

Setsuna schauderte leicht, aber nicht vor Angst. Im Gegenteil. Er begann wieder Kraft zu schöpfen, durch die Berührung, die leise, sanfte Stimme...

„Ich habe keine Angst,“ antwortete er dennoch, leicht trotzig.

Gabriel zog ihn zu sich, auf den Pfad zurück. „Mag sein, aber du siehst auch nichts,“ entgegnete er lächelnd, leicht spöttisch fügte er hinzu. „Bis jetzt hast Du dir Mühe gegeben, über jede Wurzel zu stolpern und mit traumwandlerischer Sicherheit gegen jeden Baum zu rennen. Wenn du dir unbedingt dein hübsches Gesicht verbeulen möchtest, mach das, wenn ich nicht dabei bin, okay?“

Setsuna spürte, wie ihm das Blut in die Wangen schoß und lächelte verlegen.

Nun schloß er seine Finger um Gabriels und ließ es zu, daß er von dem etwas älteren Jungen geführt wurde.

Gabriel mußte Augen wie ein Falke haben, denn er sah jede Wurzel, die über den Weg lief, jeden Busch oder tiefhängenden Ast. Manchmal warnte er Setsuna nur, dann wieder fühlte der Junge, wie er von Gabriel vorsichtig gehalten oder an einem Engpaß vorbei geschoben wurde. Setsuna ließ all das freiwillig zu. Auch wenn es ihm nicht wirklich gefiel, abseits der Asphaltwege zu gehen, unterhalb des eigentlichen Parks. Ihm war die aber alleinige Anwesenheit Gabriels sehr recht. Und zugleich machte es ihn nervös, mit dem Jungen allein zu sein. Sein Herz schlug jedes Mal heftiger und schneller, wenn Gabriel seine Hand hielt oder ihn anderweitig berührte. Im Moment war Setsuna völlig gleichgültig, was mit Giovanna war. Nur Gabriel war für ihn wichtig, und daß er in seiner Nähe sein durfte...

Aber Gabriel schien die Suche sehr ernst zu sein. Manchmal blieb er für eine Weile stehen, orientierte sich, oder ließ Setsuna einige Sekunden allein, um die Hänge abzusuchen. Aber zumeist kam er kopfschüttelnd zurück.

Setsuna fror. Die ganze Zeit über schneite es und die Temperaturen sanken immer weiter. Er konnte die Atemwolken vor seinen Lippen sehen...

Eigentlich, so dachte er, hätte es eigentlich durch den vielen Schnee selbst hier hell sein müssen. Aber es war dunkel... Zu dunkel, auch wenn die Baumkronen manchmal dicht verfilzt schienen...

„Setsuna!“ Gabriels Stimme kam irgendwo her von links. Er wendete sich um. Sehen konnte er nur dichtes, verschneites Gestrüpp.

„Wo bist du?“ fragte er etwas lauter. In seiner Nähe, vor ihm, raschelten die Büsche und er sah Gabriels Gestalt.

„Runter!“ schrie Gabriel plötzlich. Instinktiv folgte Setsuna dem Befehl...

Ein brennender Schmerz explodierte in seinem Rücken, als habe etwas seinen Mantel durchdrungen und die Oberhaut seines Rückens aufgerissen...

Im Gleichen Moment schoß etwas über ihm hinweg... Aus den Augenwinkeln bemerkte er eine Gestalt, groß, Katzenartig, , überdimensioniert...

Dann legte sich ein zweites Bild darüber und...

...  der Schmerz war der Gleiche. Etwas hatte seinen Kimono zerfetzt. Vier brennende Linien zogen sich über die volle Länge seines Rückens. Hätte Lysander ihm nicht die Warnung zugeschrien wäre er jetzt tot, dessen war sich Setsuna ganz sicher. Bis zu diesem Augenblick war sich Setsuna der Loyalität des Magiers nicht sicher gewesen, aber nun... Er sprang auf die Füße und zog seine Katana im gleichen Moment.  Vor ihm stand der Feline, aber er hatte sich von ihm abgewendet, sein Rückenfell schwelte an fünf stellen. Etwas hatte sich tief in die feine Haut des Katzenmannes gebrannt. Lysander befand sich etliche Meter entfernt, beide Hände leicht rauchend... Der Zauber hatte Setsuna gerettet. Der weißhaarige Seher setzte zu einem Schlag an. Die Waffe beschrieb einen eleganten Aufwärtsbogen und riß durch Fell und Haut und Knochen.

Der Feline brüllte vor Schmerzen auf und wirbelte herum. Setsuna gelang es gerade noch den Klauen auszuweichen. Im Gleichen Moment raste über ihm, auf Höhe des Kopfes des Felinen einen gewaltige elektrische Entladung hinweg, die den Lycantropen tot zu Boden stürzen ließen. Dann, als nächstes, sah er Lysander, diesen so wunderschönen, unheimlichen Magier aus Valvermont, der sich über ihn neigte und ihn behutsam hochhob.

Zum ersten Mal berührte Lysander ihn... und Setsuna fühlte sich sicher und geborgen in seinen Armen... mehr noch. Der Schmerz der Wunden ließ nach... Er konnte regelrecht fühlen, wie sich die Wunden Schlossen, während der Magier darüber strich. Die ganze Zeit starrte er in diese sanften, lächelnden Augen Lysanders.

„Wie kann ein schwarzer Engel nur so rein sein,“ flüsterte er.

Lysander antwortete ihm nicht.

Nach einer Weile ließ ihn der Magier wieder auf die Füße hinab. „Meine Aufgabe, Setsuna- sama, ist es zu Schützen, nicht zu zerstören.“...

... „Lysander,“ keuchte Setsuna...

Gabriels Hände strichen behutsam über Setsunas Rücken, verharrten einen Moment. Setsuna spürte die kurze, ruckhafte Bewegung, mit der sich sein Körper versteifte eher, als daß er es sah. Lysander... Er sah diesem Mann aus seiner Vision so unglaublich Ähnlich... Nur jünger. Außerdem strichen auch jetzt seine Finger behutsam über die Wunden und wieder glaubte er, eine leichte Heilung zu fühlen. Das Brennen der Kratzwunden war fort. „Was war das?“ fragte Setsuna verunsichert. Immer noch versuchte sich das Bild des riesig großen, schwarzhaarigen Mannes mit den schimmernden, sanften, gütigen Augen über das des Jungen zu schieben.

„Eine verwilderte Katze nehme ich an,“ sagte er leise. Er half Setsuna auf die Füße. Irgendwas zog furchtbar an seinem Rücken. Kälte kroch unter seine Kleider und ließ ihn schaudern. Zitternd zog er seinen Mantel enger um sich. Ihm war schwindelig und eine leichte Übelkeit ließ Setsuna wanken. Wortlos hob Gabriel ihn auf seine Arme. Setsuna wollte Einspruch erheben, sich wehren, aber der Druck in seinem Kopf wurde deutlich stärker und betäubender. Außerdem war es ein gutes Gefühl, mußte Setsuna zugeben. Gabriels Nähe löste wieder dieses prickelnde, unsichere Glücksgefühl in ihm aus. Zudem spürte er Gabriels Körperwärme. Schnell wurde ihm wieder etwas wärmer und zudem vertraute er diesem fremden Jungen, als sei er sein ältester und engster Freund.

Es war verrückt. Er glaubte sicher zu wissen, daß er Gabriel kannte. Das Gesicht, das Gefühl für ihn, der Duft, den sein Körper und sein Haar verströmte. All das war ihm so bekannt. Sogar das Wissen um die gewaltige Stärke, die in Gabriels zerbrechlich schmalem Körper schlief, war da. Aber von all dem sagte Setsuna nichts. Er sah aus den Augenwinkeln zu Gabriel und betete, daß dieser Moment nicht enden wollte.

Nach einigen Minuten hatten sie eine Lichtung auf dem schmalen Trampelpfad erreicht, eine Grillhütte, Bänke.

Es war plötzlich unnatürlich hell hier.

Gabriel stellte Setsuna wieder auf die Füße hielt ihn aber in einem Arm, während er mit der Hand des anderen den Schnee von der Bank fegte. „Setz dich, ich sehe mir deine Verletzung mal an.“

Setsuna sah fragend zu ihm. „Sind doch nur Kratzer.“

„Ja, tief genug, daß sie deinen Wintermantel zerfetzt haben und durch deinen Pulli gingen,“ sagte er nüchtern. „Gott weiß, wo sich die Katze herumgetrieben hat. Außerdem war das schon eher ein Lux von der Größe als eine simple verwilderte Katze.“

Setsuna blinzelte. „Gibt es die denn überhaupt noch hier?“

„Nein,“ antwortete Gabriel und zog Setsuna den Mantel von den Schultern.

Setsuna sah ihn an, begann aber in der gleichen Sekunde auch ganz erbärmlich zu frieren. Ihm wurde wieder bewußt, wie kalt es wirklich war. Noch schlimmer wurde es, als Gabriel Setsunas Pulli hochzog und mit seinen eisigen Fingern über die nackte Haut von Setsunas Rücken zu streichen begann. Der Junge zog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein und verschränkte beide Arme vor der Brust. Gabriels Finger berührten die Kratzer. In der Sekunde hätte Setsuna am liebsten laut geschrien. Selten hatte etwas so weh getan.

„Bevor wir euch ins Heim bringen, werde ich deine Wunden bei Anjuli versorgen müssen,“ murmelte Gabriel besorgt. „Das alles sieht ungesund aus...“

Setsuna krümmte sich zusammen. „Wenn wir nicht bald zurück sind, wird Lea echt ärger kriegen und den dann an uns auslassen, murmelte er. Außerdem tut es nicht weh.“

„Du lügst,“ entgegnete Gabriel ungerührt. „Mir ist ziemlich egal was mit deiner Heimleitung ist. Du, deine Schwester, Giovanna und Natalie sind wichtig. Und du kannst mir erzählen, was du willst, aber du bist völlig fertig und die Klauenspuren sind tief und werden sich entzünden.“

Setsuna sah ihn über seine Schulter hinweg verwirrt an. In Gabriels Stimme lag plötzlich Anspannung und Ärger.

„Ich wollte dich nicht verärgern...“ murmelte Setsuna betroffen.

Gabriel stand auf und zog seinen Mantel aus. „Du hast mich nicht verärgert,“ sagte er leise, in seinem sanften, viel versöhnlicheren Tonfall. „Nur macht es mich einfach wütend, wie wenig frei ihr seid.“ Er legte Setsuna seinen Mantel über die Schultern. „Wärest du nicht viel lieber frei, oder bei einer Familie, die dich liebt?“

Er zog fröstelnd die Schultern hoch und umfaßte sie mit beiden Händen. Nun trug er nur seinen dicken schwarzen Wollpulli. So, wie er neben Setsuna saß, erschien er noch schmaler und feingliedriger als Setsuna es zuvor angenommen hatte.

Er sah zu Boden. „Eine Familie. Ja, die hätten wir gerne,“ sagte er leise. Er konnte spüren, daß Gabriel ihn ansah, wollte ihm aber nicht in die Augen sehen. Plötzlich spürte er, wie Gabriel ihn wortlos in die Arme nahm. Setsuna seufzte tief und gab sich der Umarmung hin. In Gabriels Armen fühlte er sich unendlich wohl und geborgen. Nach Sekunden erwiderte er die Umarmung zaghaft. Familie...? Ihm würde schon jemand reichen, bei dem er sich so sicher fühlen konnte, so geborgen, und dem er diese Gefühle entgegenbrachte.

Ja, er war nicht mehr allein...

 

Megumi und Natalie folgten Anjuli über die asphaltierten Wege des Parks, vorbei an verschneiten Trainingsgeräten und Bänken... Rechts neben ihnen tauchte eine verschneite Ebene zwischen den Bäumen auf, einem eingezäumten bereich... „Was ist das?“ fragte Natalie leise und zündete sich eine Zigarette an.

„Eine alte Rollschuhbahn,“ entgegnete Anjuli leise. „Heute wird sie im Sommer eher von Skatern genutzt. Rollschuhe waren schon nicht mehr richtig „In“, als ich ein Kind war.“ Sie lächelte. „Jaja, alte Frau... ich weiß.“

Die junge Frau schien sich wirklich recht gut hier auszukennen. Sie ging schnell, zielstrebig und sie mied die gut beleuchteten Ecken. Manchmal wurde es schwierig, ihr zu folgen, denn mit ihren schwarzen Kleidern und Haaren verschmolz sie manchmal mit den Schatten der zur Gänze und die beiden Mädchen stolperten eher etwas hilflos hinter ihr her.

Seltsam, denn es schneite ohne Pause, und eigentlich sollte sie auf dem Weißen verdammt gut zu sehn sein. Aber Megumi war sich nicht sicher, ob ihre Augen ihr keinen Streich spielten. Schließlich war sie müde, erschöpft und ängstlich...

In einiger Entfernung hörten sie immer wieder leise Stimmen, das Klirren von Flaschen und eine einzelne, grölende, lärmende Stimme.

Sollte der Schnee nicht alle Geräusche dämpfen?

„Anjuli?“ flüsterte Megumi unsicher. Ihr war nicht ganz klar, ob der nächtliche Ausflug nicht vielleicht doch ein Fehler gewesen sein konnte.

Die junge Frau blieb stehen. „Leise ihr beiden. Ich hab keine Laune, mich mit den örtlichen Obdachlosen in die Wolle zu kriegen oder ein paar Punks, die meinen, daß wir zu viel Kohle haben.“ Sie sah zu Natalie. „Und du, mach die Kippe aus. Die Glut kann man gut sehen.“

„Ich wußte nicht, daß das ein Versteckspiel wird...?“ konterte Natalie. Sie verfluchte sich insgeheim dafür, dass ihre Stimme zitterte... Fahrig warf sie die Zigarette in den Schnee und trat sie aus. Anjuli antwortete ihr nicht. Dafür wartet sie, bis beide Mädchen neben ihr standen...

„Was ist?“ fragte Megumi leise und zuckte heftig zusammen. Etwas gewaltig großes, dickes, auf breiten, schweren Beinen stand reglos vor den Schatten des Waldes. Lange Dornen und Grannen wuchsen aus seinem Rücken. Dazu hatte es einen lächerlich kleinen, schmalen Schädel. Ein Drache, dachte sie entsetzt. Das konnte nicht sein! Es gab keine Drachen, aber der hier war keine Einbildung... und er war so groß wie ein Bus.

Natalies leises Lachen wirkte unpassend in der Situation... Das war ein Drache...!

„Nee,“ grinste Natalie böse. „Das Ding ist aus Stein, oder?“

Anjuli nickte lächelnd. „Ja. Da hocken im Sommer immer die Kinder drauf.“ Sie deutete in die andere Richtung der Kreuzung, dorthin, wo der Weg in den umlaufenden Wald führte. „Hier oben kommen die Leute zum Grillen hin, und die Kinder haben hier einen Abenteuerpark mit Klettergerüsten in Form von Flugzeugen, Riesenrutsche, Halfpipes für die Skateboard- Fahrer, Hangelgerüsten, einer Abenteuerbahn und so weiter...“ Sie unterbrach sich plötzlich. „Seht mal...“

Anjuli ging ein paar Schritte zu dem Holzgerüst Richtung Wald, was ein Stahlseil gespannt hielt und kniete sich am Wegesrand in den Schnee. Sie strich mit einer Hand eine kleine Erhebung die nicht auf die Rasenfläche zu gehören schien, frei. Ein kleiner, schmuddeliger, durchgeweichter Teddy kam zum Vorschein. Einen Sekundenbruchteil vor Megumis entsetztem keuchen nickte Anjuli und steckte den Bären unter ihre Jacke. „Giovannas...“

„Äh, hab ich da was verpaßt?“ fragte Natalie nüchtern. „Den hat ihr Meg erst letztes Jahr geschenkt.“

Anjuli sah sie flüchtig an und stand auf. „Beruhige dich Megumi, den kann sie durch Gott- weiß- was verloren haben.“ Sie lächelte. „Na ja, sie ist wenigstens hier.“ Sagte sie. Vermutlich wollte sie enthusiastisch klingen, aber das ging ziemlich schief.

„Und was, wenn sie tot ist?“ fragte Megumi. „Was, wenn sie jemandem in die Hände gefallen ist, der sie...“ Sie stockte. „Was, wen sie erfroren ist?“

„Das ist wahrscheinlicher,“ murmelte Natalie.

Unschlüssig drehte Anjuli den Teddy in den Fingern. Dann, nach einigen Sekunden schloss sie die Augen und senkte den Kopf. Irgendetwas ging in ihrem Gesicht vor sich. Megumi sah tiefe Konzentration darin, aber auch Scheu, Angst, vor was auch immer, während sie den Teddy in Händen hielt.

Sekunden lang stand sie reglos da...

„Was macht sie da...?“ flüsterte Natalie, zu Megumi geneigt.

Das Mädchen sah sie böse an.

Anjuli taumelte, fiel auf die Knie und griff mit einer Hand nach ihrer Stirn, drückte sie dagegen, die andere erst gegen die Brust, dann in den Unterleib... Der Bär fiel ihr aus den Fingern. Anjuli fuhr hoch, hob den Kopf, streckte sich durch, versteifte sich kurz... Dann kam sie wieder zu sich.

„Sie hatte furchtbare Schmerzen, als sie ihn verloren hatte, und Angst,“ murmelte Anjuli. „Sie wurde von irgendwas verfolgt...“ Anjuli öffnete die Augen und sah sich kurz um. Mit spitzen Fingern hob sie den Bären wieder auf und erhob sich.

„Da lang.“ Sie deutete auf den Weg, links von ihnen, um den Abenteuerpark herum zum Wald hin. „Ich bin nicht sicher, aber ich glaube, sie lief hier herab.“

„Sag mal, siehst du das auch, was war?“ Megumi sah sie aus brennenden Augen an. „Kann es sein, dass du das auch kannst?“

Anjuli schüttelte kurz den Kopf. „Nein, ich kann Gefühle anderer wahrnehmen. Besonders dann, wenn sie extrem sind.“ Sie sah den Teddy an und schob ihn in eine Tasche. „Diese Eindrücke waren die stärksten.“ Sie zuckte die Schultern. „Sonst nehme ich die Gefühle nicht so stark wahr, sondern eher wie eine Erinnerung an ein Gefühl. Das war...“ Sie sah die Mädchen entschuldigend an. „Creepy, hm?“

Megumi nickte.

„Gehen wir da lang.“ Knurrte Natalie trocken.

 

Megumi ging neben Anjuli, Natalie ein Stück weit hinter ihnen. Sie hatte sich wieder eine Zigarette angezündet. Sie entfernten sich immerhin von dem Lärm. Also bestand auch keine sonderliche Gefahr mehr für sie.

Die Ecke war nicht so wirklich toll, fand sie. Unheimlich, still, dunkel, und die Nähe des Waldes machte sie nicht sicherer. Darin bewegte sich etwas. Da war sie sich sehr sicher. Etwas zuckte dort... etwas, dass immer dann in den Büschen verschwand, wenn sie dort hinsah. Creepy? Ja, das hier war unheimlich für sie. Definitiv zu unheimlich!

Links, neben des Weges, wo bisher die Bäume sie begleiteten, lag unter dichtem Schnee ein kleines Atrium. Es schien in einem Dreiviertelkreis angelegt worden zu sein, zwei Stufen  hoch nur, und mit drei unterschiedlich hohen, runden Erhebungen versehn, die aus der Mitte des Atriums, des Schnees hervortraten.

Anjuli wich vom Weg ab. „Bleibt hier, okay?“

Natalie schüttelte den Kopf. „Nein, hier ist was... Ich bleibe hier nicht allein mit Megumi.“

Das Mädchen nickte zustimmend. „Wir kommen mit dir.“

„Ihr seid verrückt,“ murmelte Anjuli und machte einen Schritt auf die erste Stufe des Atriums...

Der Wind frischte auf und trieb eisigen Schnee vom Boden hoch... Verwirbelte ihn und nahm den drei Frauen die Sicht.

„Was zum Teufel...“ begann Anjuli, doch dann legte der Wind sich.

Sie erstarrte. Beide Mädchen drängten sich an sie heran. Das war nicht das selbe Atrium!

Durchaus, es war ein Atrium, eine Art römischer Circus... und Anjuli war es so, als wäre sie schon einmal hier gewesen, aber sie erinnerte sich nicht mehr so wirklich wann und wo. Nur, dass es irgendwann hier war, in dieser Stadt.

Die Ränge waren recht hoch, nicht einfach zu begehen und vor allem völlig Schneefrei. Dennoch war es bitter kalt.

Anjuli blickte nach oben und blinzelte, als ihr Schneeflocken in die Augen fielen.

Megumi hielt sich dicht an sie gedrückt und hatte sich unter ihren Arm gehakt.

„Was ist das?“ Natalie schnickte ihre Zigarette von sich und sah sich fragend um. „Das kann es nicht geben.“

Anjuli sah kurz zu ihr hinüber und nickte. „Fällt euch hier nichts auf?“ Beide Mädchen blickten sie an, als sei Anjuli nicht mehr ganz bei Verstand.

„Sag mal, andere Sorgen hast du nicht?“ fragte Natalie leicht befremdet und verzog das Gesicht. „Wir sind von A nach B gekommen, ohne zu wissen wie. Wir sind in einem verdammten Horrorfilm gefangen, und du fragst uns nach so einem Quatsch. Willst Du einen Wettbewerb im Dummschwätzen gewinnen?!“

Megumi trat hinter Anjuli nach Natalies Schienbein.

„Aua, lass das! Ich hab doch recht!“

Anjuli ignorierte Natalies Worte. Die junge Frau löste Megumis Hand von ihrem Arm und sprang eine Stufe hinab. Sie sah sich aufmerksam um. „Wo sind wir nur...!“ Nachdenklich stieg sie noch eine weitere Stufe hinab und noch eine und noch eine. Megumi eilte sich, hinter Anjuli her zu kommen. Sie fühlte sich am sichersten, wenn sie in der Nähe der jungen Frau war. Ein wenig unwillig folgte auch Natalie Anjuli.

„Sag mal, das ist doch unlogisch, sich mitten in die Höhle des Löwen zu begeben.“

Anjuli hob beide Arme und drehte sich einmal im Kreis. „Kein Schnee. Alles liegt völlig frei. Es ist scheiß-kalt, es schneit, aber hier ist kein bißchen Schnee auf dem Boden und den Steinen. Die Luft ist auch wärmer, je weiter man in das Zentrum dort unten kommt.“

Jetzt, wo sie es erwähnte fiel es auch Megumi und Natalie auf. Das rothaarige Mädchen folgte ihr nun schneller, mitten in das Zentrum des Atriums. Dort war es so warm, dass das Mädchen die Jacke am liebsten ausgezogen hätte. Feucht warm, und es roch furchtbar.

„Sag mal, ist es nicht verdammt gefährlich, was wir hier tun?“

Anjuli nickte. „Das ist Verwesungsgeruch,“ murmelte sie. „Komisch.“ Sie kniete sich hin und legte die Hände auf den Boden. „Fühlt sich an, als wäre er sonnengewärmt, der Boden. Trocken und warm...“

Megumi schenkte ihr nur einen kurzen Blick. Ihr Geist beschäftigte sich bereits mit etwas anderem. Etwas wisperte von Gefahren. In ihrem Kopf drängten Bilder herauf, die ihr Angst machten, Bilder von schattenhaften Gestalten, zerlumpten Wesen, mit glühenden Augen... Alarmiert sah sie auf und suchte die Ränge ab... Ja, sie waren nicht mehr allein!

Auch Anjuli fuhr herum. „Verdammt!“

Sie sah sich rasch um und nickte. „Okay, jetzt haben wir Spaß, Leute...“

Natalie fand, daß sich das allerdings nicht sonderlich humorig anhörte. Als sie sich vom Boden erhob, blinzelte sie unsicher. „War das der Grund, warum wir uns ruhig verhalten sollten?“ fragte sie überflüssiger Weise.

Anjuli deutete ein Nicken an, hob die Schultern und schüttelte schließlich den Kopf.

„Nicht wegen denen,“ sagte sie leise. „Die sollten nicht mehr in der Lage zu sein zu hören.“

Die einzelnen Ränge des Atriums füllten sich mit seltsamen, zerlumpten Männern und Frauen...

Keines der Mädchen konnte sagen, was an ihnen wirklich seltsam war, aber etwas schien nicht zu stimmen. Und Anjuli schien zu wissen, was ihnen entging.

Sie waren so viele und so lautlos... Dann erkannte Megumi, was sie daran störte. Ihre Augen glühten wie Tieraugen in der Nacht. Und mehr noch... was sie trugen waren keine Winterkleider... Es waren Nachthemden und Schlafanzüge, Fetzen davon. Unter diesen Männern und Frauen waren auch Kinder verschiedener Größen. Und einige der Männer trugen die Überreste von Uniformen. Alte Uniformen... Megumi erkannte die Abzeichen weit vor Natalie... „Nazis...!“ keuchte sie. Natalie machte einen Schritt zu ihr hin. „Das kann nur ein Alptraum sein, oder?“ flüsterte sie.

Anjuli schüttelte langsam de Kopf. „Seht sie euch an. Das sind keine lebenden Menschen. Das sind Untote.“

Anjuli sollte recht behalten. Natalie konnte die verwesende Haut sehen und riechen.

„Das ist nicht möglich!“ keuchte Natalie.

„Ich bringe euch hier raus, keine Sorge,“ murmelte Anjuli.

Natalie starrte sie ungläubig an. „Klar, und ich bin Superman.“

In der selben Sekunde legte einer der Uniformierten sein Gewehr auf sie an und zog den Abzug durch.

 

Ein dumpfes Grollen, wie von einem weit entfernten Gewitter zerriss die Stille. Gabriel fuhr entsetzt zusammen und ließ Setsuna los. „Anjuli!“

Er sprang auf die Füße und sah Setsuna an, der ebenfalls aufgestanden war. „Ich komme mit!“

Diesmal sagte Gabriel nichts dazu. Wortlos nickte er und nahm Setsunas Hand. Ohne noch weiter zu zögern rannten sie los.

Was den Jungen ein wenig verwunderte, war die Tatsache, dass Gabriel den Park verließ und zurück zu Anjulis Auto eilte.

„Was... was machst Du?!“

„Setsuna, sie sind nicht mehr hier. Sie sind an einem anderen Ort. Und sie sind kurz davor zu sterben.“

Setsuna blinzelte verwirrt, als Gabriel einen Zweitschlüssel für den Wagen aus der Hosentasche zog. „Woher willst du das wissen? Da war nur ein Donnern...“

Gabriel sah ihn verzweifelt an. „Bitte frag mich nicht nach einem Warum. Ich kann es dir nicht sagen. Nicht jetzt und nicht so einfach.“

Nervös schob er den Schlüssel in das Wagenschloss und drehte ihn um. Hektisch riss er die Türe auf, schob sich hinter das Steuer und reckte sich zu der Beifahrertüre. Er löste die Verriegelung, und während sich Setsuna in den Beifahrersitz fallen ließ, stellte Gabriel seinen Sitz auf seine Größe ein. Der Motor sprang an und die Scheinwerfer flammten auf.

„Erklär mir, woher du weißt, was...“

„Kann ich nicht!“ sagte Gabriel gepresst. Der Fiesta rollte vom Parkplatz und auf die Straße hinaus. „Bitte, ich weiß einfach, dass sie nicht mehr hier sind.“

„Wo?“ fragte Setsuna leise.

Gabriel trat das Gaspedal durch. Der Wagen machte einen Satz nach vorne, schlingerte kurz, bevor der Junge ihn wieder ganz im Griff hatte. Setsuna drückte sich tiefer in das raue Polster und klammerte sich an der Armlehne fest. „Du weißt, was du tust?“

Gabriel ignorierte den Kommentar. Er hatte genug damit zu tun, den Fiesta in der Spur zu halten, und trotzdem schnell zu fahren.

„Ich habe eine ganz besondere Beziehung zu Anji. Wir sind auf eine... eigenwillige Art und Weise miteinander verbunden. Ich weiß, wenn sie in Gefahr ist, und ich spüre...“ Diesmal zögerte er eine Weile. „Ich kann veränderungen in der Wirklichkeit wahrnehmen, wenn sie passieren. Und eben hat etwas, jemand, die Realität verändert. Mehr kann ich dir nicht sagen.“

Er lenkte den Wagen über die verschneite Kreuzung.

Setsuna nickte nach einigen Sekunden nur und entspannte sich ein wenig neben Gabriel. Obwohl der Junge noch nicht sehr lange den Führerschein haben konnte, hatte er die Situation recht gut im Griff.

„Wohin fahren wir?“

„Willst du das wirklich wissen?“ fragte Gabriel.

Nachdenklich senkte Setsuna den Kopf. Nein, eigentlich wollte er nicht, denn er spürte plötzlich selbst eine unglaubliche, böse Gefahr.

 

Anjuli hatte sich nach hinten abgerollt und war der Maschinengewehrsalve um Haaresbreite entgangen, die neben der jungen Frau eine gerade, tödliche Spur in die Erde gerissen hatte. Natalie sprang ebenfalls zur Seite und Megumi, umgestoßen von Anjuli, lag weit außerhalb des Gefahrenbereichs. Die junge Frau federte auf die Füße und sah nach oben. „Verdammter Nazi- Sack!“ schrie sie. Nun legten andere an... „Zu den Bäumen!“ schrie sie den Mädchen zu.

Natalie fuhr herum und rannte mit weit ausgreifenden Schritten auf eine einsame Fichtengruppe, die in dem Atrium wucherten, zu. Megumi rappelte sich ebenfalls auf, sah sich aber zu Anjuli um. Die junge Frau rannte in entgegengesetzter Richtung los, in wirrem Zickzack ihren Angreifern entgegen. Schüsse peitschten, trafen sie aber nicht.

Was hatte sie nur vor?

„Meg!“

Megumi fuhr herum und folgte Natalie...

... sie schrie vor Schmerz auf, als der Bolzen sich in ihren Bauch bohrte... Wortlos hatte sie sich vor Megumi gestellt und ihrem bewaffneten Gegenüber ins Gesicht gelacht. Diese Frau war seltsam. Sie wußte, daß sie sterben würde, wenn sie ihn nicht durch ihre Verwegenheit beeindruckte. Aber dennoch tat sie es. Sie stand da, ungepanzert, nur in den langen, schwarzen Gewändern, die sie immer trug.

Er hatte sie erschossen... sie schien ihn nicht genügend beeindruckt, oder zu sehr verhöhnt zu haben...

Aber was war das?! Obgleich der Bolzen in ihr steckte, so weit, daß er ihre Wirbelsäule durchschlagen hatte und aus ihren Rücken herauskam, stand sie noch immer da, lachend!

„Kleiner, ich bin besser als du!“

Megumi stolperte einen Schritt zurück und fing sich, bevor sie sich in ihrem Kimono verheddern und fallen konnte.

Anjulis Kopf ruckte hoch. Sie sah zu Megumi. „Flieh...“

Im gleichen Moment schoß der Ronin noch einmal auf sie... und durchbohrte ihr Herz.

„Flieh...!“ es war nicht mehr länger Anjulis Stimme, die Megumi hörte. Es war nicht einmal mehr menschlich. Sie hörte das Wort in ihrem Kopf und verstand die Warnung, die darin enthalten war.

Eilig raffte sie ihre Gewänder und fuhr herum. Sie eilte den endlosen Flur ihres Palastes hinab... schließlich aber drehte sie sich doch zu Anjuli um. Dort, wo sie eben noch gestanden hatte, stand nun ein Geschöpf, ein Oni... Ein Dämon mit schimmernder schwarzer Haut, glühendem, lebendigem Haar, Arm lange Klingen aus geschärftem Horn an ihren Unterarmen und Klauen wie ein Feline...

Sie hörte, wie das Holz der Bolzen an der Haut des Onis brachen und Dann machte sich die Kreatur über den herrenlosen Samurai her. Haut und Fleisch riß unter seinen Klauen und die Klingen brachen ihm alle Knochen.

Das Mädchen fuhr herum. Panische Angst, Entsetzen und Ekel trieben sie tiefer in Die Säle ihres Palastes...

Blut... Der Oni...

„Anjuli!“

Megumi blieb wieder stehen und wendete sich um. Die junge Frau war sie selbst und unverletzt, aber schlimmer als das, Megumi sah, wie die Untoten nun über sie herfielen...

„Anjuli...?!“ Der völlig abstruse Gedanke manifestierte sich in ihr, daß, gleich, was diese Wesen ihr antaten, schließlich der Oni in ihr hervorbrach und die Untoten vernichtete. Sie wurde ruhig bei dem Gedanken... Sie wusste ganz einfach, dass das Wesen da war und erwachen würde. Sie wendete sich ab. Natalies entsetzte Schreie verblassten immer weiter hinter ihr.

Zugleich wirkte sich die Wärme auf sie aus... Es war tatsächlich sommerlich... Eine wunderschöne Sommernacht. Megumi roch die warme Erde, das Gras und die Blumen, den Geruch von Vieh und Holz...

Ja, hier war sie sicher. „Komm Natalie. Wir müssen gehen.“

 

Setsuna hatte schon nach wenigen Sekunden jedwede Orientierung verloren, als Gabriel vor ihm her durch die weitläufige, prachtvoll angelegte Wohnanlage rannte, enge Passagen nahm, kleine Plätze, Säulenterrassen und schließlich eine kleine Seitengasse kreuzte, die auf einen Platz zwischen den Häusern traf. „Wohin...“

„Spar dir deinen Atem,“ rief er und lief noch ein wenig schneller. Setsuna war nicht klar, wie er auf dem unsicheren Untergrund eine solche Geschwindigkeit entwickeln konnte. Ihm fiel es immer schwerer, Gabriel zu folgen.

Die Distanz zwischen ihnen wurde größer... Schnee trieb immer wieder in Setsunas Augen und stach wie Nadeln hinein. Seine Lungen pfiffen bei der Kälte, schmerzten höllisch. Als ihm das bewusst wurde explodierte regelrecht der Schmerz in seiner Seite. Seine Kräfte ließen schnell nach und seine Muskeln begannen zu schmerzen. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis sich sein Körper weigern würde, noch einen Schritt weiterzugehen. Er war das nicht gewohnt...

Renn ohne mich weiter, dachte er. Finde sie.

Sein Blick trübte sich weiter. Schmerzhaft füllten sich seine Augen mit tränen und ließen das Bild verschwimmen. Er rutschte, schlidderte und fiel auf die Knie.

Kälte und Feuchtigkeit kroch durch seine Hosenbeine. Ihm wurde plötzlich kalt und schwindelig.

„Setsuna...“ Der Junge fühlte Gabriels Nähe, seinen Atem, der hektisch und schnell ging.

„I... ich kann nicht... mehr.“

Hinter ihnen raschelte etwas.

„Doch, du kannst,“ rief Gabriel. „Du musst es nur wollen.“

Setsuna sah ihn hilflos an. „Du bist in Gefahr, Setsuna,“ flüsterte Gabriel. „Und du wirst mich brauchen. Ich bin dein Beschützer.“

Der Junge nickte matt. Langsam richtete er sich auf und sackte wieder in die Knie. Bevor er aber etwas sagen konnte, ergriff Gabriel ihn und zog ihn hoch.

Nie zuvor hätte Setsuna geglaubt, dass Stehen so verdammt weh tun konnte. Er rang nach Luft und glaubte sich allein daran, und dem grauenhaften Stechen im Hals zu verschlucken.

„Komm weiter.“

 

Sie mussten nicht mehr sehr weit laufen. An die Wohnanlage schloss sich nach einigen Metern schon eine weitere Parkanlage an... und eine Art eines römische Circusses.

Gabriel kniete völlig reglos auf der ersten Stufe des Atriums. Der Schnee wirbelte um ihn und schien ihn doch nicht zu berühren. Seine gesamte Gestalt wirkte nicht länger wie die eines Jungen. Er war dafür viel zu sicher, zu gefasst, angesichts dessen, was sich ihnen dort unten bot... und die Macht, die er ausstrahlte war die eines uralten Wesens. Die Luft um ihn flirrte leicht, wie die Hitze über heißem Asphalt im Sommer zu flirren begann. Dann sammelte sich spürbare Energie um ihn und manifestierte sich in leichtem Glühen, daß an Kraft gewann um seine Gestalt. Lebenskraft, dachte Setsuna und schalt sich in der gleichen Sekunde einen Idioten. Das konnte es nicht geben... Aber das, was er sah auch nicht.

Als sie angekommen waren, saß Natalie auf der ersten Stufe, still weinend, teilnahmslos, zitternd, Anjulis leblosen, zerfetzten Körper in den Armen... Natalie hatte ihr ihren Mantel umgelegt, denn die Junge Frau trug nur noch die Überreste von Kleidern.

Sie war tot. Ganz sicher. Die Verletzungen konnte niemand überleben. Unzählige Wunden bedeckten ihre Körper. Aber schlimmer als das war die Gewißheit, daß sie am Ende der Schuss mitten in ihren Kopf sie getötet hatte. Ihr halbes Gesicht war weggerissen und ihre Schädeldecke nicht mehr vorhanden. Setsuna selbst konnte nicht glauben, was er da sah... Das war absolut nicht der Verlauf dieser Nacht, wie er ihn sich gedacht hatte. Ganz und gar nicht! Eigentlich hatte er eher erwartet, daß sie Giovanna fanden oder nicht fanden, zurück kamen und allenfalls furchtbaren Ärger mit Lea oder Marion oder beiden bekamen.... Aber daß Anjuli sterben würde... Der Gedanke hielt ihn gefangen. Scham, Angst, Schmerz, Mitleid und unsäglicher Zorn kämpften in ihm und verhinderten einen Schockzustand, wie der in dem sich Natalie befand. Außerdem wußte er nicht, wo Megumi war... Sie hatte er nun auch noch aus den Augen verloren. Hilflose Tränen Rannen heiß über seine Wangen. Er setzte sich neben Natalie in den Schnee und vergrub sein Gesicht an ihrer Schulter, auch wenn sie keine Sekunde reagierte. Er war sich sicher, daß sie sogar wußte, was er gerade tat, aber sie schien von ihren eigenen Gedanken und Erinnerungen viel zu sehr gelähmt zu sein.

Minuten lang saß er da, an sie gelehnt... Dann ließ ihn ein heiseres Husten zusammenzucken. Anjuli richtete sich gerade auf, hustend... Keuchend... sie sah zwar krank aus, lebte aber!

Unmöglich! Absolut unmöglich! War sie nicht eben noch tot gewesen? Tränkte nicht immer noch ihr Blut Natalies Kleider?

Ein unglaublich machtvolles Glücksgefühl ließ ihn aufspringen und seinen zweiten Leibwächter mit ungestümer Gewalt umarmen. Erst als ihm bewußt wurde, daß er ihr wohl weh tat, ließ er sie wieder los.

Zweiter Leibwächter...? echote eine Stimme in seinem Kopf. Aber er hatte ein ganz ähnliches Gefühl bei Anjuli, ein Gefühl von Freundschaft und Zuneigung und Vertrauen in sie. Zudem kam noch ein gewisses Wiedererkennen hinzu. Er glaubte sie schon gesehen zu haben, auch ihren Körper so gehalten zu haben, wie sie nun war, ziemlich dünn bekleidet...

Erschrocken ließ er sie los und stand auf. Gabriel saß neben Anjuli und stützte sie etwas. Er schien erschöpft zu sein. Seine Augen hatten allen Ganz verloren. Auch sein Atem ging schwer und unregelmäßig.

„Anji,“ flüsterte er matt und umarmte sie behutsam. Sein Gesicht drückte, trotz aller Erschöpfung eine so tief empfundene Erleichterung und Freude aus, daß es Setsuna fast schmerzte zu sehn, wie unendlich tief die Liebe der Geschwister zueinander war.

„Was ist mit Natalie,“ fragte sie plötzlich und wand sich aus seinem Arm. Ihre Stimme war noch immer brüchig und unsicher.

„Ich bin in Ordnung...“ flüsterte das Mädchen unvermittelt. Nur, wie kann das sein? Ich habe gesehn, wie dieser Arsch dir mitten ins Gesicht geschossen hat! Und Megumi... Sie sagte mir, ich solle mitgehen, und dann, dann war sie weg.“

Anjuli richtete sich zitternd und mit den Zähnen klappernd auf und sah an sich herab, bedauernd, bei dem Anblick dessen, was von ihrem Pulli und den Hosen noch da war. „Würdest du mir glauben, daß du dir das alles nur eingebildet hast?“

Natalie sah sie ernst an und schüttelte den Kopf. „Nein. Ich habe diese Zombies mit eigenen Augen gesehen. Ich habe gesehen, wie sich ein Mensch in Luft auflöst und aus dir etwas wurde, daß ich beim besten Willen nicht beschreiben könnte, selbst wenn ich es wollte...“

Anjuli sah über die Schulter und nickte. „Kann ich verstehen.“ Sie klaubte ihre Jacke auf und sah erst in allen Taschen nach. Nach einigen Sekunden atmete sie deutlich erleichtert auf. „Was ein Glück. Nichts ist verloren oder kaputt.“

„Passiert dir das öfters?“ fragte Natalie argwöhnisch.

Anjuli schüttelte den Kopf. Antwortete aber vorsichtshalber nicht.

„Ich hasse es, das kostet immer Klamotten. Wenigstens sind die Lederhosen noch an einem Stück. Nur der Pulli...“ Sie sah unglücklich auf das herab, was von dem dicken Rollkragenpulli noch übrig war. „Verdammte Unterarmklingen!“ knurrte sie. „Der Pulli war neu. Und nun ist er eine Ansammlung von Baumwollfäden...“ Sie zog den Rest des Pullis über den Kopf und knüllte ihn zusammen.

Setsuna sah ihr ungeniert dabei zu, staunend, wie offen sie sprach. Aber es hatte auch keinen Sinn zu leugnen. Aber, was ihm am meisten Angst machte, war Megumis verschwinden.

„Was ist mit Megumi?“ fragte er leise. „Ich kann nicht ohne sie zurück, auch wenn ich mir sicher bin, daß es ihr nicht wirklich schlecht geht...“

Anjuli hob den Blick und sah erst ihn, dann Natalie und schließlich ihren jüngeren Bruder an.

Sie sog schwer die Luft ein. „Ich weiß nicht... Du bist erschöpft, Natalie auch und Gabriel ist fast am Ende seiner Kraft in dieser Gestalt.“ Sie kassierte einen einzigen wortlosen, bösen Blick von Gabriel... „Und ich bin gerade erst wieder von den Toten aufgestanden... Ich bin mir nicht sicher, ob wir derart geschwächt in eine uns unbekannte, völlig fremde Welt bewegen sollten. Denn dort ist deine Schwester.“

 

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(c) Tanja Meurer, 2000